weiter gute aussichten

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www.sparkasse.de
Heft 1 | Februar / März 2016
POLEN
Populisten an der Macht
AUSBILDUNG
Exportschlager Azubi
KANADA
Ökostrom im Aufwind
Das Magazin der Sparkassen-Finanzgruppe für internationale Märkte
Chinas Wirtschaft
wächst zwar langsamer,
doch wer sich auf den
Wandel im Land einstellt, kann weiter gute
Geschäfte machen
TROTZ KRISE IN CHINA
WEITER GUTE
AUSSICHTEN
Eine Schwesterzeitschrift von PROFITS, dem Unternehmermagazin der Sparkassen-Finanzgruppe
01 cover 160205-1446 SG.indd Titel:1
5.2.16 15:01
EDITORIAL
1|2016
Chancen in der Krise
Steht uns ein neuer globaler Wirtschafts-Crash ins Haus? Das könnte
man fast glauben, wenn man die Kommentare zur Konjunktur in China
liest. Ja, die Aktienblase im Reich der Mitte ist geplatzt. Ja, die Wirtschaft wächst nicht mehr zweistellig, und auch die einstelligen Werte
halten einige Experten für geschönt. Andere sehen die Lage gelassener –
und betrachten die Abkühlung des heiß laufenden Konjunkturmotors
als eine notwendige Konsolidierungsphase.
In unserer Titelstory ab Seite 10 untersuchen wir, was die Entwicklungen in China ganz praktisch für deutsche Unternehmen bedeuten. Das
Urteil der Marktkenner ist einmütig: Technologielieferanten stehen weiThomas Stoll,
Chefredakteur
[email protected]
terhin gut da – etwa Anbieter von Automatisierungstechnik. Auch Hersteller von Konsumartikeln haben gute Karten. Und noch immer sind
die Staatskassen in Peking prall gefüllt.
Andere Unternehmen müssen sich dagegen auf neue Spielregeln einstellen. So mancher chinesische Kunde bezahlt sie schon mit Wechseln
oder stellt Investitionen zurück. Da lohnt es sich, den Kundenkreis zu
diversifizieren und auch technologisch abgespeckte Produkte auf den
Markt zu bringen, denn in der Krise steckt auch eine Chance. Wer clever
ist, macht sich jetzt fit für die Zeit nach der Konjunkturdelle, denn kaum
ein Investor will den Standort China aufgeben. Dafür ist und bleibt der
Markt einfach zu attraktiv.
Übrigens: Die Sparkassen-Finanzgruppe bietet Ihnen geballte ChinaKompetenz. Nicht nur über den S-CountryDesk, sondern auch dank
unserer Vertretungen vor Ort. So betreiben wir allein drei German
Centres im Reich der Mitte, die wir in diesem Heft vorstellen. Ihre
Sparkasse vermittelt Ihnen gerne den Kontakt!
Eine gewinnbringende Lektüre wünscht
Thomas Stoll
1/2016 AUSSEN WIRTSCHAFT
03 editorial 160205-1446 SG.indd Editor:3
3
5.2.16 15:01
Windrotoren drehen sich
auch an Kanadas Himmel.
Das nordamerikanische
Land entdeckt die Vorzüge
der erneuerbaren Energie.
[Seite 21]
China – im Bild Guangzhou – hat sich sehr schnell
modernisiert. Das Tempo lässt zwar nach, doch für
deutsche Firmen sind die Aussichten weiterhin gut.
[Seite 10]
1|2016
INHALT
NAMEN & NACHRICHTEN
6 Neuer Liebling Iran
Die Aufhebung vieler Sanktionen
gegenüber Iran lässt deutsche
Firmen auf gute Geschäfte hoffen.
7 Spitzengeschäfte in den USA
Die deutschen Investoren in den
USA blicken optimistisch in die
Zukunft, hat eine Umfrage der
Auslandshandelskammer ergeben.
8 Heiter bis wolkig
Das Konjunkturklima im EuroRaum hellt sich auf, eine leichte
Steigerung der wirtschaftlichen
Dynamik ist möglich.
RUBRIKEN
3 Editorial
5 Impressum
50 Kolumne Interkulturelles
4
TITELGESCHICHTE
10 Überblick bewahren
Chinas Wirtschaft wird von
Krisen geschüttelt, das Wachstum hat sich verlangsamt.
Viele deutsche Unternehmen,
die im Reich der Mitte aktiv
sind, stellt dies vor große Herausforderungen – zum Beispiel,
was das Zahlungsverhalten
der Kunden betrifft. Allerdings
sind diese Risiken in der Regel
gut beherrschbar.
LÄNDER & REGIONEN
16 Reiche Ernte für Investoren
Nicaragua will den Anschluss
an die Weltwirtschaft finden
und wirbt verstärkt um Investoren. Schokoladenhersteller Ritter
Sport und Automobilzulieferer
Dräxlmeier sind schon dort und
haben gute Erfahrungen gemacht.
18 Kein Platz für Europa
Polen war ein vorbildliches
EU-Mitglied. Die neue Regierung
der Partei PiS schert nun allerdings aus der europäischen Familie aus und setzt zudem andere
wirtschaftspolitische Akzente.
BRANCHEN & MÄRKTE
21 Wind säen – Strom ernten
Bisher ist Kanada nicht durch
große Aktivitäten bei der Erschließung nachhaltiger Energiequellen
aufgefallen. Diese Einstellung
ändert sich momentan.
24 In den schönsten Farben
Deutschlands chemische
Industrie ist mittelständisch
geprägt. Während die Geschäfte
im Inland stagnieren, floriert der
Export. Als Spezialisten können
sich die deutschen Unternehmen
gut am Markt positionieren.
AUSSEN WIRTSCHAFT 1/2016
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IMPRESSUM
Herausgeber und Verlag:
Deutscher Sparkassen Verlag GmbH,
70547 Stuttgart, Telefon: +49 711 782-0
Chefredakteur: Thomas Stoll
Stlv. Chefredakteur: Ralf Kustermann
Art Director: Joachim Leutgen
Redaktionsleitung: Gunnar Erth,
Telefon: +49 711 782-12 72,
Fax: +49 711 782-12 88,
E-Mail: [email protected]
Chefin vom Dienst: Antje Schmitz
Erfolgreich. Acht German Centres rund
um den Globus geben deutschen Firmen
Starthilfe – auch in Mexico City.
[Seite 30]
Farbig. Wie in diesem französischen Baumarkt punkten chemische Produkte aus
Deutschland überall in der Welt.
[Seite 24]
AUSSENHANDEL &
INVESTITIONEN
Fotos: Corbis, Huber Images, Laif
28 Kaffee und Zündkerze
Japaner mögen nicht nur deutsche Technologie, sondern probieren auch gerne Spezialitäten
der deutschen Küche. Darum
unterhalten Firmen wie Daimler
und Bosch Cafés und Restaurants
neben ihren Showrooms.
30 Seit 20 Jahren Flagge zeigen
Die Landesbanken unterhalten
German Centres in Mexico City,
Moskau, Singapur, Delhi, Jakarta,
Peking, Schanghai und Taican. Sie
leisten wertvolle Hilfe für deutsche Unternehmer, die sich vor
Ort engagieren wollen.
34 Le Fettnapf
Viele Deutsche unterschätzen
die kulturellen Unterschiede zu
Frankreich. Daran ist schon so
manches Geschäft gescheitert.
36 Exportschlager Azubi
Das deutsche Ausbildungssystem
genießt weltweit Wertschätzung –
und wird in viele Länder getragen.
STEUERN & RECHT
39 Wachwechsel beim Zoll
Zum 1. Mai wird der neue Unionszollkodex der EU in Kraft treten.
Die Neuerungen im Überblick.
LÄNDERPORTRÄTS
42 Australien
Die Regierung in Canberra plant
einige Reformen. Diese finanziert
sie mit den Einnahmen aus
Investitionen und Konsum.
Bildredaktion: Gabriele Forst
Layout und Grafik:
Glückert Graphic Design, Köln
Autoren dieser Ausgabe: Peter
Borstel, Eli Hamacher, Lothar Harings,
Brigitte Hild, Christiane Kühl, Manfred
Kurz, Christine Mattauch, Christian Melzer, Michael Neubauer, Susanne Spahn,
Birga Teske, Bettina Wieß
Inhalt: Trotz sorgfältiger Bearbeitung
keine Gewähr. Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck nur mit Erlaubnis der Redaktion. Diese Publikation enthält keine
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Druck: M. P. Media-Print Informationstechnologie GmbH, 33100 Paderborn
Bezug: Diese Zeitschrift kann direkt
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wenn nicht drei Monate vor Ablauf des
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Artikel-Nummer: 330 220 564
ISSN 0936-5400
46 Türkei
Die Regierung gerät international
unter Druck, zudem lässt der wirtschaftliche Schwung nach.
1/2016 AUSSEN WIRTSCHAFT
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5
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1|2016
NAMEN & NACHRICHTEN
Iraner beim Gebet. Der Nahoststaat muss
jetzt seine marode Industrie erneuern.
CHARTS & TRENDS
Russland-Krise
bereitet Sorgen
Zwei Drittel der in Russland
tätigen deutschen Firmen leiden
unter den EU-Sanktionen. Das
ergab eine Umfrage der Auslandshandelskammer Russland.
Sanktionen mit Wirkung …
Die bilateralen Maßnahmen treffen
immer mehr deutsche Unternehmen.
38
August
2014
62
66
Dezember
2015
34
Nicht betroffen
… der Firmenumsatz fällt …
Wieviel Prozent seit Sanktionsbeginn
2014 welche Umsatzänderung hatten.
1 bis 10 %
5
− 1 bis − 10 %
8
Mehr als 10 %
0%
Wasserwirtschaft und Abfallmanagement. Viele Länder buhlen
bereits um die neue Gunst des Irans,
auch Deutschland – und mit guten
Chancen. „Langfristig sind 10 Milliarden Euro Exportvolumen durchaus realistisch“, schätzt Volker Treier,
Außenwirtschaftschef des DIHK.
Luxemburg auf
neuen Schienen
Piraten machen die
Weltmeere unsicher
Verkehr. Die luxemburgische Hauptstadt baut eine Straßenbahnlinie,
um dem steigenden Verkehrsaufkommen gerecht zu werden. Für
565 Millionen Euro werde eine 16
Kilometer lange Strecke mit 224
Haltestellen angelegt, berichtet
GTAI. Das Projekt eröffne deutschen
Anbietern gute Geschäftschancen.
Mit der Bahnlinie entsteht auch ein
33 000 Quadratmeter großes Depot
mit Wartungseinrichtungen. Eine
Website berichtet über das Vorhaben und aktuelle Ausschreibungen. 1964 war die letzte Tramlinie
Luxemburgs eingestellt worden.
Räuber. Seetransporte bleiben
gefährlich. Im vergangenen Jahr
verübten Piraten weltweit 246
Angriffe – einen mehr als 2014,
berichtet das Schifffahrtsbüro der
International Chamber of Commerce. Die Zahl der Geiselnahmen
erreichte 271, während sich die
Entführungen von Besatzungsmitgliedern von 9 auf 19 mehr als verdoppelten. Angriffe in Südostasien
machten 2015 wie im Vorjahr den
größten Teil der Überfälle aus. Auch
die Gewässer vor Nigeria sowie die
Ostküste Afrikas sind ein Hochrisikogebiet für gewaltsame Angriffe.
www.luxtram.eu
www.icc-ccs.org
http://iran.ahk.de
9
14
Mehr als − 30 %
38
− 11 bis − 30 %
26
… auch aus Konjunkturund anderen Gründen
Das Gewicht der Sanktionen am
Umsatzrückgang der deutschen Firmen.
Mehr als 50 %
26–50 %
7
18
Bis zu 10 %
11–25 % Rückgang
42
33
Angaben in Prozent. Quelle: AHK
6
Nachholbedarf. Im Januar wurden
die meisten internationalen Sanktionen gegen den Iran aufgehoben.
Das Nahostland kann damit seinen
gewaltigen industriellen Investitionsstau abbauen, vor allem in den
Bereichen Maschinen- und Fahrzeugbau, Baustoffe, erneuerbare
Energien, Gesundheitswirtschaft,
Fotos: F1 Online, PR
Betroffen
Der Iran ist jetzt fast jedermanns Liebling
AUSSEN WIRTSCHAFT 1/2016
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5.2.16 15:01
NAMEN & NACHRICHTEN
Mehr Geld in Ungarn
und Tschechien
Vergütung. Tschechische Firmen
zahlen ihren Mitarbeitern deutlich höhere Gehälter als ungarische Unternehmen. Das geht aus
den aktuellen Vergütungsreports
der Kienbaum-Management-Consultants hervor. Derzeit verdienen
Geschäftsführer in Tschechien im
Durchschnitt 117 000 Euro brutto im
Jahr, während es in Ungarn lediglich
83 000 Euro sind. Führungskräfte an
der Donau erhalten 34 500 Euro, an
der Moldau ist es ein Drittel mehr.
Auch bei den Facharbeitern sind die
Differenzen eklatant: In Tschechien
bekommen sie 12 700 Euro im Jahr,
in Ungarn 7400 Euro. Allerdings halten auch lediglich 13 Prozent der
Befragten das Ausbildungsniveau
der magyarischen Fachkräfte für
gut; 28 Prozent nannten es dagegen
mangelhaft. Im vergangenen Jahr
öffnete sich die Gehaltsschere weiter: In Tschechien legten die Löhne
um 4,5 Prozent zu. In Ungarn gab es
ein Plus von 3,7 Prozent.
www.kienbaum.de
1|2016
Die interessante Zahl
Deutsche Brauereien setzten
16 100 000 000
Liter Bier 2015 im Ausland ab.
61 Prozent blieben in der EU.
Quelle: Destatis
Spitzengeschäfte
in den USA
Erneuerbare Energie
rund um die Welt
Aufschwung. Die deutschen Investoren in den USA blicken optimistisch
in die Zukunft. Eine Umfrage der
Deutsch-Amerikanischen Handelskammern ergab, dass die Betriebe
2016 wachsen, einstellen sowie in
Forschung und Fertigungskapazitäten investieren wollen. Stolze 97 Prozent der 1900 Befragten erwarten
dieses Jahr steigende Umsätze. Als
größte Herausforderung betrachten sie die Suche nach Fachkräften.
Viele Firmen fördern deshalb Initiativen zur dualen Berufsausbildung.
Kontakte. Die deutschen Auslandshandelskammern bieten 2016 im
Rahmen der Exportinitiative Erneuerbare Energien 65 Unternehmerreisen an. Auf diesen können deutsche Mittelständler neue Märkte für
Produkte und Know-how rund um
Fotovoltaik, Windanlagen, Wasserkraft und Biomasse erschließen.
21 der staatlich geförderten Reisen
führen in europäische Staaten, 14
haben den amerikanischen Kontinent zum Ziel, Asien ist 18-mal vertreten, Afrika 11-mal.
www.ahk-usa.com/gabo
www.efficiency-from-germany.info
5th Avenue ist das teuerste Pflaster
Handel. Die teuerste Einkaufsstraße liegt in New York. 33 812 Dollar im
Jahr kostet die Ladenmiete in der Upper 5th Avenue – pro Quadratmeter.
Kfz-Produktion bei Audi in Györ. In
Ungarn sind die Industrielöhne niedrig.
Die Mieten in der Shoppingmeile in Manhattan stiegen 2015 um
3,6 Prozent, berichten
die Immobilienexperten Cushman & Wakefield. Am teuersten in
Europa sind die Pariser
Champs-Élysées. Aus
Deutschland kam nur
München als Zehnter in
die Spitzengruppe.
New York, Upper
5th Avenue
33 812
Hongkong,
Causeway Bay
Paris, ChampsÉlysées
London, New
Bond Street
23 178
13 255
12 762
Mailand, Via
Montenapoleone
10 000
Zürich,
Bahnhofstraße
8643
Tokio, Ginza
8520
In US-Dollar pro Quadratmeter im Jahr. Quelle: Cushman & Wakefield
1/2016 AUSSEN WIRTSCHAFT
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7
5.2.16 15:01
1|2016
NAMEN & NACHRICHTEN [ Konjunkturklima Euro-Zone ]
Heiter bis wolkig
Wende. Mit einem Anlauf von drei Jahren hat die Konjunktur im Euro-Raum 2015 wieder
den Bereich der Normalgeschwindigkeit erreicht. Für dieses und das nächste Jahr ist dem
Euro-Raum eine weitere leichte Steigerung der Wirtschaftsdynamik durchaus zuzutrauen.
ieser Aufschwung wurde
möglich, weil sich das europäische Wachstumsfundament aus
Deutschland und Frankreich um
die zwei weiteren wirtschaftlichen
Schwergewichte in der Währungsunion, Italien und Spanien, erweitert hat. Die großen vier stehen
für 78 Prozent der Wirtschaftsleistung im Euro-Raum. Und eine
weitere Verbesserung der Wirtschaftsdynamik ist möglich. Dazu
trägt bei, dass der Aufholprozess
in den Peripheriestaaten noch
nicht beendet ist. Die Wirtschaftsleistung in Italien lag im vergangenen Jahr noch um 10 Prozent
unter dem Niveau vor der Weltwirtschaftskrise 2008/2009; im
Fall von Spanien sind es 5 Prozent.
Frankreich braucht Reformen
Auch Frankreich und Deutschland
dürften wichtige Wachstumsstützen bleiben. Allerdings scheinen
die Perspektiven für eine weitere
Beschleunigung der Dynamik in
diesen beiden Ländern weitgehend ausgereizt. In Frankreich
wurden zwar wichtige Reformen,
zum Beispiel in der Gebietsverwaltung und am Arbeitsmarkt,
angestoßen, aber das reicht noch
nicht aus, um die Geschwindigkeit
der wirtschaftlichen Entwicklung
nachhaltig erhöhen zu können.
Deutschland hingegen ist
schlichtweg bereits am Anschlag.
Die deutsche Arbeitslosenquote
8
Irland bleibt vorn
Das stärkste Wachstum des Bruttoinlandsprodukts aller Euro-Staaten
wird 2016 wieder Irland zugetraut.
Irland
4,6
Lettland
3,2
Malta
3,2
Slowakei
3,0
Litauen
2,9
Estland
2,7
Spanien
2,6
Slowenien
2,1
Luxemburg
2,0
Niederlande
2,0
Zypern
1,8
Österreich
1,8
Deutschland
1,7
Portugal
1,5
Belgien
1,5
Italien
1,4
Frankreich
1,4
Finnland
0,9
Griechenland
In Prozent.
Quelle:
DekaBank
−0,5
ist die niedrigste, nicht nur in der
Währungsunion, sondern in der
gesamten Europäischen Union.
Am deutschen Arbeitsmarkt
herrscht seit Längerem Vollbeschäftigung. Darüber hinaus steigen die Gefahren für das deutsche
Geschäftsmodell der Industrieproduktion im mittleren Hochtechnologiebereich. Die Lohnstückkosten Deutschlands – ein Maß für
die preisliche Wettbewerbsfähigkeit – stiegen in den letzten Jahren
deutlich an.
China macht mehr Konkurrenz
Hinzu kommt eine zunehmende
Konkurrenz für die deutsche
Industrie. Schwellenländer wie
China stoßen immer tiefer in die
Märkte der deutschen Industrie
vor. Darüber hinaus verliert die
Globalisierung an Dynamik, und
das vormals investitionslastige
Wachstum der Schwellenländer
soll erklärtermaßen konsumbetonter werden. Leider sind Konsumgüter aber der schwächste
Teil der deutschen Produktpalette.
Die gesamte Währungsunion
wird auch dieses Jahr noch von
einem schwachen Außenwert
des Euros, niedrigen Energiepreisen und der sehr lockeren Geldpolitik durch die Europäische Zentralbank profitieren. Während es
Anzeichen für ein Auslaufen der
positiven Impulse vom EuroWechselkurs und den Energie-
Foto: Melzer
D
AUSSEN WIRTSCHAFT 1/2016
08-09 eurozone 160205-1448 SG.indd Str-3sp:8
5.2.16 15:01
preisen im nächsten Jahr gibt, ist
damit zu rechnen, dass die Geldpolitik als wichtige Konjunkturstütze
erhalten bleibt. Erst für Ende 2018
ist ein vorsichtiges Anheben der
Leitzinsen zu erwarten.
Dass der Euro-Raum in diesem
Jahr wirtschaftlich nicht auf die
Überholspur wechseln wird, liegt
auch daran, dass die Aufräumarbeiten nach Jahren der finanziellen Übertreibung und der
darauffolgenden Weltwirtschaftskrise sowie der Euro-Schuldenkrise noch nicht beendet sind.
Der Schuldenabbau steht erst am
Anfang, und in manchen Ländern
besteht das Ziel zunächst darin,
den Anstieg der Verschuldung zu
bremsen. Das gilt zum Beispiel für
Frankreich. Italien und Spanien
Die Hälfte für zwei
Christian Melzer,
Volkswirt bei der DekaBank
mit Schuldenständen – gemessen
am Bruttoinlandsprodukt – von
136 und 97 Prozent haben noch
einen weiten Weg vor sich. Neben
der Schuldenkonsolidierung sind
Strukturreformen die zweite wichtige unvollendete Baustelle, um
die nachhaltigen Wachstumsmöglichkeiten zu verbessern.
Die strukturellen Probleme
sind dabei selbst unter den gro-
ßen Volkswirtschaften im EuroRaum sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die realwirtschaftliche
Heterogenität der Länder ist vielschichtig und stellt die europäische Wirtschaftspolitik vor besondere Herausforderungen. So trifft
die sehr expansive Geldpolitik
der Europäischen Zentralbank in
Deutschland auf eine Volkswirtschaft mit Vollbeschäftigung, in
Italien und Spanien auf Länder
mit erheblicher volkswirtschaftlicher Unterauslastung.
Dennoch bleibt festzuhalten:
Der Erholungsprozess im EuroRaum setzt sich fort, und in diesem
Jahr ist mehr als die Normalgeschwindigkeit beim Wirtschaftswachstum zu erwarten.
