Warum die Schweiz mehr Deliberation gut

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Warum die Schweiz mehr Deliberation gut brauchen könnte: ein Plädoyer1
Tagung „Demokratie in der Krise“, Stiftung Lucerna und NCCR Democracy, 15./16. März 2013
Andre Bächtiger, Universität Luzern
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Deliberation ist in den letzten Jahren zum einem zentralen Referenzpunkt in der politischen
Philosophie geworden. Deliberation beinhaltet einen Prozess des rationalen Abwägens von
Argumenten und Sichtweisen, bei dem die Teilnehmenden ihre Positionen ausführlich
begründen, respektvoll mit anderen Meinungen umgehen, und sich vom besten Argument
leiten lassen. Ziele der Deliberation sind Wissensgewinn, gemeinwohlorientierte
Meinungsänderungen, mehr Verständnis für andere Positionen sowie Konsensfindung.
Deliberation hat auch einen egalitären Anspruch: Es sollen all diejenigen teilnehmen können,
die von einem Entscheid potentiell betroffen sind; daneben sollen auch gezielt benachteiligte
Gruppen in der Gesellschaft – wie untere soziale Schichten und kulturelle Minderheiten – in
den deliberativen Prozess miteinbezogen werden (siehe auch Bächtiger und Parkinson
2014). Deliberationstheoretiker wie der deutsche Philosoph Jürgen Habermas erachten
Deliberation als notwendige Bedingung, um in modernen Gesellschaften, die über keinen
gemeinsamen moralischen Bezugsrahmen mehr verfügen, zu sachlichen und breit
abgestützten Entscheidungen zu gelangen. Viele Deliberationstheoretiker erwarten auch,
dass Deliberation besser informierte Staatsbürgerinnen und Staatsbürger hervorbringt und
die Qualität politischer Entscheidungen verbessert.
Meine These ist, dass mehr Deliberation der Schweiz gut anstehen würde, und zwar sowohl
in der Politik als auch in direktdemokratischen Abstimmungen. Auf den Punkt gebracht: in
der Politik kann Deliberation helfen, besser informierte Politiken sowie kreative und breit
abgestützte Kompromisse zu produzieren sowie Verständnis für Minderheitsanliegen zu
fördern. In der direkten Demokratie kann Deliberation den Wissensstand der Bürger erhöhen
und zu anderen Abstimmungsergebnissen führen.
Bevor ich meine These weiter ausführe, sollen zuerst ein paar Grundlagen zu Deliberation in
der Politik und in der direkten Demokratie präsentiert werden. In einem ersten Schritt werde
ich zeigen, dass die Schweizer Politik aus vergleichender Perspektive eine deliberative Insel
ist, wobei der Inselstatus aber langsam am Verschwinden ist. In einem zweiten Schritt werde
ich darlegen, warum direkte Demokratie nicht zwingend deliberativ ist, wie sie deliberativer
gemacht werden könnte, und was das konkret bringt. Darauf aufbauend sollen dann jeweils
einige Überlegungen angestellt werden, was mehr Deliberation der Schweizer Demokratie
bringen würde, und wie so etwas praktisch zu bewerkstelligen wäre.
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Folgender Beitrag ist ein Zusammenschnitt und eine Weiterführung verschiedener deutschsprachiger Artikel zu
diesem Thema: André Bächtiger und Marco R. Steenbergen (2013): Faktenordner Deliberative Demokratie, in:
Visual Reader Demokratie, Hrsg. Hanspeter Kriesi; André Bächtiger (2013): Deliberation in der direkten
Demokratie. In: Auer, Andreas (Hrsg.), Tagungsband zur Demokratiekonferenz in Aarau (21./22. Juni 2012);
André Bächtiger (2007). Deliberation und Multifunktionalität. In: Wüstemann, Henry, Stefan Mann und Klaus
Müller (Hg.), Multifunktionalität. Von der Wohlfahrtsökonomie zu neuen Ufern. München: Oekom.
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Deliberation in der Politik – die Schweiz als deliberative Insel?
