Rainer Dombois Wohlfahrtmix und kombinierte

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Rainer Dombois
Wohlfahrtmix und kombinierte Strategien sozialer
Sicherung - Einleitende Überlegungen1
(erschienen in: Peripherie, Nr. 69/70, S. 7-24)
In den letzten beiden Jahrzehnten haben in den meisten europäischen Ländern
Verbreitung, Dichte und Niveau sozialstaatlicher Sicherungen deutlich
abgenommen. Die Fortführung der sozialen Politiken, die sich darauf richten,
Lebensverhältnisse zu stabilisieren, eine Mindestversorgung auch in
Risikosituationen zu sichern und insgesamt soziale Rechte zu garantieren, trifft
auf ökonomische Probleme, zunehmend aber auch auf politischen Widerspruch.
Im Globalisierungsprozeß verlieren nationale Institutionen und Politiken nicht
nur an Steuerungskraft. Wie die ‘Standortdebatte’ belegt, wird ihre Legitimität
auch zunehmend an ihrem Beitrag zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit
gemessen. Zugleich ist aber auch die nicht nur im neoliberalen Lager verbreitete
Kritik an den ‘sozialen Kosten’, den kontrollierenden und autoritären
Funktionen des Wohlfahrtsstaats nicht mehr zu übersehen. Insgesamt wird
immer deutlicher, daß die wohlfahrtsstaatliche Konfiguration, die zum Maßstab
sozialer Sicherung genommen wurde, eher eine historische Ausnahmesituation
gewesen ist und nicht historischer Zielpunkt (vgl. Lutz 1984).
Mehr noch als in den Industrieländern sind in den Ländern der Dritten Welt
wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen und Politiken unter Druck geraten, obwohl
hier die institutionellen Systeme sozialer Sicherung nicht zuletzt aufgrund der
nur begrenzten Bedeutung formeller, institutionalisierter Arbeitsmärkte in dem
heterogenen Erwerbssystem niemals eine ähnliche Verbreitung und ein
ähnliches Niveau wie in den europäischen Industrieländern gewonnen haben.
Staatliche Systeme sozialer Sicherung sind meist überhaupt erst in den letzten
Jahrzehnten institutionalisiert worden, haben sehr viel begrenztere und sozial
selektive Wirkungs- und Geltungsbereiche und lassen Raum für ein breites
Spektrum unterschiedlicher Systeme und Muster sozialer Sicherungen. Aber
selbst die institutionellen Systeme, die nur selektiv wirkten und ein niedriges
Niveau hatten, haben als Folge von Inflation und Strukturanpassung Funktionen
sozialer Sicherung eingebüßt; oft bereits vorher in der Krise, bot die neoliberale
Wende auch den Anlaß zu ihrer Restrukturierung, so in manchen Ländern auch
zu ihrer Privatisierung.
Die Diskussion über die Krise der sozialen Sicherung konzentriert sich (hier
wie dort) auf die veränderte Rolle des Staates, deren Auswirkungen auf die
PERIPHERIE NR. 69/70, JAHRGANG 1998, S. XX– XX
IKO VERLAG – FRANKFURT/M.
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soziale Sicherung und Versorgung der Bevölkerung und die Vertiefung der
sozialen Ungleichheit. Sie verdeckt den Blick auf andere Institutionen, Praktiken
und Ressourcen der ‘Wohlfahrtsproduktion’, die nicht unter staatlicher Regie
stehen.
Tatsächlich bilden sozialstaatliche Vorkehrungen nur einen, freilich höchst
bedeutsamen Pfeiler sozialer Sicherungssysteme. Soziale Sicherungssysteme
setzen sich vielmehr aus verschiedenen Versorgungsquellen, mit jeweils
unterschiedlichen Institutionen, Akteuren, Zugangsbedingungen, normativen
Grundlagen und Regelungsformen zusammen; sie bauen auf spezifischen
gesellschaftlichen ‘Welfare Mixes’ auf. Auch ist davon auszugehen, daß
Menschen hier wie dort in ihren Strategien der sozialen Sicherung auf
verschiedene Quellen verwiesen sind; dies ist insbesondere in Gesellschaften der
Dritten Welt vielfach untersucht worden und wird auch durch zahlreiche
Beiträge im vorliegenden Heft nachdrücklich belegt. Sie mögen sich zwar für
einzelne Risiko- oder Notsituationen auf staatliche Ressourcen stützen, sind im
übrigen aber auch auf andere Ressourcen angewiesen, so die Versorgung über
den Markt, den Betrieb, durch die Familie oder soziale Beziehungsnetze.
Freilich sind nicht alle Versorgungsquellen allen gleichermaßen zugänglich; die
Art und Weise, wie Personen die verschiedenen Ressourcen in ihren Strategien
kombinieren und nutzen können, ist geprägt durch die gesellschaftliche
Ungleichheit, die Ungleichheit zwischen Gesellschaften wie auch innerhalb von
Gesellschaften.
Im folgenden möchte ich zunächst das Spektrum der ‘Produzenten’ sozialer
Sicherung beleuchten und kurz jeweils die Zugangsbedingungen, Reichweite
und sozialen Umverteilungswirkungen diskutieren, um dann in freilich sehr
pauschaler Weise Unterschiede zwischen Systemen und Strategien sozialer
Sicherungen in europäischen ‘Wohlfahrtsstaaten’ und Ländern der dritten Welt
zu umreißen. Abschließend werden Auswirkungen der Erosion sozialstaatlicher
Sicherungen skizziert.
Wohlfahrtsmix und soziale Sicherungssysteme
Soziale Sicherung im einem weiteren Sinn zielt auf eine Versorgung, die
sozioökonomische und kulturelle Grundbedürfnisse - Einkommen, Ernährung,
Wohnung, Ausbildung, Gesundheit - befriedigt und den Menschen eine
Lebenshaltung auf einem gesellschaftlichen Mindestniveau sichert (Rose 1986).
In einem engeren Sinne umfaßt soziale Sicherung die Vorkehrungen und
Praktiken, die vor Notlagen schützen und auch in Risikosituationen der
Lebensführung Stabilität und Stetigkeit geben sollen. Solche Risiken sind vor
allem mit Situationen, sozialen Lagen und Lebenslagen verbunden, die es den
Menschen schwierig oder unmöglich machen, aus eigenen Kräften für ihren
Lebensunterhalt zu sorgen, und sie von Dienstleistungen oder Zuwendungen
abhängig werden läßt: Armut, Erwerbslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Alter,
Ausbildung, Schwangerschaft und Zeiten der Kinderversorgung (vgl. Schmidt
–3–
1998). Maßstäbe dessen, was als Grundversorgung oder als ‘angemessene’
Lebensführung gilt, sind dabei in starkem Maße gesellschaftlich bestimmt,
variieren nicht nur zwischen Gesellschaften, sondern auch zwischen
gesellschaftlichen Gruppen, seien sie durch Klassen, Schichten oder ethnische
Gruppen bestimmt.
