For tbildung Das Expertenforum Demenz: Demenzdiagnostik in der Praxis Andreas Fellgiebel, Renate Bork-Kopp, Wolfgang Gather, Roland Hardt, Jochen Heckmann, Elisabeth Rix, Stefan Thielscher, Peter Wöhrlin, Markus Fani Gemeinsamen Schätzungen von Weltgesundheitsorganisation und Alzheimer´s Disease International zufolge litten 2013 weltweit 44,4 Millionen Menschen an einer Demenz, davon 1,5 Mio. in Deutschland und in Rheinland-Pfalz etwa 80.000. Bei fehlenden kurativen Therapien werden die Zahlen mit dem demographischen Wandel weiter steigen. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass auch bei uns eine große Anzahl von Demenzen überhaupt nicht diagnostiziert geschweige denn leitlininengerecht diagnostiziert und therapiert werden. Frühe Diagnostik ist wichtig und kann mit etwas Sachverstand und ohne überbordende apparative Zusatzdiagnostik valide durchgeführt werden. Wa s b e de u te t „ Frü h d i ag n os t i k “ d er Dem enz? Frühdiagnostik bedeutet eine „Basisdiagnostik“ anzubieten, sobald sich alltagsrelevante kognitive Defizite entwickelt haben, also im Stadium des leichten demenziellen Syndroms. Basisdiagnostik bedeutet im Sinne der S3-Leitlinie Demenzen (http://www.kompetenznetz-demenzen.de/fachpublikum/ leitlinien/): 1. Eine syndromale Erfassung des Störungsbildes und 2. „Ausschlussdiagnostik“ (s.u.). Zwe i wi c ht i g e G rü n d e f ü r Frü h d i ag n os t i k Notwendig ist ein solches Vorgehen, um symptomatische, also nicht degenerativ oder vaskulär bedingte demenzielle Syndrome herauszufiltern, ätiologisch zuzuordnen und zu behandeln. Denn auf der rein syndromalen Ebene lässt sich eine ätiologische Zuordnung selbst von dem Demenzexperten nicht sicher treffen. Ein weiterer wichtiger Grund für „Frühdiagnostik“ ist die bessere Möglichkeit des Patienten und seiner Familie, sich auf die erkrankungsbedingten Veränderungen proaktiv einzustellen, Kontakt mit dem informellen und professionel­len Hilfesystem aufzunehmen (Selbsthilfe, Pflegestützpunkte, Demenz-Netzwerke) und so frühzeitig ein individuelles Hilfenetzwerk zu stricken, das bedarfsgerechte, ressourcen-orientierte Hilfe bietet. B a si sdi a g n o s t i k d er Demen z Weitere Definitionen von „Frühdiagnostik neurodegenerativer Erkrankungen“ Neben der Basisdiagnostik bei manifesten und syndromal klaren Demenzen kann in der Gedächtnisambulanz oder beim spezialisierten Facharzt heute schon mittels ausführlicher Neuropsychologie und spezifischer Bio- und Surrogatmarker (Liquor und Bildgebung, insb. FDG-PET) eine Alzheimer-Diagnose im Stadium der leichten kognitiven Beeinträchtigung häufig sicher gestellt werden. Die klinische Forschung arbeitet an Diagnoseverfahren, die eine sichere Prognose einer klinischen Alzheimer-Erkrankung auch schon bei kognitiv gesunden Älteren in einem für die Person relevanten Zeitraum ermöglichen. Diese „Ultra-Frühdiagnostik“ ist notwendig, da zukünftige krank­­heits-modifizierende oder „kausale“ medikamentöse Therapien wahrscheinlich nur in diesen sehr frühen Entwicklungsstadien der „Alzheimer-Pathologie“ wirksam sein werden. Ausführliche Diagnostik, etwa in einer Gedächtnisambulanz, bietet sich an, wenn der „klagsame“ Patient klinisch sehr leicht betroffen oder unter 60 Jahre ist, ein prämorbid hohes intellektuelles Leistungsniveau besitzt oder wenn sich aufgrund einer untypischen Präsentation im Rahmen der Basisdiagnostik keine diagnostische Zuordnung treffen lässt. rung, häufig gepaart mit progredienten Wortfindungsstörungen. Erst danach entwickeln sich Defizite der Aufmerksamkeit. An der Demenzschwelle treten i.d.R. Störungen der zeitlichen Orientierung und Störungen des planenden Denken und Handelns hinzu (exekutive Funktionen). In der Folge kommt es zu räumlichen Orientierungsstörungen, zu Auffassungsstörungen (Störungen des logischen und abstrakten Denkens). Es ist hervorzuheben, dass auch „nicht-kognitive“ Symptome oder Syndrome in der Regel schon in frühen Stadien der AlzheimerErkrankung feststellbar sind (v.a. Apathie im Sinne der Reduktion von Eigeninitiative, Reizbarkeit). Eine in der klinischen Praxis wichtige Differenzialdiagnose zur Demenzentwicklung ist die Depression („Pseudodemenz“). Syndromale Diagnostik Frühes und zentrales Symptom einer Alzheimer-Demenz ist die Zur „Objektivierung“ der kognitiven Defizite gehört in jedem langsam und kontinuierlich fortschreitende Merkfähigkeitsstö- Falle ein neuropsychologisches Screening. Hier bietet sich eine 14 Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 3/2015 For tbildung Ta be lle 1: Sympto m p ro file h ä u figer d em en zieller Sy n d ro me Klinische Manifestation Sporadische