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Vorliegender Beitrag erschien erstmals in gedruckter Form in:
Martina Bär, Markus-Liborius Hermann, Thomas Söding (Hg.):
Könige und Priester.
Facetten neutestamentlicher Christologie.
Festschrift zum 65. Geburtstag von Claus-Peter März.
Echter Verlag, Würzburg 2012
© 2013 Copyright beim Autor
online exklusiv für ONLINE-EXTRA
www.compass-infodienst.de
Wie hoch darf die „hohe“ Christologie sein?
Hermeneutische Reflexionen zu biblischen und päpstlichen
Konzepten im christlich-jüdischen Dialog
Hubert Frankemölle
Die „Heimholung Jesu ins Judentum“ durch Juden1 und die Entdeckung des Juden Jesus in
der christlichen Theologie im letzten Jahrhundert gehört zu den erfreulichsten Phänomenen
der christlichen Theologiegeschichte. Die Rezeption von bibeltheologischen Erkenntnissen
durch die systematische Theologie und durch das kirchliche Lehramt ist unstrittig. Erst auf
dieser Basis wurde ein ständig intensiver werdendes interreligiöses Gespräch möglich, das in
christlich-jüdischen Gesprächskreisen immer stärker auch die Christologie einschloss,2 ohne
dass die Annahme des spezifisch christlichen Glaubens für Juden zur Debatte stand. Ziel war
1
Zur vielgestaltigen Wahrnehmung Jesu im Judentum vgl. den Überblick von Homolka, W., Jesus von
Nazareth im Spiegel jüdischer Forschung, Berlin 2009; aus christlich-judaistischer Perspektive vgl.
etwa Kampling, R., Jesus von Nazaret in jüdischer Sicht, in: ThGl 91 (2001) 390-408.
2
Vgl. etwa die Überschrift „Auch das Trennende gehört in den Dialog: Jesus Christus“ in der
Erklärung von Juden und Christen des Gesprächskreises „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee
der deutschen Katholiken, Juden und Christen in Deutschland, Bonn 2005, 19-21; vgl. auch die USamerikanische jüdische Erklärung „Dabru emet“ von 2000, These 6. Dazu: Frankemölle, H. (Hg.),
Juden und Christen im Gespräch über „Dabru emet – Redet Wahrheit“, Paderborn / Frankfurt 2005,
42.131-153 oder die erste der zwölf Berliner Thesen in der jüdisch-christlichen Erklärung „Zeit zur
Neu-Verpflichtung. Christlich-jüdischer Dialog 70 Jahre nach Kriegsbeginn und Shoa“, Sankt
Augustin / Berlin 2009, 17.
2
es, Missverständnisse abzubauen und die Christologie als Teil der Theologie von ihren
Ursprüngen her für beide Seiten neu zu entdecken und verstehbar zu machen. Waren doch
nicht zuletzt die Entwürfe der „hohen“ Christologien etwa des Johannesevangeliums oder des
Hebräerbriefes jahrhundertelang Anlass für antijüdische Auslegungen, Predigten und
kirchliche Erklärungen (selbst in Konzilien) und boten Grund für antijüdisches Verhalten der
Christen gegen Juden.3
1. Das hermeneutische Grundproblem christlich-theologischer Rede
In einer Festschrift für einen Exegeten dürfte eine Besinnung auf die genannten
Wechselwirkungen (die in ihren Auswirkungen von Exegeten in der Regel nicht explizit
thematisiert werden, implizit aber vorhanden sind) vielleicht nicht fehl am Platze sein. Das
Verhältnis von „hoher“ Christologie zum theologischen Konzept des irdischen Jesus mit
seinem Anspruch einer „impliziten“ Christologie ist bis heute für Juden und Christen das
bleibende hermeneutische Grundproblem, das auch päpstliches Denken bestimmt und das
christlich-jüdische Gespräch be- oder entlastet. Damit ist der hermeneutische Horizont der
folgenden Ausführungen angedeutet; in ihnen geht es auch um die ekklesiologische
Basisfunktion der Bibelwissenschaften und folglich auch der Exegeten. Auslegung der Bibel
kann nicht nur religionswissenschaftlich betrieben werden, sondern hat als theologische
Reflexion über die Anfänge des christlichen Glaubens für die Glaubensgemeinschaften, die
sich „christlich“ nennen, Korrekturfunktion.
Faktum ist, dass der Glaube an Jesus Christus im Neuen Testament von Juden entworfen
worden war, er aber dem nachbiblischen Judentum immer fremder wurde. Haben schon einige
Verfasser neutestamentlicher Schriften vorgegebene Kategorien einer jüdischen Deutung Jesu
und seiner Geschichte bzw. aus christlicher Sicht: des Handelns Gottes durch und an ihn
überschritten? Inwiefern sind christologische Hoheitstitel und damit verbundene
Motivkomplexe angemessene Deutungen der Geschichte Jesu? Bedarf es der geschichtlichen
Rückbindung? Und: Haben es die neutestamentlichen Verfasser verstanden, ihre
Überzeugungen so zu verbalisieren, dass ihre Hörer sie verstehen konnten? In diesem Kontext
regte der Titel dieser Festschrift „König und Priester. Facetten neutestamentlicher
Christologie“ die folgenden hermeneutischen Überlegungen an; begründet sind sie aber auch
in der Breite der Veröffentlichungen des Geehrten.4 Wie seine Bibliographie belegt, gehören
aus seiner Sicht aber nicht nur wissenschaftliche Textanalyse, sondern auch Transformation
3
Zum Hebr etwa bestätigt dies seine antijüdische Rezeption durch den Barnabasbrief, durch Justin,
Tertullian, Irenäus oder Origenes; an Konzilien sind zu nennen die Judendekrete des Vierten
Laterankonzils (1215) sowie der Konzilien von Basel (1434) und Florenz (1442).
4
Fachwissenschaftlich sind sie geprägt von tiefschürfenden Untersuchungen zu ältesten Traditionen in
der Logienquelle, zu den Überlieferungen der Passion Jesu und zur „hohen“ Christologie des
Hebräerbriefes, pastoraltheologisch nicht weniger durch Transformationen ntl Themen für Predigten
sowie für die Schriftlesung von Erwachsenen und Kindern heute, sodann sogar durch eigene Texte für
geistliche Lieder und Oratorien. Die Veröffentlichungen belegen, dass der Geehrte in jeder Hinsicht
ein Ausnahmeexeget ist, wobei nicht nur an seine „Büttenpredigten“ gedacht ist.
3
und Elementarisierung komplizierter theologischer Reflexionen zur Aufgabe der Exegeten als
Theologen.
Diese Spannbreite von Jesus und Jesus Christus spiegelt auch die unaufgebbaren
theologischen Widersprüche im christlich-jüdischen Dialog, fokussiert in Christologien, die
mit den Stichworten „Bruder Jesus“ (Schalom Ben-Chorin) und „hohe“ Christologie
angegeben werden können. Vom Beginn des christlichen Glaubens als jüdischer Glaube gab
es diese Spannungen in der Deutung des irdischen Jesus in seinem Verhältnis zum
frühjüdisch bezeugten Gott Israels und aller Völker einerseits und andererseits in den
gläubigen Reflexionen über das Wirken Gottes, des Einen, „durch“ Mittler wie Mose,
Propheten und weitere Gesandte oder durch „Wirkweisen“ Gottes wie Geist, Logos in ihrer
einzigartigen, oft präexistent geglaubten Beziehung zu Gott. Im Rückblick gibt es die eine
Quelle und die vielfachen Ströme der jüdischen Deutungen in Hebräisch, Aramäisch und
Griechisch, in Tora und Talmud, sodann in der Erweiterung der christlichen Deutungen im
Neuen Testament und den weiteren christlichen Schriften. Diese beiden Zugangswege
theologischen Nachdenkens können sich im Schnittpunkt treffen. Faktisch belegen die Texte
im Neuen Testament sowie Glaubenszeugnisse heute, dass der eine oder andere
hermeneutisch gewählte Zugang für das theologische Gesamtkonzept bestimmend bleibt.