Bezieht man das gesamte Spektrum der Not- und Risikosituationen ein, auf
die sich soziale Sicherung richtet, so wird deutlich, das selbst noch in den
reichen Industrieländern der ‘Wohlfahrtsstaat’ nur einen Teil der sozialen
Sicherung übernimmt oder organisiert. Soziale Sicherung ist, wie die neuere
sozialpolitische Diskussion hervorhebt, Resultante eines ‘Welfare Mix’ (vgl.
Rose 1986) oder eines ‘Wohlfahrtspluralismus’ (Evers & Olk 1996), zu dem
verschiedene Institutionen und Akteursgruppen beitragen. Soweit sie zu ihnen
Zugang haben, greifen die Menschen in ihren Strategien der sozialen Sicherung
jeweils auf verschiedene Versorgungsquellen zurück und kombinieren sie.
Als Institutionen der Produktion sozialer Sicherung werden neben dem Staat
(und intermediären ‘Non - Profit - Organisationen) vor allem der Markt, die
Haushalte und informelle Netzwerke genannt (Rose 1985: 14; Evers & Olk
1996: 14ff.) - es rücken damit in den Industrieländern bislang unterbelichtete
soziale
Institutionen
ins
Blickfeld,
deren
Bedeutung
in
entwicklungssoziologischen und anthropologischen Studien seit langem
hervorgehoben wird (vgl. etwa Elwert u.a. 1983).
Der Staat stellt durch das Erziehungswesen, die Gesundheitsversorgung, nicht
zuletzt durch Fürsorge und Sozialversicherung Kollektivgüter bereit. Auch wenn
sie nicht als Waren marktförmig getauscht werden, also in ‘dekommodifizierter’
Form erscheinen, werden sie als Finanzierungsbeträge, Kosten und Leistungen,
monetär erfaßt und ausgedrückt. Die Ansprüche der Bürger sind rechtlich
geregelt. Sind sie an Staatsbürgerrechte gebunden, dann haben sie einen
hochgradig allgemeinen, nicht exklusiven Charakter; begründen sie sich aus
dem Erwerbsstatus, reproduzieren sie die soziale Ungleichheit des
Erwerbssystems.
Versorgungsleistungen, die auf dem Markte gekauft werden, haben
Warencharakter: sie werden für den Markt produziert und haben ihren
(monetären) Preis. Marktförmige Sicherung hat aber ihre deutlichen
Begrenzungen.
Erstens
sind,
wenn
es
auch
keine
formellen
Zugangsbeschränkungen gibt, die Chancen der Versorgung über den Markt vom
‘ökonomischen Kapital’ der Menschen abhängig, d.h. vor allem von Vermögen
und Einkommen. Die ‘anonyme Sozialpolitik des Marktmechanismus’
(Rosenberg) wirkt daher sozial hochgradig selektiv, ‘belohnt die Starken und
vernachlässigt die Schwachen’ (Schmidt 1998, 194) und schließt zumal
diejenigen schnell aus, die weder über Ersparnisse noch über Kapital verfügen.
Zweitens sind bestimmte Wohlfahrtsgüter nicht allein durch marktförmige,
individuelle Tauschakte zu erwerben. De Swaan hat dies am Beispiel von
Seuchen und Alltagskriminalität deutlich gemacht: Reiche können zwar
individuelle medizinische Versorgung oder Wachdienste, nicht aber Gesundheit
–4–
und Sicherheit kaufen (Vgl. de Swaan 1985, Kapitel 1 und 3). Schließlich sind
auch bestimmte Qualitäten von Versorgungsleistungen über den Staat oder über
den Markt kaum zu bekommen, weil sie in monetarisierten Beziehungen nur
schwer zu erbringen sind.
Eine elementare Rolle für die soziale Versorgung und Sicherung spielt der
Haushalt und dabei insbesondere die Arbeit von Frauen (vgl. dazu den Beitrag
von Heide Mertens in diesem Heft). Es ist der Haushalt, in dem nicht nur ein
beträchtlicher Teil von Gütern des alltäglichen Konsums hergestellt wird,
sondern auch grundlegende soziale Dienstleistungen - wie Pflege und Erziehung
der Kinder, Kranken- und Altenpflege - erbracht werden. Auch wenn innerhalb
von Haushalten beträchtliche monetäre Transfers stattfinden, ist für
Versorgungsleistungen des Haushalts charakteristisch, daß sie nicht
monetarisiert sind, weder für Geld produziert noch erworben werden. Sie
gründen weder auf dem cash nexus noch auf rechtlichen Ansprüchen, sondern
auf sozialen Verpflichtungen und Reziprozitätsbeziehungen; die gegenseitigen
Ansprüche werden durch die sozialen Rollen und den Status der Personen im
Haushaltszusammenhang definiert.
Es hängt aber von der Zusammensetzung der Haushalte, von den persönlichen
Beziehungen und den in ihnen angelegten gegenseitigen Verpflichtungen,
schließlich auch den materiellen Ressourcen ab, ob Haushalte die
gesellschaftlich zugewiesenen Versorgungs- und Sicherungsfunktionen auch
erfüllen können. Die Veränderungen der Familienstrukturen und der Formen des
Zusammenlebens stellen - darauf wird später zurückzukommen sein - die
sozialen Sicherungsfunktionen des Haushalts infrage.
Aber gerade dies legt es nahe, den Blick über die engen Grenzen des
Haushalts hinaus und auf die weiteren sozialen Zusammenhänge zu lenken, die
für die soziale Versorgung und Sicherung eine wichtige Rolle spielen. Die
Personen, die als Singles, Paare, Klein- oder Großfamilien, Einelternfamilien
usw. Haushalte bilden, sind ja in weitere soziale Netze von Beziehungen auf
familiärer, wahlverwandtschaftlicher, freundschaftlicher, beruflicher, regionaler
oder ethnischer Basis eingebunden, durch die - mehr oder weniger verbindliche Versorgungsverpflichtungen und Ansprüche definiert werden.