Christian Melzer
Frankreich ist Deutschlands Hauptkunde
Anteil der Euro-Länder am Bruttoinlandsprodukt der gesamten Region.
Übrige Länder
„Die Aufräumarbeiten sind noch
nicht beendet“
Fünf Länder nahmen in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres mehr als die Hälfte
der deutschen Exporte in die Europäische Union auf – allen voran Frankreich.
16,4
Deutschland
29,7
Niederlande
6,3
Spanien
10,2
Frankreich
21,3
Italien
16,1
Angaben in Prozent. Quelle: DekaBank
Sorgenkind Zypern
Leistungsbilanz 2016 der Länder der
Euro-Zone im Vergleich.
9,2
Niederlande
8,0
Deutschland
3,0
Euro-Raum
2,3
Italien
1,5
Griechenland
1,1
Spanien
Frankreich
Zypern
−0,4
−3,8
Prognostizierte Angaben in Prozent. Quelle: IWF
Angaben in Mrd. Euro. Quelle: Destatis
© GeoKarta.de 01/2016
1/2016 AUSSEN WIRTSCHAFT
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9
5.2.16 15:01
1|2016
TITELGESCHICHTE [ China ]
Überblick
bewahren
Konjunktur. Chinas Wirtschaft kriselt, das
Bruttoinlandsprodukt wächst langsamer.
Wie deutsche Firmen auch in schwieriger
Zeit im Reich der Mitte Erfolg haben können.
Foto: Huber Images
E
s ist wieder so weit. China greift der Wirtschaft
unter die Arme. Die mächtige Staatliche Kommission für Entwicklung und Reform genehmigte in den
ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres 237
Projekte für satte 1,9 Billionen Yuan, umgerechnet
266 Milliarden Euro: Straßen, Bahnstrecken, Flughäfen, Kraftwerke. Um die Autoindustrie zu stimulieren,
halbierte Peking im Oktober bis Ende 2016 die Kaufsteuer auf alle Autos mit bis zu 1,6 Liter Hubraum. Die
Verkäufe stiegen sofort steil an. Solche Stimuli hatte
China zuletzt während der globalen Wirtschaftskrise
vor sieben Jahren eingesetzt.
Die Maßnahmen sind ein Zeichen, dass die Regierung die von ihr selbst proklamierte „Neue Normalität“ doch nicht so gelassen betrachtet, wie sie es
öffentlich kundtut. Den Slogan hatte Präsident Xi
Jinping geprägt, um sein Land auf den Abschied von
zweistelligen Wachstumsraten einzustellen. Ministerpräsident Li Keqiang betonte kürzlich, auch 6,5
Prozent Wachstum seien doch prima. Um 6,9 Prozent
wuchs Chinas Wirtschaft 2015 – langsamer, als zum
Jahresanfang erwartet worden war. Doch die Regierung befürchtete offenbar eine noch stärkere Abkühlung und öffnete daher den Staatssäckel.
Auch internationale Firmen übernahmen bereits
den Slogan vom New Normal, um ihre eigenen
10 AUSSEN WIRTSCHAFT 1/2016
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5.2.16 15:02
Land im Wandel. Der Boom der letzten Jahrzehnte hat China
verändert. Die Skylines der Metropolen zeugen von der gewaltigen
Aufbruchstimmung, die aktuell allerdings einen Dämpfer erfährt.
1/2016 AUSSEN WIRTSCHAFT 11
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5.2.16 15:02
TITELGESCHICHTE [ China ]
Wachstumsdellen zu erklären. Von Raten über
6 Prozent kann Europa zwar nur träumen, doch der
Trend ist eben rückläufig – und das verursacht Probleme. Schon länger steigen die Kosten, nun sinken
die Erträge. Die Firmen müssen sich auf die neuen
Umstände einstellen, um weiterhin Erfolg zu haben.
„Generell gilt nicht mehr, dass es grundsätzlich hohes
Wachstum für alle gibt“, sagt Christian Sommer,
Geschäftsführer des German Centre in Schanghai,
das Büroräume an Mittelständler vermietet.
Manche Sektoren stagnieren, andere boomen unbeirrt, darunter Spezialprodukte für bestimmte Nischen
oder Zulieferer für die Technisierung der Produktion.
„Die Automatisierung ist auf dem Vormarsch, davon
profitieren auch deutsche Lieferanten“, so Sommer.
Generell seien Konsumgüteranbieter weniger stark
vom New Normal betroffen als die Industrie, sagt Thomas Heck, Leiter der China Business Group von PwC
Deutschland mit Sitz in Schanghai. „Die Menschen
sind immer noch sehr kauflustig“, erklärt er. Allein
das Luxussegment leidet unter einer großen Kampagne gegen Korruption. Bestechliche Kader hatten früher einen großen Teil der Luxuskunden ausgemacht.
Erfasst hat New Normal auch den zuvor so erfolgsverwöhnten Autosektor. „Das hat die gesamte Zulieferkette erwischt“, sagt Jörg Buchheim, bis vor Kurzem
China-Chef von Hella, einem Hersteller von Autoelektronik und -leuchten. In den ersten neun Monaten 2015
legten die Autoverkäufe nur um 2,8 Prozent gegenüber
dem Vorjahr zu – und das auch nur, weil boomende
Sportgeländewagen die Verluste der Limousinen und
Kleinwagen ausglichen. Erst die Steuersenkung im
Oktober kurbelte die Nachfrage wieder an.
Die Chinesische Mauer
ist Symbol für die Größe
des Landes – und seinen gewaltigen Markt.
Pessimismus macht sich breit
Anteil der deutschen Investoren in China, die aktuell mit einer
Verschlechterung der Lage ihrer Branche rechnen.
21
Automobil
56
34
Maschinenbau
25
Andere
Mai 2015
September 2015
59
32
Angaben in Prozent. Quelle: AHK China, Oktober 2015
Erwartungen deutscher Investoren im September hinsichtlich der
Erreichung der eigenen Geschäftsziele 2015.
Verfehlen
16,3
8,2
Übertreffen
28,6
Teilweise erreichen
Erreichen
30,6
16,3
Angaben in Prozent. Quelle: AHK China, Oktober 2015
Überwiegend erreichen
In einigen Branchen sinkt die Liquidität
Zwar lag der Einbruch auch an einer Blase am Aktienmarkt – viele Menschen kauften Aktien statt Autos.
Als die Blase im Sommer platzte, hatten viele Anleger
Teile ihres Gelds verloren. Im gesamten Jahr stiegen
die Autoverkäufe daher trotz des Minibooms infolge
der Steuersenkung nur um 7,3 Prozent auf 21,1 Millionen Pkws. Die Folge, so Buchheim: „Businesspläne
mussten angepasst werden, manche Investitionskonzepte waren nicht mehr umsetzbar.“ Dabei spricht er
für die ganze Branche.
In bestimmten Wirtschaftszweigen ging die Liquidität zurück. „Zum Beispiel in der Baumaschinenindustrie, wo große Lagerbestände aufgebaut wurden“,
sagt Heck. Nach Angaben des deutschen Straßenbau-
12 AUSSEN WIRTSCHAFT 1/2016
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maschinenherstellers Wirtgen etwa ist dessen Teilmarkt seit dem höchsten Stand im Jahr 2011 um die
Hälfte zurückgegangen. Heck: „Liquiditätsengpässe
haben auch Folgen für die Zulieferer, auch deutsche.“
Zahlungen würden daher zunehmend mit einem
sogenannten Bank Acceptance Draft gestreckt. In der
Autoindustrie bezahlt so mancher Händler die Hersteller mit einem solchen Wechsel, der eine Laufzeit
von bis zu einem Jahr haben kann. Die Autobauer
wiederum bezahlen ihre eigenen Zulieferer damit.
Gesichert sind diese Wechsel von nationalen oder
lokalen Banken. Das Risiko: Viele Provinzbanken
sind selbst in finanziellen Schwierigkeiten.
„In dieser Lage wird auf verschiedene Weise versucht,
Kosten abzuwälzen“, sagt Christian Sommer. So berichteten ihm manche Firmen von Versuchen einzelner
Lieferanten, Steuern auf den Preis aufzuschlagen, die
laut Vereinbarung inbegriffen waren. Wieder andere
deutsche Firmen leiden unter der Verzögerung von
Lieferterminen. Das typische Szenario: Die bestellte
Maschine ist angezahlt, maßgefertigt und wartet im
Lager in Deutschland auf den Transport nach China,
denn der Kunde hat Cashflow-Probleme und lässt das
Gerät erst liefern, wenn er die Restzahlung leisten kann.
„Storniert wird aber nicht“, so Sommer. Immerhin.
„Künftig wird sich die ganze Zulieferkette stärker
an der Vorfinanzierung beteiligen müssen“, erwar-
tet Jörg Buchheim. So müssten etwa Entwicklungskosten selbst aufgebracht und dann auf die Teilepreise umgelegt werden. Früher habe ein Autobauer
dem Zulieferer solche Kosten direkt erstattet. Das
Risiko: Wenn das neue Modell nicht gut läuft, wird
aus einem positiven Business Case schnell ein negativer. Um weiter zu wachsen, müssten viele Zulieferer nach Ansicht des Experten intensiver mit lokalen
Autobauern kooperieren. Bei diesen seien die Umlagen zwar besonders hoch, sagt Buchheim. Dafür verhandelten sie aber ganze Plattformen statt einzelner
Modelle. „Und das senkt das Risiko wieder“, betont er.
Zweites Standbein in der Region
Die Renditen liegen in jedem Fall niedriger als in
den Boomjahren. 14 Prozent der Firmen einer PwCAnalyse gaben an, eine Produktion in China lohne
sich nicht mehr aufgrund steigender Produktionskosten und Löhne sowie der schwierigen Marktlage
und sinkender Erträge. 4 Prozent haben daher die
Produktion aus China abgezogen. 44 Prozent der Firmen wählten bei einer Expansion andere Länder wie
Indien, Thailand, Malaysia oder Vietnam als zusätzliche Standorte, ohne aber die chinesischen Fabriken
zu schließen. Das zeigt, dass der einstige China-Hype
vorbei ist, ohne dass aber massenhaft Betriebe ihr
Mehr Konsum und Dienstleistungen
Konjunktur. Chinas Wirtschaft ist im Wandel – an allen Fronten.
Niedrigere Werte
BIP-Wachstum in China in Prozent.
Foto: Getty Images
7,7
Zweistellige Wachstumsraten gehören der Vergangenheit an. 2015
legte die Wirtschaft des Landes um 6,9 Prozent zu – so wenig wie
zuletzt vor 25 Jahren. Die Industrieproduktion wuchs im Dezember gar
nur noch um 5,9 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat.
Der Außenhandel schwächelt seit Monaten. Die Stromerzeugung ging
um 0,2 Prozent zurück. Das ist trotz Energiesparmaßnahmen im Land
ein Indiz für eine Stagnation. Stärker legte im Dezember mit 11,1 Prozent der Einzelhandel zu. Interessant: Der Dienstleistungssektor trug
mit 50,5 Prozent erstmals über die Hälfte zum Bruttoinlandsprodukt bei.
Das nationale Statistikamt geht davon aus, dass dieses Jahr ähnlich
werde wie 2015. Die Wirtschaft der Volksrepublik stehe „weiterhin einer
komplizierten und unbeständigen internationalen Situation gegenüber“.
Ein Wachstumsziel von 7 Prozent – wie noch für 2015 ausgegeben – hält
Li Wei von der Standard Chartered Bank dieses Jahr für „überambitioniert“. Der Ökönom Yang Zhao von Nomura erwartet aufgrund „starken
Gegenwinds“ etwa 5,8 Prozent Wachstum.
7,7
7,3
6,9
5,8
2012
2013
2014
2015
2016
2015 und 2016: Prognosen. Quellen: Nat. Statistikamt, Nomura
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TITELGESCHICHTE [ China ]
Engagement beenden. Eine Fertigung im Reich der
Mitte allein aus Kostengründen wird weniger attraktiv. Für die meisten Firmen ist China aber auch Absatzmarkt. Für sie bleibt die Nähe zum Kunden wichtig.
„China ist nicht mehr unbedingt das Billiglohnland,
das es einmal war“, sagt auch Ulrich Reichert, ChinaGeschäftsführer von Wirtgen mit Sitz in Langfang bei
Peking. „Deshalb ist es von höchster Wichtigkeit, die
Herstellungsprozesse zu optimieren, den Einkauf zu
professionalisieren und ein gut funktionierendes ITSystem zu haben.“ Jörg Buchheim empfiehlt zudem
die konsequente Fortbildung von Mitarbeitern. Und
auch bei Entwicklung und Verwaltung müsse mithilfe besserer Prozesse gespart werden.
Als mögliche Strategie sieht PwC auch die sogenannten Gut-genug-Produkte. Firmen böten in China
oft die gleichen hoch technisierten Erzeugnisse an wie
auf dem Heimatmarkt. Für viele chinesische Kunden
seien sie allerdings oft überspezialisiert und damit zu
teuer. Laut der PwC-Analyse haben nur 16 Prozent der
deutschen Firmen abgespeckte Produkte im Angebot.
Eine davon ist Wirtgen. „Wir haben 2010 entschieden,
die Produkte für China an die Marktforderungen anzupassen“, erzählt Reichert. „Wir haben also gerade zur
rechten Zeit Produkte auf den Markt gebracht, die ‚gut
genug‘ für die Anforderungen der Kunden sind, die wir
aber immer noch mit ruhigem Gewissen den Namen
der Wirtgen-Group-Marken tragen lassen können.“
Chinas Mittelschicht wächst –
und mit ihr der
Konsumhunger
der Bevölkerung.
tität. In der Wertschöpfungskette soll das Land nach
oben klettern, hin zu Hightech und Konsumgütern.
An diesem Trend wird auch die neueste Infrastrukturoffensive wenig ändern. Sie verschmilzt zum Teil
mit der Kampagne „One Belt One Road“, mit der
Peking neue Handelswege über Land und Meer nach
Europa bauen will und dabei Infrastrukturprojekte
Peking wünscht sich mehr Qualitätsprodukte
auch in den Transitländern fördert. Dort können sich
durchaus Chancen für deutsche Firmen ergeben, vor
Interessanterweise hatten zur gleichen Zeit die lokalen allem für Anlagen- und Maschinenbauer.
Konkurrenten begonnen, ihre eigenen Produkte aufSie müssten in diesen Projekten allerdings mit
zuwerten, um das Image der zweiten Wahl loszuwer- vorwiegend staatlichen lokalen Partnern kooperieden. Reichert: „Sie mussten feststellen, dass dies nur ren. Staatsriesen dominieren viele Sektoren; neben
möglich ist, wenn sie ihre Preise nach oben anpassen.“ Infrastrukturbau sind das die Schwerindustrie, der
Durch diese beiden Entwicklungen habe sich der Preis- Finanzsektor oder die Autobranche. In dieser Phase
unterschied zwischen chinesischen Premiumherstel- schwachen Wachstums ist der Hunger Pekings nach
lern und Wirtgen so stark verringert, dass es Kunden einer weiteren Liberalisierung nicht sehr groß. Im
leichterfalle, ein Wirtgen-Produkt zu kaufen. Auch Herbst forderte die Europäische Handelskammer
in anderen Sektoren verbessern chinesische Unter- in China (EUCCC) allerdings genau das: China solle
nehmen die Qualität – auf Kosten ihres Preisvorteils. endlich die vor drei Jahren vom Zentralkomitee
Außerdem, und davon profitieren
beschlossenen Reformen umsetzen. Darunter befinden sich eine
viele Deutsche, steigt dadurch ihr
„Hohes Wachstum
Interesse an ausländischen ZulieBeschleunigung der Reform des
ferern. Dieser Trend ist politisch
Finanzsystems, die Begrenzung
für alle gibt es nicht
gewünscht. Peking will die Wirtmehr grundsätzlich“ staatlicher Aktivitäten in der Wirtschaft und ein besserer Marktzuschaft neu ausrichten, auch das
Christian Sommer, Germangang für private Firmen. Außergehört zu New Normal: Effizienz
Centre-Chef in Schanghai
dem fordert die EUCCC mehr
statt Tempo, Qualität statt Quan14 AUSSEN WIRTSCHAFT 1/2016
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Thomas Heck, Partner und
Leiter der China Business
Group von PwC Deutschland
mit Sitz in Schanghai
Fotos: Corbis, Heck, Sommer
„Marketing läuft in China viel
stärker über soziale Medien“
Rechtsstaatlichkeit und weniger Kontrolle des Internets sowie die Abschaffung des Katalogs für Auslandsinvestitionen, der Direktinvestitionen in vielen Sektoren untersagt oder mit strengen Auflagen versieht.
Trotz aller Hindernisse sind sich Experten und
Manager einig: Wer in den Untiefen von New Normal geschickt navigiert, wird in China auch weiterhin Erfolg haben. Die Mittelschicht wächst weiter,
das jährliche Pro-Kopf-Einkommen nähert sich der
7000-US-Dollar-Marke. Die Menschen können sich
mehr leisten, und das hilft auch der Industrie. Hat
sich das Land erst einmal darauf eingestellt, sind
6 Prozent Wachstum nicht so schlecht. Das German
Centre verzeichnet weiterhin Nachfrage von Firmen,
die nach China wollen. So ist gerade eine Dependance
mit fünf Bürostockwerken in Taicang eröffnet worden, einer Kleinstadt westlich von Schanghai, in der
viele deutsche Mittelständler produzieren. „Es ist das
erste German Centre weltweit in einer Stadt aus der
zweiten Reihe“, so Christian Sommer (siehe Seite 30).
Langsameres Wachstum war letztlich nötig, um die
Wirtschaft in nachhaltigere Bahnen zu lenken und
der Umwelt eine Chance zu geben. „Die Umweltverschmutzung hat China massiv geschadet“, sagt Sommer. Weniger Kohleverbrauch hilft den betroffenen
Regionen, ihre Luft zu reinigen. Und auch der
Umweltschutz bietet Chancen, etwa für deutsche
Umwelttechnikfirmen.
Christiane Kühl
AUSSEN WIRTSCHAFT: Deutsche Firmen müssen ihre
Tätigkeit in China anpassen, um in der neuen Normalität erfolgreich zu navigieren. Worauf kommt es an?
Heck: Aufgrund der gestiegenen Herausforderungen
müssen Unternehmen ein neues Risikoprofil für China
erstellen. Dies erfordert eigene Managementfunktionen,
die früher nicht nötig waren. In der Boomphase der
letzten Jahre konnten die Organisationen der meisten
Firmen nicht schnell genug mitwachsen. Man hat sich
vor allem um den Verkauf gekümmert und weniger um
die Administration. Das muss nachgeholt werden. Ein
weiteres Thema ist die Produktivität.
AW: Inwiefern?
Heck: Zu Zeiten niedriger Löhne war es kein Problem,
dass die Arbeitsproduktivität in China etwas niedriger
war, auch bei deutschen Firmen. Nun aber steigen die
Löhne, vor allem in den Küstenprovinzen. Wer dort weiter fertigen will, muss die Produktivität steigern, etwa
durch Prozessoptimierung und Automatisierung.
AW: Es heißt, die Nachfrage sei in China robust,
man brauche aber die richtigen Produkte, um sie zu
befriedigen. Wie stellt man das sicher?
Heck: Es wird immer wichtiger, zügig auf Veränderungen im Markt zu reagieren, vor allem bei Konsumgütern. Die Geschmäcker verändern sich in China rasend
schnell. Für neue Trendprodukte entsteht dann sofort
Bedarf an hohen Stückzahlen. Plötzlich kamen zum Beispiel Geschirrspüler in Mode. Ebenso plötzlich boomten die Sportgeländewagen. Wichtig ist es dafür, dass
Unternehmen die sozialen Medien beobachten. Marketing und Verkauf laufen in China viel stärker über soziale
Medien, die auch wichtige Kanäle für neue Trends sind.
AW: Was ist in der Industrie wichtig?
Heck: Früher haben deutsche Firmen gern an andere
Deutsche geliefert. Diese Märkte sind oft gesättigt. Heute
muss man sich auch chinesische Kunden erschließen.
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1|2016
LÄNDER & REGIONEN [ Nicaragua ]
Reiche Ernte für Investoren
Öffnung. Mit einer liberalen Politik will Nicaraguas Regierung mehr Firmen anlocken.
Einige deutsche Investoren sind schon da – zum Beispiel Schokoladenproduzent Ritter.
D
ie Bilder gingen um die Welt. bergischen Finanzministerium.
Im Jahr 1979 stürzten die „Dabei ist die Wirtschaftspolitik
linksgerichteten Sandinisten Nica- heute liberal. Es gibt stabile Bedinraguas Diktator Anastasio Somoza gungen mit im Schnitt 4,8 Prozent
Debayle. US-Präsident Ronald Wachstum in den letzten Jahren.“
Reagan versuchte in den 80er-JahGuido Paris, Executive Vice Preren, die neue Regierung zu Fall zu sident der LBBW, hält die Zeit für
bringen. Er scheiterte zwar, festigte mehr deutsche Investitionen für
aber damit international den Ruf gekommen. „Nicaragua ist offen
des Landes, in der Hand von Sozi- gegenüber der Weltwirtschaft.
alisten zu sein. Bis heute hat sich Freihandelsabkommen und Assoder flächengrößte Staat Zentral- ziierungsabkommen geben dem
amerikas, einer der ärmeren des Land Rückenwind“, erläutert er.
Kontinents, davon nicht erholt.
Wirtschaft und Politik seien sta„Das Nicaragua-Bild in Deutsch- bil, die rechtlichen Rahmenbeland ist vage. Man erinnert sich an dingungen solide. Chancen sieht
die Auseinandersetzungen der Paris vor allem in den Bereichen
70er- und 80er-Jahre“, sagt Bernd Automotive, erneuerbare EnerReuter, Leiter des Referats Außen- gien und Agrarwirtschaft. Kein
wirtschaft im baden-württem- Wunder also, dass die Regierung
des Landes aktiv im Ausland um
Investoren wirbt. Ende 2015 weilte
eine Regierungsdelegation Nicaraguas in Stuttgart und präsentierte sich deutschen Firmen auf
einer Veranstaltung von BadenWürttemberg International.
