Islamistische Extremisten VOM GEBET ZUM GOTTESSTAAT Stand: Februar 2002 5. Auflage Nachdruck nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers Ministerium des Innern und für Sport Rheinland-Pfalz Vorwort Am 11. September 2001 veränderte ein barbarischer Terrorakt die Welt und brannte sich tief in das Bewusstsein der Menschen ein. Mehrere Selbstmordattentäter steuerten zuvor gekaperte Zivilflugzeuge in das World-Trade-Center in New York und auf das Verteidigungsministerium in Washington. Diese menschenverachtenden Taten trafen die Vereinigten Staaten von Amerika unvorbereitet und rissen Tausende in den Tod. Die Täter wurden nach intensiven Ermittlungen unter islamistischen Extremisten ausgemacht, Spuren führen auch nach Deutschland. Somit haben die Taten von neuem die öffentliche Diskussion um das Selbstverständnis des Islam und das Verhältnis zu den Muslimen auch in unserer Gesellschaft nachhaltig entfacht. Nicht immer wird diese Diskussion mit der gebotenen Sachlichkeit geführt, Vorurteile vermengen sich mit undifferenzierter Polemik. Bisweilen wird gar von einem „Kampf der Kulturen“ gesprochen. Bereits seit Ende des 20. Jahrhunderts sehen wir uns in vielen Teilen der Welt verstärkt mit vordergründig religiös motivierten Auseinandersetzungen konfrontiert. Es gibt für sie aber weder einfache noch einheitliche Erklärungsmuster Vielschichtigkeit und Komplexität gehören zu deren hervorstechenden Charakteristika. Stets ist bei der näheren Analyse demnach ein Höchstmaß an Differenzierung und Objektivität geboten. Dies gilt es zu beachten, will man sich mit dem sensiblen Themenkreis Islam und seinen Strömungen adäquat auseinandersetzen. Insbesondere gilt es, Negativklischees und überzogenes Bedrohungsdenken zu vermeiden. Gegenüberstellungen von christlichem Abendland einerseits und der „islamischen Welt“ als vermeintlich bedrohlichem Gegenüber andererseits wären untauglich, würden sie doch lediglich Vorurteile bedienen und in jedem Fall der Wirklichkeit nicht gerecht werden. Schließlich vereinigt der Islam als eine der bedeutenden Weltreligionen mehr als 1,2 Milliarden 3 Gläubige, die in ihrer weit überwiegenden Mehrheit empört sind über die schrecklichen Taten der Islamisten wie der Rest der Welt. Islamistische Extremisten oder gar Terroristen bilden eine verschwindend geringe Minderheit unter den Muslimen. In ihrer Gefährlichkeit sind sie jedoch nicht zu unterschätzen. Häufig sind es ethnische, soziokulturelle und vor allem wirtschaftliche Ursachen wie Armut und Unterentwicklung, die das Aufkeimen scheinbar religiös motivierter Bestrebungen begünstigen. Ungeachtet dessen ist aber eine offensive Auseinandersetzung mit den politisch-extremistisch geprägten Erscheinungsformen des Islamismus mehr denn je angezeigt. „Islamisten“ missbrauchen den Islam unter vordergründiger Religiosität für profane Zwecke; ihr Treiben wirkt sich auch nachhaltig auf die Innere Sicherheit unseres Staates aus. Im Folgenden wird eine Lagedarstellung über diese Ausprägungen aus Sicht des rheinland-pfälzischen Verfassungsschutzes gegeben. Diese Broschüre soll den Leserinnen und Lesern einen kurzen, präzisen Überblick über die wichtigsten Erkenntnisse verschaffen. Walter Zuber Minister des Innern und für Sport 4 Inhaltsverzeichnis Seite 1. Islam – Grundlagen 6 2. Islamismus 13 3. Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes 16 4. Islamistische Extremisten in Deutschland 17 5 „Gott ist groß“ 1. Islam - Grundlagen URSPRUNG DES ISLAM Im 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurde auf der Arabischen Halbinsel im heutigen Saudi-Arabien eine Religion verkündet, deren Name zugleich zentrale Botschaft ist: „Hingabe (an Gott)“ oder, im arabischen, Islam. Nach der islamischen Lehre ließ Gott diese Botschaft im Laufe der Geschichte zahlreichen Propheten zukommen, unter ihnen Abraham (arabisch: Ibrahim), Moses, Jesus und schließlich Muhammad. Muhammad wird als abschließender Prophet („Siegel der Propheten“) verehrt. Aus dieser Entwicklungsgeschichte heraus versteht sich der Islam weniger als eine neue Religion als eine Wiederherstellung der auf früheste Zeiten zurückgehenden monotheistischen Ur-Religion. Muhammad, der von etwa 570 bis zum Jahr 632 lebte, fand in seiner Geburtsstadt Mekka seine ersten Anhänger, die die Hingabe an Gott praktizierten und somit die Bezeichnung Muslime trugen. Allerdings stieß Muhammad mit dem Ruf nach moralischer Erneuerung und der Lehre an einen Gott (Monotheismus) in seiner überwiegend durch Vielgötterei (Polytheismus) geprägten Umgebung auch auf Ablehnung und Feindseligkeit, so dass er 622 nach Medina emigrierte. Dieses Ereignis ist als Hidschra (Auswanderung) bekannt und markiert den Beginn der muslimischen Zeitrechnung. QUELLEN DES ISLAM Die Offenbarungen Gottes, die Muhammad empfangen hatte, finden sich nach islamischer Lehre in wortwörtlicher und damit unabänderlicher Form im Koran („Lesung“, „Rezitation“) wieder. Nicht alle Gesellschaften haben ihre Glaubensvorstellungen und -lehren schriftlich festgehalten, doch im Islam besitzt der Koran als Heilige Schrift einen außerordentlich hohen Stellenwert. Nach vorherrschender Meinung bestand zu Muhammads Lebzeiten noch keine zusammenhängende Fassung der an ihn ergangenen Offenbarungen. 