Auf die systematische Bedeutung sozialer Netze für die soziale Sicherung
haben vor allem entwicklungssoziologische Studien hingewiesen. Bereits
Polany, die derzeitige ethnologische Diskussion auswertend, hatte mit
Reziprozität und Redistribution zwei Prinzipien benannt, die er als
charakteristisch für den sozialen Austausch und die soziale Einbettung des
Wirtschaftens in traditionellen Gesellschaften ansah (Polany 1995: 77ff.). Auch
neuere Studien belegen die große Rolle, die Solidarität und soziale
Verpflichtungen in sozialen Netzen für Situationen des Einkommensausfalls,
Krankheit, Alter oder Betreuung der Kinder nach wie vor spielen. In seiner
Studie über ein westafrikanisches Bauerndorf etwa unterschied Elwert vier
verschiedene, sich überlagernde Netze, die jeweils reziproke Ansprüche und
Verpflichtungen der Individuen definierten: das Verwandtschaftschaftssystem,
–5–
durch Heirat begründete Allianzbeziehungen, Vereinigungen auf gegenseitige
Hilfe und die Beziehungen zwischen guten Freunden (Elwert 1980: 353). Von
der Familie, über die verbreitete Institution der Wahlverwandschaft des
compadrazgo , die sozial exklusiven Zirkel, wie sie in privaten
Bildungseinrichtungen und Clubs ausgebildet werden, bis hin zu
Selbsthilfevereinigungen wie Spar- und Kreditvereinen und gewerkschaftlichen
Solidarfonds - dies alles sind soziale Austauschbeziehungen jenseits von Staat
und Markt, mit denen sich mehr oder weniger präzise definierte und abgestufte
Ansprüche und Verpflichtungen auch der sozialen Sicherung verbinden
(Granovetter 1993). Sie können, wie auch Elwert feststellt, keineswegs als
Relikte ‘traditioneller’ Gesellschaft angesehen werden. Sie verändern aber mit
dem sozialen Wandel ihre Formen und ihr relatives Gewicht im Welfare - Mix.2
So sehr es auch an Armut und mangelhafter sozialstaatlicher Versorgung
liegen mag, daß sozialen Netzen in Ländern der Dritten Welt derart strategische
Sicherungsfunktionen zukommen - der Blick auf die Fremde schärft die
Wahrnehmung für die Bedeutung, die soziale Netze und die in ihnen definierten
und sanktionierten reziproken Versorgungspflichten und -ansprüche auch in
unseren Breiten haben: für die Pflichten der Eltern gegenüber den Kindern und
der Kinder, vor allem der Töchter, gegenüber den Eltern, auch wenn sie nicht in
einem Haushalt zusammenleben; für Formen solidarischer, aber alles andere als
altruistischer
Unterstützung
in
informellen
oder
formellen
Selbsthilfeassoziationen
oder
in
der
Nachbarschaftshilfe;
für
Freundschaftsdienste, Gefälligkeiten und ‘Erkenntlichkeiten’, die oft genug
zuvor wenig klar definierten ‘Beziehungen’ erst Verbindlichkeit geben und
verläßliche gegenseitige Erwartungen begründen: sie können sich in
Informationen, Empfehlungen oder Hilfen ausdrücken, die Vergünstigungen auf
den Märkten verschaffen oder es erleichtern, Ansprüche geltend zu machen.3
Die Haushalte sind in diesem Zusammenhang nicht mehr als, freilich höchst
bedeutsame, Knotenpunkte, und die Familienbeziehungen bilden Kernstrukturen
weitläufigerer sozialer Netze, in denen sozialer Austausch stattfindet und
gegenseitige Rechte und Pflichten sozialer Versorgung und Sicherung definiert
werden. Ein zentrales Moment sozialer Sicherung ist daher das Sozialkapital
von Personen, wie Bourdieu schreibt „die Gesamtheit der aktuellen und
potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr
oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und
Anerkennens verbunden sind; es handelt sich dabei um Ressourcen.“ (Bourdieu
1983: 190f.). Sozialkapital ist an die Zugehörigkeit zu Gruppen, also den
sozialen Status gebunden; die Ressourcen - materielle Zuwendungen,
Dienstleistungen, Informationen - hängen von der Größe und Dichte der
Netzwerke, der Machtstellung von Personen und der Verbindlichkeit von
gegenseitigen Erwartungen ab. Sozialkapital ist, zumal es in hohem Maße gegen
ökonomisches Kapital konvertierbar ist, sozial sehr ungleich verteilt.
Im Gegensatz zum Äquivalententausch auf dem Markt haben
Versorgungsleistungen aus sozialen Netzwerken meist den Charakter von
–6–
Zuwendungen, die keine unmittelbaren Gegenleistungen verlangen. Sie
begründen aber für den Geber - oft diffuse - Erwartungen auf künftige
Gegenleistungen; der Zeitpunkt ebenso wie die ‘Währung’, in der die
Gegenleistung entrichtet werden soll, bleiben häufig unbestimmt (vgl. Portes
1995: 12).
Es ist klar, daß die sozialen Sicherungsfunktionen sozialer Netze und ihrer
Kernstrukturen, der familiären Zusammenhänge, von der Vielfalt und Art der
Beziehungen, den in ihnen herrschenden Reziprozitätsverpflichtungen sowie den
Ressourcen der Personen abhängen.
Es
lassen
sich
verschiedene
Beziehungsformen
und
4
Reziprozitätsverpflichtungen unterscheiden:
Übersicht 1: Arten von Gegenseitigkeitsverpflichtungen in sozialen Netzen
Grundlagen
Beweggründe
des Gebers
normengeleitet
Wirkungen
Beispiele für
Beziehungen
Solidarität
Ressourcentransfer Familie ; Freunde;
Generalisierte
aufgrund
compadrazgo
Reziprozität
moralischer,
umfassender
Ansprüche;
Begrenzte
normengeleitet
Ressourcentransfer Weiterer
Solidarität
aufgrund von
Verwandtenkreis,
(Bounded
begrenzten und
Nachbarschaft,
Solidarity)
wenig
ethnische Gruppe
sanktionierbaren
Erwartungen
Balanzierte
interessengeleitet Ressourcentransfer Klientelbeziehung
Reziprozität
auf der Basis der
Erwartung von
angemessenen
Gegenleistungen
Sanktioniertes interessengeleitet Ressourcentransfer GegenseitigkeitsverVertrauen
in der Erwartung
eine
(Enforceable
von, durch
Trust)
Sanktionen
erzwingbaren
Gegenleistungen
So heterogen und so unvollständig auch diese Typologie, so gibt sie doch ein
Spektrum von sozialen Ressourcen jenseits von Staat und Markt wider, die für
die soziale Versorgung und Sicherung genutzt werden können.