Christologische Konzepte in der Dogmengeschichte belegen diese These ebenso wie der
momentane Widerspruch zwischen dem traditionellen, kirchenamtlich verkündeten Glauben
bezüglich der „hohen“ Christologie und der immer stärker feststellbaren Verdunstung dieses
Glaubens nicht nur in der jüngeren Generation der Noch-Kirchenmitglieder.
2. Zwei päpstliche Denkmodelle
Dass auch der theologische Denkansatz von Päpsten nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil
mit ihrer unterschiedlichen Hermeneutik das theologische Gespräch zwischen Juden und
Christen und ihr Verhältnis zueinander heute erleichtern oder erschweren kann, zeigt sich an
den beiden letzten Päpsten. Papst Johannes Paul II. hat wie kein anderer Papst vor ihm die
Wirklichkeit der Menschwerdung Gottes als Judewerdung und das wahre Menschsein Jesu als
Judesein betont. Wohl aufgrund der berechtigten Vermutung, dass der Satz „Jesus war Jude
…“ aus der Erklärung der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum
Judentum mit dem Titel „Hinweise für eine richtige Darstellung von Juden und Judentum in
der Predigt und in der Katechese der katholischen Kirche“ von 19855 mit all seinen
theologischen Implikationen und Konsequenzen für christliche Theologie und Frömmigkeit
kaum bestimmend wurde, monierte er etwa in seiner Ansprache an die Teilnehmer des
vatikanischen Kolloquiums über die Wurzeln des Antijudaismus im christlichen Bereich am
31. Oktober 1997: „Manche Menschen betrachten die Tatsache, daß Jesus Jude war und daß
sein Milieu die jüdische Welt war, als einfachen kulturellen Zufall, der auch durch eine
5
Zum Text vgl. Rendtorff, R. / Henrix, H.H. (Hg.), Die Kirchen und das Judentum I, Paderborn /
München 1988, 98f. Dieser und der Folgeband hg. von Henrix, H.H. / Kraus, W., werden in diesem
Beitrag zitiert als KJ I bzw. II. Die Dokumente seit 2000 erscheinen als digitale Version hg. von
Henrix, H.H. / Boschki, R.
4
andere religiöse Inkulturation ersetzt und von der Person des Herrn losgelöst werden könnte,
ohne seine Identität zu verlieren. Aber diese Menschen verkennen nicht nur die
Heilsgeschichte, sondern noch radikaler: Sie greifen die wahre Menschwerdung selbst an“.6
Ohne die jahrzehntelangen Bemühungen der Exegeten um eine angemessene Deutung des
geschichtlichen Jesus in seiner Zeit und in seinem Milieu (Exegeten können aus den Worten
von Johannes Paul II. eine Ermunterung zu weiterem Bemühen um den geschichtlichen
Jesus7 lesen) wäre eine solche Theologie nicht denkbar, aber auch nicht ohne die
biographischen Erinnerungen an Auschwitz und die Erinnerung an den Glauben seiner
jüdischen Mitschüler und die erfahrene Frömmigkeit der Synagoge in Wadowice.8
Die Inkarnation Jesu Christi in das jüdische Volk bedingt auch eine bisher nicht gekannte
Hochachtung jüdischen Glaubens und jüdischer Frömmigkeit, das heißt auch der heiligen
Schriften Israels als deren Basis, wie Johannes Paul II. immer wieder betonte. Darin
begründet sah er auch die von ihm in die kirchliche Sprache eingeführte Bezeichnung für
Israel als „Volk des ungekündigten Bundes und der Lobpreisungen“9, wobei er sich mit
Nostra aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils auch auf Röm 11,29 berief, da Paulus mit
den biblischen Schriften darin übereinstimmt: „sind doch seine (Gottes) Gnadengaben und
seine Berufung unwiderruflich“ (Art. 4 mit dem weiteren Hinweis auf Röm 9,4-5).
Entscheidend für dieses Bekenntnis des Papstes waren auch hier die Vorarbeiten von
jüdischen Theologen, christlichen Exegeten und christlich-jüdischen Organisationen.
Was die Berufung der konziliaren Erklärung zum erneuerten Verhältnis der katholischen
Kirche zu den Juden auf Röm 9-11 und vor allem 11,28f betrifft, gab es vom ersten Entwurf
der Grundsatzstudie an heftige Diskussionen. Vor allem der Rekurs auf eine einzige
Theologie im Neuen Testament zum Verhältnis von Christen und Juden war manchen
Bischöfen der Kritik bedürftig, die andere „klassische Schriftstellen“ für gegenteilige
Meinungen anführten.10
6
KJ II 109. Zur Rezeption weiterer bibeltheologischer Erkenntnisse durch Papst Johannes Paul II. vgl.
Frankemölle, H., Die Bedeutung der Christologie im christlich-jüdischen Dialog. Bibeltheologische
(und päpstliche) Impulse, in: Diak 33 (2002) 105-113; zu einer systematischen Deutung. vgl. Henrix,
H.H., Johannes Paul II. – Ein großer Freund des jüdischen Volkes, in: Ders., Zuspruch aus fremden
Quellen. Begegnungen mit Persönlichkeiten aus Judentum und Christentum, Kevelaer 2012, 88-101.
7
Genauer müsste man angesichts der Vielfalt des damaligen Judentums vom obergaliläischen
Judentum sprechen. Zur Begründung vgl. zuletzt die Überblicke von März, C.P., Jesus. Sein Weg,
seine Botschaft, seine Zeit, Leipzig 2007; Ebner, M. Jesus von Nazaret, Stuttgart 2007; Frankemölle,
H., Das jüdische Neue Testament und der christliche Glaube, Stuttgart 2009, 35-118; Strotmann, A.,
Der historische Jesus: eine Einführung, Paderborn 2012.
8
Zur Begründung vgl. Kampling, R., „… eine Erfahrung, die ich heute noch in mir trage …“ Die
Israel-Theologie des Papstes Johannes Paul II. Ein Versuch, in: Ders., Im Angesicht Israels. Studien
zum historischen und theologischen Verhältnis von Kirche und Israel, Stuttgart 2002, 261-271.
9
Vgl. etwa KJ I 75f; II 108.154.161.
10
Zur äußerst umstrittenen (auch innerhalb des Vatikans) und langwierigen Entstehung der Erklärung
vgl. Oesterreicher, J., Kommentierende Einleitung, in: LThK. Das Zweite Vatikanische Konzil II,
Freiburg 1967, 406-478; zu den Auseinandersetzungen theologischer Art vgl. ebd. 422.426.440-447;
zu einer theologischen Analyse vgl. Siebenrock, R.A., Theologischer Kommentar zur Erklärung über
5
Nicht anders erging es Papst Johannes Paul II. mit seiner Wendung vom „Gottesvolk des von
Gott nie gekündigten Alten Bundes“. Vor allem die Wiederholung im Schuldbekenntnis in
der großen Liturgie vom ersten Fastensonntag am 12. März 2000 im Petersdom in Rom im
Beisein aller leitenden Kardinäle des Vatikans, erst recht die Hinterlegung der
Vergebungsbitte beim Israel-Besuch vom 21. bis 26. März in der Westmauer des
Herodianischen Tempels, wurde auch von Juden zu Recht als theologisch eindeutiges
Bekenntnis und als nicht zu überbietende, unzweideutige Geste gedeutet. „Es hat um dieses
päpstliche Wort, das sich besonders auf Römer 9-11 stützte, in römischen Kreisen eine
Diskussion darüber gegeben, ob die päpstliche Position vom Neuen Testament gedeckt sei.