6 Die Erstellung einer einheitlichen und unabänderlichen Koranausgabe erfolgte etwa zwanzig Jahre nach Muhammads Tod im Auftrag des dritten Kalifen, Uthman ibn Affan. Der Koran ist demnach in 114 Suren (Kapitel, wörtlich: Reihen) unterteilt. Die einzelnen Suren tragen Überschriften, die auf ein in der Sure erwähntes Thema, Gleichnis, Vorkommnis oder eine Person Bezug nehmen. Allerdings widmen sich die in ihrer Länge sehr unterschiedlichen Suren meist mehr als nur einem Thema. Dabei können Lobpreisungen Gottes, Schilderungen von Paradies und Hölle, Mahnungen an die Adresse von Nichtmuslimen, Erzählungen mit thematischer Anknüpfung an das Alte und Neue Testament, ehe- und erbrechtliche Bestimmungen, Speisegebote und anderes in dichter Abfolge stehen. Eine ergänzende Quelle stellt für Muslime die Sunna dar. Mit Sunna ist in diesem Zusammenhang die Lebensführung Muhammads gemeint, wie sie in überlieferten Aussprüchen und Taten Muhammads (Hadithe) dokumentiert ist. Muhammads Lebensführung wird als die gelebte Ausdeutung der göttlichen Offenbarung angesehen und besitzt damit Vorbildfunktion und annähernd dieselbe Verbindlichkeit wie die koranischen Weisungen - vorausgesetzt, dass eine jeweilige Überlieferung von bedeutenden Gelehrten der Vergangenheit als authentisch klassifiziert wurde. Die Sunna gibt Auf- 7 schluss über Einzelheiten bei der Durchführung ritueller Pflichten und enthält Bestimmungen und Empfehlungen eines rechten Handelns in zahlreichen Lebenslagen von der Geburt bis zum Tod. GLAUBENSINHALTE UND KULTISCHE PFLICHTEN DES ISLAM Der erste Teil des Glaubensbekenntnis, das jeden Muslim an den Islam bindet, bringt das Zentraldogma dieser Religion zum Ausdruck: „Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Gott.“ Polytheismus, also der Glaube an mehrere Götter, wird nicht akzeptiert, und auch die christliche Dreifaltigkeitslehre (Gottvater, Sohn und Heiliger Geist) wird abgelehnt und als eine Art Vorstufe zum Polytheismus angesehen. Gott (arabisch: Allah) gilt als Schöpfer der Erde, des Himmels und allen Lebens. Er hat weiterhin eine Reihe von Gesetzen festgelegt und wird am Tag des Jüngsten Gerichts darüber entscheiden, wer aufgrund seines Glaubens und seiner Taten in den „Garten“ (Paradies) beziehungsweise in die Hölle eingehen wird. Die Hingabe an Gott erweist der Gläubige nicht allein durch die Annahme der Glaubensinhalte und die Befolgung der im Koran und in der Sunna enthaltenen Verhaltensvorschriften (teils rechtsverbindlich), sondern auch durch die Ausübung bestimmter kultischer Pflichten. Aufgrund der großen Bedeutung der rituellen Praxis ist im Zusammenhang mit dem Islam des öfteren von Orthopraxie (die rechte Ausübung), einem Analogbegriff zu Orthodoxie (die rechte Lehre), die Rede. Die Lebensführung des Muslim ruht auf fünf Geboten beziehungsweise, gemäß arabisch-islamischem Sprachgebrauch, Pfeilern: - das Glaubensbekenntnis (shahada), - das fünfmal täglich zu verrichtende Ritualgebet (salat), - die Almosensteuer (zakat), eine Abgabe, die vor allem Bedürftigen zugute kommen soll, - das Fasten im Ramadan (saum), jenem Monat, in dem Muhammad seine ersten Offenbarungen erhalten haben soll, - die Pilgerfahrt nach Mekka (Hadsch), die jeder Gläubige zumindest einmal in seinem Leben durchführen soll, wenn er dazu gesundheitlich und finanziell in der Lage ist. 8 Auf diesen Pfeilern ruht ein ganzes Gebäude empfehlenswerter Eigenschaften und Verhaltensweisen. Das Handeln des Einzelnen unterliegt rechtlichen Bestimmungen, die im Koran und in der Sunna enthalten sind. Koran und Sunna lassen nämlich erkennen, dass der Islam nicht allein durch eine rein spirituelle Glaubenslehre und darauf basierende sittliche Normen begründet ist, sondern auch von Gesichtspunkten der Gesellschaftslehre geprägt ist. Eine tragende Rolle spielt in diesem Zusammenhang das religiöse Gesetz (Scharia, wörtl.: Weg), dessen wesentliche Grundlagen neben Koran und Sunna die übereinstimmenden Deutungen der islamischen Religions- und Rechtsgelehrten (Ulama) sind. Bei Deutungen des Islam wäre es also sehr verkürzt, würde man ausschließlich einen Koranvers zitieren und daraus vorschnell Schlüsse ziehen. AUSBREITUNG DES ISLAM Islamischer Glaube und muslimische Herrschaft verbreiteten sich bereits im ersten Jahrhundert seit Muhammads Tod über die arabische Halbinsel hinaus bis zum Indus-Tal im Osten und nach Nordafrika sowie zeitweise nach Spanien im Westen. Heute besteht ein Staatengürtel von Nordwest-Afrika, Teilen West- und Ostafrikas, über den nahöstlichen und zentralsowie südasiatischen Raum bis in die indonesische Inselwelt, in dessen Einzelstaaten der islamische Bevölkerungsanteil die Mehrheit darstellt. Aufgrund der Migration von Muslimen nach Westeuropa, Nord- und Südamerika sowie Australien in jüngerer Geschichte wäre es aber nicht zutreffend, von einem Islam innerhalb fester geographischer Grenzen zu sprechen. Die Zahl der Muslime dürfte sich heute weltweit auf mehr als 1.2 Milliarden Menschen belaufen. In Europa (einschl. europäischer Teil der GUS) leben mehr als 25 Millionen Muslime (Stand: 1988), davon ca. 3,0 Millionen in Deutschland (Stand: 2000), von denen etwa 100.000 deutsche Staatsangehörige sind. HAUPTSTÖMUNGEN DES ISLAM Wirft man einen oberflächlichen Blick auf den Islam, so erscheint er wie ein Monolith, geschlossen und unnahbar wie 9 Ausbreitung des Islam 10 11 die Kaaba in der großen Moschee von Mekka, dem bedeutendsten Heiligtum der Muslime. Bei näherem Hinsehen eröffnet sich dem aufmerksamen Betrachter jedoch eine Welt voller Vielfalt und lebendiger Eindrücke. Angesichts dessen wird man gewahr, dass es keine in