Letztlich ist, über Staat, Markt, Haushalte/ Familien und weitere soziale
Beziehungsnetze hinaus noch eine Quelle sozialer Sicherung einzubeziehen, der
in der sozialpolitischen Diskussion nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird:
Ansprüche an die soziale Versorgung und Sicherung, wie sie durch
Beschäftigungsverhältnisse begründet werden. Es sind dies vor allem
betriebliche Versorgungsleistungen, die über gesetzliche Vorgaben hinausgehen,
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freiwillig gewährt, mit den Beschäftigten individuell oder kollektivvertraglich
ausgehandelt werden, so etwa Betriebsrenten, betriebliche Gesundheits- oder
Wohnungsversorgung, Abfindungen (vgl. Rein 1982). Diese Ressourcen sind an
den Status als (gegenwärtig oder früher) Beschäftigter gebunden, unterscheiden
sich daher von marktförmigen Sicherungen. Betriebliche Versorgungssysteme
haben die zentrale Rolle, die sie in früheren Phasen der kapitalistischen
Entwicklung europäischer Industriegesellschaften hatten, in vielen Ländern
nicht ausgespielt. Sie sind nicht nur in Ländern der Dritten Welt, sondern auch
in Industrieländern wie den USA und Japan Säulen einer gruppenspezifischen
soziale Sicherung (Dombois 1995; Neyer & Seeleib - Kaiser 1996)
Insgesamt setzen sich also Systeme sozialer Sicherung aus verschiedenen
Quellen zusammen, die von verschiedenen Institutionen und Akteursgruppen
produziert werden und jeweils mit unterschiedlichen Zugangsbedingungen und
sozialen Distributionsmustern verbunden sind:
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Übersicht 2: Quellen der Wohlfahrtsproduktion, Nutzungsvoraussetzungen und
soziale Reichweite
‘Wohlfahrtspro
duzent’/ -quelle
Staat
(inklusive NonProfit- Instit.)
Markt
Unternehmen
Haushalte /
Familien
Nutzungsvoraus soziale Selektivität
setzungen
Citizenship bzw. egalitär aufgrund
Erwerbsstatus
allgemeiner
Rechtsansprüche
bzw.
sozial differenziert
aufgrund von
Erwerbsstatus
(Sozialversicherung)
Vermögen oder sozial ungleich
Einkommen
(Klassen,
(Ökon. Kapital) Lebenslagen)
Beschäftigtenpartikularstatus
betriebsbezogen
Familienstatus
partikularfamilienbezogen
Leistungsbeispiele
Sozialhilfe; Renten,
Krankengeld etc.;
Gesundheitsversorgun
g,
Bildung
Kommerzielle Pflege
Lebensversicherung
Betriebliche Rente
oder
Gesundheitsversorgun
g;
Geldgeschenke des
‘Patron’
Nahrungssicherung;
Kinder-, Kranken-,
Altenpflege;
finanzielle Transfers
Soziale
Dienstleistungen und
finanzielle
Unterstützungsmaßnah
men; Nothilfe und
Kreditfonds
Weitere soziale Status aufgrund partikularNetze
von Mitgliedgruppenbezogen
schaften in
(Freunde;
sozialen Gruppen
Gegenseitigkeits
vereine;
klientelistische
Seilschaften;
religiöse und
ethnische
Gruppen)
Die Individuen gehen in ihren Strategien der sozialen Sicherung meist schon
von einem Wohlfahrtsmix aus. Tatsächlich setzen sie, der Risikosituation und
der Verfügbarkeit entsprechend, verschiedene Ressourcen ein, kombinieren sie
und haben in begrenztem Maße auch alternative Optionen. Die Familie etwa
kann für Pflegeleistungen oder für finanzielle Transfers in Anspruch genommen
werden, meist aber nicht mehr bei längerfristigem Einkommensausfall; soziale
Netze jenseits der Familie können leicht überstrapaziert werden, wenn auch auf
Dauer nicht angemessene Gegenleistungen zu erwarten sind. Ressourcen werden
nicht nur spezialisiert eingesetzt; sie können in beschränktem Umfang auch
substituiert werden. Der Haushalt wie auch das weitere soziale Netz kann durch
den Kauf von Versorgungsleistungen oder durch staatliche Leistungen entlastet
–9–
werden -freilich nur, wenn die Mittel oder entsprechende Anrechte vorhanden
sind.
Strategien sozialer Sicherung - die spezifische Kombination der für Not- und
Risikosituationen eingesetzten Versorgungsquellen - erhalten ihre Prägung
durch die Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheit. Der Zugang zu den
verschiedenen Versorgungsquellen ist nämlich sozial ungleich verteilt; nicht alle
Versorgungsquellen sind Allen gleichermaßen zugänglich. Soziale Versorgung
über den Markt setzt ökonomisches Kapital, soziale Sicherung über Netzwerke
kulturelles Kapital voraus. Staatliche Dienst- und Sicherungsleistungen sind an
Bürgerrechte oder Erwerbsstatus gebunden, und betriebliche Versorgung ist den
Beschäftigten vorbehalten. Strategien der sozialen Sicherung, die spezifischen
Kombinationen von Sicherungsquellen sind daher sozial differenziert. Armut
oder soziale Exklusion drückt sich nicht zuletzt in einem (kumulativen) Mangel
verschiedener Ressourcen aus, der kaum mehr Spielräume der Substitution lässt.
Soziale Sicherungssysteme in europäischen Wohlfahrtsstaaten und in
Ländern der Dritten Welt
Zwischen den Gesellschaften zeigen sich große Unterschiede nicht nur in der
Dichte und den Niveaus sozialer Versorgung und Sicherung, sondern auch in
der Bedeutung, die einzelnen Versorgungsquellen im ‘Wohlfahrtsmix’
zukommt; entsprechend unterscheiden sich die Strategiemuster sozialer
Sicherung nicht nur innergesellschaftlich, sondern auch zwischen
Gesellschaften.
Einen ersten, groben Eindruck der Unterschiede vermitteln die Angaben der
öffentlichen Sozialausgaben in Tabelle 1. Es fallen zunächst die großen
Unterschiede zwischen Industrieländern auf: Die angeführten skandinavischen
Länder, aber auch die Niederlande und Frankreich wandten erheblich mehr für
soziale Sicherung und Gesundheitsversorgung auf als die Bundesrepublik und
Großbritannien. Noch drastischer fallen die Unterschiede zu den USA und Japan
aus. Soweit es staatliche Ausgaben betrifft, werden aber dramatische
Wohlfahrtsgefälle zwischen Ländern der Ersten und Dritten Welt sichtbar. In
den meisten Ländern der Dritten Welt sind öffentliche Sozialausgaben nach
ihrem Anteil am Sozialprodukt und erst recht nach ihren absoluten Beträgen
äußerst gering; dabei bleiben afrikanische und asiatische Länder nicht nur hinter
den Industrieländern, sondern selbst noch gegenüber Lateinamerika weit zurück.