Aus Hilfe wurde Freundschaft
Engagierten sich 2007 erst Investoren aus 22 Ländern in Nicaragua, so sind es heute Firmen aus
40 Ländern – und tragen so zum
langsam wachsenden Wohlstand
bei. Einer der Pioniere war Schokoladenproduzent Alfred Ritter.
Das Unternehmen ist seit 1990
in Nicaragua präsent. „Wir wollten den Kakaoanbau wieder auf-
Kaffee-Ernte. Die kleinen
Bohnen sind Nicaraguas
Exportgut.
16 wichtigstes
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bauen und halfen bei der Gründung der Kooperative Cacaonica“,
erzählt Hauke Will, Chef der landwirtschaftlichen Produktion der
Firma. Heute hat Ritter dauerhafte
Lieferbeziehungen mit 20 Kooperativen im Land. Es ist eine Winwin-Situation, kann Ritter doch
Gutes tun und sich gleichzeitig
Kakao sichern. „Wir benötigen im
Jahr 12 000 Tonnen. Er ist für uns
ein elementarer Rohstoff“, so Will.
Aus dem sozialen Engagement
wurde mehr: echte Freundschaft.
Ritter baute Unterkünfte für die
Mitarbeiter der Kooperativen und
eine Bodega, wo sie die Bohnen
trocknen können. Inzwischen
hat der Ritter-Sport-Hersteller
den nächsten Schritt gewagt: vom
Abnehmer zum Produzenten.
2012 erwarb das Unternehmen
2500 Hektar Anbaufläche. Für die
Firma ist der Schritt zum Kakaohersteller Neuland. „Ab 2017 oder
2018 können wir ernten“, so Will.
„Langfristig wollen wir 30 Prozent
unseres Kakaomassebedarfs aus
unserer Produktion decken.“
Foto: Getty Images
Niedrige Lohnkosten
Ritter genießt einen ausgezeichneten Ruf im Land, wurde 2013 und
2014 von der Regierung als „Soziales Unternehmen“ ausgezeichnet.
„Man muss als Investor Anreize
schaffen, die nicht nur monetär
sind, sondern auch ein soziales
Umfeld beinhalten“, betont Hauke
Will. Unterstützt wurde die Firma
aus Waldenbuch nahe Stuttgart
bei ihrem Engagement von der
LBBW. Deren Vertreter Guido Paris
ist überzeugt: „Wer es in Brasilien
schafft, der schafft es auch hier.“
Das zweite große deutsche
Unternehmen im Land ist Dräxlmaier. Der Automobilzulieferer
aus dem niederbayerischen Vils-
Höchstes Wachstum
Nicaragua hat die größte Steigerung des
Bruttoinlandsprodukts in Zentralamerika.
6,5 BIP in Prozent
6,0
5,5
5,0
4,5
4,0
3,5
3,0
2011
2012
Nicaragua
Guatemala
Quelle: Weltbank
2013
2014
Costa Rica
biburg kam 2009 nach Nicaragua. 2000 Mitarbeiter produzieren
auf 16 000 Quadratmetern Kabelstränge. Von seinem Standort im
Nordwesten des Landes beliefert
Dräxlmaier Autobauer in den USA.
Neben Kabeln sind Textilien
und Agrarprodukte die wichtigsten Exportgüter. „Kaffee macht 40
Prozent unserer Ausfuhren aus“,
erklärt General Alvaro Baltodano, Minister für Ansiedlungen
in Nicaragua. „Wir haben das
höchste Exportwachstum in
Zentralamerika.“
Im Herzen Zentralamerikas
Mit 130 000 Quadratkilometern ist Nicaragua das größte Land Zentralamerikas. 6,2
Millionen Einwohner leben in dem Staat.
Vor allem die niedrigen Lohnkosten machen Nicaragua für
Industriebetriebe attraktiv. „Der
Monatsmindestlohn beträgt 230
US-Dollar“, erklärt Gabriel Sanchez von der Investitionsförderagentur Pro Nicaragua. „Wir haben
die geringsten Löhne in Zentralamerika. In Mexiko sind sie um 30
Prozent höher.“ Die Logistikkosten
seien zwar höher, dennoch sei die
Produktion in der Summe deutlich günstiger als in Mexiko. Ein
Trumpf im Kampf um ausländische Firmen seien zudem die Freihandelszonen mit angeschlossenen Industrieparks. „Investoren
sind dort für mindestens zehn
Jahre von den höchsten Steuern
befreit“, erläutert Sanchez.
Gute Rahmenbedingungen
Neben den Löhnen und der guten
Logistikanbindung an Europa,
Asien und Nordamerika sollen
vor allem die Rahmenbedingungen Investoren anlocken, etwa die
solide Wirtschaftspolitik. Nicaragua hat seit Jahren das höchste
Wachstum der Region (siehe Grafik). Auch die Staatsfinanzen sind
in Ordnung. „Moody’s hat unser
Kreditrating von B3 auf B2 hinaufgestuft“, berichtet Sanchez stolz.
Die Währung ist voll konvertibel, Investoren können ihr Kapital
repatriieren und profitieren von
der laut Pro Nicaragua höchsten
öffentlichen Sicherheit in der
Region. „Wir haben eine niedrige
Verbrechensrate. Es gibt keine größeren Risiken für Investoren“, so
Sanchez. Und es herrsche sozialer
Frieden. „Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Regierung treffen sich
regelmäßig. Wir haben eine enge
Partnerschaft“, sagt er. Nicaragua
ist eben nicht sozialistisch, sondern sozial.
Gunnar Erth
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1|2016
LÄNDER & REGIONEN [ Polen ]
Symbolcharakter. Polens neue Regierungschefin
Beata Szydlo spricht vor polnischen Fahnen.
Kein Platz
für Europa
Wandel. Polen war immer der Vorzeigekandidat unter den neuen EU-Staaten Mittelund Osteuropas. Mit dem Wahlsieg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) sind neue
wirtschaftspolitische Akzente zu erwarten.
D
ie Wahlversprechungen von zuziehen, meint Peter Oliver Loew,
PiS lesen sich nicht wie ein stellvertretender Direktor des
Konjunkturprogramm. Künftig Deutschen Polen-Instituts in Darmsoll für jedes zweite Kind ein Kin- stadt. „Die Reformen der vorigen
dergeld ausgezahlt werden; die Regierung werden zurückgenomAnhebung des Renteneintritts- men. Das ist absurd und reiner
alters wird rückgängig gemacht. Populismus“, kritisiert er. Die PiSMänner sollen in Polen nur noch Führung plane auch, den Staatsanbis 65 Jahre, Frauen bis 60 Jahre teil in der Wirtschaft auszubauen.
arbeiten. „Gerade das Kindergeld „Sie will möglichst viel Kontrolle im
ist ein Prestigeobjekt der neuen öffentlichen Leben. Das betrifft die
Regierung“, so Stefan Garsztecki, Wirtschaft, aber auch Medien und
Professor für Kultur- und Länder- die Justiz“, betont Loew.
studien Ostmitteleuropas an der
TU Chemnitz. „Die Frage ist, wie die Umstrittene Kohleförderung
Versprechen finanziert werden
sollen. Vermutlich wird das Defi- Kritisch sehen die Experten auch
zit vergrößert – und das in einer den Plan, den Steinkohlebergbau
wirtschaftlich guten Situation.“
stärker zu unterstützen. „Die
Insbesondere die Absenkung Zukunft der polnischen Wirtdes Rentenalters sieht Garsztecki schaft liegt sicher nicht im Steinsehr kritisch und sagt: „Polen hat kohlebergbau“, so Loew. Das sei
ein demografisches Problem. Es eine Branche auf dem absteigenist schon jetzt absehbar, dass den Ast. „Die Bergwerksanlagen
man das Rentenalter bald wieder in Polen sind wenig produktiv,
erhöhen muss.“ Die neue Regie- Unsummen müssen investiert
rung sei entschlossen, ihre sozial- werden“, erklärt er. Sicher spielt
politischen Versprechen durch- dabei eine Rolle, dass die neue
Regierungschefin Beata Szydlo
lange Bürgermeisterin in Brzeszcze in Südpolen war. Dort ist
der Kohlebergbau der wichtigste
Wirtschaftszweig. Etwa 100 000
Polen seien landesweit im Bergbau beschäftigt, etwa 200 000 in
den Zulieferbetrieben, so Stefan
Garsztecki. „Es geht Szydlo nicht
nur um Arbeitsplätze. Der Bergbau spielte eine wichtige Rolle
im Sozialismus, seit 1989 hat die
Branche gelitten“, sagt er. „Szydlo
wird sich persönlich verpflichtet fühlen.“ Die Kohle sei in Polen
der wichtigste Brennstoff bei der
Beheizung mit einem Anteil von
80 Prozent, so der Professor.
Zu den wirtschaftlich fragwürdigen Vorhaben kommen politische Querelen wie die Auseinandersetzung um die Benennung der
Richter des Verfassungsgerichts.
Die neue Regierung wolle alle
zentralen Schaltstellen der Macht
unter ihre Kontrolle bringen und
die Rechte des Verfassungsgerichts beschneiden. „Das unter-
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PiS dominiert im Sejm
Die nationalkonservative Partei hat die absolute Mehrheit
der Sitze im Parlament Sejm.
MN: deutsche Minderheit
1
.Nowoczesna: liberal
28
PO: liberal-konservativ
138
PSL: gemäßigt konservativ
16
Kukiz’15: rechtspopulistisch 42
PiS: nationalkonservativ
235
Gesamt
460 Sitze
Quelle: Wikipedia
Wachstum auf hohem Niveau
Polens BIP nimmt stark zu, doch der Staatshaushalt bereitet Sorgen.
2013
123
−4,0
40
2014
Foto: Corbis
123
−3,3
33
3,3
123
2015*
123
−2,8
28
3,5
123
2016*
123
−2,8
28
3,5
123
Haushaltssaldo
gräbt die Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit. Die Gewaltenteilung
wird aufgehoben“, so Loew.
In der EU wird der Kurs der
Regierung kritisch gesehen. Die
EU-Kommission leitete im Januar
erstmals ein Verfahren gegen ein
Mitgliedsland ein, um die Rechtsstaatlichkeit der Reformen zu prüfen. Doch Szydlo scheut die Konfrontation nicht. Bereits vor ihrer
ersten Pressekonferenz im November hatte sie EU-Flaggen aus dem
Saal entfernen lassen und sprach
nur vor polnischen Fahnen.
Die politischen Turbulenzen
wirken sich auf das Wirtschaftsklima aus. Der Zloty verlor gegenüber dem Euro und US-Dollar an
Wert, und der Warschauer Börsenindex ging in den Keller. Exportorientierte Unternehmen könnten von dem schwachen Zloty
zumindest kurzfristig profitieren, sagt Marcin Kaczmarek, CEO
und Vorstandsvorsitzender des ITUnternehmens Consileon Polska.
Die Stettiner entwickeln Software
1,6
123
BIP-Wachstum
auch für deutsche Firmen und
Banken. „Da viele IT-Unternehmen
keine Geschäfte mit dem öffentlichen Sektor machen, fürchten
wir keine Verringerung unseres
Umsatzes“, so Kaczmarek. „Im privaten Sektor basiert die Kooperation auf langfristigen persönlichen
Vertrauensverhältnissen, und das
aktuelle politische Chaos wird keinen Einfluss darauf haben.“
Widerstand im Volk
Die neue Regierung sei mehr mit
politischen Kämpfen als mit der
Wirtschaft beschäftigt, meint
der IT-Manager und hofft, dass
sich die Änderungen in der Wirtschaft in Grenzen halten werden.
Ein Hoffnungsträger sei der neue
Minister für Wirtschaftsentwicklung und stellvertretende Ministerpräsident Mateusz Morawiecki,
der mehr die Investitionen als
den Konsum fördern will. „So
besteht die Hoffnung, dass die
neue Regierung im Wirtschafts-
* = Prognose. Quelle: GTAI
bereich vernünftig handeln wird“,
meint Kaczmarek. Morawiecki sei
zudem Vorsitzender einer großen
Bank gewesen, was für seine Kompetenz spreche.
Pawel Pawlaszek, Vorstandsvorsitzender von NT Consult Systemy
Informatyczne Polska, ebenfalls
ein IT-Unternehmen aus Szczecin
(Stettin), sieht die Lage pessimistischer und sagt: „Der Widerstand
gegen die Regierung wächst dramatisch. Die Stimmung wird von
Woche zu Woche schlechter.“ Er
hofft, dass der Druck der Bevölkerung die PiS-Führung zum Rücktritt zwingen kann. Pawlaszek leitet
die polnische Tochter eines deutschen IT-Dienstleisters und meint,
dass die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen den Regierungswechsel
aushalten werden. Für sein Unternehmen fürchtet er aber, dass die
Personalkosten steigen, weil sich
die Abgaben für die Krankenversicherung erhöhen werden.
Die deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen haben
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LÄNDER & REGIONEN [ Polen ]
sich in den vergangenen Jahren
sehr gut entwickelt. Im Zeitraum
Januar bis November 2015 belegte
Polen bei der Summe aus Ein- und
Ausfuhren den siebten Platz unter
allen deutschen Handelspartnern
mit stolzen 88,8 Milliarden Euro.
Bei den Importen aus Polen wurde
sogar der sechste Platz erreicht mit
40,9 Milliarden Euro. Gefragt sind
vor allem Fahrzeuge und -teile,
Maschinen, Nahrungsmittel, Chemieerzeugnisse und Elektrotechnik. Bei den deutschen Exporten
liegt der Nachbar an achter Stelle.
Zudem hat Polen bisher 28 Milliarden Euro an deutschen Direktinvestitionen gewinnen können.
Das sei ein Sechstel aller ausländischen Investitionen in dem Land,
so die polnische Botschaft in Berlin. Mehr als 6000 deutsche Firmen
Polen boomt. Das macht sich insbesondere im Stadtbild Warschaus bemerkbar.
sind im Nachbarland aktiv und
beschäftigen etwa 300 000 Mitarbeiter. Zurzeit baut VW ein neues
Werk bei Poznan für rund 800 Millionen Euro. Der Bad Dürkheimer
Autofelgenhersteller Uniwheels
errichtet eine Produktionsstätte in
Stalowa Wola und die Bosch-Tochter BSH ein Haushaltsgerätewerk
in Wrocław. Auch die polnischen
Firmen weiten ihre Engagements
in Deutschland aus. Polnische
Unternehmen investierten insgesamt schon mehr als 1,2 Milliarden Euro in der Bundesrepublik.
Gelenkte Investitionen
Ob die Politik der neuen Regierung
die florierenden Wirtschaftsbeziehungen beeinträchtige, lasse sich
noch nicht absehen, so die Meinung der Experten. Minister Morawiecki habe die Devise ausgegeben,
dass die Wirtschaft dem Menschen
dienen müsse, so Stefan Garsztecki. Das heißt, man befürworte
zwar Direktinvestitionen, möchte
sie aber in bestimmte Richtungen
lenken. „Wenn es dann nach Bialystok soll, ist sicher nicht jedes
Unternehmen begeistert“, meint er.
Bialystok liegt in einem strukturschwachen Gebiet im Osten Polens.
Jacek Robak, Leiter der Abteilung Handel und Investitionen der
polnischen Botschaft in Berlin,
sieht jedenfalls „weiterhin große
Möglichkeiten für ausländische
Investoren“ in seinem Heimatland.
Robak: „Ich denke, es gibt Potenziale im Bereich der Biotechnologie
und der Informations- und Kommunikationstechnologie wie auch
in der Games-Industrie.“ Er regt
eine engere Vernetzung der Forschungs- und Wissenschaftssysteme an, die die grenzüberschreitende Zusammenarbeit effektiver
machen solle.
Susanne Spahn
Jacek Robak,
Leiter der Abteilung für Handel
und Investitionen
der polnischen
Botschaft in Berlin
„Bisherige Anreize
bleiben unberührt“
AW: Ist von der neuen Regierung
ein Wechsel in der Wirtschaftspolitik Polens zu erwarten?
Robak: Die neue Regierung plant
keine Regelungen, die als wesentlicher Wechsel der bisherigen Wirtschaftspolitik zu bezeichnen sind.
Es gibt zwar Pläne für zum Beispiel
eine zusätzliche Besteuerung der
Einkommen ausländischer Banken
oder der Supermärkte, aber eine
Bankenabgabe wurde 2010 auch
in Deutschland eingeführt.
AW: Gibt es Auswirkungen auf
die Investitionsbedingungen?
Robak: Aus der Sicht der ausländischen Investoren bleiben bisherige Anreize wie zum Beispiel in
den Sonderwirtschaftszonen sowie
rechtliche Rahmenbedingungen
unberührt. Der riesige polnische
Binnenmarkt, neue Infrastrukturprojekte oder die Modernisierung
der Energiewirtschaft bieten weiterhin große Möglichkeiten.
AW: Welche Branchen bieten die
besten Chancen für Investoren?
Robak: Im Rahmen der Nationalen
Strategie für Innovationen wurden
19 sogenannte intelligente Spezialisierungen definiert. Dazu zählen
etwa optoelektronische Systeme,
Technologien für Wasserverarbeitung und Wasserrückgewinnung,
Labordiagnostik und die Therapie
von Zivilisationskrankheiten.
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[ Energie in Kanada ] BRANCHEN & MÄRKTE
1|2016
Wind säen – Strom ernten
Alternative. Das Land mit dem Ahornblatt gilt nicht als Klimaschutzvorreiter. Doch die
Einstellung in Kanada ändert sich. Neue Energiequellen bieten Chancen.
K
anadas Potenzial für Energie
aus Sonne, Wind oder Biomasse ist riesig. Bislang wurde
es nur in geringem Maße ausgeschöpft – eine Folge der Marktbedingungen im Land. „Strom wird
in Kanada zur Genüge produziert.
Daher sind die Preise ziemlich
günstig“, weiß Alexandra Bogensperger, Geschäftsführerin der
Zweigstelle Montreal der DeutschKanadischen Industrie- und Handelskammer (AHK). „Da haben es
neue Energieformen nicht ganz
leicht.“ Sie verweist exemplarisch
auf Quebec und sagt: „In dieser Provinz erzeugt die Wasserkraft einen
Überschuss an Strom, der zum Teil
in die USA exportiert wird.“
Durch die Wasserkraft ist
Kanada ein Land der regenerativen Energie. Rund 61 Prozent
des Strombedarfs werden auf
diese Weise erzeugt. Doch die Ökobilanz des Wassers ist umstritten,
die Eingriffe in die Natur bringen
Umweltschützer auf den Plan.
Deshalb wird zur Abgrenzung
auch gerne von „sauberer Energie“
gesprochen, wenn von Windenergie oder Fotovoltaik die Rede ist –
zumindest sehen es die Lobbyverbände dieser Branchen so. Am
stärksten wird davon die Windenergie genutzt. Ihre Kapazitäten
decken rund 4 Prozent des Strombedarfs. Das Potenzial liegt nach
Angaben des kanadischen Windenergieverbands Canwea bei
Fotos: Corbis, Huber, Robak
Neue Aussicht. Von 2012 bis 2015 stieg Kanadas
installierte Windenergieleistung um 70 Prozent.
1/2016 AUSSEN WIRTSCHAFT 21
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9.2.16 14:47
BRANCHEN & MÄRKTE [ Energie in Kanada ]
Chancen für Strom aus Wind
Die Hoheit für Kanadas Energiepolitik liegt bei den Provinzen, die in
der Vergangenheit diverse Anreizprogramme aufgelegt haben.
„2009 bis 2014 waren starke Jahre“,
blickt Alexandra Bogensperger
zurück. So betrug 2012 die installierte Windenergieleistung
6201 Megawatt. Aktuell sind es
10 425 Megawatt – fast 70 Prozent
mehr. Die AHK hat viele deutsche
Unternehmen beim Markteinstieg
begleitet, auch mit ihrem Kompetenzzentrum Energie und Umwelt.
sich um alles gekümmert“, erinnert sich Helmut Herold. „Ich habe
meine Aufgaben damals Bauchladen genannt“, sagt der SenvionGeschäftsführer Nordamerika.
„Da war alles drin, von der Finanzbuchhaltung über den Vertrieb
und Vertragsverhandlungen bis
zu Personalangelegenheiten.“
Mittlerweile braucht sich Helmut
Herold nicht mehr um jedes Detail
zu kümmern. Senvion beschäftigt heute mehr als 300 Mitarbeiter in Kanada und hat dort eine
eigene Produktion. Neben dem
Hauptsitz in Montreal existieren
Umstrittene Ölsande. Die Energiemehrere lokale Büros, da die Entgewinnung belastet die Umwelt sehr.
scheidungsträger vor Ort erreicht
werden müssen. In Quebec, wo 90
Prozent aller Senvion-Mitarbeiter
Einige deutsche Firmen haben in Kanada sitzen, steht Wind im
sogar Produktionsstätten errichtet Fokus der Energiepolitik. Auch in
oder Büros eröffnet. Senvion aus Ontario will die Politik mehr WindHamburg war einer der Pioniere. energie ins Land holen, schließlich
Der Windenergieanlagenherstel- hat die Industrie dieser Provinz
ler konnte 2009 seinen ersten landesweit den größten Energiekanadischen Großauftrag an Land bedarf. British Columbia hat inzwiziehen. „Wir haben schnell ein schen ebenfalls das Potenzial von
kleines Team aufgebaut. Jeder hat Windenergie erkannt.
Neue Regierung, neue Signale
Wandel. In Kanadas Energiepolitik könnte sich ein Umdenken anbahnen. Das zumindest hat die neue Landesregierung angekündigt.