sich geschlossene „islamische Welt“ gibt, sondern eine ganze Reihe von Strömungen und Richtungen mit oft länder- bzw. regionenbezogenem Charakter. Innerhalb der muslimischen Gemeinde (arabisch: umma) haben sich zwei Hauptrichtungen herausgebildet: die sunnitische, der rund 85 % der Muslime angehören, und die schiitische. Die Spaltung geht bereits in das 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung beziehungsweise 1. Jahrhundert muslimischer Zeitrechnung zurück und hatte politische Ursachen. Es ging um die Frage, wer berechtigt sei, die muslimische Gemeinde nach Muhammads Tod zu leiten. Ein Teil der Muslime war der Ansicht, dass allein den Nachfahren Muhammads die Leitung, also das Kalifat (von arabisch khalifa - Nachfolger) zustand. Die Anhänger dieser Position gruppierten sich um Ali, den Vetter und Schwiegersohn Muhammads, und bildeten die Partei (Schia) Alis. Sie sind diejenigen, die als Schiiten in die Geschichte eingegangen sind. Die Sunniten hingegen haben den Kreis der in Frage kommenden Personen für das Kalifat weniger stark eingegrenzt. Im Laufe der Zeit haben sich Schiiten und Sunniten in einigen Punkten auch in Glaubensfragen auseinanderentwickelt - eine Spaltung, die bis heute nicht überwunden ist. Innerhalb der Konfessionen ist es, in besonderem Maße im Bereich des schiitischen Islam, zur Herausbildung weiterer Untergruppen gekommen. Schiiten leben heutzutage vor allem im Iran, wo die schiitisch-imamitische Richtung Staatsreligion ist, im Irak, Libanon, Jemen, in Syrien, Afghanistan, Pakistan und - in einer wiederum speziellen, nämlich der alevitischen Richtung - in der Türkei. Neben der konfessionellen Aufgliederung gibt es innerhalb des Islam - über unterschiedliche Grade der persönlichen Religiosität hinaus - zudem verschiedene Ausprägungen oder Auffassungen der Religion, darunter mystische (sufische), reformistische im Geiste bestimmter Gelehrter des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (z.B. Muhammad Abduh und Qasim Amin) und nicht zuletzt islamistische. Diese letztgenannte Variante des Islam wird im folgenden Kapitel beschrieben. 12 2. Islamismus Genau wie beim Islam selbst kann auch beim Islamismus nicht von Einheitlichkeit gesprochen werden. Der Islamismus wird von unterschiedlich geprägten Einzelpersonen, Organisationen und Parteien repräsentiert, so dass eine Formel „Islamist ist gleich Islamist“ das Spektrum von Meinungen und Methoden innerhalb der islamistischen Bewegung nicht angemessen wiedergeben würde. Dennoch lassen sich einige Tendenzen feststellen, die es erlauben, vom Islamismus als einer spezifischen Ausdrucksform des Islam zu sprechen. Sie ist auch unter den Bezeichnungen (islamischer) Fundamentalismus, und - vor allem im französischen Sprachraum - Integrismus bekannt. Beim Islamismus handelt es sich um ein Konzept, das Lösungsmodelle für heutige politische und soziale Probleme auf der Grundlage des Islam anbietet. Dabei gehen die Islamisten allerdings von einem besonderen Islamverständnis aus. Hauptcharakteristikum dieses Islamverständnisses ist die von Islamisten proklamierte Einheit von Religion und Staat (arabisch: din wa-daula), aus der der Islam als umfassende Lebensordnung hervorgeht. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Ruf nach allumfassender Anwendung des islamischen Rechts, der Scharia. Dies bedeutet in der Praxis: die Lebensführung des Einzelnen, die Beziehungen zwischen Privatpersonen, die Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bewohnern wie auch die Beziehungen zwischen Staaten sollen der Scharia unterstellt werden. Bereiche, die unserem Verständnis nach weltlich sind, werden als religiös aufgefasst. Die Religion wird somit letztlich verweltlicht und als Ideologie benutzt. Dem eigenen Anspruch nach leiten Islamisten ihre Forderungen aus den Quellen Koran und Sunna ab und repräsentieren damit den aus ihrer Sicht wahren Islam. Was als „wahrer Islam“ verkündet wird, ist allerdings in einer Reihe von Fällen eher eine individuelle Interpretation von Islam, die auf einer Auswahl bestimmter Koranverse und Prophetenaussprüche (Hadithe) beruht. Vielfach - wie zum Beispiel hinsichtlich der Verschleierung der Frauen oder der Bestrafung derjenigen, die sich vom Islam lösen - wird ein Eindruck von Eindeutigkeit bzw. Echtheit vermittelt, was sich unter Berücksichtigung aller relevanten Koranpassagen und Prophetenaussprüche aber nicht herleiten lässt. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nur eine Min- 13 derheit islamistischer Führer aus dem Kreis der Religionsund Rechtsgelehrten stammt; häufiger haben sie ein technisches oder naturwissenschaftliches Studium absolviert. Zurückführen lässt sich der Islamismus - zumindest in seiner organisierten Form - auf das Jahr 1928, in dem der ägyptische Schullehrer Hasan al-Banna in seinem Heimatland die „Gemeinschaft der Muslimbrüder“ („Muslimbruderschaft“, MB) gründete. Al-Banna definierte den Islam als „Dogma und Gottesdienst, Vaterland und Nationalismus, Religion und Staat, Spiritualität und Aktion, Koran und Schwert“. Die MB fasste wenig später in weiteren Ländern Fuß und ist heute ein Hauptrepräsentant des Islamismus. Das Entstehungsfeld der MB wie auch anderer islamistischer Organisationen war von ausländischer und nichtmuslimischer Kontrolle geprägt, so durch die britische Protektoratsherrschaft in Ägypten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der (arabische) Nationalismus