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Tabelle 1: Öffentliche Ausgaben für soziale Sicherung und Gesundheitsversorgung in
Prozent des Bruttosozialprodukts in ausgewählten Ländern (1989)
Schweden
Niederlande
Dänemark
Frankreich
Deutschland
Griechenland
Großbritannien
USA
36
29
28
27
23
18
17
12
Argentinien
Brasilien
Chile
Kolumbien
Peru
4
5
12
2
1
Ägypten
Äthiopien
Algerien
Kenia
Nigeria
Tansanía
1
1
8
1
0
1
China
Indien
Indonesien
Japan
Thailand
3
0,3
0,1
12
0
Sowjetunion
Tschecheslow.
10
22
Quelle: ILO, nach Schmidt 1998
Es deuten sich damit beträchtliche Unterschiede der Rolle des Staates für die
soziale Sicherung nicht nur zwischen Industrieländern und Dritter Welt, sondern
auch zwischen Industrieländern an.
Frucht langer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, haben in europäischen
Wohlfahrtsstaaten staatliche (und parastaatliche) Versorgungs- und
Sicherungssysteme bis zur Blütezeit in den sechziger und siebziger Jahren
Verbreitung und Verbindlichkeit gefunden und in vielen Funktionen andere
Sicherungsformen ersetzt- ein Prozeß, der eng mit der Ausbildung der
Nationalstaaten, der Verallgemeinerung abhängiger Arbeit und der politischen
Emanzipation der Arbeiterbewegung verbunden war. Das Bildungs- und
Gesundheitswesen, die Armenfürsorge, vor allem aber Versorgungsformen, die
einen kollektiven Schutz vor Risiken und Defiziten und zumal
Ausgleichszahlungen für bestimmte Fälle von Einkommensausfall wie
Krankheit, Invalidität, Erwerbslosigkeit, Mutterschaft, Alter und Tod vorsehen,
bilden den Kern staatlicher oder staatlich organisierter Sicherungssysteme; sie
sind im Unterschied zu ihren historischen Vorläufern - etwa kommunaler
Armenfürsorge, Gegenseitigkeitsvereinen, paternalistischer Betriebspolitik ‘landesweit, kollektiv und zwingend’ (de Swaan 1993: 172) und zu zentralen
sozialen Staatsbürgerrechten geworden (Marshall 1992), stehen also im Prinzip
allen Bürgern, unabhängig von Klasse und Marktposition zu (Esping-Andersen
1991: 21ff.)
Freilich sind die staatlichen Versorgungs- und Sicherungssysteme der
westlichen Industrieländer alles andere als einheitlich. Sie sind nach
unterschiedlichen Prinzipien gestaltet und mit sehr verschiedenen
Umverteilungspotentialen und damit auch verschiedenen sozialen
– 11 –
Ungleichheitsstrukturen verbunden. Esping - Andersen etwa hat im Vergleich
einiger Länder ‘Wohlfahrtsregimes’ mit verschiedenen Versorgungsprinzipien,
Zugangsvoraussetzungen und Sicherungsniveaus vorgestellt, die in jeweils
unterschiedlicher Weise die Lebensführung gegenüber den Risiken des Marktes
absichern und daher sehr unterschiedliche Wohlfahrtsmix enthalten (vgl. Esping
- Andersen 1990: 47ff.).
Das Prinzip der universalistischen Staatsbürgerversorgung -wie es vor allem
in skandinavischen Ländern vorherrschend ist, räumt allen Staatsbürgern,
unabhängig von ihrem Berufs- und Erwerbsstatus, einen Rechtsanspruch auf
Versorgungsleistungen und Mindestsicherungen ein; es setzt auf eine
umfassende Umverteilung und die (egalisierende) Abkopplung sozialer
Sicherung von der Marktposition der Individuen. Nach dem Fürsorgeprinzip
dagegen, das in angelsächsischen Ländern verbreitet ist, tritt der Staat nur
subsidiär auf den Plan, wenn andere Ressourcen wie Familie oder Betrieb
versagen (vgl. Schmidt 1998: 185).; die an den Nachweis der Bedürftigkeit
gebundene staatliche Versorgung wirkt sozial diskriminierend.
Das für Deutschland charakteristische Prinzip der Sozialversicherung koppelt
das Niveau sozialer Sicherung an Berufsstand, Beschäftigungsdauer und
Beitragsleistungen; es reproduziert, durchaus im Einklang mit der übrigen
rechtlichen Gestaltung der Arbeitsverhältnisse in der Bundesrepublik, die
hierarchische Struktur der Erwerbsgesellschaft und benachteiligt alle jene, deren
Berufsverläufe nicht dem Normalarbeitsverhältnis - lebenslanger,
kontinuierlicher Vollzeitarbeit - entsprechen (Mückenberger 1985): so vor allem
Frauen, zunehmend auch dauerhaft Erwerbslose. Das Erwerbssystem wie auch
das System sozialer Dienstleistungen in Deutschland orientiert sich in vielen
Bereichen noch am Modell der männlichen Versorgerehe und überläßt den
Haushalten, und d.h. üblicherweise den Frauen, Dienstleistungsfunktionen, die
in anderen Ländern vom Staat (Schweden und Finnland) oder vom Markt (USA)
beherrscht werden; die institutionelle soziale Sicherung der Haushaltsmitglieder
ist in starkem Maße an das (männliche) Familienoberhaupt gebunden (PfauEffinger 1996).
Der Blick auf andere Länder lehrt, daß das Spektrum unterschiedlicher
Welfare - Mix auch in den Industrieländern sich kaum auf wenige Regime
reduzieren läßt. So dürften sich bereits die ‘residualen Wohlfahrtsregimes’ in
Südeuropa, wo ein beträchtlicher Teil der Erwerbstätigen selbständig ist und
Familienbeziehungen von zentraler Bedeutung sind, von denen in Zentral- und
Nordeuropa unterscheiden. Schließlich hat sich in einem der reichsten
Industrieländer, in Japan, nur ein rudimentäres öffentliches Wohlfahrtsregime
entwickelt; soziale Sicherung ist vor allem Sache der Familie und des Betriebs
(Goodman & Peng 1996).
Die große Bedeutung, die ‘landesweite, kollektive und zwingende’ staatliche
Versorgungssysteme in vielen Industrieländern gewonnen haben, darf allerdings
nicht den Blick auf die anderen Quellen sozialer Sicherung verstellen.
Insbesondere der Haushalt und die familiären Beziehungen haben auch hier
– 12 –
zentrale gesellschaftliche Funktionen der Versorgung und Sicherung -so vor
allem der hilfsbedürftigen Mitglieder- behalten; die Sicherungsniveaus sind
auch in erheblichem Maße von Beschäftigungsverhältnissen und ihrer
(kollektiven) sozialen Ausgestaltung abhängig.