In der Vergangenheit spielte die Klimabilanz
in Kanada keine große Rolle. Fast ein Jahrzehnt lang setzte die Regierung von Premier
Steven Harper auf Ölförderung; der Schutz der
Umwelt war Nebensache. 2011 stieg das Land
sogar aus dem Kyoto-Protokoll aus. Jetzt ist
ein anderes Bewusstsein eingezogen, denn die
neue liberale Regierung unter Justin Trudeau
Der Neue: Justin Trudeau.
hatte den Klimaschutz zum Wahlkampfthema
gemacht. „Bislang werden Signale ausgesendet“, berichtet die AHK Kanada.
So wurde das Umweltministerium in Ministerium für Umweltschutz und
Klimawandel umbenannt. Nun warten alle auf die Umsetzung. „Für konkrete
Maßnahmen auf Bundesebene ist es allerdings noch zu früh“, so die AHK.
Fotos: Corbis, Petersen, Trudeau
20 Prozent. Der Anteil der Solarenergie liegt dagegen bei unter
1 Prozent. Dort, wo die Erneuerbaren alte fossile Energieträger
abgelöst haben, hat sich die Klimabilanz verbessert. In Ontario etwa,
wo es keine Kohlekraftwerke mehr
gibt, ist der Ausstoß von CO2 um
ein Fünftel zurückgegangen.
Die Akzeptanz für Wind-, Sonnen- oder Bioenergie ist in der
Bevölkerung vorhanden. „Anders
als in Deutschland reicht es aber
nicht aus, auf Vorteile wie Effizienzsteigerungen zu verweisen“, betont
Bogensperger. „Die Wirtschaftlichkeit ist extrem wichtig. Der
Return-on-Investment sollte sich
relativ schnell einstellen.“ Denn
Kanadas Mittelschicht ist nicht
bereit, für alternativ erzeugten
Strom mehr zu zahlen. Sie ist aber
für Argumente empfänglich wie
„saubere Energien bringen neue
Arbeitsplätze“. Mittlerweile bietet
der Sektor, bestehend aus Produktion, Stromerzeugung, Energieeffizienz und Biokraftstoffen, mehr
Jobs als die Ölsandindustrie. Das
erklärt die Deutsche Messe in Hannover, die sich an mehreren kanadischen Wind- und Solarveranstaltungen beteiligt hat.
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Deutsche Ingenieurkunst verkaufe sich sehr gut in Kanada,
so Senvion. Wichtig ist es laut
Herold, „sich auf die lokalen Gegebenheiten einzustellen“. Extreme
Wettersituationen, wie sie in weiten Teilen Kanadas möglich sind,
erfordern besondere Produkte.
So hat Senvion auch Turbinen
in einer speziellen, sogenannten
Cold-Climate-Version installiert.
Auf nach Alberta
Ein anderes Beispiel liefert GP
Joule, ein 2009 gegründeter Projektierer für Wind-, Solar- und
Biostrom. Das Unternehmen aus
dem schleswig-holsteinischen
Reußenköge ist seit 2011 in Nordamerika aktiv. Über sein kanadisches Headquarter in Toronto
agiert es im Segment Solar. „In
Ontario gibt es bei der Solarenergie ein ähnliches Fördersystem
wie in Deutschland“, erläutert
Geschäftsführer Ove Petersen die
Standortwahl. Mittlerweile haben
die Provinzregierungen die För-
Ontario setzt auf Wind
Stromerzeugungskapazität durch Windenergie in Kanadas Provinzen 2015.
4 042
Ontario
2883
Quebec
1417
Alberta
Nova Scotia
498
British Columbia
489
294
New Brunswick
258
Manitoba
Saskatchewan
221
Prince Edward
Island
204
Übrige
dermaßnahmen reduziert, etwa
die Einspeisevergütung für Solarstrom. „Das wirkt sich aus, aber wir
kommen trotzdem zurecht“, sagt
Petersen (siehe Interview).
Was die künftigen Chancen für
deutsche Firmen angeht, äußert
sich die AHK vorsichtig. „Potenzial
ist immer noch da“, sagt Alexandra Bogensperger. In einigen Provinzen habe sich der Markt zwar
konsolidiert, doch andere Provinzen wie Alberta hätten gerade
richtungsweisende Entscheidungen getroffen, die große Entwicklungsmöglichkeiten freisetzten.
Die Kammerchefin rät interessierten Firmen, sich vorab über die
speziellen kanadischen Bedingungen zu informieren. Im zweitgrößten Flächenstaat der Erde spielt
zudem Logistik eine wichtige Rolle.
Unternehmen sollten sich daher
auf einzelne Regionen fokussieren.
Beste Aussichten sieht die AHK
in Westkanada, insbesondere in
Alberta, wo traditionell Öl, Gas und
Kohle dominieren und hohe Treibhausgasemissionen produzieren.
Die Windenergie soll in Alberta
einen Großteil der Kohlekraftwerke ersetzen, die bis 2030 abgeschaltet werden müssen. Idealer-
65
Angaben in Megawatt. Quelle: Canwea
weise arbeiten Newcomer vor Ort
mit regionalen oder lokalen Partnern zusammen, die im Markt verankert sind. Auch ein Engagement
als Zulieferer im Rahmen von Projekten, etwa bei der energetischen
Gebäudesanierung, ist denkbar,
denn die Kanadier haben erkannt,
dass so die CO2-Bilanz verbessert
werden kann. Viele Objekte befinden sich energetisch bei Weitem
nicht auf dem aktuellen Stand und
sind wahre Klimakiller.
Ove Petersen,
Geschäftsführer
von GP Joule aus
Reußenköge
„Es gibt Gegenden
ohne Netzausbau“
AUSSEN WIRTSCHAFT: Warum
sind Sie in Kanada aktiv?
Petersen: Ein wichtiger Grund war
das Ziel, sich geografisch zu diversifizieren. Bei erneuerbaren Energien hängt viel von der jeweiligen
Politik ab. Aber Regierungen kommen und gehen. Es kann sein, dass
eine neue Regierung die Erneuerbaren weniger fördert. Dann ist es
gut, auch in anderen Regionen vertreten zu sein. Was Kanada angeht,
haben wir Produkte, die für den
Markt interessant sind.
AW: Ist Kanada auch ohne
Fördermaßnahmen attraktiv?
Petersen: Eindeutig ja. Natürlich
haben uns Unterstützungen wie
die Einspeisevergütung in Ontario
geholfen. Wenn diese jetzt zurückgefahren wird, heißt das nicht,
dass wir nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Vielfach machen auch die
infrastrukturellen Gegebenheiten
eine Region attraktiv. In Ontario
etwa gibt es Gegenden ohne Netzausbau. Energieerzeugung durch
Solartechnologie ist da günstiger
als herkömmliche Generatoren.
AW: Welchen Tipp haben Sie für
deutsche Markteinsteiger?
Petersen: Möglichst schnell lokale
Leute einbeziehen. Die verfügen
über ein Netzwerk und kennen die
Wirtschaftskultur. Nur mit deutschen Mitarbeitern geht es nicht.
Peter Borstel
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1|2016
BRANCHEN & MÄRKTE [ Chemie ]
In den schönsten Farben
Alleskönner. Der Mittelstand prägt Deutschlands Chemieindustrie. Ihre Produkte verkauft
sie weltweit. Das ist nötig, denn das Inlandsgeschäft stagniert, während der Export boomt.
Z
um Durchatmen bleibt Frank
Haug wenig Zeit. Schlag auf
Schlag verkündet die Bodo Möller Chemie GmbH, wo sie künftig international Präsenz zeigen
wird. Anfang Dezember 2015
eröffnete der Offenbacher Anbieter von Spezialchemikalien seine
erste Niederlassung in China. Erst
Mitte November hatte Geschäftsführer Haug die Expansion in den
Nahen Osten angekündigt. Nur
wenige Tage zuvor war eine neue
Vertriebsfiliale in Ungarn an den
Start gegangen. In 15 Ländern vertreibt die Gruppe heute Markenprodukte namhafter Hersteller
wie BASF oder Dow Automotive
Systems. Jeder zweite Euro wird
bereits im Ausland umgesetzt.
Während in der Öffentlichkeit
vor allem BASF und Bayer für Chemie aus Deutschland stehen, wird
die Branche tatsächlich von kleinen und mittleren Unternehmen
wie Bodo Möller Chemie geprägt.
Die Mittelständler beschäftigen
jeweils weniger als 500 Mitarbeiter und stellen 90 Prozent der rund
2000 Chemiefirmen. Laut dem
Verband der Chemischen Industrie (VCI) erwirtschaften sie rund
30 Prozent des Branchenumsatzes und beschäftigen mehr als ein
Drittel aller Mitarbeiter.
Anders als in der Autoindustrie
etwa liefern sie nicht den Marktführern Vorprodukte zu, sondern
sind Kunden der Konzerne, deren
Nicht nur in Frankreich
sind deutsche Chemieprodukte
24beliebt.
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Vorprodukte sie weiterverarbeiten. Ihr Portfolio reicht von Lacken,
Farben, Klebstoffen, Möbel- und
Schuhpolituren über Arzneimittel
bis zu Wasch- und Reinigungsmitteln. Als Spezialisten können sie
sich am Markt gut positionieren.
Henrik Meincke, Chefvolkswirt
beim VCI, beobachtet, dass „industrielle Kunden wie Auto- oder
Elektrohersteller heute immer
hochwertigere Chemikalien benötigen“. Während die Marktführer
wie BASF und Bayer die gesamte
Produktpalette aus Basis-, Fein-,
Spezial- sowie Konsumchemikalien anböten, konzentrierten
sich die mittelgroßen Unternehmen auf Fein- und Spezialchemikalien. In diesen Bereichen verzeichnen die deutschen Anbieter
aktuell die besten Absatzmöglichkeiten. Laut Meincke sind die
Wachstumschancen für die kleinen und mittleren Unternehmen
sogar noch etwas besser als für
den Branchendurchschnitt.
Foto: Laif
Auslandsproduktion im Trend
Schon heute spielt das Ausland
eine große Rolle für diesen Industriezweig. Mehr als 60 Prozent
steuert das Geschäft außerhalb
Deutschlands zum Umsatz bei,
wobei dieser Wert für Konzerne
und Kleine gleichermaßen gilt.
VCI-Chefvolkswirt Meincke stellt
fest, dass die Mittelständler es
nicht beim Export belassen wollen, sondern zunehmend auch im
Ausland produzieren, um ihren
Kunden zu folgen. Was es vor Ort
zu beachten gilt und welche Erfahrungen andere VCI-Mitglieder
machen, darüber informiert der
Verband regelmäßig in regionalen Workshops zu verschiedenen
Auslandsmärkten, sei es China,
Indien, die USA oder auch Afrika.
Überall im Einsatz
Imposant. Die Chemiebranche
ist einer der größten Wirtschaftszweige Deutschlands.
Palette. Die Branche stellt ein
breites Produktsortiment her: von
Kosmetika über Hustensaft und
Textilfasern bis zu Klebstoffen. Die
Produkte kommen in allen
Lebensbereichen zum Einsatz.
Kunden. Nur 17 Prozent der
Chemieprodukte gehen direkt an
Verbraucher, knapp 80 Prozent
werden innerhalb der Industrie
weiterverarbeitet. Größte Kunden: Kunststoffverarbeiter, Auto-,
Verpackungs- und Bauindustrie.
Riese. In Europa erwirtschaftet die deutsche Chemie gut ein
Viertel ihres Umsatzes. Sie ist
damit mit Abstand die Nummer
eins in der Region. Weltweit
belegt sie hinter China und den
Vereinigten Staaten Rang drei.
Bedeutung. In Deutschland
ist die Chemie der drittwichtigste
Wirtschaftszweig mit knapp 191
Milliarden Euro Umsatz. Sie
beschäftigt rund 447 000 Mitarbeiter und investiert jährlich
ungefähr 7 Milliarden Euro.
Vor allem das Geschäft
in Nordamerika boomt
Sorgenfalten im Inland
Umsatzentwicklung der deutschen
Chemieindustrie im Ausland 2015.
Osteuropa
EU-15
Lateinamerika
Afrika
Asien
Nafta
−4
−2
0
2
4
6
8
10
12
Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent.
Quellen: VCI, Destatis
Die Bodo Möller Chemie will
international weiter wachsen.
Zum Jahreswechsel übernahm der
Mittelständler von zwei Chemieproduzenten in China, Osteuropa,
Afrika, im Nahen Osten und in
Indien Verkaufsbüros und Warenlager sowie ein Werk in Ägypten.
Für Frank Haug sind das Meilensteine auf dem Weg zum Ziel, die
Wertschöpfung auszubauen. Mit
144 Mitarbeitern erwirtschaftete
die Gruppe im abgelaufenen Jahr
66 Millionen Euro. Bis Ende 2016
sollen dann 200 Beschäftigte mehr
als 100 Millionen Euro erzielen.
Besonderes Augenmerk richtet
Haug auf China. „Deutsches Knowhow genießt einen außergewöhnlich guten Ruf in China. Das öffnet uns diesen Markt“, sagt der
Geschäftsführer. Für die Kunden
aus der Bahn-, Luftfahrt- und Automobilindustrie bietet Bodo Möller
Chemie auch Laborservices an. So
hatte die Deutsche Bahn angekündigt, vom chinesischen Eisenbahnriesen CRRC Züge und Ersatzteile
kaufen zu wollen. „Auch die verwendeten Klebstoffprodukte müssen in China gemäß DIN qualifiziert werden. Diesen Service gibt es
aber noch nicht vor Ort“, beschreibt
Haug, wo er eine Marktlücke sieht.
14
Die inländische Nachfrage bereitet
der Branche keine große Freude,
der Umsatz ging um 1,5 Prozent
zurück, so der VCI. Die Entwicklung im Ausland sorgt dagegen
für bessere Stimmung. Wegen der
wirtschaftlichen Stabilisierung im
Heimatmarkt Europa, des robusten Aufwärtstrends in den USA
und der anhaltenden Nachfrage in
Asien erwartet der Verband auch
2016 einen Anstieg der Chemieproduktion in Deutschland.
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BRANCHEN & MÄRKTE [ Chemie ]
Die Top-Exportschlager der
deutschen Chemieindustrie
Die Bandbreite der Chemieerzeugnisse
ist enorm. In welchen Bereichen die
Ausfuhren besonders florieren.
1.
FeinF
i und Spezialchemie. Die Sparte, zu
der zum Beispiel Pflanzenschutzmittel,
Farben und Desinfektionsmittel zählen,
ist die attraktivste im Export. 2015 setzte
sie ihren Aufwärtstrend des Vorjahres fort.
2.
Ph
Pharmazeutika.
Die dynamischste Entwicklung innerhalb der Chemiebranche
gab es 2015 in der Pharmaproduktion
mit einem starken Plus von 4,5 Prozent.
Das lag insbesondere am Exportgeschäft.
3.
Polymere.
P
l
Diese Kunststoffbestandteile
sind ebenfalls international gefragt. Zu
ihnen gehört Styropor genauso wie das
aus Krimis bekannte Kevlar, aus dem
Polizeischutzwesten gemacht werden.
Beim 1919 gegründeten Klebstoffspezialisten Jowat SE machen
die Umsätze jenseits der Grenze
bereits 75 Prozent aus. Mit zuletzt
250 Millionen Euro Umsatz gehören die Detmolder zu den größeren Akteuren der Branche. In
sechs Werken auf vier Kontinenten, davon zwei in Deutschland und je eins in den USA, der
Schweiz, Malaysia und Australien,
produziert Jowat 500 Klebstoffe
für so unterschiedliche Industriezweige wie Holz, Textil und Elektro.
Mit der zunehmenden Mobilität
steige auch der Bedarf an Klebstoffen für Fahrzeuge, erklärt Klaus
Kullmann, Vorstand Marketing
und Vertrieb, der darin gute Chancen sieht. Zwei Trends begünstigten diese Entwicklung: immer
hochwertiger ausgestattete Innenräume und der breiter werdende
Mix der dabei verarbeiteten Materialien. Pro Pkw würden im Schnitt
15 Kilogramm Klebstoff verwendet, von der Innenraumkaschierung über die Sitzherstellung bis
zu den Scheinwerfern.
Hilfreiche Empfehlungen
Zu den großen Kunden zählt auch
die Textilindustrie. Mit den wachsenden Ansprüchen an die Stoffe,
die zum Beispiel waschbeständig
und atmungsaktiv sein müssen,
steigen die Anforderungen an die
Qualität der Kleber.
2015 kam zu den 20 bestehenden Töchtern eine weitere
in Kolumbien hinzu. Kundennähe hält Kullmann für unerlässlich, da die leistungsstarken
Kleber sehr erklärungsbedürftig
seien. Bei den Abnehmern punktet Jowat mit der hohen Qualität
der Produkte, der schnellen Verfügbarkeit sowie einem zuverlässigen Service. Bei einem Neustart
wie zuletzt in Kolumbien profitiert
die in der Branche gut bekannte
Industriemarke vor allem von
Empfehlungen, etwa dann, wenn
ein Möbelhersteller den Lieferanten seiner Maschinen nach einem
Klebstoffproduzenten fragt. „Über
den Preis können wir nicht verkaufen“, stellt Kullmann klar.
So sieht es auch Henrik Follmann. Die Mindener Follmann
GmbH & Co. KG setzt auf Service,
Qualität und Nachhaltigkeit der
Produkte. Anders als bei Jowat
stützt sich das Geschäftsmodell
der Firma mit 650 Beschäftigten auf mehrere Säulen: Druckfarben, Tapetenbeschichtungen,
Klebstoffe sowie Mikroverkapselungen. Die in winzigen Hüllen
eingeschlossenen Parfümöle sorgen dafür, dass zum Beispiel Werbesendungen oder Verpackungen duften. Die bei Konsumenten
eher unbekannte Firma ist in den
Haushalten äußerst präsent. „Jede
zweite Papierserviette in Europa
wird mit unseren Druckfarben
beschichtet“, sagt Follmann.
Darüber hinaus bietet das
Familienunternehmen Lösungen
für Dach- und Balkonabdichtungen, Parkhaussanierungen sowie
Straßenmarkierungen. Die Bauchemie verzeichnet aktuell unter
anderem in den Ballungsräumen
der USA hohe Wachstumsraten
und sorgt dafür, dass der Auslandsanteil am Follmann-Umsatz
von zuletzt 60 Prozent weiter steigt.
Seit der Gründung 1977 beliefert Follmann auch Kunden außerhalb Deutschlands, zunächst in
Holland und England. Heute sitzen die Abnehmer in 42 Ländern,
betreut von zwölf Auslandstöchtern in West- und Osteuropa sowie
China. Produziert wird jedoch
nur in Minden. Noch. „Wir denken über ein Werk in China nach“,
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sagt der Enkel des Gründers.
Anders als bei vielen Mittelständlern sind für die Entscheidung
nicht die Lohnkosten ausschlaggebend. Wichtigster Grund ist für
den Diplom-Kaufmann die Zeitersparnis beim Transport. Die von
raschen Trendwechseln abhängige Tapetenindustrie ist auf eine
schnelle Lieferung von neuen
Farben angewiesen. „So würden
wir näher an die Kunden rücken“,
unterstreicht der Geschäftsführer.
Traditionsreiche Marken
Anders als bei den Marktführern
BASF und Bayer sind die Namen
der Mittelständler außerhalb der
Branche zwar kaum bekannt,
ihre Produkte hingegen schon. So
produziert die 1872 aus einer Apotheke entstandene Engelhard Arzneimittel GmbH & Co. KG die Atemwegstherapeutika Prospan und
Isla. Die Isländisch-Moos-Pasta
war eines der ersten Fertigarzneimittel gegen Husten und Heiser-
Höher hinauf
Die Investitionen der deutschen Chemie im
Ausland bewegen sich auf Rekordniveau.
9,5 Milliarden Euro
8,5
7,5
6,5
5,5
4,5
2003
2006
2009
2012
2015*
* Schätzung. Quelle: VCI
keit, das Apotheker Karl Philipp
Engelhard, Schüler von Justus von
Liebig, in der Frankfurter RosenApotheke entwickelt hatte. 1868
ging die erste Bestellung für das
Produkt ein.
In mehr als 100 Ländern vertreiben die Hessen heute ihre Medikamente und zählen die asiatischen
Staaten zu ihren größten Wachstumsmärkten. Mauricio Aravena,
Leiter der International Division,
erklärt dies in erster Linie mit
dem demografischen Wandel
und dem Ausbau der Gesundheitssysteme und sagt: „Hier sticht
vor allem Vietnam heraus, das zu
den am schnellsten wachsenden
Pharmamärkten Südostasiens
gehört.“ Im Fokus stünden zudem
Myanmar und die Philippinen;
aber auch in Kanada und Spanien
sehe er großes Potenzial.
Vor jedem Markteintritt nehmen
die Hessen auf lokalen Messen
Kontakt zu potenziellen Vertriebspartnern auf, um Kooperationen
auszuloten. Stimmt die Chemie
hinsichtlich Außendienst, Potenzial oder auch Produktportfolio,
beginnt die Produktzulassung.
Dann ist Geduld gefragt. Je nach
Land könne das Zulassungsverfahren zwischen ein und sechs
Jahre dauern, sagt Aravena. Entscheidender Erfolgsfaktor für ein
starkes Auslandsgeschäft sei ein
„partnerschaftliches Miteinander
mit den Vertriebspartnern“. So
kommen auch die deutschen Mittelständler rund um den Globus
groß heraus.
Eli Hamacher
Fotos: Getty Images, Mauritius, Meincke, PR
„Mittelständler bauen Produktionsanlagen im Ausland auf“
AUSSEN WIRTSCHAFT: Was sind aktuell die
wichtigsten Trends in der Chemieindustrie?
Meincke: Globalisierung, Innovation und
Spezialisierung. Vor allem außerhalb Europas
locken dynamische Wachstumsmärkte, an denen
die deutschen Unternehmen teilhaben möchten,
sei es durch Export oder Produktion vor Ort. Aufgrund hoher Rohstoff- und Energiekosten sowie
Umweltstandards in Deutschland muss die Branche sehr innovativ sein.
AW: Da kommt die Spezialisierung ins Spiel.