war eine aufkeimende Form der Opposition, der Islamismus eine andere. Die Frontstellung gegenüber westlicher Politik - besonders später seit Ende der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts im Nahostkonflikt - sowie gegen ideologische und kulturelle Einflüsse aus dem Westen ist dem Islamismus bis heute eigen geblieben und hat zu seiner weiteren Ausformung wie auch seinem Aufschwung teilweise beigetragen. Frontstellung beziehen Islamisten oftmals aber auch gegen die Regierungen ihrer Heimatländer, denen sie eine Vernachlässigung islamischer Bestimmungen vorwerfen. In manchen Staaten können sich Islamisten offiziell formieren und somit eine legale Opposition bilden oder gar Regierungsverantwortung übernehmen. In anderen Staaten werden Islamisten mit zum Teil drakonischen Mitteln verfolgt; verschiedentlich ist es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Regierung und Islamisten gekommen, so in besonderem Maße in Algerien in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Innerhalb des Islamismus gibt es nach Auffassung von Fachleuten eine zahlenmäßig dominierende Strömung, die ihre Ziele auf zunächst friedlichem Wege erreichen will. Allerdings kann in dieser Strömung oft eine nicht abschließend einzuschätzende Haltung in der Gewaltfrage beobachtet werden. Zu diesen Gruppen zählen solche, die sich 14 primär im sozialen und karikativen Bereich engagieren und damit gerade in solchen Ländern verstärkt Anhänger gewinnen, in denen die Staatsführung diesen Aufgaben nicht oder nur unzureichend nachkommt. Wirtschaftliche Probleme und daraus resultierende gesellschaftliche Verwerfungen in weiten Teilen der muslimischen Welt sind daher wichtige Gründe für den Zulauf zu islamistischen Vereinigungen. Allerdings gibt es auch Islamisten, die den gewalttätigen Kampf einsetzen, um ihre Vision und Version islamischer Herrschaft, mitunter die Utopie von der Weltherrschaft durchzusetzen. Dies trifft in besonderem Maße für den Mitte der fünfziger Jahre in Saudi-Arabien geborenen Usama BIN LADEN zu, für den der Einmarsch der Sowjettruppen in das muslimische Afghanistan 1979 einen entscheidenden Einschnitt in seinem weiteren Leben bedeutete. Er nahm an dem Befreiungskampf der Afghanen gegen die ehemalige Supermacht Sowjetunion teil und widmete sich nach deren Rückzug aus Afghanistan 1989 und dem Golfkrieg 1990/91 dem Kampf gegen die verbliebene Supermacht USA. In dem von ihm Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts gegründeten Terrornetzwerk „Al Qaida“ (Die Basis), das sich als eine Art Speerspitze in diesem Kampf sieht, bündelt er jene Kräfte, die in erster Linie die USA für die Leiden von Muslimen verantwortlich machen (so in Palästina und im Irak) und aus diesem Grund gegen sie zu Felde ziehen. Für sie wird seit jüngerem u.a. die Bezeichnung Dschihadisten verwendet. Der zugrunde liegende schillernde Begriff Dschihad bedarf dabei einer näheren Erläuterung: Meist wird Dschihad als „Heiliger Krieg“ wiedergegeben. Damit wird der Begriff allerdings auf den kriegerischen Aspekt verengt, den die wörtliche Übersetzung „Bemühung“, „Anstrengung“ oder „Einsatz (für den Islam)“ nicht vorgibt. In der Tat wurde und wird der Dschihad als Kampf sowohl zur Verteidigung als auch Ausbreitung des Islam praktiziert. Aber auch andere Ausübungsformen des Dschihad lassen sich belegen: das Bemühen, für den Islam mit Worten, durch Frömmigkeit oder eine vorbildliche Lebensweise zu werben. Eine weitere Dimension des Dschihad ist der Kampf gegen die eigenen Schwächen, also eine Art Selbstläuterung. Die Terroranschläge einzelner Fanatiker verstellen oftmals den Blick dafür, dass die ganz überwiegende Mehrheit der 15 Muslime wie auch die Regierungen in den meisten muslimischen Staaten weit davon entfernt sind, einen Glaubenskrieg zu entfachen, ja ihn überhaupt in Erwägung zu ziehen. Die islamistischen Kräfte, die kriegerische Gewalt anwenden und keinerlei Dialogbereitschaft erkennen lassen, sind für verschiedene Staaten, zu denen vornehmlich Afghanistan, Algerien, Ägypten oder auch die palästinensischen Autonomiegebiete gehören, zu einem ernstzunehmenden innenpolitischen Problem geworden, das verschiedentlich bereits die Form eines Machtfaktors angenommen hat. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen sind auch im europäischen Raum spürbar und stellen insoweit eine Gefährdung für die Innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. 3. Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes Entsprechend seinem gesetzlichen Auftrag muss der rheinland-pfälzische Verfassungsschutz u.a. über folgende Bestrebungen Informationen sammeln und auswerten: Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben. (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 Landesverfassungsschutzgesetz) Bestrebungen in der Bundesrepublik Deutschland, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 Landesverfassungsschutzgesetz) Bestrebungen und Tätigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes) oder das friedliche Zusammenleben der Völker (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gerichtet sind. (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 Landesverfassungsschutzgesetz) Von diesem Beobachtungsauftrag sind nicht die Angehörigen der Religionsgemeinschaft Islam schlechthin betroffen, 16 sondern ausschließlich die Gruppen, Bewegungen oder Einzelpersonen, von denen die genannten Bestrebungen ausgehen. Diese sind nur eine Minderheit unter den Muslimen und werden von den Verfassungsschutzbehörden in der Bundesrepublik Deutschland begrifflich als islamistische Extremisten bezeichnet. 