Die zentrale Rolle des Haushalts wird allerdings durch sozial demographische und ökonomische Veränderungen überlastet und prekär: Die
Erosion der Familien, die starke Zunahme von Haushalten alleinerziehender
Mütter mit ihren Kindern, von Single- und Altenhaushalten, zunehmende
Risiken von Einkommensausfall und Abbau von Versorgungsrechten überlasten
die Versorgungs- und Sicherungsfunktionen der Haushalte und engen die
Ressourcen und strategischen Spielräume der Haushaltsmitglieder - vor allem
der Frauen - drastisch ein.
Für Gesellschaften der Dritten Welt sind nun andere Welfare - Mixes als in
den westlichen Wohlfahrtsstaaten charakteristisch, und entsprechend sind auch
die Spektren und Ressourcen für Strategien sozialer Sicherung verschieden dies belegen auch die Beiträge in diesem Heft. Anders als
modernisierungstheoretische Annahmen vielleicht vermuten lassen, entsprechen
die Sicherungssysteme nicht denen der früheren Entwicklungsphasen heutiger
Wohlfahrtsstaaten. Die Wurzeln liegen in sozialen, wirtschaftlichen, politischen
Entwicklungen, die - bei aller Heterogenität zwischen den Gesellschaften typische Unterschiede zu den westlichen Wohlfahrtsstaaten aufweisen.
Zunächst ist die Verwandlung der Gesellschaften in Marktgesellschaften und
zumal die Verbreitung der Lohnarbeit als Erwerbsform ein später und oft
‘unvollständiger’
Prozeß.
Die
modernen
Produktionsund
Dienstleistungssektoren, die auf Lohnarbeit aufbauen, sind meist erst vor
wenigen Jahrzehnten entstanden und absorbieren, trotz oft enormer
Wachstumsprozesse in den sechziger und siebziger Jahren, doch nur geringere
Teile des Arbeitskräftepotentials der durch Bevölkerungswachstum und
Migration
expandierten
städtischen
Arbeitsmärkte.
Herkömmliche
Wirtschaftsformen - etwa landwirtschaftliche oder handwerkliche
Kleinproduktion - spielen nach wie vor eine mehr oder weniger große Rolle,
haben häufig sogar noch mit den modernen Sektoren der Ökonomie an
Bedeutung gewonnen. Selbständige Arbeit auf eigene Rechnung, oft im
Familienverbund, ist weit verbreitet und hat - wie insgesamt der sog. ‘informelle
Sektor’ - in den letzten Jahrzehnten in vielen Regionen sogar noch
zugenommen.
Zugleich hat in den meisten Ländern der Staat erst spät soziale Sicherungsund Versorgungsfunktionen übernommen, und dies auch in den Regionen in
sehr unterschiedlicher Weise.
In Lateinamerika etwa war es der Entwicklungsstaat, der seit den dreißiger
Jahren dieses Jahrhunderts Modernisierungs- und Industrialisierungsprojekte
sozial zu flankieren suchte. In vielen Ländern Lateinamerikas wurden, oft
bereits bevor Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse massiv einsetzten,
– 13 –
die Grundlagen für ein modernes Arbeits- und Sozialrecht und staatliche
Versorgungs- und Sicherungssysteme geschaffen. Insbesondere in der
Blütephase der Importsubstitution bis in die siebziger Jahre wurde das
öffentliche Bildungs- und Gesundheitswesen kräftig ausgebaut und auch die
Verbreitung der staatlichen Sozialversicherung erweitert, die zumindest eine
rudimentäre Sicherung bei Krankheit, Invalidität, Tod und im Alter versprach
(Mesa - Lago 1978); im Zentrum sozialer Sicherungen standen Altersrenten,
Gesundheitsversorgung und Preissubventionen. Allerdings kam die staatliche
soziale Sicherung überwiegend einem beschränkten Kreis der Bevölkerung
zugute - zunächst den Militärs und Staatsbediensteten, danach den ‘best
organized and strategically located sectors of the middle and working classes’
(Huber 1996: 147). Am wenigsten nutzte sie den Gruppen, die ihrer am meisten
bedurften: den ländlichen und städtischen Armen des informellen Sektors, seien
sie selbständig oder ‘unterbeschäftigt’, in unstetiger und schlecht entlohnter
abhängiger Tätigkeit. Insgesamt ist die Sozialversicherung nur Minderheiten
zugänglich: Anfang der 90er Jahre waren im Durchschnitt von 11 Ländern nicht
mehr als 35% der ökonomisch aktiven Bevölkerung, also weniger noch als die
im formellen Sektor Beschäftigten, in die Sozialversicherung eingeschlossen
(ILO 1994).5 Zugleich ist das staatliche System sehr lückenhaft geblieben. In
kaum einem Land etwa wurden Sicherungen für die Phasen der Erwerbslosigkeit
geschaffen. Schließlich blieben die Leistungen auf so niedrigem Niveau, daß sie
Risikosituationen - nicht nur für die Mittelschichten mit ihren gehobenen
Ansprüchen - nur sehr ungenügend abfedert und der Ergänzung durch weitere
Ressourcen bedarf.
Sicherlich kann das Beispiel Lateinamerikas nicht für formelle, staatliche oder
staatlich organisierte Sicherungssysteme der Dritten Welt insgesamt stehen. Zu
unterschiedlich waren in den verschiedenen Weltregionen die Rolle des Staates,
der Einfluß europäischer Wohlfahrtskonzepte, der Druck sozialer Bewegungen,
die ökonomischen Bedingungen und kulturellen Traditionen: in Lateinamerika
(mit einem vergleichweise homogenen Entwicklungsmodell) anders als im
nachkolonialen Afrika oder in asiatischen Ländern.
Insgesamt stellt sich die Frage, wieweit aus den Industrieländern
übernommene Konzepte sozialer Sicherung, die ja auf vorübergehende und
jeweils nur kleinere Teile der Gesellschaft betreffende Risikosituationen
abstellen, den sozialen Problemen in Entwicklungsländern überhaupt
angemessen sind: hier ist Armut nicht eine Ausnahmesituation oder
Randgruppen vorbehalten, sondern verbreitet und dauerhaft und in den
ökonomischen Strukturen verankert. Anders als in den Industrieländern ist nicht
Erwerbslosigkeit die zentrale Risikosituation, sondern Unterbeschäftigung irreguläre, kurzfristige Beschäftigung, Mehrfachjobs etc.: „The poor in
developing countries are not poor because they lack employment (in fact, they
are overworked) but because they are employed irregularly at low wages or
derive low incomes from self-employment based on low assets“ (Guhan 1994,
37). Soziale Sicherung muß daher in Entwicklungsländern als integraler Teil
– 14 –
von Armutsbekämpfungspolitiken gesehen werden, die den komplexen
Charakteristika von Armut und Deprivation entsprechen und sowohl
Einkommens- und Beschäftigungsförderung, Sicherung der Grundbedürfnisse
wie auch spezifische Sicherungen für Notphasen umfassen.