Hochrangige Bibelwissenschaftler und Prälaten wandten ein, darin seien wichtige Aussagen
etwa im Hebräerbrief (Hebr 8) oder im zweiten Korintherbrief (2 Kor 3) zu wenig bedacht.
Diese Bedenken haben Johannes Paul II. nicht von seiner theologischen Linie abdrängen
können. Vielmehr hat er seine Position bei weiteren Begegnungen mit Repräsentanten
jüdischer Gemeinschaften wiederholt und bekräftigt.“11
Solche Kritik fordert Exegeten nicht nur zu einer kritisch-theologischen Auslegung der
genannten Stellen und zu ihrem Vergleich im Kontext des Neuen Testamentes heraus,12
sondern erfordert auch eine hermeneutische Reflexion, wie berechtigt überhaupt die Berufung
auf ein einziges Konzept neutestamentlicher Theologie innerhalb der Vielfalt des Neuen
Testaments ist. Ist das nicht Biblizismus? Dennoch ist der Rekurs auf die Einbindung Jesu in
die Geschichte seines Volkes sowie die Einbindung seiner Verkündigung und die der
neutestamentlichen Deutungen in die lange Glaubensgeschichte der Juden durch einen Papst
einzigartig.
Anders als der Ansatz Johannes Pauls II. bei Jesus dem Juden, seiner Einbindung in jüdische
Frömmigkeit und Theologie (Letzteres gilt auch für die Theologie des Paulus) ist bekanntlich
der theologische Ausgangspunkt von Papst Benedikt XVI. Der Öffentlichkeit bekannt wurde
sie durch seine Vorlesung als Papst am 12. September 2006 in Regensburg.13 Zwar erregte sie
vor allem durch das ökumenisch unkluge Zitat aus dem Ende des 14. Jahrhunderts zur
Verbreitung des Islam durch das Schwert viel Kritik, hermeneutisch für unsere Frage ist
jedoch entscheidend seine These zur christlichen Theologie als einer „Synthese von
Griechischem und Christlichem“, wobei diese durchaus berechtigte, für eine bestimmte
Epoche zutreffende Feststellung dahingehend gedeutet wird, „daß das [durch die griechische
Philosophie: H.F.] gereinigte Erbe wesentlich zum christlichen Glauben gehört“, zu seinem
die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, in: Herders Theologischer
Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil III, hg. v. Hünermann, P. / Hilberath, B.-J., Freiburg
2005, 591-693.
11
Henrix, Johannes Paul II. (s. Anm. 6) 92 mit Belegen.
12
Zur eigenen Deutung im gegenteiligen Sinn von 2 Kor 3 vgl. Frankemölle, H., Die paulinische
Theologie im Kontext der heiligen Schriften Israels. „So viele Verheißungen Gottes, in ihm ist das Ja“
(2 Kor 1,20), in: Ders., Studien zum jüdischen Kontext neutestamentlicher Theologien (SBA 37),
Stuttgart 2005, 199-225.
13
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. September 2006, 8.
6
„inneren Wesen“. Entsprechend sieht Papst Benedikt XVI. in den vergangenen Jahrhunderten
„drei Wellen des Enthellenisierungsprogramms“ als Abfallbewegungen: die Reformation im
16. Jahrhundert (gedacht ist wohl an den starken Rückgriff auf die Bibel, vor allem auf ihren
hebräischen ersten Teil), die Aufklärung (in deren Folge sich die historisch-kritische Exegese
entwickelte) und die liberale Theologie im 19. und 20. Jahrhundert (mit dem Erstarken der
Religionswissenschaft, inklusive der Judaistik). Durch diesen Kontext sieht Papst Benedikt
XVI. die Besinnung auf Jesus, „die zur Zeit“ umgeht,14 auch der katholischen
Neutestamentler bestimmt und daher kritisch.
Diesen Vorbehalt zum geschichtlichen Verständnis theologischer d. h. auch biblischer Texte
ist in seinem theologisch systematischen Ansatz begründet, wie bereits seine
Habilitationsschrift zu Bonaventura belegt. Zur geistlichen Schriftlesung kann der Mensch
„nicht von sich aus kommen, sondern nur durch diejenigen, denen Gott es geoffenbart hat,
d.h. durch die Schriften der Heiligen wie Augustinus, Hieronymus und anderer. […] Das
geistliche Verständnis hat bereits seine verbindlichen Regeln, ja Inhalte, empfangen in den
Schriften der Väter. Ihnen wurde dieses von Menschen allein nicht erreichbare Verständnis
ein für allemal ‚geoffenbart‘“, so dass Offenbarung „als einmalig-abgegrenzte und
objektivierte Wirklichkeit“ gefasst werden kann, „die ihre schriftliche Fixierung in den die
Schrift auslegenden Werken der Väter gefunden hat.“15
Diese These von 1959 ist die hermeneutische Konstante im Denken von Papst Benedikt XVI.,
wie etwa ein Beitrag zum Thema „Variationen zum Thema Glaube, Religion und Kultur“ aus
dem Jahre 2003 belegt: „Das Auszeichnende der griechischen Philosophie war es, dass sie
sich nicht mit den überlieferten Religionen und nicht mit den Bildern des Mythos begnügte,
sondern in allem Ernst die Frage nach der Wahrheit stellte. Und so kann man an dieser Stelle
vielleicht doch den Finger der Vorsehung erkennen – warum die Begegnung mit dem
Glauben der Bibel und der griechischen Philosophie wahrhaft ‚providentiell‘ gewesen ist.“16
Diese Synthese ist für Papst Benedikt folglich das Maß aller theologischen Dinge und die
hermeneutische Brille, etwa in zwei Jesus-Büchern über den „wirklichen“ und „historischen“
Jesus zu meditieren. Dieser Ansatz bedingt auch seine Skepsis nicht nur gegen jede Art der
historisch-kritischen Exegese, sondern auch gegen alle Formen der soziopolitischen
Verortung von Theologie (erinnert sei an sein Verhältnis zur Theologie der Befreiung). Auch
seine Vorliebe für die Tridentinische Messe mit der Bitte um die Bekehrung der Juden17 ist
14
Zur Deutung dieses Konzepts und sonstiger damit übereinstimmender Äußerungen und Handlungen
des Papstes nach zweijähriger Amtszeit vgl. Frankemölle, H., Quo vadis, Benedicte? Theologische
Prinzipien des Papstes und ihre kirchlichen Folgen, in: Compass-Infodienst. Online-Extra Nr. 57 vom
September 2007 (abrufbar unter: http://www.compassinfodienst.de/Hubert_Frankemoelle__Quo_vadis__Benedicte.3872.0.html).
15
Ratzinger, J., Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras. Habilitationsschrift
und Bonaventura-Studien, Freiburg 2009, 536f.
16
Ratzinger, J. Kardinal, Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen,
Freiburg 2003, 66-90, ebd. 78; dieses Kapitel wurde für das Buch neu verfasst; vgl. ebd. 46 Anm. 45.