Meincke: Bei Basis-Chemikalien ist international
der Wettbewerbsdruck am höchsten. Hier hat die
deutsche Branche die geringsten Chancen. Bei
Pharmazeutika, Fein- und Spezialchemikalien, zu
denen zum Beispiel Klebstoffe, Farben und Pflan-
zenschutzmittel zählen, sowie bei Konsumchemikalien mit Körperpflege- und Waschmitteln lockt
im Ausland hingegen großes Potenzial.
AW: Wo sind die Mittelständler stark?
Meincke: Die Mittelständler findet man in allen
Segmenten. Sie konzentrieren sich aber vor allem
auf Spezial- und Konsumchemikalien. Noch sind
sie überwiegend in Europa aktiv und bearbeiten
hier die Märkte bevorzugt über Exporte.
Henrik Meincke,
AW: Wohin geht die Entwicklung?
Chefvolkswirt
Meincke: Die Mittelständler bauen zunehmend
des Verbands
der Chemischen Produktionsanlagen im Ausland auf, und zwar
Industrie (VCI)
jeweils dort, wo ihre Kunden sitzen. Das kann
Europa, Amerika oder auch Asien sein. Gleichzeitig exportieren sie verstärkt in Märkte außerhalb
Europas, um neues Potenzial zu erschließen.
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1|2016
AUSSENHANDEL & INVESTITIONEN [ Japan ]
Kaffee und Zündkerze
D
er Industriekonzern Bosch
ist für seine Autokomponenten, Heimwerkerausrüstung und
Küchengeräte bekannt. Doch in
Fernost will das Unternehmen
einen guten Ruf mit frischem Kaffee und Sandwiches erwerben.
Im September 2015 eröffnete der
Konzern sein weltweit erstes eigenes Café – mitten im Herzen von
Tokio. Das Ziel: die Marke Bosch
in Japan bekannter zu machen.
Nicht nur Geschäftskunden, sondern auch potenzielle Arbeitskräfte und Meinungsmacher
sollen so auf den Konzern aufmerksam werden, der in Nippon
rund 7000 Beschäftigte hat.
Jahrelang feilte Bosch an seinem Konzept. Mitarbeiter, Architekten und Köche aus Japan
besuchten Stuttgart und Berlin,
um Menüs und Ausstattung deutscher Lokale an den japanischen
Geschmack anzupassen. Herausgekommen ist ein Ort, der modernes Ambiente mit schwäbischen
Delikatessen verbindet. Designersessel stehen an robusten Vollholztischen, die Speisekarte offeriert Caffè Latte und Falafel ebenso
wie Löwenbräu und Flädlesuppe.
Eleganter Übergang
Nur ein paar Schritte entfernt
beginnt der Eingangsbereich der
japanischen Bosch-Zentrale. Dort
werden unter anderem Haushaltsgeräte ausgestellt. Mithilfe von QRCodes, die sich mit Smartphones
scannen lassen und den Nutzer
auf eine Website weiterleiten, können sich die Cafébesucher auch
digital über Geschichte und Produkte des Unternehmens informieren. Den Übergang von einem
Bereich in den anderen erleichtern Exponate wie ein Sportwagen
mit Bosch-Technologie.
Bosch ist mit diesem Kaffeehauskonzept nicht allein. Mehrere
deutsche Firmen werben in Japan
mit einer Mischung aus Ausstellungsraum und Fresstempel für
sich. So betreibt Daimler seit einigen Jahren zwei große Showrooms
in Tokio und Osaka, die die Verköstigung von Besuchern in den Mittelpunkt ihres Konzepts gerückt
haben. So ist das obere Stockwerk
der Mercedes-Benz Connection in
Tokios Ausgehviertel Roppongi
von einer Restaurantbar belegt.
Nur ein riesiger Bildschirm an
einer der Wände erinnert dort mit
Fotos: Bosch-Café
Vermarktung. Liebe geht durch den Magen. Entsprechend pflegen deutsche Firmen wie
Bosch und Daimler ihr Image in Japan mit Cafés und Restaurants neben ihren Showrooms.
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flimmernden Mercedes-Werbespots daran, wer die Gaststätte
betreibt. Im unteren Stock schließt
ein legeres Café direkt an eine Ausstellungsfläche an. Dort kann man
Autos betrachten, aber nicht kaufen. Stattdessen werden sportliche Accessoires wie Golfzubehör,
Schirmmützen und Schlüsselanhänger vertrieben.
Der Küchenhersteller Miele ist
ebenfalls der Kaffee-Idee verfallen. Im Oktober verköstigte das
Unternehmen potenzielle Kunden
in Tokio in einem eigens geschaffenen Pop-up-Café. Heißgetränke
und Kuchen wurden mit Espressomaschinen und Backöfen aus eigener Produktion zubereitet. Anlass
für die zehntägige Aktion war eine
große Designausstellung in Tokios
Nobeleinkaufsviertel Omotesando.
Miele unterhält dort einen von
Star-Architekt Kengo Kuma entworfenen Showroom, der im Rahmen der Ausstellung zu einem
Café mit Kunsthalle wurde. Die
Firma aus Gütersloh kennt die Vorliebe der Japaner für Kuchen und
andere Backwaren gut. Regelmäßig bietet sie Kochkurse an, von
denen Kunden neben Tipps zur
Bedienung der Öfen auch Rezeptideen mit nach Hause nehmen.
ADRESSEN + LINKS
Café 1886 at Bosch
www.bosch-cafe.jp, www.facebook.com/
cafe1886atBoschJapan
Mercedes-Benz Connection
www.mercedes-benz-connection.com
Die Gründe für die Restaurantaktivitäten deutscher Hersteller in
Japan sind vielfältig. „Wir hatten
das Image, große und teure Autos
anzubieten, die vor allem von
älteren Fahrern genutzt werden“,
erklärt Daimler-Sprecherin Michie
Ogata. Um ein jüngeres Publikum
anzusprechen und die Einführung neuer, kompakter Modelle
in Japan zu unterstützen, musste
eine Alternative zum reinen Showroom her. „Im Mittelpunkt sollte
etwas stehen, was jeder gern
macht: essen und trinken“, sagt
Ogata. Damit Besucher die Marke
zwanglos erleben können, wurde
auf den Einsatz von Autoverkäufern verzichtet. „Anfangs gab es
in der deutschen Zentrale wenig
Verständnis für das Konzept“, so
Ogata. Doch nach 18 Monaten
Testphase war der Mutterkonzern
überzeugt. Inzwischen wird die
Idee unter dem Begriff „Mercedes
Me“ global verbreitet.
Ein Sportwagen
mit Bosch-Technologie markiert
den Übergang
vom Café zur
Firmenzentrale
in Japans
Hauptstadt.
Haushaltsgerätehersteller wie
Miele hingegen zielen darauf ab,
japanischen Verbrauchern die
Funktionsweise ihrer Geräte zu
erklären. Weil in Nippon Backöfen,
Spülmaschinen und Wäschetrockner sehr viel seltener genutzt werden als in Deutschland, kann es
bei deren Gebrauch eher zu Problemen kommen. „Wir wollen vermeiden, dass die Kunden ein teures Produkt kaufen, ohne es richtig
nutzen zu können“, sagt MieleSprecherin Reiko Kaneki.
Hemmschwellen abbauen
Daher bietet das Unternehmen
Schnupperkurse an und nutzt
Gelegenheiten wie die Designausstellung im Oktober. Ein guter
Ansatz, findet Marketingspezialist
Andreas Dannenberg. „Für Japaner ist die Hemmschwelle größer,
in ein Geschäft zu gehen und sich
über ein Produkt zu informieren“,
weiß er. Deutsche Produzenten
täten gut daran, Situationen ohne
Verkaufsdruck zu schaffen.
Cafés und andere Erlebniswelten böten dafür eine Möglichkeit.
Außerdem könne die eigene Marke
den Kunden dort gut vermittelt
werden, so Dannenberg. Darauf
setzt auch Bosch mit seinem Café
1886 at Bosch. Obwohl die Firma
seit mehr als 100 Jahren vor Ort ist,
kennt dort fast niemand das
Geschäft der Stuttgarter. „Die meisten Japaner können unseren Firmennamen nicht einmal aussprechen“, erzählt Bosch-Sprecher Jun
Shimoyamada. Das soll sich
ändern. „Wenn sich nach dem
Besuch in unserem Café ein Teil der
Gäste unsere Ausstellung anschaut,
etwas über unsere Produkte lernt
und hinterher mehr über unsere
Geschichte weiß, ist viel gewonnen“, sagt er.
Birga Teske
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1|2016
AUSSENHANDEL & INVESTITIONEN [ German Centres ]
Seit 20 Jahren Flagge zeigen
Türöffner. Mexico City, Moskau, Delhi, Singapur, Jakarta, Peking, Schanghai und Taicang – in
diesen Städten gibt es German Centres. Was diese Einrichtungen der Landesbanken bieten.
W
enn die Sirene jedes Jahr
einmal zur Feueralarmübung schrillt, dann freuen sich
die Mieter im German Centre von
Singapur, denn sie wissen: Draußen steht alles bereit für das traditionelle Grillfest. „Das ist ein Höhepunkt für uns“, sagt Hanna Böhme,
Geschäftsführerin der Tochtereinrichtung der Landesbank BadenWürttemberg (LBBW). Dies ist nur
ein Beispiel, wie die German Cen-
tres rund um die Welt deutschen
Firmen ein Stück Heimat bieten.
Vor 20 Jahren gründeten die
LBBW und die BayernLB die ersten
Zentren in Singapur und Schanghai. Heute gibt es acht dieser
Büro- und in einigen Fällen auch
Produktionsgebäude mit angeschlossenen Veranstaltungs- und
Konferenzräumen. Die Vorteile
für Firmen, die sich dort einmieten: Büroangebote in jeder Größe
MEXIKO
und Gelegenheiten, zu netzwerken, um so den Start im Ausland
kostengünstiger und effizienter
zu bewältigen. Doch die Tochtergesellschaften der Landesbanken
sind nicht nur Vermieter, sondern
auch Dienstleister. Sie bieten Hilfe
und Tipps im Umgang mit der
Verwaltung des Gastlands, sind
Ansprechpartner für verschiedene Fragen und fester Bestandteil der deutschen Community.
Mexiko-Stadt. Mehr als 180
deutsche Firmen haben seit 2001
das German Centre Mexico als
ihr Sprungbrett in die amerikanischen Märkte genutzt. Zu den
Mietern zählt auch die DeutschMexikanische AHK. Jeden Monat
ziehen Ausstellungen deutscher
Firmen unter dem Motto „Made
in Germany“ 14 000 Besucher an.
Das Centre nimmt 2016 am „Year
of Germany in Mexico“ teil, einer
Initiative der Bundesregierung.
www.germancentre.com.mx
30 AUSSEN WIRTSCHAFT 1/2016
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5.2.16 15:02
In diesem Umfeld können sich wirtschaftlichen Rahmenbedin- dass Indonesien in der Asean
Firmen auf die wesentlichen Auf- gungen stattfindet, wie das Beispiel Economic Community das wirtgaben konzentrieren und Syner- Jakarta zeigt: Sie fand inmitten der schaftliche Zugpferd ist“, so Baur.
gien nutzen. Vor allem Mittelständ- Asien-Krise statt. „Unsere Anfangs- Zudem ist Jakarta ein Standort, an
ler gehören zu den Büromietern. zeit war schwierig. Doch für viele dem die Mieter auch produzieren
Doch auch Großunternehmen überraschend zeigte sich Indone- können. Das Gebäude eignet sich
schätzen die Dienstleistungen und siens Wirtschaft in der weltweiten auf zwei Etagen zur Einrichtung
die Gelegenheit zum Networking.
Krise robust“, sagt Julia Baur, die von Werkstätten, für Fertigung,
Beim Start 1995 in Singapur heutige Geschäftsführerin.
Lagerung und Labors. Die Böden
war Berthold Leibinger dabei.
Da die Zentren die langfristigen verfügen über eine erhöhte TragUnd er kennt die Vorgeschichte. Wirtschaftstrends im Auge haben, fähigkeit, und IndustriestromDer langjährige Chef des Ditzin- sind sie meist nur kurzzeitig von anschlüsse sind vorhanden.
Trotz der wirtschaftlichen
ger Werkzeugmaschinenherstel- solchen Einbrüchen betroffen. Bis
lers Trumpf erinnert sich an eine heute hat das German Centre in Abkühlung in China sind die
Rede des ersten Premierministers Indonesien mit 168 Unternehmen German Centres in Peking und
von Singapur, Lee Kuan Yew, Ende Verträge geschlossen, als Mieter Schanghai sehr gut ausgelasder 80er-Jahre. „Er bezeichnete und auch als Nutzer seiner Dienst- tet. Deshalb wurden 2015 wiches als tragischen Fehler europäi- leistungsangebote. Fünf Mieter der tige Erweiterungsprojekte umgescher Industrieller, den wachsen- ersten Stunde sind noch vertreten. setzt. Das Haus in Schanghai hat
den Märkten Südostasiens nicht „Alle profitieren seit 2015 davon, als erstes Centre in Taicang
genügend Aufmerksamkeit zu
widmen“, sagt er. Leibinger unterMoskau. Innovativ und funktional
RUSSLAND
stützte deshalb mit dem Maschipräsentiert sich seit 2011 das German
nenbauverband VDMA und dem
Centre in Moskau mit außergewöhnlicher
DIHK den Aufbau der ersten ZenArchitektur sowie unterschiedlichen
tren in Singapur und Schanghai,
Büro- und Veranstaltungsmöglichkeiten.
die im selben Jahr eröffnet wurden.
www.moscow.germancentre.com
Fotos: Corbis, Getty Images, Huber Images
Immer wieder China
Allen German Centres ist gemeinsam, dass sie an Standorten entstehen, an denen Firmen sich
Kunden und Absatzmöglichkeiten versprechen. Asien geriet in
den 90er-Jahren in den Fokus,
deshalb entstanden dort auch die
nächsten Häuser – 1998 in Jakarta
und ein Jahr später in Peking.
2001 kam Mexiko City hinzu, 2008
folgte Neu-Delhi. In Moskau wurde
2011 ein Centre eröffnet. Ende des
vergangenen Jahres war zum dritten Mal China an der Reihe. Diesmal ging es nach Taicang, einer
Stadt im Speckgürtel Schanghais.
Planung und Bau der Gebäude
nehmen Jahre in Anspruch, was
dazu führen kann, dass die Eröffnung nicht immer unter den besten
S Ü D O STA S I E N
Jakarta und Singapur. Als Sprungbretter
nach Asien verstehen sich das 1995 eröffnete Centre in Singapur und das drei Jahre
jüngere Centre in Jakarta. In Letzterem
gibt es auch Produktionsmöglichkeiten.
www.germancentre.co.id, www.germancentre.com.sg
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AUSSENHANDEL & INVESTITIONEN [ German Centres ]
CHINA
und Showrooms für Ausstellungen, Maschinenvorführungen
sowie Schulungen anbieten.
In Peking wurde das Centre um
11 500 auf 21 000 Quadratmeter
an einem neuen Standort erweitert. Die beiden Gebäude liegen
500 Meter voneinander entfernt
in einem zentralen Geschäftsund Botschaftsviertel im Herzen
der deutschen Community. „Die
größte Herausforderung besteht
darin, die beiden Gebäude logistisch und organisatorisch miteinander zu vernetzen“, sagt Jörg
Höhn, Geschäftsführer des Centre
in Peking. Die Vernetzung betrifft
auch die Mieter, deshalb wird mit
Smart Carsharing angeboten. Die
Firmen können durch die Anmie-
Peking, Schanghai und Taicang. Drei
Standorte zeigen die Bedeutung Chinas. Das
Centre Taicang ist erst seit Januar in Betrieb.
www.germancentre.org.cn,
www.germancentreshanghai.com,
www.germancentretaicang.com
INDIEN
Delhi/Gurgaon. Seit 2008 hilft das
German Centre deutschen Mittelständlern
bei der Bearbeitung des großen und vielfältigen indischen Markts.
www.gurgaon.germancentre.com
tung von E-Cars umweltfreundlicher in Peking mobil sein.
Eine schwierige Zeit durchleben in Russland engagierte deutsche Firmen. Im German Centre
in Moskau nutzen sie die aktuelle Situation, um Kosten zu senken, sich neu zu strukturieren und
zu organisieren, gute Mitarbeiter
auszubilden und Kundenkontakte
zu pflegen. „Russland ist nach wie
vor die neuntgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, und die Entscheider wissen, dass sie Nachholbedarf haben. Deshalb werden sie
investieren, und auch der russische Konsum wird ein starker Treiber sein“, so Stephan Weiss, Chef
des German Centre in Moskau.
Über die Jahre wurden die Zentren zu Zeitzeugen. In Singapur
und Gurgaon, einem Vorort von
Delhi, wurden sie fast auf der grünen Fläche errichtet. Nun sind sie
Teil prosperierender Stadtviertel. In Singapur soll die Endstation des Schnellzugs nach Kuala
Lumpur fußläufig in der Nähe des
Zentrums gebaut werden. Und der
Stadtteil Cyber City in Gurgaon
verfügt über die modernste Infrastruktur in Indien und hat eine
eigene Metrolinie, die an die Delhi
Metro angeschlossen ist. „Ein Vorteil ist auch, dass wir gut an den
Flughafen angebunden sind“, sagt
Jana Helbig, die Geschäftsführerin
des German Centre in Gurgaon.
Beste Aushängeschilder
Die Lage ist mit ein Grund für
die unterschiedlichen Unternehmensgrößen der rund 50 Mieter.
Vertreten sind neben ThyssenKrupp und BMW auch diverse Mittelständler. Mit den Firmen Rational und Kuka sind auch Mieter der
ersten Stunde dabei. Auch für das
German Centre in Moskau hat sich
Fotos: Böhme, Getty Images, Huber Images
eine Tochtergesellschaft gegründet. „Man nimmt damit den Trend
auf, dass immer mehr deutsche
Unternehmen Dependancen in
Städten der zweiten und dritten
Reihe gründen und sie wegen der
zunehmenden chinesischen Konkurrenz gezwungen sind, weiter
an ihrer Effizienz und der Durchdringung des chinesischen Markts
zu arbeiten“, sagt Matthias Müller,
der neue Leiter.
Taicang ist 45 Autominuten
von Schanghais Zentrum entfernt.
Dort sind 230 deutsche Firmen
aktiv, viele mit Produktionsstätten.
Mit dem German Centre will man
vor allem Dienstleister ansprechen
und den Firmen neben Mietflächen auch Demonstrationsflächen
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die Anbindung wesentlich verbessert, seit es vor wenigen Wochen
einen direkten Zugang zur Metrostation Technopark erhalten hat.
Ganz neue Mobilitätswege geht
das German Centre in Mexiko City.
In der 20-Millionen-Stadt ist das
Verkehrschaos alltäglich, wovon
auch die Mieter betroffen sind.
„Wir haben deshalb ein Konzept
zur Work-Life-Balance entwickelt,
das die Mitarbeiter unserer Mieter
unter dem Motto ‚Fresh at Work‘
täglich in modernen Kleinbussen
zum German Centre und zurück
bringt“, erklärt Geschäftsführerin
Susanna Hess-Kalcher. Auch eine
Elektrotankstelle soll eingerichtet werden. Außerdem bringen
Dienstleister wie Bäcker und Reinigung ihre Angebote direkt in das
Centre, um Wege zu sparen.
In jedem Markt steht man für
das, was der Kunde an Deutschland besonders ansprechend findet. In Mexico City sind das deut-
Sorgenkind Russland
Das reale Wirtschaftswachstum 2016 an
den German-Centre-Standorten.
Indien
6,5
China
6,5
5,5
Indonesien
Singapur
2,9
Mexiko
2,8
0,5
Russland
Quellen: GTAI, Helaba
sche Produkte, die von Firmen im
German Centre als Shop Window
Germany ausgestellt werden. In
Singapur ist es aufgrund des großen Interesses am Umweltschutz
die Modernisierung des German
Centre als ökologisches Vorzeigeprojekt, das einen Preis der Bauund Planungsverwaltung erhielt.
In Moskau sind es das Baudesign
und die Inneneinrichtung, die das
Gebäude hip machen. 2012 gab es
dafür den russischen Architekturpreis Best Office Award 2012.
So unterschiedlich die Mieterstruktur, so unterschiedlich ist
auch der Weg der Unternehmen,
den sie auf den ausländischen
Märkten gehen. Manche bleiben
über Jahre im German Centre und
vergrößern sich bei Geschäftserfolgen zunehmend, andere
eröffnen nach erfolgreicher Marktpräsenz Produktionsstätten und
ziehen aus; oder sie bleiben mit
ihrem Headoffice im German Centre. Dritte ziehen aus und kommen
zurück, weil der neue Büroraum
nicht ihren Ansprüchen genügte.
Und weil es neben viel Service
auch persönlicher zugeht. Man
hilft sich, wie Hanna Böhme bestätigt: „Manchmal braucht ein Mieter
einfach nur einen Tipp, wo er mit
seinem Geschäftspartner essen
gehen soll. Oder ob wir einen guten
Zahnarzt kennen.“ Bettina Wieß
„Wir sind viel mehr als der anonyme Vermieter um die Ecke“
AUSSEN WIRTSCHAFT: Ende 2015 feierten Sie
das 20-jährige Bestehen des ersten German
Centre. Ist das Konzept aufgegangen?
Böhme: Ja, ganz sicher. In den 20 Jahren hatten
wir insgesamt 500 Mieterfirmen im Haus, aktuell sind es etwa 150. Die Räume des German
Centre Singapur bieten sich für Veranstaltungen
an, seien es Tagungen, Produktpräsentationen,
Schulungen oder Empfänge, und wurden in den
letzten 20 Jahren dafür permanent genutzt.
AW: Welche ganz besonderen Events gab es?
Böhme: Zu den Highlights zählen ein Abendempfang im Rahmen der Asien-Pazifik-Konferenz, das erste Asean-Regionaltreffen des VDMA
oder die Besuche von Helmut Schmidt oder des
Staatsgründers von Singapur, Lee Kuan Yew.
AW: Welche Sparkassen-Kunden kommen für
ein Engagement in Singapur infrage?
