»Ich möchte lieber nicht«. Das Unbehagen mit der Organspende und die Praxis der Kritik. Eine soziologische und ethische Analyse. Leitung: Prof. Dr. Frank Adloff/Prof. Dr. Silke Schicktanz (DFG – AD 318/5-1, SCHI 631/7-1) Weitere Informationen unter: http://www.soziologie.phil.uni-erlangen.de/research/unbehagen-mitorganspende. 12. Berliner Methodentreffen 22.-23. Juli 2016 Hintergrund: Theoretische und methodische Zugänge: In Deutschland ist die Praxis der Organtransplantation durch die Theoretischer Ausgangspunkt: »Entscheidungslösung« hochgradig an die Zustimmung der Bevölkerung Latour und Descola zur Untersuchung nicht-menschlicher Akteure. gebunden. Emblematisch steht hierfür der Organspendeausweis, an dem Erhebung: sich wesentliche Positionen zu Körper und Gesellschaft Artefaktanalyse (Froschauer 2011), narrative Interviews (Küsters 2006) herauskristallisieren. So wird Zustimmung zur Transplantation in der und Fokusgruppen mit potentiellen OrganspenderInnen (60 Teil- öffentlichen Wahrnehmung meist mit dem Besitz des Ausweises nehmerInnen, Stand Juli 2016), teilnehmende Beobachtungen bei gleichgesetzt, der bisher jedoch kaum kulturwissenschaftlich untersucht Veranstaltungen des Transplantationssystem (Geertz 1987). wurde. Auswertung: Dokumentarische Methode (Bohnsack/Nohl 2010). Forschungsvorhaben: Das Projekt stellt den Organspendeausweis als wesentliches Element der gesellschaftlichen Debatte vor und untersucht die auf ihn bezogenen Praktiken sowie die von ihm ausgehenden Wirkungen, um damit auch Anstöße für eine Reflexion uns umgebender materieller Kultur zu geben. So stellen sich zunächst folgende Forschungsfragen: • Welche Diskursebenen kreuzen sich im Objekt? • Welche Wirkung hat dieses auf potentielle SpenderInnen im außermedizinischen Alltag? • Welche Bedeutungen werden in das Artefakt »Ausweis« gelegt und welche Strategien lassen sich beobachten? Organ//Spende//Ausweis Eine Archäologie der Transplantationsmedizin auf der Spur des Dokuments Dissertationsprojekt, Annerose Böhrer, [email protected] Zwischenergebnisse Körperlichkeit & Mortalität »Dann denkt man an Krankenhaus, an ... Blut, an Organe...« Der Organspendeausweis fordert eine Entscheidung und öffnet damit Perspektiven auf Aspekte eigener Körperlichkeit und Mortalität, die aus dem Alltag weitgehend ausgeklammert werden. »…wenn ich einen Organspendeausweis ausfülle, dann versetze ich mich in die Situation, ich könnte nicht mehr leben.« Die drei Wirkebenen des Ausweises lassen sich jeweils mit verschiedenen theoretischen Ansätzen betrachten: • Theorie des Abjekten (Kristeva): Ausweis als Strategie des Umgangs mit abjekten Konfrontationsräumen • Gabentheorie (Mauss): Ausweis als Aufforderung zur (Gegen-)Gabe an eine vorgestellte Gemeinschaft • Akteur-Netzwerk-Theorie (Latour): Ausweis als Aktant, der Möglichkeiten der Handlung nicht nur eröffnen, sondern auch beeinflussen kann »Ich laufe immer mit schlechtem Gewissen an den Kärtchen da vorbei, die man ausfüllen kann... « Organ Kollektiv & Solidarität Spende »…die hab ich dann zweimal bekommen und verschenkt an Freunde. « Der Organspendeausweis verbindet individuelle Körperlichkeit und Mortalität mit Ideen von Gemeinschaft, gesellschaftlicher Verpflichtung und Solidarität. Ausweis »Ist das jetzt ein Freibrief für die Ärzte…? « Dokument & Materialität »..es war so ne ganz nette Im Organspendeausweis verbinden sich Diskursebenen; zugleich eröffnet er die Möglichkeit performativer Bezugnahme. nicht so´n Pappding, wie die meisten haben. « Plastikkarte, Diskussion: Die Thematik der Organtransplantation wird in weiten Teilen auf das Artefakt »Ausweis« projiziert. Aus soziologischer Sicht ist zu fragen, wie es zu deuten ist, wenn ein Nachdenken über existentielle Fragen wie Mortalität, Körperlichkeit und Solidarität in Reduktion auf das Ausfüllen eines Dokuments geschieht. Literatur: Bohnsack, Ralf/Nohl, Arndt-Michael (2010). Komparative Analyse und Typenbildung in der dokumentarischen Methode. In: Cappai, Gabriele et al. (Hrsg.), Interpretative Sozialforschung und Kulturanalyse (S. 101–128). Bielefeld, Transcript. Descola, Phillipe (2011). Jenseits von Natur und Kultur. Berlin, Suhrkamp. Froschauer, Ulrike (2011). Artefaktanalyse. In: Kühl, Stefan e.a. (Hrsg.), Handbuch Methoden der Organisationsforschung. Quantitative und qualitative Methoden (S. 326-347). Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. Main, Suhrkamp. Kristeva, Julia (1981). Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York, Columbia University Press. Küsters, Ivonne (2006). Narrative Interviews. Grundlagen und Anwendungen. Wiesbaden, Springer. Latour, Bruno (2014). Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a. M., Suhrkamp, 3. Auflage. Mauss, Marcell (2005). Die Gabe. In: Adloff, Frank/Mau, Steffen (Hrsg.): Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität (S.61-72). Frankfurt a.M./New York, Campus.