17
Zu kritischen Stellungnamen vgl. Homolka, W. / Zenger, E. „… damit sie Jesus Christus erkennen“.
Die neue Karfreitagsfürbitte für die Juden, Freiburg 2008 sowie die Erklärung des Gesprächskreises
7
letztlich in dieser Hermeneutik der „hohen“ Theologie und Christologie begründet, ohne dass
man ihm vorwerfen kann, er verträte zugleich den bekannten Antijudaismus der Kirchenväter.
Die platonisch-systematische, daher für geschichtliche und gesellschaftlich-soziologische
Aspekte unsensible Theologie lässt es auch an Empathie mit den heute lebenden Juden fehlen:
Die nicht nur Juden irritierende Aufhebung der Exkommunikation schismatischer Bischöfe
der Pius-Bruderschaft, die bis heute wichtige Erklärungen des Zweiten Vatikanischen Konzils
ablehnen und eine eindeutig antijüdische Theologie vertreten, kann wohl nicht anders
gedeutet werden. Für Papst Benedikt ist die jüdische Religion (belegt im Alten Testament)
nur die historische Wurzel des christlichen Glaubens, die erst durch die Christologie – und
dies in der Deutung der Kirchenväter – Heilsbedeutung erhält; einen theologischen Eigenwert
hat sie nicht. Zwar wurden unter seinem Vorsitz wichtige Schreiben zum jüdisch-christlichen
Verhältnis wie das von 2001 zum Thema „Das jüdische Volk und seine heilige Schrift in der
christlichen Bibel“ veröffentlicht, durch sein Vorwort werden zugleich aber wichtige
hermeneutische und im christlich-jüdischen Gespräch oft zitierte Positionen wie die von der
gleichberechtigten Lektüre des ersten Teils der Bibel durch Juden und Christen (Art. 22)
relativiert.18
Erstaunlich ist auch, dass und in welcher Weise die in den kirchlichen Sprachgebrauch von
Papst Johannes Paul II. eingeführte Metapher von den Juden als unseren „älteren“ bzw.
„bevorzugten Brüdern im Glauben“ aufgenommen und umgedeutet wird. Im nachsynodalen
apostolischen Schreiben „Verbum domini“ vom 30. September 2010 heißt es in Nr. 43:
„Papst Johannes Paul II. hat zu den Juden gesagt: Ihr seid ‚unsere ´bevorzugten Brüder`im
Glauben Abrahams, unseres Patriarchen‘. Natürlich bedeuten diese Worte keine Absage an
den Bruch, von dem das Neue Testament in Bezug auf die Institutionen des Alten
Testamentes spricht, und erst recht nicht an die Erfüllung der Schriften im Geheimnis Jesu
Christi, der als Messias und Sohn Gottes erkannt wird. Dieser tiefe und radikale Unterschied
beinhaltet jedoch keineswegs eine gegenseitige Feindschaft.“19 Mit den Kirchenvätern wird
das Verhältnis von Altem und Neuen Testament als „Erfüllung“ gedeutet, dieser Begriff
enthalte aber eine dreifache Dimension: „den grundlegenden Aspekt der Kontinuität mit der
„Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, Nein zur Judenmission – Ja zum
Dialog zwischen Juden und Christen, Bonn 2009 sowie den umfangreichen Sammelband von
Frankemölle, H. / Wohlmuth, J. (Hg.), Das Heil der Anderen. Problemfeld „Judenmission“ (QD 238),
Freiburg 2010.
18
Bonn 2001; zum Vorwort vgl. ebd. 3-8; danach lieferte erst die werdende Kirche nach Festlegung
des Kanons in Fortsetzung der Theologien von Matthäus und Paulus in Christus den
„Deutungsschlüssel“ des AT (ebd. 5). Zu dieser These vgl. Frankemölle, H., Zur Auslegung des
Neuen Testaments im Kontext des Judentums und die kirchliche Rezeption der Bibel heute, in: ThGl
101 (2011) 378-401.
19
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Nachsynodales Apostolisches Schreiben
Verbum Domini von Papst Benedikt XVI. über das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der
Kirche, Bonn 2010, 72.
8
Offenbarung des Alten Testaments, einen Aspekt des Bruches sowie einen Aspekt der
Erfüllung und Überwindung“ 20– im Unterschied zu der Erklärung von 2001 (Nr. 64-65).
Wie hören Juden einen Satz wie „Jesus ist im Glauben der Christen die Tora in Person“21? In
den Evangelien ist Jesus Lehrer der Tora, nach Röm 10,4 ist „Christus Ende“ bzw. „Ziel des
Gesetzes“, keinesfalls mit ihm personal identisch. Die allgemeine jüdische
Glaubensüberzeugung zur eigenen Identität lautet: „Die Juden wissen [von Gott] und dienen
ihm durch die Tora und die jüdische Tradition“22. Wem dient der im gesamten Neuen
Testament unbekannte neue christologische Hoheitstitel? Es dürfte nicht unangemessen sein,
ihn im Sinne der alten, überwunden geglaubten Substitutionstheorie zu lesen, die auch nach
Überzeugung der Gegner der Israel-Theologie Johannes Pauls II. im Hebräerbrief belegt ist.
Die wichtigsten Stellen zur Tora und zum Bund, auf die sie sich berufen, lauten: „Das frühere
Gesetz wird nämlich aufgehoben, weil es schwach und nutzlos war“ (7,18) und: „Indem er
[der Prophet Jeremia in 31,31-34 LXX] von einem neuen Bund spricht, hat er den ersten für
veraltet erklärt. Was aber veraltet und überlebt ist, das ist dem Untergang nahe“ (8,13 nach
dem längsten Zitat im NT in den Versen 8,8-12 aus Jer 31,31-34 LXX).
Was sagen die Exegeten? Stimmen sie dieser Deutung zu? In den vergangenen Jahren hat sich
die hermeneutische Sicht auf den Hebräerbrief deutlich gewandelt, woran auch der Geehrte
maßgeblich beteiligt war.
3. Aufgaben der Exegeten
Dass historisch-kritische Auslegung nur als theologische Auslegung zu verantworten ist, hat
der Geehrte vielfach bewiesen, wie seine Bibliographie bestätigt.
Als Aufgabe der Exegeten kann man nach der historisch-kritischen Auslegung zu Recht mit
ihm auch die Erschließung neutestamentlicher Texte für heutige Prediger angeben.
Exemplarisch schreibt er zum Hebräerbrief: Er „unterscheidet sich im Hinblick auf die
Predigt von anderen Texten des Neuen Testaments. Er erscheint auf der einen Seite in der
20
Ebd. 69; vgl. Ders., Gott und die Welt. Glauben und Leben in unserer Zeit. Gespräch mit Peter
Seewald, Stuttgart / München 2000, 17f: Das AT „bleibt […] ein unfertiges Fragment […], wenn es
nicht ins Neue übergeht.“
21
Kardinal Ratzinger, J. / Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Zweiter Teil vom Einzug in Jerusalem
bis zur Auferstehung, Freiburg 2011, 108. Erstaunlicherweise wertet Henrix, H.H., Papst Benedikt
XVI. und die Juden. Ein Verhältnis unter Argwohn – Zu Recht?, in: Ders., Zuspruch (s. Anm. 6), 1834, ebd. 23 diese „fast titulare christologische Formel“ positiv. Insgesamt erscheint mir seine Skizze
zu stark diplomatisch und zu wenig kritisch zu sein. So fehlt z.B. in seinem Beitrag von 2012 jeglicher
Hinweis auf „Verbum domini“ vom September 2010 (s. Anm. 19).