Es gibt eine lange Tradition in der politischen Philosophie, welche die Wichtigkeit von
Deliberation in der Politik betont. Der englische Philosoph John Stuart Mill beispielsweise
betonte, dass sich gewählte Volksvertreter bei ihren Entscheidungen vom besseren
Argument leiten lassen sollten. Doch viele Politikwissenschaftler betonen, dass in Politik
nicht Deliberation, sondern Macht, Strategie und Interessendurchsetzung im Vordergrund
stehen. Auch wird argumentiert, dass Politiker aus politischem Kalkül heraus emotionale
anstatt rationale Argumente benutzen, weil diese den Bürgerinnen und Bürgern einfacher
zugänglich sind und besser haften bleiben. Doch heisst dies nun, dass in der Politik
Deliberation gar nicht vorkommt? Die Antwort lautet klar nein: das politische System und der
politische Kontext spielen eine entscheidende Rolle für die Deliberationsqualität politischer
Debatten. Das Schweizerische Konkordanzsystem ist dabei ein deliberationsförderlicher
Kontext. Zum einen sind alle wichtigen politischen Kräfte in die Regierungsarbeit
eingebunden, wodurch die Bedeutung des Wahlwettbewerbs abnimmt. Zum andern gibt es
oft einen Verhandlungszwang, d.h. die Positionen der beteiligten Akteure können nicht ohne
hohe Kosten übergangen werden. In der Schweiz wird dieser Verhandlungszwang durch die
direkte Demokratie befördert. Die Erfahrung zeigt, dass durch die Einbindung aller wichtigen
politischen Kräfte ein Referendum verhindert, oder - wenn es doch zustande kommt -, relativ
leicht gewonnen werden kann. In der Tat enthält Konkordanz deliberative Elemente. Laut AltBundesrat Samuel Schmid ist das „Schmiermittel“ der Konkordanz das „das gütliche
Einvernehmen und der konstruktive Dialog“2, beides zentrale deliberative Prinzipien. In
Wettbewerbssystemen wie Grossbritannien dagegen stehen sich Regierung und Opposition
als erbitterte Gegner gegenüber, und in der Regel hat die Opposition auch keine Möglichkeit,
die Politik der Regierung zu beeinflussen. Somit kann die Regierung die Argumente der
Opposition nicht nur ignorieren, die ständige Konkurrenz zwischen Regierung und
Opposition verunmöglicht respektvolle und konstruktive Diskussionen. Da sehr viele
politische Systeme auf der Welt wettbewerbsorientiert sind, hat die Schweiz den Charakter
einer deliberativen Insel. Das lässt sich mit einigen Zahlen aus den 1990er Jahren
verdeutlichen: im Schweizer Nationalrat liegt expliziter Respekt und Zustimmung zu
Gegenpositionen bei rund 16%, im deutschen Bundestag – ein Regierungs-OppositionsSetting - bei 7%. Ähnlich sind die Unterschiede bei abwertenden Äusserungen: im Schweizer
Nationalrat ist die Quote 20%, im deutschen Bundestag 30% (siehe Bächtiger 2013; Steiner
et al. 2004). Selbstverständlich gibt es neben Konkordanz noch weitere Faktoren, welche die
Deliberationsqualität in der Politik beeinflussen:
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-
-
2
Nicht-Öffentlichkeit (wie Schweizerische Parlamentskommissionen): hinter
verschlossenen Türen, wo der Druck der Öffentlichkeit kleiner ist, können Politiker
viel einfacher Respekt und konstruktive Haltungen für andere Positionen
aufbringen oder sogar ihre Meinung ändern;
Zweitkammern: seit der Antike werden Zweitkammern – wie der schweizerische
Ständerat oder der amerikanische Senat - als Arenen gesehen, die Reflexion und
Deliberation im politischen Prozess stärken. Zweitkammern sind überdies kleiner
als Erstkammern und ihre Mitglieder verfügen in der Regel auch über mehr
politische Erfahrung, was zusätzlich deliberationsförderlich wirkt;
Tiefe Parteidisziplin: wenn Politiker stets mit ihrer Partei stimmen müssen, dann
werden Deliberation und Meinungsänderungen schwierig. Hohe Parteidisziplin ist
ein Kennzeichen parlamentarischer Systeme wie etwa Deutschland, wo
http://www.uniaktuell.unibe.ch/content/geistgesellschaft/2011/konkordanz/index_ger.html
2
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Regierung und Parlament in einem Vertrauensverhältnis stehen. Wenn in
parlamentarischen Systemen Parlamentarier ihre Meinungen ändern und gegen
ihre eigene Regierung stimmen, dann ist die Stabilität der Regierung gefährdet. In
präsidentiellen Systeme wie den USA dagegen, wo Präsident und Parlament in
keinem Vertrauensverhältnis stehen, sind Parlamentarier unabhängiger und
können eher miteinander deliberieren.
Regierungs- und Mitteparteien: Da Regierungs- und Mitteparteien vom
erfolgreichen Zustandekommen von Politiken wahlmässig profitieren können,
haben sie ein gewisses Interesse, sachbezogen und kompromissorientiert zu
politisieren. Oppositionelle und populistische Parteien dagegen haben ein grosses
Interesse, politische Erfolge anderer Parteien zu verhindern, da dies ihnen
wahlstrategisch Vorteile bringt. Folglich ist ihr Interesse an Deliberation gering;
Themenpolarisierung: Bei politisch stark polarisierten Themen, wo auch die
ideologischen Unterschiede zwischen Parteien gross sind, wird Deliberation
schwierig. Bei weniger polarisierten Themen dagegen, wie etwa den Bedürfnissen
von behinderten Menschen, stehen sich Politiker ideologisch näher, was
konstruktivere Debatten möglich macht.
Schliesslich kann man sich auch fragen, was denn mehr Deliberation in der Politik konkret
bringt. Mein Kollege Markus Spörndli ist dieser Frage am Beispiel des deutschen
Vermittlungsausschusses
nachgegangen
(Spörndli
2004).
Der
deutsche
Vermittlungsausschuss ist ein Gremium, dessen Aufgabe darin liegt, einen Kompromiss
zwischen Bundestag und Bundesrat zu finden. Von seinem Deliberationspotential her ist der
Vermittlungsausschuss durchaus mit Schweizer Kommissionen zu vergleichen. Spörndli
konnte zeigen, dass auf Debatten mit hoher Deliberationsqualität mehr einstimmige
Entscheidungen folgen.
Ein konkretes Beispiel für hochstehende Deliberation in der Politik mit Wirkung auf das
konkrete Ergebnis ist die Beratung zur Revision des Sprachenartikels in den 1990er-Jahren
(siehe auch Pedrini et al. 2013). Diese Revision ging auf die Motion des Rätoromanen Martin
Bundi aus dem Jahre 1986 zurück, welche die Stellung des Rätoromanischen stärken sollte.
