Radikalenerlaß«

Werbung
BRD
»Radikalenerlaß«
»Der (Radikalen)Erlaß wurde zu
einem der bekanntesten symbolischen Akte der Unterdrückung; er
richtete sich hauptsächlich gegen
Kommunisten – man bezeichnete
sie als Extremisten oder Radikale –, die Arbeit im öffentlichen
Sektor suchten. Obwohl er auch
für Neofaschisten galt, waren
wenige davon betroffen. Dieser
Erlaß vergiftete das innere Klima
und läutete ein Jahrzehnt der
Proteste, Demonstrationen, politischen Erklärungen und gerichtlichen Entscheidungen ein.«
(Gerard Braunthal, Politische
Loyalität und Öffentlicher
Dienst, Marburg 1992, S. 9)
»Artikel 3
(3)
Niemand darf wegen … seiner religiösen
oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
Artikel 5
(1)
Jeder hat das Recht, seine Meinung in
Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu
verbreiten …
(3)
Kunst und Wissenschaft, Forschung und
Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
Artikel 12
(1)
Alle Deutschen haben das Recht, Beruf,
Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu
wählen. Die Berufsausübung kann durch
Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
(2)
Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit
gezwungen werden, außer im Rahmen
einer herkömmlichen allgemeinen, für alle
gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.
Artikel 21
(1)
Die Parteien wirken bei der politischen
Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß
demokratischen Grundsätzen entsprechen
…
(2)
Parteien, die nach ihren Zielen oder nach
dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische
Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu
beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind
verfassungswidrig …«
144
Das Grundgesetz ermöglicht dem Bürger Meinungs- und Gedankenfreiheit. Er hat im Rahmen der bestehenden Gesetze das Recht, seine
Meinung in Wort, Schrift und Bild zu äußern.
Er darf für seine politischen Ziele in einer
Organisation oder in einer Partei arbeiten und
werben, wenn diese nicht gegen die Verfassungsgrundsätze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verstößt. Politisch radikal eingestellte Bürger, die dem herrschenden
System aus ganz unterschiedlichen Gründen
kritisch bis ablehnend gegenüberstehen, haben
also von den Staatsorganen solange nichts zu
befürchten, als sie dem Staat nicht schaden.
Problematisch wird es für sie allerdings, wenn
sie trotz ihrer systemablehnenden Haltung in
den Staatsdienst aufgenommen werden wollen. Denn dann kann es vorkommen, daß der
Staat die »Loyalität« des Bewerbers prüft und
ihn im Falle »politischer Illoyalität« als Gefahr
ablehnt und ausgrenzt. Aus der Sicht der Kritiker stellt diese Praxis einen Verstoß gegen die
Grundrechte, eine »Diskriminierung« dar.
Anfang der 70er Jahre gab es Überlegungen
in der Politik, ob man Mitgliedern von linksund rechtsradikalen Parteien, die als verfassungsfeindlich eingeschätzt wurden, aber nicht
verboten waren, den Zugang zum Öffentlichen
Dienst verwehren solle. 1972 wurde per Dekret
der Bundesregierung die Überprüfung zur verbindlichen Praxis bei der Einstellung von
Staatsbediensteten. Nur wenige Regierungsmaßnahmen in der Geschichte der Bundesrepublik waren so umstritten und von derart heftigen und emotionalen Diskussionen begleitet
wie dieser ministerielle Erlaß über die Beschäftigung von Links- und Rechtsradikalen. Er trug
den sperrigen Titel »Grundsätze zur Frage der
verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen
Dienst«, im Volksmund hieß er einfach »Radikalenerlaß« oder »Berufsverbot«. 3,5 Millionen
Menschen wurden seit 1972 einer »Sicherheitsüberprüfung« unterzogen, und in etwa
10.000 Fällen wurden der Eintritt in den bzw.
das Verbleiben im Öffentlichen Dienst untersagt. Es gab 130 Entlassungen.