22
So „Dabru emet“ (s. Anm. 2) These 6, in der es direkt vorher aus jüdischem Mund zu den Christen
heißt: „Christen wissen von Gott und dienen ihm durch Jesus Christus und die christliche Tradition“.
Durch den Satz Benedikts wird dieser Unterschied aufgehoben.
9
Denkweise eher fremder als andere Predigttexte, er ist aber auf der anderen Seite in der
Grundorientierung den heutigen Problemen der Predigt erstaunlich nahe. Er weiß um die
Barrieren bei den Hörern, die nur schwer zu überwinden sind. Er weiß aber auch um solche,
die eigentlich Lehrer sein müssten, aber über die Anfangsrede nicht hinausgekommen sind
und sich damit begnügen, Elementares immer wieder neu zu sagen.“23 Aufgrund der hohen
spekulativen, vom (Mittel-)Platonismus beeinflussten Theologie seines Verfassers – insofern
bietet der Text in der Tat „nicht Milch, sondern feste Speise“ (5,12) – “kann es deshalb nicht
verwundern, dass dieses Schreiben vor aller konkreten Predigtarbeit zunächst einmal die
Prediger anzusprechen und auf ihr Tun hin zu befragen scheint.“24 Auch wenn in der Regel
bei der Frage nach den Adressaten dieser „Mahnrede“ (13,22) allgemein Christen, die in ihrer
Identität verunsichert sind, angenommen werden,25 deute ich diesen homiletischen Hinweis
auch exegetisch auf zukünftige Prediger und Lehrer und nehme diese als Primärhörer an (vgl.
5,12: „der Zeit nach müsstet ihr schon Lehrer sein“). Entscheidend für mich ist die hohe
Ebene der schriftgelehrten und philosophischen Reflexion zur soteriologischen Bedeutung des
Heilswerkes Jesu Christi in Inkarnation und Sterben.
Im Hebräerbrief sind philosophisch Gebildete der damaligen Zeit angesprochen, deren
Adressaten mit denen der Texte Philos von Alexandrien zu vergleichen sind; auf diese
Parallelen wird in der Literatur durchgehend hingewiesen. Hier wie dort findet sich die vom
Platonismus beeinflusste Überzeugung, dass die gegenwärtige Welt nicht nur vergänglich,
sondern auch als „Abbild“ und „Schatten“ nicht die eigentliche Wohnstätte der Gläubigen ist
(vgl. 8,5; 9,23f; 10,1; 13,14 mit Philo, conf 77f.82; her 82; Cher 120f). In der Tat kann man
aufgrund der analogen Verwendung von antithetischen Typologien (vgl. Philo, All II 54-56;
III 46; Mos II 117; Spec I 84; ebr 99) von einer „Aufnahme alexandrinisch-dualistischer
Kategorien“ sprechen, auch wenn sie das „horizontal-eschatologische Denken“ nicht
verdrängen.26 Dies bestätigt allein schon das Stichwort „Verheißung“ in 6,12.15.17; 7,6; 8,6;
9,15; 10,36; 11,9ab.13.17.33.39, die ihre Erfüllung in Jesus Christus findet. In 6,13; 10,23 und
11,11 wird Gott sogar mit der partizipialen Gottesprädikation als „der Verheißende“ definiert.
Dieser kurze Hinweis auf einen Forschungsschwerpunkt des Geehrten mag als Beispiel einer
„hohen“ Christologie im Neuen Testament genügen, da im Hebräerbrief in einer
schriftgelehrten Typologie zu Melchisedek als „Hoherpriester“27 Jesus Christus als ewiger
23
März, C.-P., Den Hebräerbrief predigen. Exegetische Hinweise zur homiletischen Praxis, in: Ders.,
Studien zum Hebräerbrief (SBA 39), Stuttgart 2005, 195-204, ebd. 204.
24
Ebd.
25
Zu den Einleitungsfragen vgl. etwa März, C-P., Hebräerbrief, Würzburg 1989 (NEB 16), 5-20.
Ders., Studien (s. Anm. 23) 15-17. Zu einem Überblick über die kontroversen Thesen vgl. Kampling,
R., Sich dem Rätsel nähern. Fragen zu den Einleitungsfragen des Hebräerbriefes, in: Ders. (Hg.),
Ausharren in der Verheißung. Studien zum Hebräerbrief (SBS 204), Stuttgart 2005, 11-34.
26
März, Hebräerbrief (s. Anm. 25) 13.
27
Zur Christologie des Hebr vgl. etwa März, C.-P., Bibeltheologische Überlegungen zu den
Melchisedek-Bezügen im Hebräerbrief, in: Ders., Studien (s. Anm. 23) 159-175 sowie Söding, Th.,
„Hoherpriester nach der Ordnung des Melchisedek“ (Hebr 5,10). Zur Christologie des Hebräerbriefes,
in: Kampling, Ausharren (s. Anm. 25) 63-109; ebd. 85 lautet eine Unterüberschrift „Melchisedek –
10
Sohn Gottes und „Hoherpriester“ diesen ersetzt. Mechisedek ist nach dem Hebräerbrief nicht,
wie heute im interreligiösen Gespräch oft zitiert wird, „Urgestalt der Ökumene“28, vielmehr
gilt: Die christozentrische Fokussierung der vom Verfasser „entfalteten Soteriologie lässt
keinen Raum für nicht auf Christus gegründete Heilswege.“29 Auf den Kult bezogen bedeutet
dies: „Der Zugang zu Gott wird nicht irgendwie durch jeden Ritus eröffnet, sondern nur durch
Jesus Christus selbst.“30 Damit ist der Heilsweg für Juden, solange sie Juden bleiben,
ausgeschlossen.
Diese theologische Position ist in seiner absoluten Formulierung natürlich keine Basis für ein
christlich-jüdisches Gespräch. Sie steht im fundamentalen Gegensatz zu Röm 9-11 oder zu
anderen Deutungen der Geschichte und des Todes Jesu. Hatten der Evangelist Markus31 und
nach meiner Überzeugung auch Paulus32 zum Beispiel den auch religiös skandalösen Tod
Jesu am Kreuz durch die Römer vor allem mit Hilfe von Psalmen und von der biblisch und
frühjüdisch vorgegebenen Paschatradition her gedeutet, so deutet der Verfasser des
Hebräerbriefes umgekehrt vom Heilstod Jesu als des eigentlichen Hohenpriesters die
biblischen Offenbarungen. Er vertritt ein Evangelium gegen das Evangelium der heiligen
Schriften. Die über dreißig antithetischen Typologien im Hebräerbrief (Jesus – Mose, Jesus –
Engel, Jesus – Melchisedek, Jesus – Leviten …) belegen diesen hermeneutischen
Perspektivenwechsel. Dass der Verfasser bei seinem Versuch, die Identität der Adressaten zu
stabilisieren, das zeitgenössische Judentum nicht erwähnt, ist hermeneutisch nicht harmlos.
Kann die säuberliche Trennung: „Statt um die polemische Herabsetzung des Jüdischen geht es
dem Verfasser um die theologische Relativierung des Irdischen“33 das konkrete Verhältnis zu
den zeitgenössischen Juden ausschließen? Wenn gilt: Der Hebräerbrief „formuliert keine
zeitenthobene Theologie Israels, sondern versucht ein ihm situativ so und nicht anders
König und Priester“. Eine mit der Hohepriester-Theologie vergleichsweise entfaltete KönigsTheologie sehe ich im Hebr nicht.