Böhme: Singapur kommt für Unternehmen
infrage, die in Asien Marktpotenzial heben
möchten. Die meisten Firmen haben einen großen regionalen Verantwortungsbereich und
suchen ein gutes und politisch sicheres Umfeld,
um sich auf ihre Kernkompetenz zu konzentrieren. Und sie schätzen die schlanke Verwaltung.
AW: Wie unterstützen Sie Ihre Mieter?
Hanna Böhme, Böhme: Wenn es um finanzrelevante Themen
Geschäftsführerin geht, sind die Landesbanken der richtige Kontakt.
des German Cen- Wir sind Ansprechpartner für alle übrigen Thetre in Singapur
men. Etwa bei Fragen wie „Wie erkläre ich meinem Mutterhaus die Komplexität Südostasiens?“.
Oder: „Wie trenne ich mich von meinem Distributor?“ Auch wenn wir nicht auf alles eine Antwort
haben, so kennen wir in unserem Netzwerk sicher
jemanden, der helfen kann. Wir sind eben viel
mehr als der anonyme Vermieter um die Ecke.
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1|2016
AUSSENHANDEL & INVESTITIONEN [ Frankreich erschließen ]
E
Le Fettnapf
Kultur. Frankreich ist nicht Fernost. Und doch unterschätzen viele Deutsche die kulturellen Eigenheiten
unseres nahen Nachbarn. So wird mancher Restaurantbesuch zur Fettnäpfchenfalle – oder es platzt gar ein
Firmengeschäft wegen der Mentalitätsunterschiede.
ssen gehen in Frankreich:
Das ist nicht in erster Linie
Nahrungsaufnahme, das ist ein
Moment der Entspannung, des
Genusses und der Konversation.
Im Restaurant. Ein bestimmter
Ablauf gehört dazu. Das beginnt
schon mit der Tischauswahl. Sie
treten ein und warten auf den Kellner, der Sie platziert. Sind Sie sich
unsicher bei der Weinauswahl,
lassen Sie sich vom Kellner beraten. Man genießt den Wein, trinkt
nicht zu viel. Ab dem Dessert hört
man auf mit dem Alkoholkonsum.
Statt eines Desserts können Sie
oft auch einen Käseteller bestellen.
Oder beides. Der Käse wird vor dem
Dessert gegessen. In guten Restaurants kommt der Kellner mit Käsewagen oder Käseplatte vorbei, und
Sie dürfen dann drei oder vier Sorten auswählen. Wenn der Kellner
ihn nicht serviert, schneiden Sie
sich mit dem Käsemesser jeweils
ein Stückchen ab. Man fordert
beim Käse keinen Nachschlag. Für
Franzosen gehört ein Kaffee – un
café, das ist ein kleiner Espresso –
ans Ende einer Mahlzeit. Man
trinkt ihn nach dem Dessert.
Der Kellner bringt die Rechnung
meist dem, der den Wein bestellt
hat. Er gilt als der Einladende, der
bei Geschäftsessen auch zahlt. Es
ist die Rechnung für den gesamten Tisch, ein französischer Keller
fragt also nie, ob man einzeln oder
getrennt bezahlt. Zahlt der Einladende nicht alles, legt man zusammen. Lassen Sie etwas Trinkgeld
auf dem Tellerchen nach Rückgabe des Wechselgelds liegen,
statt diese Summe dem Kellner
beim Zahlen anzusagen.
Bei Franzosen zu Hause. Bekommen Sie eine Einladung in das
Heim eines Franzosen, dann sind
Pralinen vom Chocolatier, Champagner und guter Wein übliche
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Akklimatisieren fällt in Frankreich oft schwer
Vorzüge und Nachteile verschiedener Expat-Ziele im Vergleich von 64 Ländern.
Frankreich
Gutes Essen ist bei Geschäftsverhandlungen in Frankreich wichtig.
Mitbringsel. Blumen auch, aber
Vorsicht: Sie werden in Frankreich
mit Geschenkpapier überreicht.
Bei der Ankunft kann es passieren, dass das berühmte Wangenküsschen ausgetauscht wird, die
Bise. Kennen sich Franzosen nicht
gut, sind sie nur Passanten oder
Geschäftsleute, drücken sie sich
auch nur die Hände.
Fotos: Huber Images, Interfoto
Wangenkuss zum Gruß
Wenn man als Ausländer beim
„faire la bise“ ungeübt ist, kann man
abwarten, was die Französin oder
der Franzose mit einem macht.
Man nähert die Wangen einander
an. Gleichzeitig erzeugt man ein
kleines Kussgeräusch, keinen lauten Schmatzer, indem man sich
das Küsschen über die Schulter
haucht. Je nach Region in Frankreich gibt man bis zu vier Bises – in
der Region Paris sind es zwei.
Wenn Sie das Glück haben, zu
einem Aperitif zu einem Franzosen
nach Hause eingeladen zu werden,
dann ist das noch keine Essenseinladung. Es bedeutet, dass man
am frühen Abend auf ein Glas
oder zwei vorbeischaut und dass
es ein paar Knabbereien oder Happen gibt. Aber nach zwei Stunden
sollte der Gast sich verabschieden –
es sei denn, man wird aufgefordert,
zum Essen zu bleiben.
USA
China
Russland
Gesamtrang
47
13
38
60
Lebensqualität
14
30
39
52
Leichtes Eingewöhnen
59
18
56
60
Arbeitsklima
48
18
17
61
Lebenshaltungskosten
41
27
22
50
Quelle: Internations
Sind Sie zum Essen eingeladen,
werden Sie zuerst einen Aperitif
angeboten bekommen. Warten Sie,
bis alle ein Glas haben, dann stößt
man an – mit „à la vôtre“, „Santé“
oder „tchin tchin“. Essen Sie nicht
zu viel von den Knabbereien, denn
Sie bekommen sicher noch mindestens drei Gänge. Reden Sie beim
Essen nicht übers Geschäft, lieber über Privates, Hobbys, Reisen,
Kultur – oder übers Essen generell. Fragen Sie nicht gleich nach
dem Beruf. Wenn man die Franzosen am Tisch nicht schon sehr
gut kennt: Politik und Geschichte
sollte man von sich aus nicht
ansprechen. Auch das Thema Geld
ist heikel – egal, ob Verdienst oder
Miete. Und es kommt gar nicht gut
an, wenn Deutsche belehrend sind
bei Themen wie Atomenergie, Ökologie oder Wirtschaft.
Im Geschäftsleben. In deutschen
Unternehmen legen die Mitarbeiter viel Wert darauf, bei Verhandlungen schnell zur Sache zu kommen. Die persönliche und private
BUCHTIPP
„Fettnäpfchenführer Paris“.
Michael Neubauer gibt
eine Fülle von Tipps, wie
die Pariser ticken und was
es in ihrer Metropole zu
entdecken gibt. ConbookVerlag, 11,95 Euro.
Ebene trennt man gern. Anders in
Frankreich: Franzosen wollen neue
Geschäftspartner bei den Vorverhandlungen erst einmal kennenlernen. Bahnen sie ein Geschäft an,
geht es ihnen erst einmal um Vertrauen. Das braucht Zeit. Da wird
zunächst über sich und die Familie geplaudert – gerne an einem
neutralen Ort, etwa in einem Restaurant. Je edler, desto wertschätzender. Und zum Geschäft kommt
man keinesfalls schon bei der Vorspeise, eher beim Dessert.
In Unternehmen entscheidet in
Frankreich das Management oft
zentral. Die Führungskraft weist
den Weg, Autorität und Position
sind von großer Bedeutung. Bei
den Deutschen ist man dagegen
stolz auf Teamarbeit. Mehrere Ebenen werden einbezogen, Verantwortung wird delegiert, manchmal
wird auch lang diskutiert. Gilt hier
der Kompromiss als eine Leistung,
wird er in Frankreich häufiger als
Schwäche des Chefs gesehen.
Deutsche bringen schon zum
ersten Treffen gerne perfekt ausgearbeitete Papiere mit. Diese Art
Effizienz irritiert so manchen Franzosen, dem erst einmal der Gedankenaustausch wichtig ist. Entscheidungen und Details haben
keine Eile. Also: Man sollte mehr
Zeit einplanen. Und sich aufs gute
Michael Neubauer
Essen freuen.
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1|2016
AUSSENHANDEL & INVESTITIONEN [ Duale Ausbildung ]
Praxisbezogen zu lernen liegt im
Trend – deutsche Firmen machen mit.
Exportschlager Azubi
Dual. Die Welt beneidet Deutschland um sein Ausbildungssystem. Mit dem Projekt Vetnet
zeigen Bildungsministerium, Kammern und Firmen in vielen Ländern, wie es funktioniert.
F
ür Mubea kam das Projekt zur
rechten Zeit. Der Automobilzulieferer aus Attendorn im Sauerland war gerade dabei, die Ausbildung seiner Industriemechaniker
weltweit zu standardisieren. Keine
leichte Aufgabe, wie Anja-Christina Hinrichs, Leiterin internationale Personalentwicklung der
Unternehmensgruppe, verdeutlicht: „Die Unterschiede in den einzelnen Ländern sind gewaltig.“
In Indien etwa, wo Mubea Federbandschellen, Stabilisatoren sowie
Achs- und Ventilfedern produziert,
gibt es ein staatliches Ausbildungs-
programm: zwei Jahre Schule und
ein Praxisjahr im Betrieb. Doch
das per Frontalunterricht vermittelte Wissen ist für die Praxis häufig irrelevant, was viele Betriebe
nicht stört, da sie ihre Auszubildenden als billige Akkordarbeiter einsetzen. Hinrichs gefiel der
ganze Ansatz nicht. „Wir haben
höhere Ansprüche“, sagt sie.
Dann hörte sie von Vetnet. Dieses Projekt erfüllt einen Wunsch
der deutschen Exportwirtschaft,
die schon lange darüber klagt, dass
sie im Ausland nur schwer Fachkräfte findet. Das Strategiepro-
jekt des Bundesbildungsministeriums versucht, die praxisnahe
duale Berufsausbildung in ausgewählten Ländern mithilfe der Auslandshandelskammern und deutscher Tochterfirmen zu verankern.
Hinrichs fackelte nicht lange und
beschloss: „Da machen wir mit.“
„Es ist beeindruckend, was vor
Ort in kurzer Zeit geleistet worden
ist“, sagt Ramona Neuse, die das
Projekt beim Deutschen Industrieund Handelskammertag (DIHK) in
Berlin koordiniert. Zu den Pionieren gehören Großunternehmen
wie Bosch und Siemens ebenso
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wie global operierende Mittelständler wie Schmersal, ein Hersteller von Sicherheitsschaltern,
oder der Anlagenbauer Manz.
Obwohl sie mancherorts bei null
anfangen mussten, erreichten sie,
dass in Pilotprojekten rund 3000
junge Leute dual ausgebildet wurden. Vergangenen Herbst wurde
Vetnet, das 2013 gestartet war,
um drei Jahre verlängert. Die Initiative läuft jetzt in neun Ländern,
von der Slowakei über Russland
bis zu Indien und China. Im Vordergrund stehen gewerblich-technische Berufe wie Mechatroniker,
doch je nach lokaler Nachfrage
geht es auch um Dienstleistungen.
In Lettland werden auch Speditionskaufleute ausgebildet, in Portugal Hotelfachkräfte.
Fotos: Getty Images, Laif
Jedes Land hat eigene Regeln
Zwar lässt sich das über Jahrhunderte gewachsene deutsche System nicht eins zu eins auf andere
Staaten übertragen, trotzdem hoffen die Projektverantwortlichen
auf einen Schneeballeffekt. „Unser
Modell hat Vorbildcharakter“,
betont Ramona Neuse. „Wir zeigen, was möglich ist.“
In einigen Ländern war beim
Start von Vetnet nicht einmal klar,
welches Ministerium für das Projekt zuständig ist. In Lettland etwa
war eine duale Ausbildung weithin unbekannt. Dort rekrutieren die Firmen ihre Arbeitskräfte
unter Hochschulabsolventen. In
Italien kann es für einen Ausbildungsberuf 19 unterschiedliche
Vorschriften geben, weil die Regionen die Anforderungen dezentral festlegen. Erst seit zwei Jahren erkennen sie die Abschlüsse
untereinander an. In Griechenland werden den Betrieben ihre
Azubis von einer staatlichen Agen-
Wenig Praxis am Zuckerhut
Berufsausbildung im Industriesektor in
Brasilien und Deutschland im Vergleich.
Deutschland
Brasilien
1020
4780
640
960
Theoriestunden
Praxisstunden
Quelle: AHK Brasilien
tur zugewiesen. Berufsschulen in
der Slowakei verzichten bei der
Aufstellung des Lehrplans auf
Absprachen mit der Wirtschaft.
Im indischen Pune, wo über 250
deutsche Unternehmen vertreten sind, begann die AHK damit,
einen Berufsbildungsausschuss
zu gründen und ein Curriculum
zu erarbeiten. Dann musste eine
Berufsschule gefunden werden,
die bereit war, sich auf die Vorstellungen der Deutschen einzulassen. Partner wurde das Institut
Don Bosco. Es wird von dem Salesianerpater Corlis Gonsalves geleitet, der schon mit Bosch und Mercedes zusammengearbeitet hatte.
So bekam auch Mubea Wind von
der Sache. Personalerin Hinrichs
war von den ersten Erfahrungen
so begeistert, dass das Unternehmen seit November mit vier Auszubildenden an dem Programm
teilnimmt. Mubea hat dafür einen
indischen Ausbilder rekrutiert
und in Attendorn geschult und
stellt dem Projekt das unternehmensinterne Curriculum zur Verfügung. Das zahle sich mittelfristig
schon deshalb aus, glaubt Hinrichs, weil gut ausgebildete Mitarbeiter viele Probleme eigenständig lösen könnten und sich so die
Zahl der Feuerwehreinsätze aus
Deutschland reduzieren lasse.
Gerade in rasch wachsenden
Schwellenländern reift das
Bewusstsein dafür, dass nur mit
qualifiziertem Nachwuchs der
Sprung in die Liga der Qualitätsführer gelingt. In China etwa, das
sich zur Innovationsgesellschaft
wandeln will, versucht die Regierung, das Bildungssystem stärker auf die Praxis auszurichten
– bislang mit begrenztem Erfolg.
Immerhin: In rund 60 Firmen laufen duale Ausbildungsprojekte,
auch dank Vetnet. Es gibt binationale Berufsbildungs- und Prüfungsausschüsse für Industriemechaniker ebenso wie für Brauer,
und zur Weiterqualifizierung bietet die AHK China in Schanghai
jährlich mehr als 300 zertifizierte
Trainings an. „Wissenshunger ist
ein wunderbarer Charakterzug
der Menschen hier vor Ort“, sagt
Geschäftsführerin Simone Pohl.
Auch in Russland läuft Vetnet,
unberührt von dem aktuellen
Wirtschaftsembargo. Seit 2014
werden dort Mechatroniker und
Lagerlogistiker, Callcenteragenten,
Bäcker und Fleischer ausgebildet.
Immerhin hat Präsident Wladimir
Putin angekündigt, bis 2020 über
25 Millionen qualifizierte Arbeitsplätze schaffen zu wollen.
Die größten Hürden beim Start
von Vetnet seien Bürokratie und
Regierungswechsel gewesen,
Duale Ausbildung nach deutschem
Muster genießt weltweit einen guten Ruf.
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AUSSENHANDEL & INVESTITIONEN [ Duale Ausbildung ]
Starker Partner. Ein Ausbilder übergibt einen Werkzeugkasten an einen Auszubildenden in den Vetnet-Lehrwerkstätten von Don Bosco im indischen Pune.
Vetnet-Teilnehmer
Jürgen Knie,
Geschäftsführer
des Anlagenbauers
Manz Slovakia
„Wir reden bei den
Inhalten jetzt mit“
AUSSEN WIRTSCHAFT: Wie beurteilen Sie die Ausbildungssituation in der Slowakei?
Knie: Das Land ist auf einem guten
Weg. Es gibt, nicht zuletzt dank
Vetnet, zahlreiche Pilotprojekte zur
dualen Ausbildung, auch bei uns in
Nove Mesto. Daran sind wir mit vier
Auszubildenden beteiligt.
AW: Welche Fortschritte gibt es?
Knie: Bisher sandten die Berufsschulen ihre Schüler nur zu Praktika in die Betriebe. Jetzt haben wir
erstmals unsere Kandidaten selbst
aussuchen können, und die Ausbildungsinhalte bestehen zu je 50
Prozent aus Praxis und Theorie. Wir
konnten bei den Inhalten mitreden.
AW: Welche Probleme gibt es bei
der Rekrutierung?
Knie: Meist haben die Eltern
Bedenken. Sie wollen, dass ihre Kinder studieren. Mit Industrie verbindet man hier Kombinate und
Drecksarbeit. Dass unsere Arbeitsplätze Hightech sind, assoziiert keiner. Da ist ein Umdenken nötig.
AW: Wie tragen Sie dazu bei?
Knie: Unser Personalleiter stellt in
den Schulen das Modell vor. Wichtig ist die Botschaft: Eine Ausbildung verschließt dir keine Türen,
du kannst später immer noch studieren! Wir haben eigens einen
Meister abgestellt, der sich nur um
die Azubis kümmert.
Fotos: DIHK, Getty Images, Knie
sagt Neuse. Waren endlich die
Aus Deutschland kennt man die
Ansprechpartner gefunden und Klagen, dass junge Leute sich zu
für das Projekt gewonnen, kamen wenig für eine Ausbildung inteoft schon die Nachfolger, und die ressierten. Im Ausland ist das
Überzeugungsarbeit musste aufs nicht viel anders. Ein Mitarbeiter
Neue beginnen. Besonders dra- des Bildungsministeriums, der
matisch ist die Lage in Griechen- das Vetnet-Projekt in Thailand
land. Wegen der häufigen Regie- besuchte, stellte ernüchtert fest:
rungswechsel fehlt bis heute ein „Berufsbildung wird als etwas
ministerieller Erlass, der die Aus- Zweitklassiges betrachtet, bei
bildungsberufe Mechatroniker dem man sich die Hände schmutund Systemelektroniker staatlich zig macht.“ Das rührt auch daher,
anerkennt. Und das, obwohl laut dass sich mit Produktionsarbeit
örtlicher AHK die Zusammenar- keine Karrierechancen verbinden.
beit mit der griechischen Arbeits„Da muss noch sehr viel Markeagentur gut funktioniert.
ting geschehen“, sagt Jürgen Knie,
der als Geschäftsführer von Manz
Oft Training für Trainer nötig
Slovakia am Vetnet-Projekt teilnimmt. Was helfen kann: ein Tag
Auch mangelt es häufig an Aus- der offenen Tür, an dem sich Schübildern für die Ausbilder. In Russ- ler und Eltern in den Werkshallen
land musste die AHK, bevor die ein Bild von den Arbeitsbedingunersten Lehrlinge antreten konn- gen machen können. Werben ließe
ten, erst „Train the trainer“-Kurse sich auch damit, dass die jungen
in den Unternehmen ausrichten. Leute, wenn sie ausgelernt haben,
In Indien halfen Fachleute des in die Deutschland-Zentrale wechSenior Experten Service aus, einer seln können. Doch das sagen die
gemeinnützigen deutschen Orga- Expats nicht allzu laut. Knie: „Ich
nisation, die pensionierte Füh- möchte meine Azubis ja am Standrungskräfte vermittelt.
ort halten.“
Christine Mattauch
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[ Zollkodex ] STEUERN & RECHT
1|2016
Wachwechsel beim Zoll
Regeln. Zum 1. Mai dieses
Jahres soll der neue Unionszollkodex der EU in Kraft
treten. Damit modernisiert
der europäische Gesetzgeber ein mehr als 20 Jahre
altes Recht. Die wichtigsten
Neuerungen im Überblick.
D
er Unionszollkodex (UZK) war
bereits im Oktober 2013 veröffentlicht worden – nun wird er
anwendbar. Seit Ende letzten Jahres liegen die Umsetzungsrechtsakte zum neuen Zollrecht, der
Implementierende Rechtsakt (VO
2015/2447, UZK-IA) und der Delegierte Rechtsakt (VO 2015/2446,
UZK-DA), in ihrer endgültigen
Fassung vor. Abgelöst werden der
Zollkodex der Gemeinschaften
(ZK) von 1992 und die Durchführungsverordnung von 1993. Die
neuen Vorschriften bringen teils
erhebliche Änderungen.
Zollschuld. Das neue Zollschuldrecht ist nicht nur klarer strukturiert, sondern bringt auch inhaltlich wichtige Verbesserungen,
insbesondere für Speditionen
und Lagerhalter, die bislang aufgrund kleinster Fehler bei der
Abwicklung hohen Abgabenforderungen ausgesetzt sein konnten.
Künftig sieht der UZK nur noch
zwei Zollschuld-Entstehungstatbestände vor. Artikel 77 UZK
regelt die Entstehung bei ordnungsgemäßem Überführen der
Ware in den zollrechtlich freien
Verkehr. Alle anderen irregulären
Zollschuldtatbestände – leichte
Pflichtverletzungen ebenso wie
Voll gepackt mit
Änderungen ist der
neue Unionszollkodex. Unternehmen sollten sich
jetzt mit den Regeln
auseinandersetzen.
1/2016 AUSSEN WIRTSCHAFT 39
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STEUERN & RECHT [ Thema ]
Genau geprüft.
Der neue Kodex
regelt unter
anderem auch
die Bestimmung
des Zollwerts neu.
das Entziehen aus zollamtlicher
Überwachung oder der Einfuhrschmuggel – finden sich künftig in
Artikel 79 UZK zusammengefasst.
Weit wichtiger ist, dass neue
Erlöschenstatbestände der Zollschuld eingeführt werden. Schon
bisher kommt eine Heilung infrage,
wenn der Verstoß „keine erheblichen Auswirkungen“ auf das Zollverfahren hatte, allerdings nur
bei Schulden wegen Verletzungen
von Pflichten aus dem Verfahren.