Der Bundesrat arbeitete daraufhin einen Verfassungsartikel aus, der zwei Prinzipien explizit
in die Verfassung aufnehmen wollte: die Sprachenfreiheit – das Recht, seine Muttersprache
überall sprechen zu dürfen – sowie das Territorialitätsprinzip, das genau regelt, welche
Sprache in einem Kanton gesprochen wird. Mit der expliziten Erwähnung der
Sprachenfreiheit in der Verfassung sollte den Rätoromanen mehr Flexibilität bei der
Ausübung ihrer Sprache gewährleistet werden. Doch der bundesrätliche Entwurf stiess bei
französisch- und italienischsprachigen Politikern auf gehörigen Widerstand. Sie befürchteten
eine Germanisierungsgefahr: Deutschschweizer könnten dann in französischsprachigen
Kantonen und im italienischsprachigen Tessin deutschsprachige Schulen einfordern, ja diese
auf dem Rechtsweg gar erzwingen. In der parlamentarischen Beratung zum Sprachenartikel
waren viele Vertreter der Deutschschweizer Mehrheit sehr respektvoll im Umgang mit
Argumenten der sprachlichen Minderheiten. Zudem gab es bei diesem Thema eine grosse
Bereitschaft, eine optimale Lösung für alle Sprachminderheiten – Rätoromanen, Tessiner
und Romands – zu finden. Nicht nur haben einige Parlamentarier ihre Meinung geändert,
auch hatte die Debatte oft akademisches Niveau. Dies kann auch anhand einiger Zahlen
belegt werden: 54 Prozent aller Reden beinhalteten elaborierte Begründungen, 26 Prozent
waren gemeinwohlorientiert und 70 Prozent waren explizit respektvoll. Diese Werte liegen
deutlich über den Werten in gewöhnlichen Parlamentsdebatten.
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Nach mehrjähriger Debatte und intensiver Suche nach kreativen Lösungen - wie z.B. ein
hierarchisches Verhältnis von Territorialitätsprinzip und Sprachenfreiheit - kamen die
Parlamentarier zu dem Schluss, dass die explizite Erwähnung der beiden Prinzipien in der
Verfassung kein gangbarer Weg ist. Daraufhin schlugen zwei französischsprachige
Ständeräte vor, die Verfassungsdebatte beiseite zu schieben und sich ganz auf die
Problematik der Rätoromanen zu konzentrieren. Der neue Sprachenartikel solle nur
Regelungen beinhalten, mit denen man bedrohten sprachlichen Minderheiten finanziell unter
die Arme greifen kann. Dieser Kompromissvorschlag fand sehr breite Zustimmung in
National- und Ständerat und ging auch problemlos in der Volksabstimmung durch. Auch
wenn er in den Medien gerne als «Fleisch ohne Knochen» bezeichnet wurde, war er doch
das Produkt hochstehender Deliberation, deren Resultat vom Respekt gegenüber den
unterschiedlichen Anliegen der Sprachminderheiten und der Einsicht in die Komplexität der
Materie geprägt war.
Klar, die Deliberationsqualität politischer Debatten im schweizerischen Konkordanzsystem ist
nicht automatisch hoch. Wie bereits erwähnt, hängt viel vom Thema ab, das zur Debatte
steht. Sprachdebatten in der Schweiz berühren einen zentralen Punkt schweizerischer
Nationalität, wobei es starke historische Mythen von gegenseitigem Verständnis und
Respekt zwischen den Sprachgruppen gibt. Dadurch besteht in der Schweiz bei
Sprachdebatten ein grosser Wille zur politischen Zusammenarbeit. Bei wirtschafts- und
sozialpolitischen Vorlagen ist dieser Wille zur Zusammenarbeit klar weniger ausgeprägt, und
die Deliberationsqualität sinkt entsprechend (obwohl es in der alten Konkordanz auch hier
punktuell deliberative Momente gab). Zudem, und das ist für diese Tagung besonders
wichtig, hat sich im letzten Jahrzehnt der politische Stil im Schweizerischen
Konkordanzsystem spürbar verändert: der Wahlerfolg der Schweizerischen Volkspartei
(SVP) hat die anderen Parteien gezwungen, auf den populistischen und aggressiven
Diskussionsstil der SVP zu reagieren und deliberatives Verhalten, wie wir es bei der
Beratung des Sprachenartikels gesehen haben, vielfach aufzugeben. Der Verlust
deliberativen Handelns geht auch einher mit einer stärkeren Mediatisierung der Politik. Einzig
in der zweiten Kammer, im Ständerat, finden sich aktuell noch Ansätze zu differenzierter und
respektvoller Argumentation.
Aus meiner Sicht ist der Rückgang der Deliberationsqualität und der damit verbundene
Verlust an Sachlichkeit der demokratischen Auseinandersetzung in der Tat ein Problem.
Komplexe politische Systeme wie die Schweiz sind auf Deliberation angewiesen.