28
Zur jüdisch-christlichen Deutung vgl. Petuchowski, J.J., Melchisedech. Urgestalt der Ökumene. Mit
einem Nachwort von Franz Mußner, Freiburg 1979; zur Einbeziehung des Islam vgl. Bauschke, M.,
Der jüdisch-christlich-islamische Dialog, Norderstedt 2007.
29
März, Überlegungen (s. Anm. 27) 172 im Kontext der abschließenden hermeneutischen
Überlegungen (ebd. 172-175).
30
Söding, Hoherpriester (s. Anm. 27) 108.
31
Zur Begründung vgl. die überzeugende Auslegung eines systematischen Theologen: Wohlmuth, J.,
Eucharistie als Feier des Bundes. Ein Versuch, das markinische Kelchwort zu verstehen, in: Theobald,
M. / Hoppe, R. (Hg.), „Für alle Zeiten zur Erinnerung“ (Jos 4,7). Beiträge zu einer biblischen
Gedächtniskultur. FS F. Mußner, Stuttgart 2006, 115-131, der ebd. 130 den Perspektivenwechsel im
Hebr betont, in dem er „die Gefahr der Überlegenheit der christlichen Gemeinde gegenüber dem
rabbinischen Judentum“ artikuliert sieht.
32
Zur Begründung vgl. Frankemölle, Auslegung (s. Anm. 18) 388-393 mit weiteren Literaturangaben;
zum oft antijüdisch interpretierten Matthäusevangelium vgl. Ders., Jesus als Immanuel für Juden und
Nichtjuden im Matthäusevangelium, in: Ders. / Wohlmuth, Heil der Anderen (s. Anm. 17) 235-261.
33
So Backhaus, K., Das wandernde Gotttesvolk – am Scheideweg. Der Hebräerbrief und Israel, in:
Kampling, R. (Hg.), „… nun steht aber diese Sache im Evangelium …“. Zur Frage nach den Anfängen
des christlichen Antijudaismus, Paderborn 1999, 301-320, ebd. 312.
11
vorgegebenes Problem christlicher Identitätsbestimmung theologisch zu bewältigen,“34 so
stellt sich die Frage, ob dies im luftleeren Raum geschehen kann oder ob dies nicht, ob man
will oder nicht, auf Kosten anderer geschieht – gerade aufgrund der gewählten literarischen
Gattung „Mahnrede“.
Der These, der Hebräerbrief ist „exegetisch erweislich keine antijudaistische Schrift […],
versteht man unter ‚Antijudaismus‘ eine solche literarische Äußerung, die textpragmatisch auf
eine polemisch-apologetische Depotenzierung Israels – präziser: bestimmter jüdischer
Gruppierungen oder religiöser und ethischer Geltungsansprüche dieser Gruppierungen –
zielt“,35 widersprechen in meiner Lesart Stellen wie 8,7-13 (mit einem Zitat von Jer 38,31-34
LXX) zur Ablösung des „ersten Bundes“ oder 7,18, demzufolge „das frühere Gesetz
aufgehoben wurde, weil es schwach und nutzlos war.“ Mag die Intention des Autors
unpolemisch sein wollen, so stellt sich doch die Frage, ob an diesen und anderen Stellen die
Adressaten – nicht nur heute – dies nur als Relativierung der irdischen Wirklichkeit deuten
(können) oder doch nicht als eine „Depotenzierung“ jüdischer Identität erschließen (müssen).
Auch wenn man in jüngster Zeit unter Exegeten dazu neigt, dass der Hebräerbrief „auch nicht
hintergründig einer wie auch immer gearteten Ablehnung der Juden das Wort redet“,36 da er
sich nicht an jüdische Adressaten richtet, es ihm vielmehr um eine schrifttheologisch
begründete „Mahnrede“ zur christlichen Identitätsstärkung gehe, bleibt die Frage, ob er dies
aus einer Position der überlegenen Stärke tut, wie sie sich im Laufe der langen, sehr
unterschiedlich verlaufenen Trennungsprozesse im Judentum des 1. und 2. Jahrhunderts
feststellen lässt.37
Ist überhaupt christliches Reden über den Glauben möglich ohne Nennung der jüdischen
„Wurzeln“ und der Überzeugungen der „älteren Brüder“? Wie jedes Sprechen und Schreiben
nur im kommunikativen Handlungsmodell verstanden werden kann, so gehört erst recht zu
jedem Bekenntnis die interreligiöse Interdependenz. Für das christlich-jüdische Gespräch
scheint mir diese Sensibilität nicht erst seit „Auschwitz“ unabdingbar zu sein. Was der
Verzicht in der jahrhundertelangen „Zergegnungsgeschichte“ an theologischem
Antijudaismus und Juden eliminierendem Antisemitismus ausgelöst hat, ist bekannt. Daraus
ergeben sich hermeneutische Thesen für christlich-theologisches Sprechen – im Neuen
Testament und heute, erst recht im christlich-jüdischen Dialog: für Päpste, wissenschaftliche
34
Backhaus, ebd. 319.
Backhaus, ebd.
36
Neben Backhaus ist für diese Deutung auch der Geehrte zu nennen: zum Zitat vgl. März, C.-P.,
Nachbarschaft im Glauben oder wachsende Distanz? Israel in der Sicht des Hebräerbriefs, in:
Frankemölle / Wohlmut, Das Heil der Anderen (s. Anm. 17) 328-336, ebd. 335. Vgl. auch Theobald,
M., Zwei Bünde und ein Gottesvolk. Die Bundestheologie des Hebräerbriefs im Horizont des
christlich-jüdischen Gesprächs, in: ThQ 176 (1996) 309-325, der (wohl analog zur Konzeption in Röm
11,25-27) das „am Ende dieser Tage“ (Hebr 1,2) und „Jesus als Anführer und Vollender des
Glaubens“ (Hebr 12,2) auf die Endzeit deutet (ebd. 320-322).
37
Zu einem Überblick vgl. Frankemölle, H., Frühjudentum und Urchristentum. Vorgeschichte –
Verlauf – Auswirkungen (4. Jahrhundert v.Chr. bis 4. Jahrhundert n.Chr.) (Kohlhammer
Studienbücher Theologie 5), Stuttgart 2006, 222-369; zum Hebr ebd. 320-324.398f.
35
12
Theologen, Prediger und allgemein für Christen. Im Hinblick auf den begrenzten Umfang
können sie nur stichwortartig angedeutet werden.
4. Hermeneutische Thesen
4.1. Nimmt man nicht die spätere pharisäisch, immer stärker normativ gewordene Richtung
jüdischen Glaubens zum hermeneutischen Maßstab, sondern das vielgestaltige hebräischaramäische und griechische Judentum, sind die im Neuen Testament belegten Denkmodelle
auch der „hohen“ Christologie ohne Ausnahme jüdisch. Religionswissenschaftlich arbeitende
jüdische Gelehrte können dies in aller Klarheit formulieren: „Jesu Lehre war jüdisch und das
gleiche gilt für die Christologie und alle ihre Bestandteile. […] Die gesamte Christologie ist
ein erhabener Ausdruck der Tendenz im Judentum zur Zeit des zweiten Gemeinwesens (des
zweiten Tempels)“.38 Ein normatives Judentum existierte noch nicht; konservative und
reformorientierte Glaubensrichtungen (zu letzteren gehörten die Jesusanhänger) standen
nebeneinander. Folglich stand jüdischer Glaube gegen jüdischen Glauben.