4. Islamistische Extremisten in Deutschland Im Spektrum der extremistischen Ausländerorganisationen, denen bundesweit insgesamt etwa 59.000 Personen in 65 Organisationen oder als Unorganisierte angehören, stellen die islamistisch-extremistischen Gruppierungen (20) mit annähernd 32.000 Aktivisten den größten Anteil. Mehr als 28.600 von ihnen sind türkischer, ca. 3.100 arabischer und etwa 100 iranischer Abstammung. Jeweils in der ersten Hälfte der achtziger und der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gab es Phasen mit Steigerungsraten in diesem Spektrum. Auch im Jahr 2001 stieg die Zahl islamistischer Extremisten wiederum leicht an. ARABISCHE ISLAMISTISCHE BESTREBUNGEN In nahezu allen arabischen Staaten Nordafrikas und des Nahen bzw. Mittleren Ostens existieren mehr oder weniger stark ausgeprägte Strukturen islamistischer Organisationen. Ihre Ausprägungen reichen von politischen Parteien (z.B. in Marokko) über Gruppierungen mit dem Charakter von Bewegungen (z.B. die „Muslimbruderschaft“ in Ägypten etc.) bis hin zu ultraorthodoxen Gruppen mit terroristischer Ausrichtung (z.B. die „Bewaffnete Islamische Gruppe“ -GIA in Algerien). Die Islamisten arabischer Herkunft nutzen einerseits die verschiedenen ideologischen Vakuen aus, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, seien es der gescheiterte Traum einer (pan-)arabischen Nation oder der Zerfall ideologie- und sinnstiftender Systeme, wie das des realexistierenden Sozialismus. Daneben schüren sie das Wiederaufleben alter Bedrohungsängste gegenüber dem technologisch fortschrittlichen „Westen“ und gewinnen auch an Boden durch den oft schleichenden wirtschaftlichen Verfall mit den erheblichen sozialen Folgen für die Bevölkerung in den betroffenen Ländern. Eine zusätzliche Dynamik gewann diese Entwicklung (zeitweise) durch die „islamische Revolution“ 17 im Iran 1979/80, die islamistischen Bewegungen auch in arabischen Staaten Auftrieb verlieh. Nahezu alle islamistischen extremistischen Organisationen arabischer Herkunft verfügen ebenso über Strukturen oder zumindest Einzelmitglieder im europäischen Raum, so auch in Deutschland. Eine Zuordnung der Einzelgruppen fällt leichter, wenn man nicht nur nach deren Herkunftsländern eine Einteilung vornimmt, sondern auch nach der jeweiligen islamischen Strömung (z.B. Sunniten oder Schiiten), der sie zugehörig sind. Im wesentlichen muss heute in Deutschland von zwei bemerkenswerten Strömungen unter arabischen Islamisten ausgegangen werden. Einerseits können Islamisten „traditioneller“ Prägung beobachtet werden, die vor allem Gruppen mit strukturellen und örtlichen Bezugspunkten (z.B. Islamische Zentren) angehören. Hierzu zählen beispielsweise die unterschiedlichen Gruppierungen der „Muslimbruderschaft“ (MB) oder die libanesische „Hizb Allah“ (Partei Gottes). Daneben hat sich in den letzten Jahren eine - wenn auch zahlenmäßig kleinere - Strömung dezentraler Netzwerke von Einzelpersonen oder Kleinstgruppen entwickelt, deren Hintergründe und Zielsetzungen terroristisch geprägt sind und die ein hohes Maß an Konspiration pflegen. Dabei handelt es sich insbesondere um „Arabische Mujahedin“ (Kämpfer für die Sache Allahs), die zum Teil mit der Organisation „Al Qaida“ (Die Basis) des Usama BIN LADEN in Verbindung stehen. Unter den Islamisten arabischer Herkunft in Deutschland und letztlich in Europa sorgen in jüngster Zeit vor allem die „Arabischen Mujahedin“ für Schlagzeilen. Ihre Existenz ist eng mit der Geschichte Afghanistans verbunden. In Folge der Invasion durch die ehemalige Sowjetunion im Jahre 1979 und bis zum Abzug der „Roten Armee“ im Jahre 1989 wurden auch Muslime aus verschiedenen arabischen Ländern, die sich freiwillig dem „Befreiungskampf“ in Afghanistan angeschlossen haben, in Trainingscamps in Praktiken des Guerillakrieges ausgebildet. Viele dieser Trainingslager in Afghanistan selbst, aber auch in anderen Ländern, bestanden nach dem Abzug der Sowjettruppen aus Afghanistan fort. Die dort ausgebildeten „Arabischen Mujahedin“ einte fortan vor allem der Hass auf die Vereinigten Staaten von Amerika und auf Israel. Zudem boten den Mujahedin auch neuere Kriegsschauplätze Einsatzmöglichkeiten, so im ehemaligen Jugoslawien, 18 in Tschetschenien oder in der Kaschmirregion. Entstanden ist im Laufe der Zeit aufgrund vieler persönlicher Kontakte somit ein fast weltumspannendes Netzwerk - eine Form von terroristischer „Globalisierung“. Die „Arabischen Mujahedin“ lassen sich grob in drei Kategorien einteilen: Solche, die der Organisation Usama BIN LADENS „Al Qaida“ (Die Basis) selbst angehören, daneben Mujahedin, die in anderen islamistischen Gruppierungen integriert sind (z.B. in der algerischen „Bewaffneten Islamischen Gruppe“/GIA oder den ägyptischen Gruppen „Jihad Islami“ und „Al Jamaa Al-Islamya“) und darüber hinaus Aktivisten, die keinen der genannten Strukturen angehören (zusammengeschlossen in kleinen bzw. Kleinstgruppen, so genannte non aligned Mujahedin). Auch seitens der beiden letztgenannten Erscheinungsformen muss von vielfältigen Kontakten und Verbindungen zur „Al Qaida“ und deren Mitgliedern ausgegangen werden. Personen, die den „Arabischen Mujahedin“ zuzurechnen sind unterhalten auch in Deutschland Netzwerke. Im Dezember 2000 wurden in Frankfurt/Main