Deliberation kann dabei helfen, dass Akteure in einem komplexen Umfeld Unsicherheit und
Unwissen überwinden, dass sie mittels Diskussion neue Alternativen generieren, und dass
sie Verständnis gegenüber Interessen von Minderheiten und weniger privilegierten Gruppen
entwickeln. Die Debatte zum Sprachenartikel zeigt deutlich auf, dass Politiker in qualitativ
hochstehenden Diskussionen nicht nur etwas lernen können, sondern dass Deliberation
auch die Suche nach kreativen Politiken auslösen kann, die – auch wenn sie nicht immer
umgesetzt werden können – letztlich doch minderheitsfördernde Massnahmen und breit
abgestützte Kompromisse begünstigen. Die aktuell stark polarisierte Politik in den USA zeigt
deutlich auf, was passiert, wenn Politiker ihre Bereitschaft zu Deliberation und Kompromiss
verlieren. Wie beim „fiscal cliff“ resultieren dann politische Blockaden oder Kompromisse auf
dem kleinsten gemeinsamen Nenner, die weder minderheitsschützend sind noch win-winSituationen für die Gesamtgesellschaft darstellen. Kommt hinzu, dass stark polarisierte
Politik auch das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Politik untergräbt. Ein
spannendes Experiment von Diana Mutz (2007) zeigt, dass, wenn ein Thema sehr
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kontrovers aufgezogen ist, Bürger sehr viel weniger Vertrauen in die Politik haben als wenn
ein Thema konsensualer abgehandelt wird.
Deliberation in der direkten Demokratie
Das Verhältnis von Deliberation und direkter Demokratie ist grösstenteils unerforscht,
gleichzeitig aber auch umstritten. Einige Autoren (z.B. Hanspeter Kriesi) weisen darauf hin,
dass direktdemokratische Abstimmungen Bürgerinnen und Bürgern mit unterschiedlichen
Argumenten und Sichtweisen konfrontieren und intensive Diskussionen auslösen können.
Die Mehrheit der Autoren ist aber klar der Meinung, dass direkte Demokratie und
Deliberation nicht so einfach miteinander kombinierbar sind. Dies aus zwei Gründen.
Erstens, können Diskussionen über ein Abstimmungsthema nicht automatisch mit
Deliberation gleichgesetzt werden. Wie der amerikanische Rechtswissenschaftler Cass
Sunstein wiederholt betont hat, diskutiert man oft nur mit Leuten, die ähnliche Meinungen
vertreten; oder man hört wohl Gegenargumente, wertet diese aber sogleich als untauglich
ab. Das Ergebnis ist dann lediglich Verstärkung der bestehenden Meinung (oder
Meinungspolarisierung). Deliberation dagegen heisst, dass wir uns gezielt und respektvoll
mit anderen Meinungen und Sichtweisen auseinandersetzen, diese gegeneinander abwägen
und gegebenenfalls unsere Meinungen anpassen. Deshalb muss Deliberation unter
Bürgerinnen und Bürgern gewissermassen „künstlich“ hergestellt werden (wie das genau
bewerkstelligt werden kann, wird weiter unten erläutert). Zweitens haben
direktdemokratische Abstimmungskämpfe Kampagnencharakter, bei dem es nicht um das
beste Argument, Respekt gegenüber anderen Sichtweisen oder Problemlösung geht,
sondern um das Mobilisieren für die jeweils eigene Position auf rhetorisch geschickte Art und
Weise. Stephen Tierney beschreibt dies in einem neuen Buch über direkte Demokratie wie
folgt:
“referendums by their nature facilitate or indeed encourage the mere aggregation of
individual wills and in doing so fail to foster either acquisition of information by, or the
active deliberation of, citizens. By this argument people enter the referendum process
with pre-formed views and the referendum, as a simple act of voting Yes or No,
becomes a conduit through which these views can be expressed, often hastily,
without discussion or reflection and, therefore, without any possibility that minds might
be changed and preferences transformed.” (Tierney 2012:27-28)
Es stellt sich nun die Frage, was passieren würde, wenn Deliberation gezielt in
direktdemokratische Kampagnen eingebaut würde und normale Bürgerinnen und Bürger die
Gelegenheit hätten, im direkten Gespräch miteinander über den anstehenden
direktdemokratischen Entscheid zu deliberieren. Würden deliberierende BürgerInnen anders
entscheiden als solche, die nur der Kampagne ausgesetzt waren? Und würde
Bürgerdeliberation in direktdemokratischen Abstimmungen das Wissen zum Thema
erhöhen? Bis anhin fehlt systematische Forschung zu diesem Thema weitgehend. Im
Rahmen des NCCR Democracy („Challenges to Democracy in the 21st Century“) hat unser
Projektteam3 in enger Zusammenarbeit mit dem Umfrageinstitut LINK erstmalig im
direktdemokratischen Kontext der Schweiz ein deliberatives Feldexperiment durchgeführt,
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André Bächtiger (Universität Luzern), Thomas Gautschi (Universität Mannheim), Seraina Pedrini und Marco
Steenbergen (beide Universität Zürich).
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und zwar zur Ausschaffungsinitiative der SVP und dem Gegenvorschlag (Oktober-Dezember
2010).