Diese Regelung wird künftig auf
alle Schuldgründe ausgeweitet.
Auch die Wiederausfuhr einer
Ware kann in bestimmten Fällen
zum Erlöschen der Zollschuld führen. Das Erlöschen ist nur ausgeschlossen, wenn ein Täuschungsversuch vorliegt. Offensichtliche
Fahrlässigkeit steht der Anwendung dieser Vorschrift, anders als
beim Billigkeitserlass nach Artikel 239 ZK, hingegen künftig nicht
entgegen. Viele Routinefälle werden sich über die Erlöschensregelungen lösen lassen. Allerdings
wird der Kreis der Zollschuldner
in diesen Fällen ausgeweitet und
umfasst nun auch Vertreter des
Pflichtigen und sonstige Beteiligte,
sofern sie von dem Verstoß wussten oder hätten wissen müssen.
Dies trifft insbesondere Dienstleister des Importeurs, hat aber
auch Auswirkungen auf die Haftung eigener Mitarbeiter.
Stärkung des AEO. Aufgewertet
wird die Stellung des zugelassenen Wirtschaftsbeteiligten (AEO),
wenn auch nur sukzessive. Die
Möglichkeit der „zentralen Zollabwicklung“, das heißt der Gestellung der Waren an einem anderen
Ort als dem der Zollanmeldung,
setzt eine Anpassung der IT-Systeme der Mitgliedstaaten voraus,
die noch in weiter Ferne ist. Beispiel: Die Einfuhr erfolgt beim
Hauptzollamt Hamburg-Hafen,
die Abgabe der Zollanmeldung
über das zuständige Hauptzollamt dagegen am Sitz des Unternehmens, etwa in Stuttgart.
DER AUTOR
Dr. Lothar Harings
ist Partner der
Sozietät Graf von
Westphalen. Dort
leitet er die Praxisgruppe „Zoll und
Exportkontrolle“.
Dr. Harings ist darüber hinaus
Gründer und Geschäftsführer der
Hamburger Zollakademie, einer
auf Zoll- und Außenwirtschaftsfragen spezialisierten Fortbildungseinrichtung. Die Akademie veranstaltet regelmäßig Seminare zum
Unionszollkodex sowie zu anderen
Themen aus den Bereichen Zoll
und Exportkontrolle. Nähere Informationen: www.hza-seminare.de.
Es gibt aber einige praktische
neue Vorteile für zugelassene
Wirtschaftsbeteiligte, zum Beispiel im Hinblick auf Sicherheitsleistungen. Unternehmen kann
auf Antrag bewilligt werden, zur
Sicherung der Zollschuld für mehrere Vorgänge oder Verfahren
eine Gesamtsicherheit zu leisten.
Deren Bewilligungsvoraussetzungen knüpfen an die Kriterien für
den AEO-C-Status an. Antragstellern, die diesen Status haben, kann
darüber hinaus eine Gesamtsicherheit mit verringertem Betrag
bewilligt werden – sogar bis auf
0 Euro. Indes wird der AEO-Status künftig an zusätzliche Bewilligungskriterien geknüpft sein.
Zukünftig dürfen keine schwerwiegenden oder wiederholten Verstöße gegen steuerrechtliche Vorschriften vorliegen. Die bisherige
Beschränkung auf zollrechtliche
Vorschriften entfällt.
Verbindliche Statements
Auskünfte. Für Unternehmen
sind verbindliche Zolltarifauskünfte (vZTA) ein wichtiges Instrument, um Rechtssicherheit über
die auf ihre Waren anzuwendenden Einfuhrabgaben zu erlangen.
Die Beantragung einer vZTA war
bisher ohne Risiko, da Wirtschaftsbeteiligte bislang nicht gezwungen
sind, eine ihrer eigenen Auffassung
40 AUSSEN WIRTSCHAFT 1/2016
39-41 unionzollkodex 160205-1454 SG.indd Str-3sp:40
5.2.16 15:03
Der Zoll schlägt zu
Die Beschlagnahme von gefälschten Produkten ist nur eines von vielen Aufgabengebieten.
2012
Anträge auf Grenzbeschlagnahme
Fälle von Grenzbeschlagnahmen
Wert beschlagnahmter Waren in Millionen Euro
Anzahl beschlagnahmter Waren in 1000 Stück
2013
2014
1137
1116
1049
23 883
26 127
45 738
127
134
138
3203
3927
5927
Fotos: dpa/Picture Alliance, Harings
Quelle: Zoll
widersprechende vZTA zu verwenden; rechtlich bindet eine vZTA
nur die Zollbehörde. Das ändert
sich grundlegend. Gemäß Artikel
33 Absatz 2 UZK werden diese Zolltarifauskünfte zukünftig auch für
den Inhaber verbindlich sein. Das
gilt gemäß der Übergangsregelung
in Artikel 252 UZK-DA auch für vor
dem 1. Mai dieses Jahres erteilte
Auskünfte, und zwar für die volle
Gültigkeitsdauer.
Die plötzliche Verbindlichkeit unliebsamer „Alt-vZTA“ wird
nach Inkrafttreten des Unionszollkodexes schwer zu beseitigen sein.
Die einmonatige Einspruchsfrist
gegen die vTZA-Erteilung wird
in der Regel abgelaufen sein. Bislang kommt danach ein Antrag
auf Widerruf der Auskunft in
Betracht mit der Begründung, die
Einreihung sei unrichtig. Folgt
die Behörde dem Antrag, wird
mit Wirkung für die Zukunft die
Wirksamkeit der verbindlichen
Zolltarifauskunft beseitigt.
Dieser Weg dürfte nunmehr
deutlich schwieriger werden.
Denn anders als Artikel 9 ZK regelt
die Nachfolgevorschrift in Artikel
34 Absatz 5 UZK, dass vZTA „nicht
auf Antrag des Inhabers der Entscheidung widerrufen“ werden.
Inhabern „missliebiger“ Alt-vZTA
ist daher dringend dazu zu raten,
noch vor Inkrafttreten des UZK
tätig zu werden.
Zollwertregelungen. Ab dem
1. Mai entfällt die Möglichkeit, bei
der Zollwertanmeldung „Vorerwerberpreise“ zugrunde zu legen.
Kann der Zollwertanmelder bisher zwischen dem Kaufpreis aus
dem grenzüberschreitenden Kaufgeschäft und dem Preis aus einem
vorgelagerten Kaufvertrag wählen, etwa beim Kauf von einem
Zwischenhändler, stellt Artikel
128 UZK-IA zwingend auf den
Verkaufsvorgang unmittelbar vor
Verbringen der Ware in das Zollgebiet ab. Eine Übergangsregelung
gilt für vor dem 18. Januar 2016
geschlossene Verträge. Bei darauf beruhenden Einfuhren ist die
Anmeldung von Vorerwerberpreisen noch bis Ende 2017 möglich.
Negative Vermutung
Eine Änderung mit erheblichen
Auswirkungen betrifft die Einbeziehung von Lizenzgebühren in
den Zollwert. Lizenzgebühren,
die der Käufer in der EU an einen
Dritten, nicht mit dem Verkäufer
verbundenen Lizenzinhaber entrichtet, können nach bisherigem
Recht nur auf den Zollwert aufgeschlagen werden, wenn die Zollbehörde nachweist, dass der Verkäufer die Zahlung verlangt hat. Das
neue Recht kennt diese Nachweispflicht nicht, sondern enthält eine
Vermutung zum Nachteil des Ein-
führers. Wenn der Verkauf oder
Erwerb der Ware ohne Entrichten
von Lizenzgebühren nicht möglich ist, wird künftig vermutet, dass
die Entrichtung der Lizenzgebühr
Vertragsbedingung ist. Dies dürfte
dazu führen, dass insbesondere
bei Waren mit geschützten Markenzeichen stets eine Hinzurechnung erfolgen wird.
Zollverfahren. Künftig enthält der
UZK für alle in Artikel 210 genannten „besonderen Verfahren“ – Versand, Lagerung, Verwendung und
Veredelung – gemeinsame allgemeine Vorschriften. Damit sind
Themen von verfahrensübergreifender Bedeutung übersichtlich
geregelt, etwa Beförderungen im
Rahmen des Verfahrens oder die
Nutzung von Ersatzwaren. Das
Rückerstattungsverfahren bei der
aktiven Veredelung und die Differenzverzollung bei der passiven
Veredelung entfallen ebenso wie
die Freizone Kontrolltyp II und
der Zolllagertyp D. Unternehmen,
die solche Verfahren in Anspruch
nehmen, müssen frühzeitig ihre
Prozesse an die neuen Vorschriften anpassen, um unliebsame
Überraschungen zu vermeiden.
Fazit. Die Einführung des UZK verlangt der Wirtschaft erhebliche
Anpassungen ab. Der Übergang
zum neuen Zollrecht am 1. Mai
wird dabei erst der Anfang eines
längeren Umstellungsprozesses
sein, der sich mit der schrittweisen
Einführung der IT-Systeme bis
mindestens 2020 hinziehen wird.
Bestehende Bewilligungen werden
sukzessive ab Mai an das neue
Recht angepasst. Unternehmen
sollten aber nicht abwarten, bis die
Zollbehörden reagieren, sondern
ihre Prozesse bereits jetzt einer
Prüfung auf erforderliche Veränderungen unterziehen, um so vorbereitet zu sein.
Dr. Lothar Harings
1/2016 AUSSEN WIRTSCHAFT 41
39-41 unionzollkodex 160205-1454 SG.indd Str-3sp:41
5.2.16 15:03
Australien
Kennzahlen
Einwohner:
Fläche:
Einwohner pro km2:
BIP:
Warenimporte:
24 Millionen
7 692 030 km2
3,1
1030 Mrd. EUR
185 Mrd. EUR
Wechselkurs zu EUR:
1,5 AUD/EUR
Währungsreserven:
61 Mrd. EUR
Quellen: CIA Factbook, IWF
Wandel. Nach dem Wechsel des Premierministers
will Australiens Regierung
Reformen vorantreiben.
Die niedrigen Rohstoffpreise sorgen zwar für
Mindereinnahmen, doch
Investitionen und Konsum
gleichen dies aus.
Auf neuem Kurs im Süden
Das Commonwealth of Australia,
so die offizielle Landesbezeichnung, ist der kleinste bewohnte
Erdteil. Die Fläche entspricht etwa
derjenigen der USA ohne Alaska
oder der 22-fachen Deutschlands.
91 Prozent der Bevölkerung waren
beim letzten Zensus im Jahr 2011
europäischer und 7 Prozent asiatischer Herkunft. Die Zahl der Aborigines, der Ureinwohner Austra-
liens, beläuft sich auf etwa 450 000.
Australien ist ein klassisches Einwanderungsland. 30 Prozent der
Bürger sind im Ausland geboren. Lange Zeit dominierte die
Zuwanderung aus Europa; mittlerweile hat Asien die führende Rolle
übernommen. Von den 24 Millionen Einwohnern leben 92 Prozent
an der Küste. Klimawandel, Dürren, Buschfeuer, aber auch Überschwemmungen sind Problemfelder der Umweltpolitik.
Der Staat
1901 formierte sich aus dem
Zusammenschluss der sechs
unabhängigen britischen Kolonien des Kontinents das Commonwealth of Australia. Es erhielt 1907
die informelle und 1931 die formale Unabhängigkeit. Die Legislative liegt beim Bundesparlament
mit Sitz in Canberra. Es setzt sich
aus dem Repräsentantenhaus und
dem Senat zusammen. Das Reprä-
Foto: Getty Images
Das Land
42 AUSSEN WIRTSCHAFT 1/2016
42-45 lp australien 160205-1459 SG.indd Land:42
5.2.16 15:03
LÄNDERPORTRÄT
sentantenhaus mit 150 Abgeordneten wird alle drei Jahre neu
gewählt. Sein Vorsitzender ist der
Premierminister. Die 76 Senatoren
werden für sechs Jahre gewählt;
alle drei Jahre wird die Hälfte der
Posten neu besetzt.
Verfassungsänderungen bedürfen der absoluten Mehrheit in beiden Häusern und der Bestätigung
durch Volksabstimmungen in den
sechs Bundesstaaten. Staatsoberhaupt ist die englische Königin,
vertreten durch den Generalgouverneur. Nach einem ungeschriebenen Gesetz macht der Generalgouverneur von seinen politischen
Rechten nur nach Rücksprache mit
Premier und Kabinett Gebrauch.
Die Zentralregierung ist für Äußeres, Verteidigung, Außenhandel,
Verkehr, Sozialfürsorge, Zölle und
Münzwesen zuständig. Die Bundesstaaten haben eigene Parlamente
und weitreichende Kompetenzen
in den anderen Rechtsbereichen.
Die politische Lage
In einer parteiinternen Abstimmung über den Parteivorsitz
setzte sich im September 2015
Malcolm Turnbull gegen den Parteichef und Premierminister Tony
Abbott mit 54 zu 44 Stimmen
durch. Entsprechend dem Brauch
in Australien führte das auch zum
Wechsel der politischen Führung
des Landes. Die in Koalition mit
drei anderen Parteien regierende
Liberale Partei reagierte mit diesem Wechsel auf einen dramatischen Vertrauensverlust. Umfragen im Sommer hatten ergeben,
dass 63 Prozent der Bevölkerung
mit der Regierungspolitik von
Tony Abbott unzufrieden waren.
Der Unternehmer Malcolm
Turnbull, dessen Ehefrau Präsidentin der Deutsch-Australischen
Industrie- und Handelskammer
ist, soll nun die Parlamentswahlen, die bis spätestens Januar 2017
durchgeführt werden müssen, für
die Liberalen gewinnen. Premier
Turnbull will im Gegensatz zu den
Plänen Abbotts die wegen rückläufiger Staatseinnahmen erforderlichen Einschränkungen im Staatsund Sozialhaushalt moderater
gestalten und dafür ein höheres
Haushaltsdefizit in Kauf nehmen.
Vorgesehen sind zudem ein
Wirtschaftsförderprogramm, die
Anhebung der Mehrwertsteuer
von 10 auf 15 Prozent und reduzierte Sätze bei der Einkommensteuer. Eine weitere Initiative soll
die ausländischen Investitionen
steigern. Von der schnellen Umset-
Premierminister
Malcolm Turnbull
hat sich im Machtkampf gegen seinen
innerparteilichen
Kontrahenten und
Amtsvorgänger Tony
Abbott durchgesetzt.
1|2016
Beitrag zum BIP
Rohstoffreichtum und Landwirtschaft bleiben das Rückgrat von Australiens Wirtschaft.
Primärsektor
Sekundärsektor
4
29
Tertiärsektor
67
Angaben in Prozent. Quelle: CIA Factbook
BIP pro Kopf
Geringere Exporterlöse und ein schwächerer
Dollar reduzieren das Pro-Kopf-Einkommen.
2013
64 271
2014
61 066
2015*
51 600
2016*
51 300
* = Prognose. Angaben in US-Dollar. Quelle: IWF
zung dieser Pläne und der Verbesserung der Wirtschaftslage hängt
der Wahlerfolg entscheidend ab.
Die Wirtschaft
Über Jahre profitierte Australien
dank seiner umfangreichen Rohstoffvorkommen von der expandierenden Weltwirtschaft, insbesondere von der starken Nachfrage
Chinas. Die OECD prognostizierte
Australien eine rosige Zukunft, die
sich jedoch infolge der rückläufigen Rohstoffnachfrage und des
Verfalls der Preise eingetrübt hat.
Nachteilig dürfte sich das niedrigere Wachstum in China auswirken. Der 18. Nationalkongress der
Volksrepublik plant für seinen
nächsten Fünfjahresplan eine
Reduzierung der realen Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) auf 6,5 Prozent im Jahr.
1/2016 AUSSEN WIRTSCHAFT 43
42-45 lp australien 160205-1459 SG.indd Land:43
5.2.16 15:03
LÄNDERPORTRÄT [ Australien ]
Australien verfügt über riesige,
zum großen Teil noch unerschlossene Rohstoffvorkommen, darunter Kohle, Kupfer, Eisenerz, Uran,
Seltene Erden und andere Mineralien. Über 50 Prozent der Exporte
entfallen auf Rohstoffe. Einen Aufschwung nahm in den letzten Jahren auch die Landwirtschaft mit
Absatzmärkten vor allem in Asien.
Kontinuierlich hohe Investitionen
in den Bergbau sowie eine liberale
Immigrationspolitik schufen nach
Einschätzung der OECD zusätzliches Wachstumspotenzial.
Die Zukunftsaussichten hängen davon ab, ob es der Regierung
gelingen wird, die fallenden Erlöse
aus dem Rohstoffgeschäft anderweitig zu kompensieren. Infrage
kommen sowohl Aufgaben in der
Verbesserung der landesweiten
Infrastruktur als auch Investitionen zum Ausbau im Flüssiggassektor, der wegen der kurzen Wege
zu den asiatischen Abnehmerländern Expansionschancen bietet.
Nachholbedarf besteht auch im
Bereich alternativer Energien. Auf
die internationale Kritik wegen
der schlechten Umweltbilanz des
BIP-Wachstum
Staatsschulden
Konstantes Wachstum bei niedriger Inflation und stabiler Lage auf dem Arbeitsmarkt.
Trotz steigender Infrastrukturausgaben
nimmt die Staatsverschuldung kaum zu.
7
40
6
35
30
5
25
4
20
3
15
10
2
5
1
0
0
–5
2013
2014
2015*
2016*
2013
2014
2015*
2016*
Wachstum BIP
Arbeitslosenquote
Inflationsrate
* = Prognose; Angaben in Prozent. Quelle: IWF
Staatsverschuldung
Haushaltssaldo
* = Prognose; Angaben in Prozent des BIP. Quelle: IWF
Landes reagierte die neue Regierung mit der Ankündigung eines
Reformprogramms.
Australien hat sich wie andere
westliche Industrieländer auch
zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt. Zusätzliche
Beschäftigung wird vor allem in
den Bereichen Gesundheitswesen, Einzelhandel, Transport und
Finanzdienstleistungen generiert.
Trotz Förderprogrammen der
Regierung geht der Anteil des verarbeitenden Gewerbes am BIP
zurück und beträgt inzwischen
weniger als 7 Prozent. Der Sektor
beschäftigt nur noch knapp 8 Prozent der Arbeitnehmer. Den oft
kleineren Industriebetrieben mangelt es an Kapital für Investitionen.
Die Konjunktur
Seit zwei Jahren liegt das Wirtschaftswachstum unter dem
mehrjährigen Trend. Schwäche
zeigt zum einen die inländische
Nachfrage, die 2015 um weniger
als 1 Prozent zunahm. Das spiegelt
die allgemeine Verunsicherung
und gebremste Lohnzuwächse
wider. Allerdings weist Austra-
IM SPIEGEL DER KENNZAHLEN
Flaute auf den Rohstoffmärkten mit begrenzten Folgen
Australien nimmt fast durchweg Spitzenplätze in den internationalen Wirtschaftsranglisten ein. Sehr gut ist die Einstufung im Länderbonitätsvergleich des „Institutional
Investor“. Dort rangiert Australien auf Platz zwölf, vor Großbritannien und Frankreich. Im Global Competitiveness
Index des Weltwirtschaftsforums wird Rang 21 durch gute
Noten in praktisch allen relevanten Kategorien erreicht.
Hervorzuheben sind Bildung, die Entwicklung des Finanzmarkts und die Effizienz des Arbeitsmarkts. Wegen des
Verfalls der Rohstoffpreise wird bei den Anstrengungen
zur Diversifizierung der Wirtschaft ein Nachholbedarf konstatiert. Den guten Platz im Doing-Business-Report der
Weltbank beeinträchtigen lediglich negative Einstufungen
bei der Stromversorgung, beim Schutz von Minderheitsbeteiligungen und bei der Registrierung von Eigentum.
Deutlich besser steht es um die Voraussetzungen für den
Geschäftsstart, die Kreditversorgung und die Insolvenzordnung. Erwartungsgemäß gut ist mit Rang elf die Einstufung im Korruptionsindex von Transparency International.
Rangliste
Platz
Länderzahl
Doing-Business-Report
10
189
Global Competitiveness Index
21
140
Corruption Perceptions Index
11
175
Institutional Investor
12
179
Quellen: Weltbank, WEF, TI, Institutional Investor
44 AUSSEN WIRTSCHAFT 1/2016
42-45 lp australien 160205-1459 SG.indd Land:44
5.2.16 15:03
Handel mit Deutschland
Außenbilanz
Die Bundesrepublik hat gute Chancen, in der
Rangliste der Handelspartner aufzusteigen.
Anhaltend hohe ausländische Investitionen
gleichen die defizitäre Leistungsbilanz aus.
9
80
8
60
7
40
6
20
5
4
0
3
– 20
2
– 40
1
0
2013
2014
2015*
2016*
– 60
2013
2014
2015*
2016*
Einfuhr
Ausfuhr
Saldo aus deutscher Sicht
* = Prognose; Angaben in Milliarden Euro. Quelle: Destatis
Handelsbilanz
Leistungsbilanz
Währungsreserven
* = Prognose; Angaben in Milliarden US-Dollar. Quelle: IWF
lien mit knapp 52 000 US-Dollar
nach wie vor eines der höchsten
Pro-Kopf-Einkommen auf. Bremsend wirken sich auch rückläufige
private Investitionen aus, die 2015
um 6 Prozent unter dem Vorjahreswert blieben. Für 2016 erwartet der IWF bei Privatinvestitionen
einen leichten Anstieg. Nach Prognosen des IWF wird das reale
BIP dieses Jahr um 2,9 Prozent
wachsen, nach einem Plus von
2,4 Prozent 2015. Bis 2020 wird
ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum von rund 3 Prozent im
Jahr prognostiziert.
Angesichts rückläufiger Steuereinnahmen aus Rohstoffverkäufen verbuchen die öffentlichen
Haushalte weniger Einnahmen.