vier mutmaßliche Angehörige einer solchen Gruppe verhaftet; bei ihnen wurden Waffen und Sprengstoffmaterialien sichergestellt. Bemerkenswert sind vor allem die Spuren des Attentats auf das World-Trade-Center, die nach Deutschland und in andere europäische Länder führen. Etwa 1.200 Personen gehören in Deutschland insgesamt den verschiedenen Zweigen der „Muslimbruderschaft“ an. Vor allem die sunnitisch geprägten islamistischen Extremisten arabischer Herkunft in der Bundesrepublik Deutschland orientieren sich vornehmlich an den „Islamischen Zentren“ (IZ) der international aktiven „Muslimbruderschaft“ (MB), die in mehrere länderbezogene Zweige zerfällt. Die beiden bedeutendsten IZ in der Bundesrepublik sind die Zentrale des ägyptischen Zweigs der MB in München und das IZ in Aachen, das vom syrischen Zweig der MB geprägt ist. Die IZ dienen auch als Anlaufstelle für weitere regionale MB-Zweige, so der algerischen „Islamischen Heilsfront“ (FIS) oder der tunesischen „En Nahda“. MB-Aktivitäten gehen daneben auch von den ihr zuzurechnenden Vereinigungen „Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V.“ (IGD) und „Islamische Avantgarden“ aus, die Zweigstellen in verschiedenen deutschen Städten 19 unterhalten. Zudem existieren Organisationen, die von den „Islamischen Avantgarden“ gesteuert werden, nämlich die „Union für die in den europäischen Ländern arbeitenden Muslime e.V.“ (UELAM) mit Sitz in Köln sowie die „Union Muslimischer Studentenorganisationen in Europa e.V.“ (UMSO) mit Sitz in Bonn. Für ihre Anhänger gibt die MB mehrere Publikationen heraus, so die „Ar-Rai’d“ (Der Vorkämpfer/Kundschafter/Führer), die „An-Nazir“ (Der Beobachter) und die „An-Nasr“ (Der Sieg). Im Jahre 1981 gründeten MB-Mitglieder in München den „Islamischen Bund Palästina“ (IBP), der in Deutschland die Interessenvertretung der in Israel bzw. den palästinensischen Autonomiegebieten Gaza und Westjordanland terroristisch operierenden palästinensischen „Islamischen Widerstandsbewegung“ (Harakat Al-Muquawama Al-slamiya/HAMAS = wörtl.: Eifer; Interpretation der Organisation: Mut und Tapferkeit) darstellt. Die im IBP organisierten einzelnen HAMAS-Anhänger betreiben in Deutschland eine intensive Öffentlichkeitsarbeit, so agitieren sie gegen das Vorgehen Israels in den palästinensischen Autonomiegebieten. Als Propagandaorgan fungiert die Schrift „Nida’ al-Aqsa“ (Ruf der Al-Aqsa-Moschee [in Jerusalem]). Der IBP verfügt in der Bundesrepublik Deutschland über ca. 250 Mitglieder. Die algerische sunnitisch-extremistische „Islamische Heilsfront“ (FIS) war in den letzten Jahren wiederholt in die Schlagzeilen geraten. Die in Deutschland aufenthältlichen FIS-Angehörigen, zu denen auch der Auslandschef der Organisation, Rabah KEBIR, gehört, konzentrieren ihre Aktivitäten zum einen auf die politisch-propagandistische Unterstützung der FIS in Algerien. Allerdings ist auch logistische Hilfe für die Gesinnungsgenossen in Algerien bekanntgeworden, so offensichtlich illegale Schleuseraktivitäten, wie polizeiliche Ermittlungen im September 1997 im RheinMain-Gebiet ergeben haben. Die Zahl der Anhänger algerischer islamistisch-extremistischer Gruppen in Deutschland liegt schätzungsweise bei ca. 400 Personen, die weitgehend in informelle Strukturen eingebunden sind. Allerdings verstärkten sich in jüngerer Zeit Bestrebungen unter algerischen Islamisten, eigene Strukturen zugunsten multinationaler Netzwerke aufzugeben, in denen „Arabische Mujahedin“ aktiv sind. 20 Neben den sunnitisch-extremistischen Organisationen spielt auch die schiitisch-extremistische Bewegung „Hizb Allah“ (Partei Gottes), die 1982 im Libanon mit iranischer Unterstützung gebildet wurde, eine Rolle. Ziel der „Hizb Allah“ ist die Errichtung eines „islamischen Gottesstaates“ im Libanon nach iranischem Vorbild. Terroristische Aktivitäten gegen jüdische Einrichtungen, auch außerhalb der Krisenregion Naher Osten, dokumentieren hinlänglich ihre radikale Ablehnung des Existenzrechtes des Staates Israel. Im Bundesgebiet werden der Gruppierung ca. 800 Anhänger zugerechnet. Neben Treffen in Moscheen führt die Organisation regelmäßig antiisraelische bzw. antiamerikanische Demonstrationen durch, an denen sich auch Muslime anderer Länder und Herkunftsräume beteiligen. Organ der „Hizb Allah“ ist die Schrift „Al-Ahd“ (Der Vertrag). Weitere schiitische extremistische Organisationen mit Anhängern im Bundesgebiet sind die libanesische „AMAL“ (Hoffnung), die mit der pro-iranischen „Hizb Allah“ rivalisiert, und die irakische „Islamische Union irakischer Studenten in der Bundesrepublik Deutschland e.V.“ (I.U.I.S.). Während die „AMAL“ in Deutschland konspirative Strukturen unterhält, tritt die I.U.I.S. lokal begrenzt als Vertreter der Interessen der irakischen „Hizb ad- Da’wa al-Islamiya“ (Partei der islamischen Mission) auf. TÜRKISCHE ISLAMISTISCHE BESTREBUNGEN Das Osmanische Reich war bis zu seinem Zusammenbruch und der darauffolgenden Säkularisierung im Zuge der Gründung der Türkischen Republik 1923 und der Abschaffung des Kalifats 1924 ein Staat, in dem der Islam ein Ordnungsfaktor darstellte. Bis heute konnte allerdings die von Mustafa Kemal Pascha (genannt Atatürk) geschaffene weltliche Ordnung, die im wesentlichen auf den Grundgedanken eines starken republikanischen Nationalstaates und einer Europäisierung des Landes fußt, den Islam nicht gänzlich zum ausschließlichen Gegenstand des Privatlebens der türkischen Bevölkerung machen. Ende