Unser Feldexperiment folgt der Grundidee von James Fishkin’s “deliberative polls” (DPs),
beinhaltet aber einige Innovationen. Fishkin geht vom Problem aus, dass alle potentiell
Betroffenen eines Entscheids zur Deliberation zugelassen werden sollten, dass Deliberation
in sehr grossen Gruppen aber nicht funktionieren kann. DPs lösen dieses Problem, indem
eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung gezogen wird, wodurch alle theoretisch die
gleiche Chance haben, an der Deliberation teilzunehmen. Eine Stichprobe der Bevölkerung
ist gleichzeitig klein genug, dass die ausgewählten Teilnehmenden effektiv miteinander
deliberieren können. Unser experimentelles Design nahm diese Idee als Ausgangspunkt: in
einem ersten Schritt wurden Interviews mit 1670 zufällig ausgewählten stimmberechtigten
Schweizer Bürgerinnen und Bürgern durchgeführt (aus dem Internet Panel des LINK Instituts
mit 110’000 registrierten Teilnehmern). Dabei wurden neben Einstellungsfragen zur
Ausschaffungsinitiative und dem Gegenvorschlag auch generelle Einstellungsfragen zur
Politik und zur Immigrationstematik gestellt (Fragebogen 1). Am Ende wurden alle Befragten
eingeladen, an der Online-Diskussion teilzunehmen. Entgegen bisheriger Erfahrungen mit
DPs wollten nur rund 15% mitmachen (anstatt der 30% prognostizierten Teilnehmenden). In
einem zweiten Schritt haben wir die Teilnahmewilligen zufällig in drei Gruppen eingeteilt:
eine erste Gruppe, die sowohl Informationsmaterial (basierend auf eingeholten Argumenten
von Parteien und Abstimmungskomitees) erhielt und in Kleingruppen diskutierte; eine zweite
Gruppe, die nur das ausgewogene Informationsmaterial erhielt, aber nicht diskutierte; und
eine dritte Gruppe, die nur Fragebögen ausfüllte. Diese drei Gruppen wurden in der
Experimentwoche (Fragebogen 2) sowie unmittelbar nach der Abstimmung am 28.
November 2010 nochmals befragt (Fragebogen 4).
Unser Feldexperiment zur Ausschaffungsinitiative und dem Gegenvorschlag zeigt, dass der
gezielte Einbau von Deliberation in direktdemokratischen Kampagnen Wirkungen auf die
Positionen und das Wissen der Bürgerinnen und Bürger haben kann.
Meinungen zu Gegenvorschlag und Initiative zu Beginn der Kampagne und nach der Abstimmung
Online-Diskussionsgruppe
Kontrollgruppe mit Information
Kontrollgruppe ohne Information
Zustimmung zum Gegenvorschlag
zu Beginn der Kampagne
(Fragebogen 1)
48.8%
50.8%
63.9%
Zustimmung zum Gegenvorschlag
nach Abstimmung
(Fragebogen 4)
71.7%
46.3%
47.7%
Online-Diskussionsgruppe
Kontrollgruppe mit Information
Kontrollgruppe ohne Information
Zustimmung zur Initiative zu Beginn
der Kampagne
(Fragebogen 1)
50.7%
57.1%
53.7%
Zustimmung zur Initiative nach
Abstimmung
(Fragebogen 4)
41.0%
46.8%
41.9%
Fokussiert man auf Meinungsänderungen zum Gegenvorschlag, zeigt sich, dass die OnlineDiskussionsgruppe eine höhere Zustimmung für den Gegenvorschlag entwickelte (von 49%
auf 72%), im Vergleich zu den beiden Kontrollgruppen, deren Zustimmungsrate zum
Gegenvorschlag konstant blieb oder sogar abnahm (von 64% auf 48% in der Kontrollgruppe,
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die nur der Kampagne ausgesetzt war). Die Unterschiede zwischen der OnlineDiskussionsgruppe und den beiden Kontrollgruppen (mit und ohne Information) sind nach
der Abstimmung auch statistisch signifikant (zum Beginn der Kampagne waren sie es nicht).
Bei der Initiative finden sich dagegen keine Unterschiede bei den drei Gruppen. Dies mag
auf den ersten Blick paradox erscheinen, erklärt sich jedoch mit der Möglichkeit der
Stimmbürger, sowohl für Gegenvorschlag und Initiative ein „Ja“ einlegen zu können.