Die Preisindizes für wichtige Rohstoffe sind teilweise um zwei Drittel gesunken. Ob sich das Land
nachhaltig auf einem reduzierten Einkommensniveau stabilisiert, wird auch davon abhängen,
inwieweit die neue Regierung ihre
Reformprogramme zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit
rasch umzusetzen vermag. Die
Aufwendungen für die ambitionierten Programme der Verkehrsinfrastruktur sollen trotz steigender Staatsverschuldung wie
geplant durchgeführt werden.
Trotz der eingetrübten Konjunkturlage bleibt der Arbeitsmarkt
von Verwerfungen verschont.
Hatte die Arbeitslosenquote 2013
bei 5,6 Prozent gelegen, verlief der
Anstieg auf 6,3 Prozent seither
moderat. Für die nächsten Jahre
ist wieder ein leichter Rückgang
zu erwarten. Wegen der Knappheit an Fachkräften werden die
Löhne auch künftig stärker steigen als das reale BIP. Für 2016 und
2017 könnte der Anstieg rund 3,5
Prozent erreichen und die durchschnittliche Preissteigerung um
rund 1 Prozentpunkt übertreffen.
Die Außenwirtschaft
Die internationalen Institutionen
gehen davon aus, dass sich die
Preisflaute an den Rohstoffmärkten fortsetzen wird. Das Volumen
der Exporte des Landes geht wegen
der guten Wettbewerbsstellung
australischer Rohstoffkonzerne
allerdings nicht so stark zurück,
wie dies gemäß den Marktanteilen zu erwarten wäre. Steigende
Gasexporte dämpfen zudem den
Abschwung, und die Nahrungsmittelexporte expandieren.
Deutschland belegt Rang fünf
der wichtigsten Lieferländer,
könnte aber in den nächsten Jah-
ren aufrücken. So liegen deutsche
Firmen gut im Rennen um Ausschreibungen zur Modernisierung
der Verteidigungskräfte, ebenso
im Bereich Umwelttechnik, dessen
Stellenwert durch den Wechsel an
der Regierungsspitze zugenommen hat. Das Angebot, Arbeitsplätze vor Ort zu schaffen, verbessert die Chance auf Zuschläge.
2014 exportierte Australien
Güter im Wert von 240 Milliarden US-Dollar und führte Waren
für 227 Milliarden US-Dollar ein.
2015 ging der Ausfuhrwert um
rund ein Zehntel zurück, und auch
im Jahr 2016 ist mit einer leichten
Abnahme zu rechnen. Die Handelsbilanz ist dadurch defizitär geworden. Deutlich im Minus bleibt die
Leistungsbilanz. Ihr Defizit wird
aber durch ausländische Investitionen weitgehend kompensiert.
Der Finanzstatus
Die niedrige Staatsverschuldung
von weniger als 40 Prozent und der
Rohstoffreichtum des Landes stärken weiterhin das Vertrauen ausländischer Investoren. Die Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits durch Importkapital stellt
damit kein Problem dar. Zudem
stehen Währungsreserven von 70
Milliarden US-Dollar zur Verfügung. Australiens Finanzstatus ist
damit über jeden Zweifel erhaben.
Zwar weist der öffentliche Haushalt seit 2008 ein Defizit auf. Unterstützt von einer Steuerreform soll
das Haushaltsdefizit mittelfristig
jedoch wieder gegen null gehen
oder einen leichten Überschuss
aufweisen.
Manfred Kurz
Weitere Infos
Deutsch-Australische Industrie- und
Handelskammer
Executive Director: Kristian Wolf
[email protected], www.australien.ahk.de
1/2016 AUSSEN WIRTSCHAFT 45
42-45 lp australien 160205-1459 SG.indd Land:45
5.2.16 15:03
Türkei
Kennzahlen
Einwohner:
78 Millionen
Fläche:
783 562 km2
Einwohner pro km :
2
1000
BIP:
630 Mrd. EUR
Warenimporte:
189 Mrd. EUR
Wechselkurs zu EUR:
3,18 TRY/EUR
Währungsreserven:
123 Mrd. EUR
Quellen: CIA Factbook, IWF, türkische Nationalbank
Risiken. Der wirtschaftliche Schwung der Türkei
hat zuletzt deutlich
nachgelassen. Das Wirtschaftswachstum beträgt
nur noch rund 3 Prozent.
International gerät die
Regierung mit ihrer
Syrien-Politik unter Druck.
Im Schatten der Krisenherde
Die Türkei erstreckt sich über zwei
Kontinente. Anatolien, der asiatische Teil, nimmt 97 Prozent des
Staatsgebiets ein. Nur 3 Prozent
des Landes, das durch das Marmarameer und den Bosporus von
Asien getrennt ist, gehören geografisch zu Europa. Gleichwohl lebt
rund ein Viertel der Bevölkerung
in dieser relativ hoch entwickelten Region, insbesondere im Groß-
raum Istanbul, mit mehr als 14
Millionen Einwohnern die größte
Stadt des Landes. Die Bevölkerung
im asiatischen Teil konzentriert
sich in der Hauptstadt Ankara
mit fünf Millionen Einwohnern
und den Städten der Westküste.
Bei einem Bevölkerungswachstum von jährlich 1,3 Prozent wird
die Einwohnerzahl von derzeit 78
Millionen in wenigen Jahren diejenige Deutschlands übersteigen.
Die demografische Struktur der
Türkei ist günstig: Mehr als zwei
Drittel sind im erwerbstätigen
Alter von 15 bis 65 Jahren.
Der Staat
Mustafa Kemal Atatürk gründete
die Republik Türkei am 29. Oktober 1923 als Nachfolgerin des
Osmanischen Reichs. Sie basiert
bislang auf den Prinzipien des
nach ihm benannten Kemalismus.
Dazu gehört die strikte Trennung
Foto: Getty Images
Das Land
46 AUSSEN WIRTSCHAFT 1/2016
46-49 lp tuerkei 160205-1459 SG.indd Land:46
5.2.16 15:03
LÄNDERPORTRÄT
von Staat und Religion, die in den
letzten Jahren jedoch aufgeweicht
wurde. Auch die einst starke Stellung des Militärs, das sich seit
Staatsgründung als Wächter des
Kemalismus verstand, wurde
durch die lange Zeit regierende
Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und ihren Anführer Recep Tayyip Erdoğan beseitigt.
Das Land ist in 81 Provinzen
gegliedert, deren Gouverneure von
der Zentralregierung in Ankara
ernannt werden. Der Staatspräsident wird in allgemeiner Direktwahl auf fünf Jahre gewählt,
wobei eine einmalige Wiederwahl
möglich ist. Die 550 Abgeordneten
des Parlaments werden alle vier
Jahre nach dem Verhältniswahlrecht neu gewählt. Für Parteien gilt
eine 10-Prozent-Hürde. Das aktive
Wahlalter beträgt 18, das passive
25 Jahre. Es besteht Wahlpflicht.
Seit 2008 können auch im Ausland lebende Türken wählen.
Die politische Lage
Innenpolitisch brachte 2015 zwei
Parlamentswahlen. Die erste im
Juni erwies sich für die bis dahin
allein regierende AKP als Reinfall. Mit 40,9 Prozent der Stimmen wäre sie erstmals seit ihrem
Wahlerfolg im Jahr 2002 auf einen
Koalitionspartner zur Regierungsbildung angewiesen gewesen.
Diverse von der Verfassung vorgeschriebene Koalitionsverhandlungen scheiterten.
Beim zweiten Urnengang am
1. November, der nach kritischer
Beurteilung von OSZE und Europarat von massiver medialer Einflussnahme zugunsten der AKP geprägt
war, gelang es dieser, die absolute
Mehrheit der Parlamentssitze zu
erringen. Das große Ziel des 2014
vom Amt des Premiers in die Funk-
BIP pro Kopf
Beitrag zum BIP
Die Lira-Abwertung führt zum Rückgang
des Pro-Kopf-Einkommens.
Die Modernisierung der Industrie und der
Ausbau der Infrastruktur haben Priorität.
2013
10 821
2014
10 380
2015*
9300
2016*
9200
Primärsektor
Sekundärsektor
1|2016
8
28
Tertiärsektor
64
* = Prognose; Angaben in US-Dollar. Quelle: IWF
Angaben in Prozent. Quelle: CIA Factbook
tion des Präsidenten gewechselten
AKP-Führers Erdoğan, in der Türkei ein Präsidialsystem mit ihm
als starkem Mann zu installieren,
steht allerdings auf der Kippe. So
fehlen der AKP 13 Sitze, um das
neue System installieren zu können. Die neben der AKP drei anderen im Parlament vertretenen
Parteien sind gegen das Präsidialsystem, das ihnen unter dem dann
regierenden Präsidenten Erdoğan
noch weniger Einflussmöglichkeiten bieten würde als bisher.
Ansonsten bestimmt der Bürgerkrieg in den Nachbarländern
Syrien und Irak die politische
Lage. Die Türkei wurde im Ver-
lauf des vergangenen Jahres zu
einem Transitland für Migranten
mit dem Ziel Europa. Um die Türkei zu veranlassen, den Zustrom
wirksam zu begrenzen, erklärte
sich die EU neben umfangreichen
finanziellen Mitteln bereit, auch
über Visumerleichterungen und
sogar die Belebung der EU-Beitrittsverhandlungen zu sprechen.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan will
mehr politischen Einfluss für die Türkei.
Die Wirtschaft
Mit einem jährlichen Pro-KopfEinkommen von 9300 US-Dollar
im Jahr 2015 liegt die Türkei auf
der Wohlstandsskala noch vor
einigen EU-Ländern, musste aber
in den letzten drei Jahren wegen
der kontinuierlichen Abwertung
der Türkischen Lira Abstriche hinnehmen. Um das zu verschleiern,
berechnet die Regierung neuerdings das Pro-Kopf-Einkommen
nach Kaufkraftparitäten, wodurch
sich der Wert in der offiziellen Statistik zum ursprünglichen Ergebnis mehr als verdoppelt. Der Anteil
der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt rund
8 Prozent; sie beschäftigt ein Viertel der Arbeitskräfte. Dominiert
wird die Wirtschaft von Dienstleistungen, die 64 Prozent zum
BIP beisteuern. Die Industrie hat
zusammen mit dem stark wachsenden Bausektor einen Anteil
1/2016 AUSSEN WIRTSCHAFT 47
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5.2.16 15:03
LÄNDERPORTRÄT [ Türkei ]
von 28 Prozent an der wirtschaftlichen Produktionsleistung.
Bis vor wenigen Jahren war die
Textil- und Bekleidungsindustrie
die mit Abstand größte Branche.
Sie leidet aber spürbar unter der
asiatischen Billiglohnkonkurrenz.
Überholt wurde die Textilindustrie inzwischen von der Automobilund der Elektronikindustrie. Die
Förderung von Investitionen steht
bei der Regierung ganz oben auf
der Agenda. Zu den vordringlichsten Projekten zählen die Modernisierung der Industrie, der Ausbau
der Infrastruktur und die Verbesserung der Energieversorgung.
Die Türkei besitzt eine breite
Palette mineralischer und agrarischer Rohstoffe. Zudem wächst
ihre Rolle als Transitland für Erdgas aus dem kaspischen und zentralasiatischen Raum. Die mit Russland geplante Pipeline Turkish
Stream steht seit dem militärischen Konflikt im November 2015
allerdings auf der Kippe. Der EUBeitritt war dagegen einige Zeit in
den Hintergrund gerückt; er avancierte dafür zuletzt zu einem der
Preise für die Kooperation der Tür-
BIP-Wachstum
Staatsschulden
Die wirtschaftliche Expansion der Türkei ist
gebremst, die Arbeitslosigkeit nimmt zu.
Das eingetrübte Wirtschaftsklima belastet
den Finanzstatus des Landes.
12
40
35
10
30
8
25
20
6
15
4
10
5
2
0
0
2013
2014
2015*
2016*
–5
2013
2014
2015*
2016*
Wachstum BIP
Arbeitslosenquote
Inflationsrate
* = Prognose; Angaben in Prozent. Quelle: IWF
Staatsverschuldung
Haushaltssaldo
* = Prognose; Angaben in Prozent des BIP. Quelle: IWF
kei mit der EU bei der Bewältigung
der Migrationsströme.
Ein fundamentales Problem
der Türkei sind die starken wirtschaftlichen Unterschiede zwischen dem europäischen Teil des
Landes, der Region um Ankara
sowie der vom Tourismus geprägten Südküste einerseits und dem
Osten des Landes andererseits.
zent, so hat sich das Wachstum
seitdem spürbar verringert und
erreicht durchschnittlich nur noch
3 Prozent. Wirtschaftliche Einbrüche in wichtigen Absatzmärkten
waren die Ursache. Fiskalpolitische Wahlgeschenke verdoppelten
2015 zwar die Zuwachsrate des privaten Verbrauchs auf rund 3 Prozent, und ein Investitionsförderprogramm sorgte für zusätzliche
Nachfrageimpulse. Dies schlug
sich jedoch nicht merklich im realen BIP nieder.
Für 2016 erwarten Regierung
und IWF beim privaten Verbrauch
Die Konjunktur
Stieg das reale Bruttoinlandsprodukt der Türkei in den Jahren 2010
und 2011 noch um rund 9 ProIM SPIEGEL DER KENNZAHLEN
Ein leichter Abwärtstrend für die Türkei
In den wichtigsten Wirtschaftsranglisten findet sich
die Türkei durchweg im Mittelfeld. Platz 55 belegt das
Land im Doing-Business-Report der Weltbank mit Stärken bei der Umsetzung von Verträgen, der Stromversorgung und beim Schutz von Minderheitsinvestoren, aber
auch eklatanten Schwächen bei der Insolvenzordnung,
der Umsetzung von Baugenehmigungen und im Außenwirtschaftsverkehr. Im Global Competitiveness Index des
World Economic Forum, in dem das Land um sechs Plätze
zurückfiel, enttäuscht die Türkei in fast allen Kategorien,
die den Status der Wettbewerbsfähigkeit ausmachen, insbesondere bei der Effizienz des Arbeitsmarkts. Negativ zu
Buche schlagen die gesamtwirtschaftliche Lage und vor
allem die geopolitische Belastung durch die Krise in der
Region. Bemängelt wird nach wie vor eine gewisse Korruptionsanfälligkeit; Transparency International stuft das
Land noch hinter zahlreichen Entwicklungsländern ein.
Leicht verschlechtert hat sich Bewertung im Länderbonitätsranking des „Institutional Investor“ mit Platz 60.
Rangliste
Platz
Doing-Business-Report
Länderzahl
55
189
Global Competitiveness Index
51
140
Corruption Perceptions Index
64
175
Institutional Investor
60
179
Quellen: Weltbank, WEF, TI, Institutional Investor
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Handel mit Deutschland
Außenbilanz
Vom Ausbau der Infrastruktur könnten
deutsche Unternehmen profitieren.
Geringes Wachstum in Europa und die
Russlandsanktionen belasten die Exporte.
25
150
20
100
15
50
10
0
5
– 50
Einfuhr
Ausfuhr
Saldo aus deutscher Sicht
* = Prognose; Angaben in Mrd. Euro. Quelle: Destatis
Handelsbilanz
Leistungsbilanz
Währungsreserven
* = Prognose; in Mrd. US-Dollar. Quellen: IWF, Türk. Statistikamt
ein ähnliches Ergebnis. Die BIPPrognose wurde allerdings von der
Regierung bereits von 4 auf 3 Prozent zurückgenommen. Angesichts der unruhigen Lage durch
die kriegerischen Auseinandersetzungen in den Nachbarländern
Syrien und Irak ist diese Prognose
vermutlich noch zu hoch, zumal
auch die russischen Wirtschaftssanktionen 2016 belastend wirken werden.
Nachdem die Inflationsrate von
8,9 Prozent 2014 auf 7,4 Prozent
im vergangenen Jahr gesunken
ist, wird vom IWF für 2016 zwar
eine leichte Verringerung erwartet. Wegen der nach wie vor leichter tendierenden Lira wirkt sich
der starke Rückgang der Rohstoffpreise, insbesondere der Ölnotierungen, aber nicht entsprechend
in der Statistik aus.
Das Wirtschaftsprogramm der
Regierung legt einen Schwerpunkt
auf Projekte mit hohem inländischen Wertschöpfungsanteil. Das
konnte aber nicht verhindern,
dass die Arbeitslosenquote von
9 Prozent im Jahr 2013 auf fast
11 Prozent im vergangenen Jahr
stieg und nach Prognosen des
IWF 2016 nochmals zulegen wird.
Auch hier könnten sich die russischen Wirtschaftssanktionen, die
insbesondere die personalintensiven Bereiche Tourismus und
Landwirtschaft betreffen, negativ
auswirken. Der Anteil russischer
Urlauber lag bisher immerhin bei
10 Prozent aller Touristen. Rund
ein Drittel der russischen Nahrungsmittelimporte kam 2015 aus
der Türkei.
Dollar ins Land, werden 2016 deutlich weniger Zuflüsse erwartet.
Wichtigste Exportgüter sind
Textilien und Bekleidung, KfzTeile und Nahrungsmittel. Die
EU ist wichtigster Absatzmarkt;
Deutschland ist mit 9,5 Prozent mit
Abstand größtes Exportziel. Es folgen Russland, der Irak und die USA.
Bei den Importen entfallen annähernd drei Viertel auf Mineralölprodukte, sonstige Energieträger
und industrielle Halbwaren. Der
Warenaustausch mit Deutschland
war zuletzt rückläufig. In die Bundesrepublik werden vor allem Textilien und Bekleidung, Autoteile
sowie Nahrungsmittel exportiert.
Eingeführt werden insbesondere
Maschinen, Elektrotechnik, Autoteile sowie chemische Erzeugnisse.
In der Umwelt- und Elektrotechnik werden die besten Geschäftschancen prognostiziert.
Die Außenwirtschaft
Der Finanzstatus
Die türkische Handelsbilanz lag
2015 mit rund 80 Milliarden USDollar im Minus, die Leistungsbilanz mit 40 Milliarden US-Dollar.
Diese Schieflage wird sich voraussichtlich 2016 weiter verschlechtern. Mit Russland, dem bisher
zweitwichtigsten Handelspartner,
werden bis auf Weiteres weniger Geschäfte möglich sein. Eine
abwertende Lira und die eher flache Konjunkturentwicklung in
der EU belasten ebenfalls. Grundsätzlich werden der Türkei wegen
des großen Binnenmarkts, der
Energie-Intensität der Wirtschaft
und des davon ausgehenden
Importsogs in den kommenden
Jahren defizitäre Außenbilanzen nicht erspart bleiben. Schwächer tendieren auch ausländische
Direktinvestitionen. Kamen 2012
und 2013 noch 13 Milliarden US-
Mit dem Defizit in der Leistungsbilanz bleibt der hohe externe
Finanzierungsbedarf bestehen.
Der IWF warnt vor einer fortgesetzten Finanzierung von Investitionen und des Konsums mithilfe
einer wachsenden Verschuldung
im Ausland. Diese ist von 389 Milliarden US-Dollar Ende 2013 auf
inzwischen 420 Milliarden USDollar gestiegen. Der Zinssatz von
rund 10 Prozent für zehnjährige
Staatsanleihen kann deshalb als
Risikoprämie für den Finanzstatus
der Türkei gewertet werden. Für
Zinsen und Tilgungen muss ein
Viertel der Exporteinnahmen aufManfred Kurz
gebracht werden.
0
2013
2014
2015*
2016*
– 100
2013
2014
2015*
2016*
Weitere Infos
Deutsch-Türkische Industrie- und
Handelskammer
Geschäftsführer: Jan Nöther
[email protected], www.dtr-ihk.de
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1|2016
KOLUMNE [ Polen interkulturell ]
Der deutsche Manager
Während es für Deutsche selbstverständlich
in der polnischen Nieist, auf der Sachebene
derlassung des Autooffen und kontrovers
mobilbauers ist verzu diskutieren, wird
ärgert: Zeitplan und
Kritik in Polen leicht als
Vorgehensweise für
Angriff auf die Person
den neuen Großaufinterpretiert. Schwietrag waren im gestririgkeiten werden daher
gen Meeting minutiös
nur indirekt oder im verund einvernehmlich
abgestimmt und verabtraulichen Vier-Augenschiedet worden. Das
Gespräch genannt.
Protokoll ist bereits
Äußerst wichtig ist es,
geschrieben. Und nun
Brigitte Hild, Going Global, München, unterstützt international tätige Firmen bei der
dabei nicht bessersitzt ihm sein polniBetreuung ihrer Auslandsmitarbeiter durch
Informationen, Coaching und Beratung.
wisserisch aufzutreten,
scher Chefingenieur
um das Ehrgefühl des
gegenüber und erläutert detailliert, warum das Projekt zum Gegenübers nicht zu verletzen. Das gilt
Scheitern verurteilt sei. Gestern hatte er aufgrund der Historie ganz besonders im
die allgemeine Linie im Team mit vertre- deutsch-polnischen Kontakt. Die große
ten. Warum jetzt dieser Sinneswandel?
Bedeutung, die dem harmonischen Miteinander beigemessen wird, zeigt sich
Der polnische Ingenieur kann den Ärger, auch in der Haltung, das Gespräch der
der ihm entgegenschlägt, nicht nach- Schriftform vorzuziehen. E-Mails, Vervollziehen. Er mag und schätzt seinen träge, schriftliche Anweisungen: Sie alle
Chef. Daher wäre es ihm nie in den Sinn gelten zunächst als Diskussionsgrundgekommen, dessen Kompetenz durch lage, die auf jeden Fall noch einmal besprooffenen Widerspruch vor aller Augen chen und flexibel gehandhabt wird, denn
infrage zu stellen – auch wenn ihm am Ende zählt einzig das Ergebnis, nicht
bereits gestern klar war, dass die Pla- der Weg dorthin. Auch wenn diese Einnung große Schwachstellen hat. Doch stellung die Geduld sach- und prozesswenn der Chef seine Warnung nicht orientierter Deutscher immer wieder auf
zu schätzen weiß, wird er die Dinge in die Probe stellt: Polnischer Pragmatismus
Zukunft eben laufen lassen.
führt sicher zum Ziel.
Foto: Uwe Nölke
Pragmatisch und loyal
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