Die »Berufsverbote«, von denen vor allem
Kommunisten und andere Linke betroffen
wurden, waren einmalig in der Europäischen
Gemeinschaft und wurden in internationalen
Gremien als Verletzung der Menschenrechte
gewertet. Den Kritikern, die die Verfassungsmäßigkeit anzweifelten, gab Ende der 80er
»RADI KALE N E RLASS«
Abb. 1
Weg mit den Berufsverboten –
Sichert die Grundrechte
Um 1975
Entwurf: Walter Kurowski
Abb. 2
The Hamburger Radikalenerlaß
1976
Entwurf: Kurt Jotter
Jahre der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte insofern recht, als er im Falle einer
entlassenen (und später wieder eingestellten)
Lehrerin, die DKP-Mitglied war, einen Verstoß
gegen die Artikel 10 und 11 der Europäischen
Menschenrechtskonvention (Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit) feststellte.
Die Bereitschaft, die Verfassungstreue der
Angehörigen im Öffentlichen Dienst zu über-
prüfen, hat in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Nach der Vereinigung 1989 erlangte
die Überprüfungspraxis in den Beitrittsländern
neuerlich Bedeutung, denn man wollte verhindern, daß Anhänger des DDR-Regimes, vor
allem aber ehemalige Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes in den Öffentlichen Dienst
übernommen würden.
KA
Abb. 3
Berufsverbote zerstören die
Demokratie
Um 1975
Abb. 4
Freiheit im Beruf – Demokratie im
Betrieb
1974
Entwurf: Demokratische Grafik
Hamburg (Foto: Gruppe Arbeiterfotografie)
145
BRD
Abb. 1
Jederort / Kreis überall / 30 km /
Wege zu menschenfreundlichen
Städten und Dörfern
1981-1989
Abb. 2
Freie Fahrt für freie Bürger
1999
Entwurf: Idc-Bremen
Verkehrspolitik/Umweltbelastung
»Artikel 2
(1)
Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung
seiner Persönlichkeit …
(2)
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit …«
Das Freiheitsideal im Kraftverkehr (»freie
Fahrt für freie Bürger«, Abb. 2) hat nur wenig
von seiner Faszination eingebüßt. Ein Blick auf
die Autowerbung beweist das. Um so erbitterter wurde und wird der Kampf um Tempolimits auf bundesdeutschen Straßen geführt.
Tempobeschränkungen werden von Kritikern
nicht selten als staatlicher Reglementierungs«Wahn« und »Angriff auf den freien Bürger«
gewertet. Selbst die »Beschränkung des freiheitlichen Grundrechts« wird behauptet. Diese
heftigen Reaktionen sind kein Zufall. Das Auto
ist weltweit ein Statussymbol und vielleicht das
Symbol für Individualität und Fortschritt.
Das veränderte »Verkehrs«- und Umweltbewußtsein hat nur ein wenig an dem glänzenden
Lack gekratzt. Immerhin konnte man sich
nicht mehr der Erkenntnis verschließen, daß
das Auto ein hemmungsloser Konsument
öffentlichen Raumes ist. In den zentralen Ballungsgebieten macht es sich den Menschen
zum Untertan. Hinter dem Bedürfnis nach
Mobilität haben viele andere Bedürfnisse zurückzustehen. Bereits in den 60er Jahren diagnostizierte man diese Fehlentwicklung als
Ursache für die »Unwirtlichkeit der Städte«.
Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre bildeten sich lokale, örtlich gebundene Verkehrsinitiativen, die eine menschengerechte Verkehrsstruktur und -planung forderten (Abb. 1). Der
grenzenlosen »Vorfahrt« für das Auto erteilten
146
VE RKE H RSPOLITI K
sie eine Absage. In dieser Zeit erlebte auch das
Fahrrad als umweltfreundliches Verkehrsmittel
eine Wiedergeburt. Mit dem Ausbau des Radwegenetzes in den Ballungsräumen wurde
begonnen. Das Fahrrad füllte eine Mobilitätslücke aus, die durch den motorisierten Individualverkehr, den drohenden Verkehrskollaps
und fehlenden Parkraum entstanden war. Das
Auto hatte nicht mehr absoluten Vorrang in
der Verkehrspolitik und Stadtplanung. Konflikte waren damit vorprogrammiert. Die Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs
und des Fahrrads tangierte zwangsläufig die
Interessen des motorisierten Individualverkehrs. Trotzdem vollzog sich in den 70er und
80er Jahren eine sukzessive Umverteilung des
begrenzten innerstädtischen Straßenraums zu
Lasten des Autos.
Die Fotomontage »Vorfahrt fürs Fahrrad«
(Abb. 3) spielt auf den Interessenkonflikt zwischen Autofahrern und Fahrradfahrern an.