Bezüglich Wissensgewinn finden wir ein interessantes Muster: nachdem die OnlineDiskussionsgruppe und die Kontrollgruppe mit Information das Informationsmaterial gelesen
hatten, nahm der Anteil korrekter Antworten im Vergleich mit der Kontrollgruppe ohne
Informationsmaterial deutlich zu. Jedoch konnte nur die Online-Diskussionsgruppe diesen
Wissensgewinn bis nach der Abstimmung behalten, während die Kontrollgruppe mit
Informationsmaterial dieses Wissen wieder verlor. Somit hatte die Online-Diskussion einen
Konsolidierungseffekt auf den Wissensgewinn. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die
deliberierenden Bürgerinnen und Bürger nicht nur mehr zum Abstimmungsthema wussten,
sie entschieden sich auch deutlich für den moderateren Gegenvorschlag, der das Verlangen
der Bürger nach Ausschaffung krimineller Ausländer mit den Prinzipien des Völker- und
Grundrechts in Einklang bringen wollte. Mit Blick auf die Ausschaffungsinitiative, die von
vielen politischen Kommentatoren als „populistisch“ eingestuft wurde, sind diese Resultate
von besonderer Bedeutung. Deliberation könnte demnach als Korrektiv gegen den
zunehmenden Populismus in der schweizerischen direkten Demokratie fungieren, indem
deliberierende Bürgerinnen und Bürger der Gefahren populistischer Initiativen bewusst
werden und ihre Meinungen entsprechend anpassen. Klar: Deliberation, die eine grössere
Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern miteinschliesst, scheint utopisch – gerade wenn man
auch die doch geringe Teilnahmewilligkeit an unserem Feldexperiment denkt (nur 15% der
Angefragten wollten mitmachen) Doch kanadische Erfahrungen (siehe Warren und Pearse
2008) mit Bürgerdeliberation zeigen, dass Bürger, die nicht deliberiert haben,
deliberierenden Bürgern durchaus Vertrauen schenken können, gerade weil sie wissen, dass
diese nicht einer Parteilogik folgen müssen und eher das Gesamtinteresse im Auge behalten
können. Anders gesagt: ausgewählte Bürgerinnen und Bürger, die nach intensiver
Deliberation eine gemeinsame Abstimmungsempfehlung machen würden (die zum Beispiel
im offiziellen Abstimmungsbüchlein erwähnt würde), könnten in der direkten Demokratie
durchaus einflussreich sein, indem sie andere Bürger in ihrem Abstimmungsverhalten
beeinflussen. Dafür muss aber sichergestellt sein, dass sowohl die Rekrutierung als auch der
deliberative Prozess unter normalen Bürgerinnen und Bürgern optimal ablaufen: nur wenn
die Teilnehmenden repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind und sie sich gleichzeitig im
deliberativen Prozess intensiv und ausgeglichen mit den pro- und contra-Argumenten
auseinandergesetzt haben, kann Bürgerdeliberation politischen Einfluss in der direkten
Demokratie beanspruchen. Unser Feldexperiment mag solchen Anforderungen nicht vollauf
genügen: während die Diskussionen durchaus ausgewogen abliefen, war insbesondere die
Teilnehmerzahl in der Online-Diskussion viel zu klein (N=49), um Repräsentativität zu
beanspruchen. Dennoch bildet unser Feldexperiment einen ersten Versuch, die gerade im
Schweizer Kontext oft propagierte „Rationalität“ direktdemokratischer Verfahren („das Volk
hat immer recht“) kritisch zu hinterfragen und gleichzeitig über institutionelle
Weiterentwicklungen der direkten Demokratie konkret nachzudenken.
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Deliberative Reformen in der Schweiz?
Wir haben gesehen, dass es Spuren von Deliberation in der Politik gibt und dass
Deliberation Kompromisslösungen begünstigen und Verständnis für Minderheitsanliegen
schaffen mag; und wir haben gesehen, dass mehr Deliberation in der direkten Demokratie zu
besserem Wissen und anderen Entscheidungen führen kann. Doch lässt sich Deliberation
als Handlungslogik verbreitern – oder bleibt Deliberation eine Utopie ohne reale Bedeutung
für die aktuelle Politik? Im letzten Teil will ich die Möglichkeiten und Grenzen von
Deliberation für demokratische Reformen genauer ausleuchten und insbesondere auch nach
problematischen Aspekten von Deliberation fragen.
Zunächst ist festzuhalten, dass es in allen Demokratien ein wahrgenommenes Malaise
etablierter Politik gibt. Nicht nur ist die Beteiligung bei Wahlen in den letzten Jahrzehnten
stetig gesunken, auch sind die Bürgerinnen und Bürger gegenüber politischen Parteien,
Regierungen und Parlamenten zunehmend kritisch eingestellt. Gewiss, der Trend ist in der
Schweiz nicht so ausgeprägt, doch er ist vorhanden (wie auch der Fragebogen im Vorgang
zu dieser Tagung dokumentiert).
Eine Möglichkeit dem Malaise etablierter Politik entgegenzuwirken, liegt aus Sicht vieler
Politikbeobachter in einer Stärkung von Bürgerpartizipation und insbesondere
Bürgerdeliberation. Die grün-rote Regierung in Baden-Württemberg zum Beispiel hat dies
zum politischen Programm erhoben und fördert explizit deliberative Experimente. Konkrete
Ergebnisse stehen noch aus, doch die mittlerweile vielfachen Erfahrungen mit
Bürgerdeliberation weltweit zeigen, dass Deliberation in der Tat ein probates Mittel gegen
das Malaise sein kann: erstens werden Leute einbezogen, die sich vorher noch nie gross mit
Politik beschäftigt haben; zweitens entwickeln deliberierende Bürgerinnen und Bürger ein
höheres Vertrauen in die institutionelle Politik, insbesondere weil sie lernen, wie komplex
politische Materien sein können und wie schwierig es oft ist, Kompromisse zu finden; und
drittens weist eine Studie in den USA auch nach, dass regelmässige Teilnahme an
deliberativen Prozessen das Interesse an Politik und die Teilnahmehäufigkeit an Wahlen und
anderen politischen Aktivitäten deutlich erhöht (Jacobs et al. 2009).