4.2 Alle neutestamentlichen Texte sind Bekenntnisse. Sie enthalten Zeugnisse eines neuen
jüdischen Glaubens, begründet in den Überzeugungen ihrer Verfasser – gerichtet an
bestimmte Adressaten, um sie zum eigenen Glaubensweg zu führen. Die Vielfalt der
Konzeptionen (nicht nur in den vier Evangelien) und Denkmodelle ist begründet in der
Vielfalt der Lebenswelt der Adressaten und ihrer sprachlichen Voraussetzungen.39 An den
paulinischen Briefen kann man studieren, wie ein und derselbe Autor unterschiedliche
Akzente setzt und ihm vorgegebene Traditionen ständig aktualisiert.40 Eine systematische
Theologie und systematische Lehraussagen entwirft kein Verfasser. Die ab den 1950-ger
Jahren unter Exegeten aufgebrochene Diskussion um den „Kanon im Kanon“ oder um die
„Mitte der Schrift“ litt unter einer systemischen innertextlichen Hermeneutik.41
38
So etwa Flusser, D., Das Schisma zwischen Judentum und Christentum, in: EvTh 40 (1980) 214239, ebd. 216f; zu weiteren Stimmen von Leo Baeck, Jacob Neusner, Phillip Sigal vgl. Frankemölle,
Neue Testament (s. Anm. 7) 19-22; ebd. 92-118 zur Vielfalt der Glaubensüberzeugungen der
damaligen jüdischen Gruppen.
39
Zu Änderungen im atl Gottesbild, in den Aussagen zur Schöpfung und zur Auferweckung im
aramäischen und griechischen Judentum (als Voraussetzungen für die ntl Modelle) vgl. Frankemölle,
Frühjudentum (s. Anm. 37) 128-221. Zur geschichtlich bedingten Vielfalt der ntl Konzeptionen (als
Modell und Maßstab jeder Theologie) vgl. Theobald, M., Exegese als theologische Basiswissenschaft.
Erwägungen zum interdisziplinären Selbstverständnis neutestamentlicher Exegese, in: JBTh 25 (2010)
105-139.
40
Zu Paulus vgl. zuletzt Theobald, M., „Geboren aus dem Samen Davids …“ (Röm 1,3). Wandlungen
im paulinischen Christus-Bild?, in: ZNW 102 (2011) 235-260, der die Frage aufgrund der
verschiedenen Adressaten bejaht und für den Röm eine judenchristliche Kontur in der Christologie
vertritt (ebd. 258-260).
41
Zur Begründung vgl. Frankemölle, H., Schriftverständnis, Kanon, Mitte u.a., in: Handbuch theologischer
Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 22009, 42-48.264-266.321f.
13
4.3 Aktualisierung bedeutet in der Bibel sowie im frühen Judentum (auch in Qumran) keine
Kommentierung bzw. Auslegung der Texte (wie in der historisch-kritischen Exegese
angestrebt), sondern Fortschreibung und Transformation – oft auch gegen den vorgegebenen,
hier und da sogar zitierten Text, wie die abgeänderten Zitate von Ps 143,2 LXX in Röm 3,20
oder von Hab 2,4 in Röm 1,17 exemplarisch belegen können.42 Diese Hermeneutik gilt auch
für die Verfasser der Texte auf den ersten Konzilien. Nicht einmal der jüngere Teil der
heiligen Schriften, das Neue Testament, wurde als maßgebend angesehen, wie aus der
Diskussion mit den Arianern zu ersehen ist, denen „mit Schriftargumenten einfach nicht
beizukommen war“.43 Die Zuversicht der Kirchenväter, „zu wissen, was ‚schriftgemäß‘ sei
und der ‚Glaubensregel‘ entspreche“, kann man „teilweise“ nur mit „naiv“ bezeichnen.44
4.4 Die Reflexion bzw. Relektüre des Glaubens mittels neuer Denkmodelle aus der Umwelt
gehört zur geschichtlichen Einbettung der biblischen Texte. Die weisheitstheologische
Literatur aus hellenistischer Zeit im Alten und Neuen Testament (etwa im Buch der Sprüche,
in Jesus Sirach oder im Jakobusbrief) bestätigt diese Erkenntnis nicht weniger als die
nachneutestamentlichen Reflexionen der Kirchenväter oder die dogmatischen Entscheidungen
der ersten Konzilien mittels platonischer Philosophie. Die „Höhe“ und Abstraktheit der
Gedanken ist nicht entscheidend und wird solange nicht gnostisch genannt werden können,
wie der Bezug zum Grundbekenntnis Israels (Inhalt ist der als Handeln Gottes gedeutete
Auszug aus Ägypten und die Offenbarung seiner Tora am Sinai) oder der Bezug zum
erweiterten Grundbekenntnis des Christentums (der Glaube an das neue Handeln Gottes in
Jesus von Nazareth) festgehalten wird.
Es existieren in der Bibel verschiedene theologisch gleichberechtigte Deutungen, mag man
auf dieser geschichtlichen Basis stärker Anfang, Verlauf oder Ende der Geschichte
reflektieren oder rituelle Praktiken und ethische Praxis. Gott ist in jedem Fall die Mitte der
Schrift im Alten und Neuen Testament, für den spezifisch christlichen Glauben gebunden an
seine Geschichte mit dem irdischen Jesus. Diese wird mit allen verfügbaren, jüdisch
vorgegebenen Konzepten gedeutet, weniger mit nichtjüdischen. Wer die für christlichen
Glauben einzigartige Verbindung von Gott und geschichtlichem Jesus bzw. gemäß 1 Joh 4,3
(varia lectio) wer „Jesus auflöst/außer Geltung setzt, ist nicht aus Gott.“
4.5 Christliche Glaubens- und Dogmengeschichte ist durch Jahrhunderte hindurch immer
stärker „durch einen zunehmenden Verlust an geschichtlichem Realitätsbezug“
gekennzeichnet. „Die Lehre von Gott und von der Dreifaltigkeit wurde dargestellt noch vor
42
Zur christologischen Relektüre und zur typologischen Methode der Aneignung atl Stellen im Hebr
vgl. Kowalski, B., Die Rezeption alttestamentlicher Theologie im Hebräerbrief, in: Kampling,
Ausharren (s. Anm. 25) 35-62.
43
Sieben, H.J., Sola traditione? Zur Rolle der Heiligen Schrift auf den Konzilien der Alten Kirche, in:
Schöllgen, G. / Scholten, C. (Hg.), Stimuli. Exegese und ihre Hermeneutik in Antike und Christentum.
FS E. Dassmann (JAC 23), Münster 1996, 270-283, ebd. 282.
44
So Ritter, A.M., Ist die Dogmengeschichte Geschichte der Schriftauslegung?, in: Stimuli (s. Anm.
42) 1-17, ebd. 17.