der siebziger Jahre formierten sich Kräfte, die auf eine islamische Rückbesinnung drängten, so in der „Nationalen Heilspartei“ (MSP), die später als „Wohlfahrtspartei“ (Refah Partisi/RP) und seit 1998 als „Tugendpartei“ (Fazilet Partisi/FP) firmierte. Der Gedanke an ein islamisches Staatswesen fand auch in der Folgezeit neue Anhänger, die heute in der islamistischen türkischen „Glückseeligkeitspartei“ (Saadet Partisi/SP) sowie 21 der „Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei“ (Adalet Ve Kalkinma Partisi/AKP) eine politische Heimat finden, nachdem die FP im Jahre 2001 verboten worden war. Anfänge islamistisch-extremistischer Bestrebungen von Türken in Deutschland, die auf die Schaffung eigenständiger Strukturen abzielten, konnten bereits in den siebziger Jahren beobachtet werden. Hieraus entwickelten sich in den achtziger Jahren islamistisch-extremistische Dachverbände. In Deutschland sind zwei solcher Dachverbände, die eine Abschaffung der laizistischen Staatsordnung in der Türkei zugunsten eines islamischen Systems anstreben, mit zusammen etwa 28.600 Mitgliedern bekannt: „Der Kalifatsstaat“ (auch: „Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V., Köln“ - ICCB) und die „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V.“ (IGMG), die bis Juni 1995 unter der Bezeichnung „Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V.“ - AMGT firmierte. Die extremistische islamistische Vereinigung „Der Kalifatsstaat“ (Hilafet Devleti) sowie 19 Teilorganisationen und die dazugehörende Stiftung „Diener des Islam“ (Stichting Dienaar aan Islam) wurden am 8. Dezember 2001 vom Bundesinnenminister verboten. Das Verbot wurde durch die Streichung des Religionsprivilegs im Vereinsgesetz möglich, die am 8. Dezember 2001 in Kraft getreten ist. Mit Verfügung vom 14. Dezember 2001 wurde vom Bundesinnenminister eine weitere Teilorganisation in Rheinland-Pfalz in das Verbot mit einbezogen. Das militante Feindbilddenken des 1984 aus dem iranorientierten Flügel der AMGT hevorgegangenen ICCB („Der Kalifatsstaat“) richtete sich u.a. gegen die Demokratie, den Laizismus und demokratisch legitimierte Parteiensysteme sowie gegen den Staat Israel. In dem Organ des Verbandes, der Zeitschrift „Ümmet-i Muhammed“ („Die Gemeinde Muhammeds“) wurde Agitation gegen die demokratischen Prinzipien unserer Staats- und Gesellschaftsordnung sowie gegen die Religionsgemeinschaft der Juden betrieben. In Deutschland verfügten die dem ICCB angeschlossenen Ortsvereine nach erheblichen Mitgliederverlusten zuletzt noch über etwa 1.100 Mitglieder. Seit dem Tod des ICCBFührers Cemaleddin KAPLAN im Jahre 1995 sorgten u.a. interne Auseinandersetzungen für eine Radikalisierung der Organisation. Im Mai 1997 wurde im Zuge dieser Entwick- 22 lung ein mutmaßliches ICCB-Mitglied getötet. An der Spitze des ICCB stand zuletzt Metin KAPLAN, der Sohn von C. KAPLAN, der im November 2000 wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt wurde. Die frühere AMGT hat sich am 03.06.1995 aus Gründen der Aufgabenteilung neu gegliedert. Die „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V.“ (IGMG), ist seitdem für „soziale, kulturelle und religiöse Aufgaben“ zuständig, daneben widmet sich die „Europäische Moscheenbau- und Unterstützungsgemeinschaft e.V.“ (EMUG) dem umfangreichen Immobilienbesitz. Die IGMG ist im Gegensatz zum ICCB um ein moderateres Erscheinungsbild bemüht und strebt die Veränderung der politischen Verhältnisse in der Türkei nicht mit gewaltsamen Mitteln an. Sie versteht sich als Sammelbecken islamischer Auslandstürken in Europa; in der Türkei selbst unterhält sie keine Strukturen, sondern stützt sich dort ganz auf die „Saadet Partisi“. IGMG-Strukturen gibt es auch im außereuropäischen Raum, so in Kanada und Australien sowie in mehreren europäischen Ländern wie Belgien, Dänemark und Frankreich. In der Bundesrepublik Deutschland sind die ca. 27.500 Mitglieder der IGMG organisiert. Nicht alle IGMG-Mitglieder/-Anhänger dürften aber bewusst islamistisch-extremistische Ziele verfolgen oder unterstützen. Im Hinblick auf eine neuere Studie ist es allerdings bedenklich, dass die IGMG gerade auf junge in Deutschland lebende Türken eine deutliche Anziehungskraft ausübt, die im Zuge sozialer Desintegrationsprozesse und mangelnder Integration eine neue Heimat suchen, von der sie sich einen Ausgleich ihrer Defizite an Identität und gesellschaftlichem Stellenwert versprechen. Entsprechend legt die IGMG auch viel Wert auf die zielgruppenorientierte Schulung junger Menschen. Insgesamt bedingt ihr Verhalten die latente Gefahr des Entstehens einer Art Parallelgesellschaft; Integrationsprozesse werden bewusst konterkariert, die Abkapselung innerhalb der pluralistisch-demokratischen Gesellschaft wird gefördert. Bemerkenswert ist die erhebliche Finanzkraft der Organisation, die in Deutschland weiter darum bemüht ist, Immobilien zu erwerben, um neue „Stützpunkte“ aufzubauen. Als Sprachrohr der IGMG fungiert die türkische Tageszeitung „Milli Gazete“ (Nationalzeitung), in der auch vereinzelte antisemitische Äußerungen enthalten sind. Seit Januar 1995 23 erscheint zudem monatlich das teilweise mit deutschen Texten versehene eigene Nachrichtenblatt „Milli Görüs und Perspektive“. IRANISCHE ISLAMISTISCHE BESTREBUNGEN Als 1979 im Iran die islamische oder eigentlich islamistische Revolution stattfand, war dies die bis dahin offenkundigste und machtvollste Manifestation des Islamismus. Es