Obwohl Bürgerdeliberation gewiss einen wichtigen Teil in einem demokratischen
Reformprogramm spielen sollte, bin ich skeptisch gegenüber Reformen einzig auf Basis von
Bürgerdeliberation. Ein grosses Problem von Bürgerdeliberation ist die direkte Wirkung auf
politische Prozesse. Zwar gibt es einzelne Fälle wie bei dänischen Konsenskonferenzen, bei
denen Inputs aus Bürgerdeliberationen von der etablierten Politik aufgenommen wurden;
doch die Mehrzahl der Bürgerdeliberationen bleibt ohne jegliche politische Wirkung. Gründe
dafür sind meistens fehlende politische und parteiliche Unterstützung sowie mangelnde
Medienöffentlichkeit. Ein weiteres Problem ist die kontinuierliche Motivation von Bürgerinnen
und Bürgern, sich an deliberativen Verfahren zu beteiligen. Mein Kollege Michael Neblo hat
zwar eindrücklich nachgewiesen, dass normale Bürgerinnen und Bürger an Deliberation
interessiert sind, und dass dies insbesondere diejenigen sind, die sich von der normalen
Politik abgewendet haben (Neblo et al. 2010). Dennoch darf man sich fragen, ob es bei einer
starken Institutionalisierung deliberativer Bürgerverfahren letztlich nicht doch zu einer sehr
selektiven Teilnahme kommt – anders gesagt, dass es letztlich immer die gleichen sind, die
deliberieren wollen, was die Repräsentativität und damit auch die Legitimität deliberativer
Verfahren stark einschränken würde. Und schliesslich darf man auch Fragezeichen setzen,
wie gut Bürgerdeliberation funktioniert, wenn komplexe Kompromisse zwischen
widerstreitenden Positionen und Interessen ausgearbeitet werden müssen. Dies ist bislang
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noch kaum ausprobiert worden. Die meisten Forscher und Praktiker sind sich jedoch einig,
dass Bürgerdeliberation zwar bei generellen Empfehlungen und bei Agenda-Setting gut
funktionieren kann, dass bei der komplexen und kreativen Kompromissfindung das
repräsentative System aber wohl das geeignetere ist.
Wenn wir ein Malaise aktueller Politik diagnostizieren, dann sollte auch über deliberative
Reformen im repräsentativen System nachgedacht werden. Der Grundgedanke wäre, dass
ein stärker deliberatives repräsentatives System sachlichere, kreativere, stärker am
Gemeinwohl orientierte, minderheitsschützende (und –fördernde) sowie konsensorientiertere
Politiken hervorbringen würde. Denken wir aber zuerst einmal extrem: was würde passieren,
wenn das ganze politische System auf Deliberation umgestellt würde? Eine (realistische)
Möglichkeit wäre, dass dies massive Probleme von Verantwortlichkeit und Legitimität
hervorrufen würde. Wären Bürgerinnen und Bürger bereit zu akzeptieren, dass ihre
politischen Vertreter ihre Meinungen im Lichte deliberativer Prozesse regelmässig ändern?
Oder würden sie dann dem politischen System das Vertrauen entziehen, was den perversen
Effekt erzeugte, dass mehr Deliberation die Legitimität politischer Systeme untergraben
würde (zu deren Erhöhung Deliberation ja eigentlich gedacht ist)? In der Tat zeigen
amerikanische Umfragen, dass das „trustee“-Modell mit loser Kupplung zwischen
Wählerschaft und Repräsentanten von vielen Bürgerinnen und Bürger nicht akzeptiert wird.
Stattdessen ziehen letztere ein Modell mit starker Verantwortlichkeit und Responsivität vor
(Jacobs und Shapiro 2000). Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, dass es gerade in der
Schweiz einen substantiellen Anteil von Bürgerinnen und Bürgern gibt, denen Sachlichkeit in
der Politik – und damit auch Deliberation – wichtig ist. Damit stellt sich aber die Frage nach
dem Grad der „optimalen“ Deliberation, konkret: wieviel Deliberation braucht und verträgt ein
politisches System wie die Schweiz?
Ferner stellt sich die Frage, ob sich deliberative und weitere demokratische Standards - wie
Transparenz oder Responsivität - gleichzeitig maximieren lassen, oder ob es normative
„trade-offs“ geben kann. Empirisch scheint die gleichzeitige Maximierung verschiedener
Standards schwierig. Nehmen wir die beiden Faktor Öffentlichkeit und Transparenz, die von
vielen Demokratieforschern als zentrale Kriterien einer guten Demokratie erachtet werden
(siehe auch Umfrage zu dieser Tagung). Die empirische Forschung zeigt aber, dass ein
zentrales Element von Deliberation – Respekt und konstruktive Problemlösung – in der
Nichtöffentlichkeit deutlich mehr vorkommt als in der Öffentlichkeit. Demokratietheoretisch ist
diese Erkenntnis aber sehr problematisch: wenn Deliberation in der Politik vor allem in nichtöffentlichen Arenen (wie in einer Ständeratskommission) oder in wenig transparenten
Politiknetzwerken möglich ist, dann ist das deliberative Ideal elitistisch und letztlich
undemokratisch.