Formelle Systeme der sozialen Sicherung hingegen, die in den
Industrieländern universalistische Mindestgarantien geben, verwandeln sich in
Ländern der Dritten Welt eher in partikulare Schutzvorkehrungen, die als
Privilegien nur Teilen der Bevölkerung zugute kommen. Allgemein lassen sich,
wie Guhan (1994) resümiert, folgende Mängel staatlicher sozialer Sicherung in
Entwicklungsländern feststellen: 1. Sie deckt meist nur einen kleineren Teil von
Risiken ab, am ehesten noch Unfall-, Alters- und Hinterbliebenenrenten;
Sicherungen
für
Krankheitsoder
Mutterschaftsphasen
sowie
Familienzuwendungen sind bereits weniger verbreitet, und nur wenige Länder
bieten Unterstützung für Erwerbslose. 2. Die meisten formellen
Sicherungssysteme gelten nur für Beschäftigte des Staates und Arbeitnehmer in
formellen Beschäftigungsverhältnissen im Bergbau, der Industrie oder der
Plantagenwirtschaft, wo die
Belegschaften stabil und unter regulären
Bedingungen beschäftigt sind. Große Segmente der Erwerbstätigen auf dem
Lande und im informellen urbanen Sektor sind ausgeschlossen. 3. Formelle
Sicherungssysteme sind sehr ungleich in den Regionen der Dritten Welt verteilt.
4. Formelle Sicherungssysteme funktionieren häufig schlecht, sei es wegen der
Umgehungsstrategien
der
Unternehmen
oder
der
bürokratischen
Schwerfälligkeit (Guhan 1994: 36).
Wegen dieser Mängel haben andere, zusätzliche Ressourcen ein um so
größeres Gewicht. Von großer Bedeutung sind betriebliche Versorgungs- und
Sicherungssysteme, und zwar zunächst als historische Vorläufer und später als
Ergänzung staatlicher Sicherungssysteme. Fabrikschulen und betrieblicher
Wohnungsbau, medizinische Versorgung und Unterstützungskassen sind
Elemente herkömmlicher, häufig paternalistisch orientierter betrieblicher
Sozialpolitiken, die später von betriebsübergreifenden staatlichen
verrechtlichten Sozialpolitiken ersetzt wurden. Aber noch immer ist das
Versorgungs- und Sicherungsniveau der im ‘formellen Sektor’ Beschäftigten zu
einem großen Teil von Dichte und Niveau betrieblicher Sozialleistungen
abhängig. Die Beschäftigten im staatlichen Sektor, in den Großbetrieben der
Industrie und im modernen Dienstleistungsbereich konnten oft auf betrieblicher
oder sektoraler Ebene Sicherungen - etwa Betriebsrenten, Abfindungen bei
Entlassungen, Beihilfen für das Studium der Kinder oder bessere medizinische
Versorgung - kollektiv durchsetzen und beanspruchen, die die für formelle
Beschäftigungsverhältnisse rechtlich vorgeschriebenen Mindestsicherungen
beträchtlich aufstocken und ergänzen (Dombois 1995).
Wo staatliche oder betriebliche Sicherungen nicht zugänglich oder nicht
hinreichend sind, gewinnen soziale Netze und vor allem die familiären
Beziehungen um so größere Bedeutung. Transfers und Versorgungsleistungen
im Familienzusammenhang, vor allem zwischen Eltern und Kindern, bilden
– 15 –
häufig die wichtigsten, verläßlichsten und flexibelsten sozialen Sicherungen für
Risikosituationen wie Erwerbslosigkeit, Krankheit, Alter oder Mutterschaft.
Aber
auch
weitere
soziale
Beziehungen
Mitgliedschaft
in
Unterstützungsvereinen, Zugehörigkeit zu Gruppen, die sich auf Basis
ethnischer, regionaler oder religiöser Identifikation gebildet haben, schließlich
auch paternalistische oder klientelistische Abhängigkeitsbeziehungen - all dies
sind teils mehr, teils weniger weitreichende Ressourcen sozialer Sicherung, die
für große Gruppen der Bevölkerung - für Arme in Stadt und Land, für
‘informell’ Erwerbstätige ebenso wie für unter prekären Bedingungen formell
Beschäftigte- von großer Bedeutung sind6.
Dies alles führt dazu, daß Sicherungssysteme in Ländern der Dritten Welt
wesentlich heterogener sind und der Wohlfahrtsmix in den Strategien sozialer
Sicherung vielfältiger und nach sozialer Lage stärker differenziert ist als in
europäischen Wohlfahrtsstaaten.
Für Wohlhabende mögen staatliche oder betriebliche Sicherungen keine Rolle
spielen, weil ihnen Einkommen und Vermögen eine Vorsorge auch für
Notsituationen gestatten und sie in der Lage sind, Versorgungsleistungen wie
Bildung, Gesundheitspflege wie auch häusliche Dienstleistungen zu kaufen. Im
übrigen werden staatliche Sicherungen, sofern sie zugänglich sind, oft nur als
Sockel oder als zusätzliche Quellen genutzt, die dringend weiterer Ressourcen
bedürfen. Für Personen aber, die von staatlichen oder betrieblichen Sicherungen
ganz oder weitgehend ausgeschlossen sind und auch nicht über Vermögen und
Einkommen verfügen, um sich über den Markt zu versorgen, sind Optionen und
Spielräume sehr beschränkt, und die demographischen und ökonomischen
Veränderungen tun das ihre, um sie noch weiter einzuengen.
So schaffen Migrationsprozesse räumliche Distanzen in herkömmlichen
soziale Beziehungen und lassen Versorgungsleistungen nicht mehr zu, die, wie
etwa die Pflege, der räumlichen Nähe bedürfen. Sie erlauben zwar oft Transfers,
die den Zurückgebliebenen ein höheres Versorgungs- und Sicherungsniveau
etwa über den Markt vermitteln. Häufig führen sie aber auch zur Lockerung
oder zum Bruch von Beziehungen und den ihnen eingeschriebenen Leistungsund Reziprozitätsnormen. Auch die Veränderungen der Familienstrukturen - sei
es die Reduzierung des Haushalts auf die Kleinfamilie mit wenigen Kindern
oder matrilokale Einheiten von Mutter und Kindern -, die durch die höhere
Lebenserwartung veränderte Altersstruktur, nicht zuletzt auch die rasche, oft
auch spektakuläre Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit in den Städten der
Dritten Welt in den letzten beiden Jahrzehnten -dies alles verändert sowohl die
Zusammensetzung und Ressourcen der Haushalte und die Spielräume der
Strategien sozialer Sicherung.