wurde deutlich, dass der Islamismus kein Phänomen war, das für immer auf eine Rand- und Oppositionsrolle festgelegt war. Diese Tatsache gab der islamistischen Bewegung in nahezu 24 allen muslimischen Ländern Auftrieb. Der Iran genießt über seine Grenzen hinaus damit quasi eine Art Modellcharakter für Islamisten. In dem - im Gegensatz zum Christentum nicht zentralistisch ausgerichteten - schiitischen Klerus gelang es dem aus Sicht seiner Landsleute charismatischen Ayatollah Chomeini, die bis dahin nicht bekannte Rolle einer gleichsam religiösen wie weltlichen obersten Instanz einzunehmen. Die von ihm gemachten Äußerungen und seine Zielsetzungen genießen bei seinen Anhängern auch heute noch, 13 Jahre nach seinem Tod, Autorität. Die diesbezügliche Rolle der Islamischen Republik Iran insgesamt bedarf aber angesichts des Führungswechsels an der Regierungsspitze 1997 und der Bestätigung der neuen Führung im Jahre 2001 wohl einer differenzierteren Betrachtungsweise. Iranische islamistische Extremisten betrachten die Länder des „Westens“ als Rekrutierungs- und Propagandafeld in ihrem Bestreben, eine Islamisierung der Länder mit überwiegend muslimischer Bevölkerung herbeizuführen. Sie konnten sich dabei bislang jedenfalls der Unterstützung der amtlichen iranischen Einrichtungen im Ausland gewiß sein, so der Botschaften, Konsulate, Kulturzentren, Handelsbüros sowie Büros von Fluggesellschaften oder staatlichen Firmen. Als ideologische Zentrale des Iran für die Verbreitung islamistischen Gedankengutes in Westeuropa fungiert das „Islamische Zentrum Hamburg“ (IZH). Das IZH betreibt unter erheblichem finanziellen wie personellen Aufwand systematisch Agitation und Propaganda für eine Verbreitung der „islam(ist)ischen Revolution“ nach iranischem Vorbild. Als Propagandaträger des Iran im Ausland fungieren auch die in den regionalen Vereinen des islamistisch-extremistischen Dachverbandes „Union islamischer Studentenvereine in Europa“ (U.I.S.A.) organisierten iranischen Studenten. Zur Aufgabe der vom Iran finanziell unterstützten U.I.S.A. gehört auch die Bekämpfung von oppositionellen Personen. Den einzelnen der U.I.S.A. in der Bundesrepublik Deutschland angeschlossenen Vereinen können etwa 150 Mitglieder zugerechnet werden. 25 5. Literaturverzeichnis Autor/Herausgeber Titel Bundesamt für Verfassungsschutz Islamischer Extremismus und seine Auswirkungen auf die Bundesrepublik Deutschland (04.99) Landesamt für Verfassungsschutz Baden Württemberg Islamistische Extremisten (10.96) Bundeszentrale für politische Bildung Informationen zur politischen Bildung 223 Türkei (2. Quartal 1989) Informationen zur politischen Bildung 238 Der Islam im Nahen Osten (1. Quartal 1993) Das Parlament Nr. 43-44, 28.10./04.11.94 Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/90, 25.05.90 Aus Politik und Zeitgeschichte B 33/93, 13.08.93 WOCHENSCHAU-Verlag Islam, Bestell-Nr. 2293, Adolf-Damaschke-Str. 103, 65824 Schwalbach, März/April 1993 Antes, Peter, Der Islam als politischer Faktor (1991) Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung Bouman, Johan Der Koran und die Juden (ISBN 3-534-80123-7),1990 Ende, Werner, Steinbach, Udo Der Islam in der Gegenwart (ISBN 3-406399517),1996 Halm, Heinz Halm, Heinz Der schiitische Islam (ISBN 3-406-37437-9), 1994 Der Islam. Geschichte und Gegenwart (ISBN 3-406-447/45-7), 2001 Heitmeyer, Wilhelm u.a. Verlockender Fundamentalismus Suhrkamp Verlag Frankfurt, 1997 Khoury, Adel Theodor Was ist los in der islamischen Welt? (ISBN 3-451-22397-X), 1991 Islam-Lexikon Herder-Verlag (ISBN 3-451-04036-0), 1991 Khoury/Hagemann/Heine Kreiser, Klaus, Wielandt, Rotraud Lexikon der Islamischen Welt (ISBN 3-17-011770-X), 1992 Nagel, Tilman Das islamische Recht: eine Einführung (ISBN 3-936/36-00-9), 2001 Islam: die Heilsbotschaft des Korans und ihre Konsequenzen (ISBN 3-936/36-01-7), 2001 Nagel, Tilman O’Brien, Joanne, Palmer, Martin Weltatlas der Religionen (ISBN 3-8012-0212-7), 1994 Rotter, Gernot Die Welten des Islam (ISBN 3-596-11480-2), 199 Weitere Informationsbroschüren: – „Tätigkeitsbericht“ (jährlich) – „Rechtsextremismus“ – „Skinheads“ – „Autonome“ – „Arbeiterpartei Kurdistans“ – „Wirtschaftsspionage“ – „Gemeinsam stark gegen Rechtsextremismus“ – „Linksextremismus – weiterhin aktuell“ – „Ausländerextremismus – von Irland bis Sri Lanka“ – „Spionage heute – Märkte, Macht und Militär“ Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an: Ministerium des Innern und für Sport Schillerplatz 3-5 55116 Mainz 55022 Mainz, Postfach 3280 Telefon (0 61 31) 16 37 72 Internet: www.verfassungsschutz.rlp.de Gesamtherstellung: Druckzentrum Lang FAIRSTÄNDNIS Menschenwürde achten – Gegen Fremdenhaß Die Innenminister von Bund und Ländern Hinweis: Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Ministeriums des Innern und für Sport herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Wahlhelfern im Zeitraum von fünf Monaten vor einer Wahl zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Landtags-, Bundestags-, Kommunal- oder Europawahlen. Mißbräuchlich ist während dieser Zeit insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken und Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl darf die Druckschrift nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme der Landesregierung zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Den Parteien ist es gestattet, die Druckschrift zur Unterrichtung ihrer eigenen Mitglieder zu verwenden.