Gleichwohl hat Deliberation - wie gezeigt - gewichtige Vorteile, welche für die Erneuerung
von Demokratien genutzt werden sollten. Wie können wir also die Stärken von Deliberation
maximieren und die Schwächen sowie „trade-offs“ zwischen deliberativen und anderen
demokratischen Standards minimieren? Ich plädiere für eine „systemische“ und
„sequentielle“ Perspektive“ auf Deliberation (siehe Parkinson und Mansbridge 2012; Goodin
2005), bei der verschiedene Arenen deliberative und demokratische Ansprüche so einlösen,
dass potentielle „perverse“ Effekte möglichst minimiert werden und ein optimaler Grad an
Deliberation im gesamten politischen System erreicht werden kann. Eine systemische und
sequentielle Perspektive postuliert, dass weder ein ganzes System auf Deliberation
umgestellt werden sollte noch eine einzige Arena alle normativen Kriterien gleichzeitig
maximieren kann. Die Hoffnung besteht aber darin, dass der gesamte Entscheidungsprozess
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trotzdem deliberativen und weiteren demokratischen Standards gerecht wird, weil
unterschiedliche Arenen arbeitsteilig unterschiedliche normative Kriterien erfüllen. Um das
ein wenig plastischer zu machen, möchte ich nochmals auf das Schweizer Parlament zu
sprechen kommen. Hier begünstigen nicht-öffentliche Kommissionen oder der Ständerat
Deliberation, doch wissen die beteiligten Akteure, dass sie die entsprechenden Ergebnisse in
der öffentlichen Parlamentsdebatte vertreten und zudem in Nationalrat durchbringen
müssen, welche stärker parteipolitischen Logiken folgen. Eine solche Arbeitsteilung kann
gleichzeitig unterschiedliche Ansprüche von Bürgerinnen und Bürgern an die Politik
befriedigen: solche, die starke Responsivität der Politik wollen, werden beispielsweise von
der stärker parteipolitisch ausgerichteten Erstkammer befriedigt, wo politische
Repräsentanten klar als Interessens-Advokaten agieren; solche, die Moderation und
Deliberation bevorzugen, werden von der Zweitkammer bedient, wo politische
Repräsentanten neben Interessensvertretung auch Deliberation und Reflexion hoch
gewichten. Wenn die Arenen der repräsentativen Politik zusätzlich mit Bürgerpartizipation
und Bürgerdeliberation verknüpft werden, dann lässt sich möglicherweise ein optimaler Grad
an Deliberation erreichen. Ein Beispiel dafür ist das schottische Parlament, wo die
Verfassung vorschreibt, dass Parlamentskommissionen normale Bürgerinnen und Bürger
sowie zivilgesellschaftliche Akteure bei der Beratung von Gesetzen in die Sitzungen einladen
und konsultieren müssen. Im parlamentarischen System von Schottland sind entsprechende
Wirkungen auf das Politikergebnis gering, da Parteidisziplin herrscht und Abgeordnete der
Regierungskoalitionen nicht so einfach Regierungsvorlagen aufgrund von Bürgerwünschen
und -ideen abändern können. Würde man dagegen Bürgerkonsultation im nichtparlamentarischen System der Schweiz einführen, könnten die Wirkungen auf das
Politikergebnis sehr viel grösser sein, da Parlamentarier keiner strikten Parteidisziplin
unterworfen sind und Vorlagen des Bundesrats ohne politische Kosten verändern können.
Lassen sie mich nochmals den Bogen zur Schweiz schlagen. Aus meiner Sicht hat das
komplexe schweizerische politische System ein grosses institutionelles Potential, um
deliberative und andere demokratische Ideale in die Realität umzusetzen. Die
parteipolitische Polarisierung im letzten Jahrzehnt hat das systemrelevante deliberative
Potential aber erheblich beschnitten. Doch es gibt auch gegenläufige Tendenzen, wie etwa
die Bildung neuer Parteien in der Mitte (Grünliberale und BDP), die klassische
Konkordanzprinzipien wie Dialog, Mässigung und Respekt (und damit indirekt auch
deliberative Ideale) wieder hochhalten. Bezüglich Bürgerdeliberation ist die Schweiz
allerdings noch Entwicklungsland. Zwar gibt es in den letzten Jahren eine Reihe von
deliberativen Mitwirkungsverfahren auf Gemeindeebene, doch nicht ist die Verbreitung nicht
nur auf wenige Kantone beschränkt, auch blieben die Wirkungen auf die Politik schwach.
Andere Länder, insbesondere in Lateinamerika, sind der Schweiz in diesem Bereich weit
voraus. Auch wenn Bürgerdeliberation demokratischem Malaise entgegenwirken kann, ist
trotzdem kritisch zu fragen, wie viel Bürgerdeliberation das System Schweiz wirklich braucht.
Ich denke, bei sehr kontroversen oder auch sachpolitisch sehr komplexen Vorlagen und
Abstimmungen mag Bürgerdeliberation ein nützliches Gefäss sein, um zusätzliche Stimmen
– nämlich diejenige einer bislang ungehörten repräsentativen Bürgerschaft – besser in die
demokratische Öffentlichkeit einzubinden. Ansonsten sollte ein punktuell deliberatives
repräsentatives System in Kombination mit einer lebendigen direkten Demokratie aus
demokratietheoretischer Sicht vollauf genügen.
Zum Schluss sei festgehalten, dass Deliberation kein Allheilmittel für die Erneuerung von
Demokratien ist. Mehr Deliberation in der Politik kann externe Zwänge und Einflüsse nicht
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mindern. Auch wird mehr Deliberation kaum das Problem der wachsenden Einkommensund Vermögensschere lösen können. Dennoch: Deliberation ist das Schmiermittel einer
lösungsorientierten politischen Kultur, die in komplexen Gesellschaften kreative
Kompromisse generieren kann, die win-win-Situationen für die Gesamtgesellschaft schafft
und gleichzeitig Minderheiten fördert und schützt.
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