– 16 –
..die achtziger und neunziger Jahre: soziale Sicherungsstrategien nach der
Prosperitätsphase
Die europäischen Wohlfahrtsstaaten haben ihren Zenit seit geraumer Zeit
überschritten, was Dichte, Niveau und Verallgemeinerung sozialer Sicherungen
angeht. Mit der Erwerbslosigkeit ist auch rapide die Zahl von Menschen
gewachsen, die auf soziale Sicherungen angewiesen sind; zugleich sind aber
gerade die Anrechte auf staatliche Leistungen, die Erwerbslosigkeit abfedern
sollen, differenziert und reduziert worden, wenn auch die Gesamtsumme stark
gewachsen ist.
Insbesondere in ‘Konservativen Wohlfahrtsregimes’ wie dem der
Bundesrepublik,
die
hauptsächlich
Sicherungen
nach
dem
Sozialversicherungsprinzip an vorgängige Beschäftigung und Beitragssätze
binden, fallen Gruppen aus dem Sicherungssystem heraus, verlieren Anrechte
oder müssen sich mit einem so niedrigen Leistungsniveau begnügen, daß sie
ohne Rückgriff auf weitere Ressourcen zu drastischen Veränderungen ihrer
Lebensführung gezwungen sind; dies betrifft vor allem Jugendliche,
Teilzeitbeschäftigte
ohne
Sozialversicherung,
unstetig
Beschäftigte,
Langzeitarbeitslose. Herkömmliche soziale Rechte verlieren ihre Allgemeinheit.
Mit wachsender Erwerbslosigkeit schrumpfen auch die Inseln zusätzlicher
betrieblicher oder sektoraler Versorgung. Ein beträchtlicher Teil der
Gesellschaft ist daher zu drastischen Veränderungen der Lebensführung
gezwungen, sofern nicht andere Ressourcen mobilisiert werden können.
In Ländern der Dritten Welt haben vor allem Strukturanpassungsmaßnahmen
und die neoliberal inspirierte ordnungspolitische Wende die Bedingungen
sozialer Versorgung und Sicherung verändert. Lange Phasen der Inflation und
Stagnation, der Abbau und Umbau des staatlichen Sektors, die Sanierung der
öffentlichen Haushalte zu Lasten der Sozialausgaben, Privatisierung und
wirtschaftlicher Strukturwandel - dies alles hat tiefe Spuren im Erwerbs- wie
auch im sozialen Sicherungssystem hinterlassen. Mit dem Schrumpfen des
großindustruiellen und staatlichen Sektors, mit dem Abbau geschützter
Beschäftigungsverhältnisse und der Informalisierung der Erwerbsarbeit hat auch
die Gruppe derjenigen abgenommen, die Zugang zum staatlichen
Sicherungssystem oder gar zu privilegierten Beschäftigungssektoren hatten.
Zugleich sind mit der Geldentwertung nicht nur die Einkommen und
Transfermittel der Haushalte geschrumpft, sondern auch monetäre Sicherungen
entwertet worden.
Diese Tendenzen gehen in europäischen Wohlfahrtsstaaten und in
Gesellschaften der Dritten Welt mit wachsender sozialer Ungleichheit einher,
treffen also nicht die Gesellschaften in ihrer Gesamtheit, sondern vor allem die
sozioökonomisch schwachen und kollektiv wenig organisierten und politisch
repräsentierten Gruppen. Sie führen dazu, daß sich die Spektren verfügbarer
Welfare - Mixes gesellschaftlich beträchtlich differenzieren und für große
Gruppen erheblich einschränken, und eine zunehmende Last den Haushalten und
– 17 –
den familiären und weiteren sozialen Netzen aufgebürdet wird. Dabei könnten in
den europäischen Wohlfahrtsstaaten insbesondere die sozialen Netze überlastet
sein, weil die sozialen Beziehungen nicht mehr oder nur noch ungenügend auf
Normen der Solidarität und Reziprozität aufbauen.
Zugleich darf aber die Macht der ökonomischen Logik über soziale
Sicherungssysteme nicht überschätzt werden: gerade für die institutionelle,
staatlich organisierte soziale Sicherung gibt es sehr verschiedene
Gestaltungsoptionen mit jeweils unterschiedlichen sozialen Auswirkungen. Die
Wahl der Optionen hängt nicht zuletzt mit der Bedeutung zusammen, die
Gesellschaften sozialer Kohäsion und der Angleichung von Lebenschancen
zumessen. Die Krise der ökonomischen Grundlagen herkömmlicher
wohlfahrtsstaatlicher Politiken gibt Raum für neue Politiken auch der sozialen
Sicherung, die auf Risikolagen und Konflikte antworten und sich dem Diktat
‘ökonomischer Sachzwänge’ widersetzen.
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Anmerkungen
1
2
3
4
5
Für kritische Lektüre und Anregungen danke ich Birgit Pfau-Effinger und Martin
Seeleib-Kaiser sowie der Peripherie-Redaktion.
Vgl. dazu auch die Texte von Grawert, Eckert und Witte in diesem Band.
Dies ist ein bisher wenig untersuchter Bereich. Die wichtige Rolle von Familien- und
Nachbarschaftsbeziehungen sowie der Mitgliedschaft in Vereinen für die Bewältigung
der Arbeitslosigkeit und zumal für die Wohnsituation wird in der Forschungsarbeit von
Häußermann/Lüsebrink/Petrowsky (1990, S. 157ff.) behandelt.
Vgl. dazu Elwert 1980b: 684; Portes 1995.
Allerdings sind die Deckungsraten sehr unterschiedlich: sie sind relativ hoch in Chile,
Brasilien, Argentinien und Costa Rica. Insgesamt zeigt sich, daß auch in Lateinamerika
unterschiedliche Wege staatlicher sozialer Sicherung mit jeweils unterschiedlichen
gesellschaftlichen Prinzipien und Umverteilungswirkungen verfolgt werden (vgl. Huber
1996).
– 19 –
6
Daß das Versorgungsniveau von Beschäftigten ‘des informellen urbanen Sektors’
durchaus nicht unter dem des ‘formellen’ liegen muß, belegen die Forschungen von Pries
(vgl. Pries 1997); im Wohlfahrtsmixder ‘informell Erwerbstätigen’ dürften aber Markt
und soziale Netzwerke eine viel wichtigere Rolle haben.
Anschrift des Autors:
Rainer Dombois
Zentrale Wissenschaftliche Einrichtung
‘Arbeit und Region’
Universität
Parkallee 39
28334 Bremen
Tel. 0421-2183292
e-mail: [email protected]
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