Der gigantische Autoreifen macht zugleich
die Priorität der Verkehrspolitik sichtbar und
die Gefahren, die auf den Fahrradfahrer im
Straßenverkehr lauern. Mit dem Mittel der
Übertreibung legt das Plakat »Mehr Platz für
Fußgänger« die inhumane Raumordnung bloß
(Abb. 4). Der Traum von blitzendem Chrom
und Hochtechnologie hat sich hier in den
Alptraum autogerechter Städte verkehrt. Der
»Zu Beginn der 70er Jahre regte
sich verkehrspolitischer Reformwille in zuvor ungekannter Intensität. Die Sensibilisierung für die
Schattenseiten der Wohlstandsgesellschaft nahm zu. Begriffe wie
›Lebensqualität‹, ›soziale Kosten‹
und ›Umweltbewußtsein‹ standen
für ein sich wandelndes Wertebewußtsein, dem vieles nicht mehr
so ohne weiteres hinnehmbar
erschien: die zunehmende Überbelastung der Straßen, die Allgegenwart des Automobils im
städtischen Lebensraum, der Verkehrslärm, die Abgasschwaden
und schließlich die hohe Zahl der
Verkehrsopfer.«
(Dietmar Klenke, Freier Stau
für freie Bürger. Die Geschichte der bundesdeutschen
Verkehrspolitik, Darmstadt
1995, S. 84)
Mensch wird an den Rand gedrängt, seine
Lebensqualität drastisch gemindert. Dazu tragen nicht zuletzt die hohen Schadstoff- und
Lärmemissionen des Autoverkehrs bei. »Gute
Fahrt Vati!« (Abb. 5) nimmt nicht nur männliches Statusdenken aufs Korn (ohne Pkw ist
ein Mann nichts), es prangert auch fehlendes
Umweltbewußsein an. Gesundheit und Um-
»Ich radele gegen das sich drohend
senkende Autorad an – auch auf
die Gefahr hin, selbst zur Karikatur zu werden. Es muß nicht nur
Begriffe, sondern auch praktizierte Beispiele für das alltägliche
Andersleben geben.«
(Henning Scherf, fahrradfahrender Bremer Senator für
Gesundheit und Sport, über
das Plakat Abb. 3, 1989)
Abb. 3
Vorfahrt fürs Fahrrad
1985
Entwurf: Klaus Staeck
Abb. 4
Mehr Platz für Fußgänger
Um 1984
Entwurf: M. Volke
147
BRD
Abb. 5
Gute Fahrt Vati!
1978/1980
Entwurf: Klaus Staeck
welt werden privaten und egoistischen Interessen geopfert. In der Hierarchie der Werte rangiert das eigene Auto vor dem eigenen Kind.
1998 wurden auf bundesdeutschen Straßen
46.508 Kinder (unter 15 Jahren) verletzt. Trotz
des Rückgangs der Unfallrate im Vergleich
zum Vorjahr um 6,6 Prozent kam im Durchschnitt alle 11 Minuten ein Kind unter die
Räder.
Gegen die Planung einer Erweiterung des Flughafens Frankfurt am Main gab es seit den 60er
Jahren Widerstand aus der Bevölkerung. Von
1968 bis 1970 führten Kläger den ersten Prozeß
und erreichten gegen das Land Hessen und die
Flughafen Frankfurt am Main AG die Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses. Des
weiteren gab es von 1969 bis 1972 den ersten
Nachtflugverbots-Prozeß. Ende 1971 wurden
geringfügige Nachtflugbeschränkungen angeordnet. Ab 1971 begann der zweite Prozeß
gegen die Flughafenerweiterung. Es wurde ein
Baustopp der Verlängerung der bisherigen
Start- und Landebahnen erreicht, der bis 1978
Gültigkeit hatte. Danach kam es zu Neuverhandlungen vor den Gerichten und zu einer
negativen Wende in den Prozessen. Die Einwände wurden abgelehnt, und Anfang Mai
148
1980 begannen die Bauarbeiten unter starkem
öffentlichem Protest.
Im wesentlichen hatte die Bürgerinitiative
gegen die Startbahn West vier Gründe für
ihren Widerstand: 1. die Zunahme der Umweltverschmutzung durch das steigende Flugaufkommen; 2. die Zerstörung von Waldgebieten und damit einhergehend des ökologischen Gleichgewichts; 3. die Vernichtung von
Naherholungsgebieten; 4. die Zunahme von
Gesundheits- und Umweltbelastungen für die
in der Nähe des Flughafens lebende Bevölkerung.