14
jedem Bezug auf Schöpfung, Menschwerdung, Einwohnung und Heiligung, als ein Thema,
das von der Offenbarungsgeschichte nicht mehr affiziert wurde.“45
Für ein erneuertes, christlich-jüdisches Verhältnis hat entsprechend hermeneutisch zu gelten,
„daß der einzige Ort einer sinnvollen gegenseitigen Verständigung nur die
Offenbarungsgeschichte sein kann. Auf diesem Boden hat die jüdische Gotteslehre sich in
eine spannungsvolle Beziehungsoffenheit Gottes hinaus gewagt; von diesem Boden aus ist
aber auch die christliche Trinitätslehre zuerst als offenbarungs- und heilsgeschichtliche
Trinitätslehre entwickelt worden. Nachdem sie sich verhängnisvollerweise in eine nur noch
innergöttliche
Spekulation
einschloß,
entfiel
der
gemeinsame
Ort
der
Offenbarungsgeschichte. So gilt es, diesen gemeinsamen Ort wieder aufzusuchen, auf dem
auch weitgehend die gemeinsame Sprach- und Symboltradition angesiedelt ist, mit der das
Judentum schon von Gottes Lebendigkeit gesprochen hat, mit der das Christentum immer
noch von Gottes Einheit sprechen muß. Die Herkunft der christlichen trinitarischen Symbole
und Begriffe aus der jüdischen Reflexion über Gottes geschichtliche Präsenz [...] stellt mehr
als einen bloß religions- und theologiegeschichtlichen Zusammenhang dar, sondern führt in
einen gemeinsamen Erfahrungsraum zurück.“46
An dieser Hermeneutik sind auch neutestamentliche Christologien zu prüfen, ob und
inwieweit sie den im Glauben bezeugten Bezug zu Gottes Handeln in Schöpfung und
Geschichte sowie in Jesus von Nazareth festhalten oder ihn verdrängen bzw. inwieweit sie
den theologischen Eigenwert der jüdischen heiligen Schriften in Hebräisch und Griechisch
bezeugen oder ablehnen.47 Das Verhältnis ist von Text zu Text sehr differenziert.
Entscheidend ist, ob sie für heutige Christen in ihrer sehr komplizierten und unterschiedlichen
Lebenssituationen weltweit die Wirklichkeit erschließen und so überhaupt Glauben
ermöglichen. Der Aufruf zu echtem christlichen Leben in Hebr 13,1-19 zum Lobpreis Gottes
und zum solidarischen Tun bleibt aktuell und ist in die Gegenwart zu transformieren. Ohne
Rezeption und Aneignung durch neue Adressaten bleibt jedes theologische Konzept
unwirksam. Was die Rezeption nach der Schoa betrifft, erwies sich Röm 9-11 als ökumene-
45
Wiederkehr, D., Christusglaube und Glaube an den einen Gott. Zum Spannungsverhältnis zwischen
Monotheismus und Trinitätslehre, in: Thoma, C. / Wyschogrod, M. (Hg.), Das Reden vom einen Gott
bei Juden und Christen (JudChr 7), Bern 1984, 131-155, ebd. 132f.
46
Ders., Entfernungen – Annäherungen – Horizonte: Bewegungen eines Gesprächs um den einen
Gott, in: Thoma / Wyschogrod, Reden (s. Anm. 44) 221-227 (Zusammenfassung eines jüdischchristlichen Symposions zum Thema), ebd. 225.
47
Exemplarisch erinnert sei an die in den 1950-ger Jahren favorisierte doketisch-gnostische Deutung
der Christologie im Johannesevangelium und an die These eines hier vertretenen „naiven
Doketismus“, dem zufolge Jesus als ein über die Erde schreitender Gott bezeugt werde; vgl. etwa
Käsemann, E., Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 31971. Zu Sinn und Grenzen mythischer
Rede im NT vgl. Klauck, H.-J, „Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit“ (1 Kor 1,24). Jüdische
Weisheitsüberlieferungen im Neuen Testament, in: Ders., Alte Welt und neuer Glaube. Beiträge zur
Religionsgeschichte, Forschungsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments (NTOA 29),
Freiburg 1994, 251-275, der ebd. 273f die „Bindung an die geschichtliche Person Jesu“ betont.
15
und lebensfördernd und sollte maßgebendes Modell sein, das wert ist, theologisch
weiterentwickelt zu werden.
Ob dies auch für „König und Priester“ als christologische Hoheitstitel gilt (denkt man an den
Einzug Jesu in Jerusalem auf einem Esel und an seine kritischen Worte gegen einseitige
Tempelfrömmigkeit), sei dahingestellt. Immerhin konnte das 1925 von Papst Pius XI.
eingeführte Christkönigsfest für die Katholiken sehr wohl in der NS-Zeit gegen den totalen
Machtanspruch des Faschismus glaubensstärkend sein. Ähnliche Worte sind im Neuen
Testament gegen politische Davids-Erwartungen im Judentum und gegen imperiale, absolute
Ansprüche der römischen Kaiser im frühen Christentum belegt. Diese kommunikative
Sprachhandlung als Kontext bestimmt ihre Wahrheit; systematische Lehraussagen sind sie
nicht.
4.6 Jüdische Theologen (von den einfachen jüdischen Gläubigen ganz zu schweigen) mögen
nicht daran interessiert sein, wie „hoch“ die christlichen Kirchen ihren christologischen
Glauben ansetzen und mit welchen auch philosophischen Kategorien sie ihn deuten. Jedoch:
Immer bleibt entscheidend, welchen Absolutheitsanspruch diese damit erheben, das heißt, ob
dies auf Kosten des jüdischen Glaubens geschieht und ob damit der eigene jüdische Glaube
theologisch – wie in der Karfreitagsfürbitte – abgewertet wird. Christologie im Sinne der
Kirchenväter in der Beschränkung auf innerchristliche Reflexionen muss nicht antijüdisch
sein, steht aber immer im Verdacht, aus einer absoluten Zusage im Glauben zu Jesus einen
Absolutheitsanspruch des Christentums zu machen.
Innerchristlich ist aufgrund des hermeneutischen Prinzips „Schrift und Tradition“ bei der
Transformation christlichen Glaubens der Bezug zur Offenbarungsgeschichte zu wahren –
gründend in Jesus Christus und in Gottes Handeln durch ihn und an ihm. Exegese ist daher
immer eine historische Theologie im Dienst für andere theologische Fächer und für das
Lehramt, ihr Gegenstand, die Geschichte und die historisch-theologischen Deutungen in der
Bibel sind in ihrer Vielfalt bleibender Maßstab.
Was Johannes Paul II. im Kontext der schwierigen Aufarbeitung der Schuld der katholischen
Kirche bei der Vernichtung der Juden in der Schoa am 1. September 1999 bei der
Generalaudienz formulierte, gilt für die Theologie insgesamt: „Die Kirche fürchtet gewiss
nicht die Wahrheit, die aus der Geschichte kommt, und ist bereit, Fehler anzuerkennen, wo
diese festgestellt sind, vor allem, wenn es um die den Personen und Gemeinschaften
geschuldete Achtung geht.“ 48
48
KJ II (s. Anm. 5) 129. – Diesen Zitathinweis verdanke ich einem Beitrag des Kirchenhistorikers
Hubert Wolf, der eine analoge Hermeneutik zu der hier angedeuteten vertritt, wie ich nach Abschluss
meines Manuskriptes feststelle; vgl Wolf, H., Es ging auch anders. Johannes Paul II. sagte: „Die
Kirche fürchtet die Wahrheit nicht.“ Tut sie es doch? Jedenfalls wird es Zeit, dass sie sich bei
Reformen an verdrängte Traditionen erinnert – und auf die Historiker hört, in: Süddeutsche Zeitung
vom 14./15. August 2012, 10.
16
DER AUTOR
Hubert Frankemölle, Prof. em. Dr. theol.; katholischer Neutestamentler (1969-1979 in
Münster, 1979-2004 in Paderborn). Von 2000 bis 2010 im Bundesvorstand des Deutschen
Koordinierungsrates (DKR) der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit; seit
1997 Mitglied im Gesprächskreis „Juden und Christen“ beim Zentralkomitee der deutschen
Katholiken (ZdK), seit 2007 Mitglied der „Unterkommission für die religiösen Beziehungen
zum Judentum“ der Deutschen Bischofskonferenz. Zahlreiche Veröffentlichungen auch zu
jüdisch-christlichen Themen.
Kontakt zum Autor über:
[email protected]
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