Auf den Baubeginn und die Rodung der
dafür benötigten Waldflächen reagierten die
Gegner mit der Errichtung eines Hüttendorfes
in dem Gebiet, in dem die Startbahn liegen
sollte. Im Laufe von 18 Monaten entwickelte
sich das Dorf zu einem ständigen Treffpunkt
der Gegner und zum republikweiten Symbol
ihres Widerstandes.
Mit einem Volksbegehren sollte der politische Druck auf die hessische Landesregierung,
die die Flughafenerweiterung unterstützte, erhöht werden. Deshalb beschlossen die Bürgerinitiative und die wichtigsten hessischen Naturschutzverbände ein Verfahren nach Artikel 116
und 124 der hessischen Verfassung auf Volksbegehren und Volksentscheid »Keine Startbahn West« (Abb. 6). Unterstützt wurde das
Volksbegehren von 150 Organisationen, Gruppen, Einzelpersonen und Parteien aus ganz
Hessen sowie von zahlreichen Prominenten
und Künstlern aus dem In- und Ausland.
Die Flughafen AG, die das Waldgelände, auf
dem das Hüttendorf stand, von der Stadt Flörsheim im Dezember 1980 für 20 Millionen DM
gekauft und als Grundbesitzer das Dorf der
Startbahngegner geduldet hatte, änderte ihre
Strategie. Am 2. November 1981 ließ sie es mit
staatlicher Gewalt räumen und die Bauarbeiten
an der Startbahn fortsetzen. Noch im gleichen
Monat wurden in Wiesbaden anläßlich der
Demonstration gegen die Flughafenerweiterung die über 200.000 Unterschriften für den
Antrag zum Volksbegehren dem Regierungsvertreter übergeben. Mit 150.000 Teilnehmern
war es die bis dahin größte Demonstration in
der Geschichte Hessens. Die Landesregierung
wies den Antrag auf das Volksbegehren ab.
Die von den Gegnern erhobene Beschwerde
wurde durch den Beschluß des Hessischen
Staatsgerichtshofes abgewiesen.
VE RKE H RSPOLITI K
»Nicht hinreichend geklärt ist bislang die Frage, ob sich die aus
Artikel 2 Absatz 2 folgende
Schutzpflicht ausschließlich auf
einen Schutz der körperlichen
Unversehrtheit in biologisch-physiologischer Hinsicht beschränkt
oder ob es sich auch auf den geistig-seelischen Bereich, also das
psychische Wohlbefinden erstreckt
oder sogar das soziale Wohlbefinden umfaßt.
Wird der Begriff der körperlichen Unversehrtheit in Artikel 2
Absatz 2 mit dem der Gesundheit
gleichgesetzt, wie ihn die Weltgesundheitsorganisation … definiert
hat, dann wären Fluglärmfolgen
nicht nur wegen somatischer,
sondern bereits wegen solcher psychischer und das soziale Wohlbefinden beeinträchtigender Auswirkungen zu bekämpfen, die über
die Grenzen des sozial Adäquaten
hinausgehen.«
(Dieter Hesselberger, Das
Grundgesetz. Kommentar für
die politische Bildung, Neuwied / Frankfurt am Main
1991, S. 74)
Abb. 6
Ihre Unterschrift gegen Startbahn
West
1981
Entwurf: Dirk Streitenfeld
Die Gerichtsverfahren hatten die Verlängerung des bestehenden Start- und Landebahnsystems um zehn Jahre und den Bau der Startbahn West um 13 Jahre hinausgeschoben. 1984
nahm man die Startbahn West in Betrieb. Für
das Jahr 2000 ist eine Startbahn Nord geplant.
Und wieder formiert sich dagegen der Widerstand der betroffenen Bürger.
Das Plakat übersetzt »die Barrikadenträume
der Startbahngegner in ein Symbol zivilen
Ungehorsams: Die Flugzeugsperre wird von
harmlosen Bleistiften gebildet … Diese Bleistifte erinnern in ihrer Unordnung auch an
die Natur, an Bäume, Sträucher und Unterholz,
die nicht plattgewalzt werden sollen.«
KA
149
Herunterladen