Alzheimer Demenz1 Gemischte Demenz 2 Vaskuläre Demenz Lewy-body Demenz Primäres kognitives Defizit Verlauf Weitere typische Merkmale Merkfähigkeit (episodisches Gedächtnis) Langsam progredient Apathie ≥ 70 Jahre Merkfähigkeit Langsam progredient (häufig schneller als reine AD) Apathie, exekutive Funktion und Psychomotorik früh betroffen i.d.R. ≥ 65 Jahre Exekutive Funktion, Aufmerksamkeit, Psycho­ motorik (bei strategischen Läsionen entspre­chend, z.B. Sprache, Apraxie, Agnosie etc.) Schubweise, spontane Verbesse­ rung möglich, z.T. langsam progedient Teilweise Fluktuation ≥ 70 Jahre Visuo-Konstruktion, Psychomotorik, (Gedächtnis, da häufige Überlappung mit ADPathologie) Progredient, i.d.R. schneller als Alzheimer-Demenz Kognition u Bewusstsein fluktuieren! Frühe optische Halluzinationen, Parkinsonoid, Depression, Stürze ≥ 70 Jahre Frontotemporale Demenz3 ≤ 65 Jahre Exekutive Funktion Langsam progredient Dysinhibiertes Verhalten! Früher Verlust der Empathiefähigkeit, räumliche Orientierung und Gedächtnis lange ungestört Normal-DruckHydrozephalus ≥ 60 Jahre Psychomotorik, exekutive Funktion, Aufmerksamkeit progredient „Hakim Trias“: kognitive Störung, Gangstörung, Dranginkontinenz 1 die a uto soma l- d o m in a nt verer b ten Alzh eim er- D e me n ze n ( 0 , 5 -2 % d. F. ) ma n i fe s ti e re n s i c h vo r d e m 6 0 . Le be n s j ahr ; 2 = Alzhe ime r- plu s va sk u lä re Pat h o lo gie; 3 = b eh av i o ra l e Va r i a nte d e r Fro nto te mpo ra l e n D e me n z ; AD = Alzheime r-D em en z Kombination aus Mini Mental Status Test (MMST) und DemTect an. Der MMST ist zwar kein sensitives Screeninginstrument zur Frühdiagnostik, eignet sich aber zum Monitoring: Er erfasst die im weiteren Verlauf der Demenzentwicklung auftretenden kognitiven Defizite und liefert eine recht verlässliche Einschätzung der Demenzschwere. Der DemTect ist ein gutes Screeninginstrument für die Alzheimer-Erkrankung. Nach Erfahrung und eigenen Präferenzen können natürlich auch andere Screeningtests eingesetzt werden (zum Beispiel Moca, SKT, Uhrentest). Im Sinne einer effektiven kollegialen und interdisziplinären Verständigung wäre es jedoch wünschenswert, sich auf wenige Kernassessments zu einigen. Es ist zu beachten, dass diese „Demenzscreeningtests“ sprachlastig und die Normwerte nicht ausreichend für Alter und Bildung adjustiert sind: Bei Nicht-Muttersprachlern oder Patienten mit primärer Sprachstörung sind schlechte Ergebnisse nur eingeschränkt aussagekräf- Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 3/2015 15 For tbildung Ta belle 2: Diffe ren zia ld ia gn o se „D em en z – Pseu d o d e me n z “ Klinisches Bild bei neurodegenerativ* vs. depressiv bedingten kognitiven Störungen Neurodegenerativ* Depressiv Beschreibung der Ausfälle Eher vage, dissimulierend Präzise, auch generalisierend Defizitbewusstsein (Fremdanamnese) Eher herabgesetzt Übersteigert Leistungsfähigkeit Konstant schlecht Fluktuierend Beginn Schleichend (Monate/Jahre) Rasch (Tage/Wochen) Alltagsaktivitäten (ADLs) Eher eingeschränkt Eher erhalten *Hier: bei beginnender Alzheimer-Demenz tig, bei hochausgebildeten Älteren schließen umgekehrt gute Testergebnisse relevanten kognitiven Abbau nicht aus. Tabelle 1 zeigt die typischen Symptomprofile häufiger demenzieller Syndrome, Tabelle 2 klinische Kriterien zur Abgrenzung der beginnenden Alzheimer-Demenz von der „Pseudodemenz“ (Depression oder Altersdepression). Der interessierte und fortgebildete Hausarzt kann die DemenzBasisdiagnostik selbständig durchführen und eine spezifische Demenzdiagnose stellen, zumindest in den etwa 50 Prozent der oben genannten typischen Fälle. Zu einer guten medizinischen Demenzversorgung ist darüber hinaus noch folgendes wichtig: Häufiges ist häufig. Mindestens die Hälfte der sich heute entwi- a) Sich zweimal Zeit nehmen. ckelnden demenziellen Syndrome stellen typisch verlaufende Einmal zum Einstieg in die Diagnostik. Patient und Familie sporadische Alzheimer-Demenzen oder gemischte Demenzen sollten positiv motiviert werden, ohne den „worst case“ zu dar und können von dem geschulten Hausarzt diagnostiziert verheimlichen: das Wort Alzheimer sollte beim Erstgewerden, insofern er die relevante Ausschlussdiagnostik durchspräch als mögliches outcome genannt werden. Befürchführt. Regelmäßige standardisierte Schulungen bietet die AG tungen sollten validiert, das Krankheitsbild aber „entkatasmedizinische Demenzversorgung in Rheinland-Pfalz regional trophisiert“ werden. Viele Menschen mit Demenzerkranan (Korrespondierender Autor ist hier Ansprechpartner) und kung haben eine gute Lebensqualität – und Verschweigen sollten bei der Fachkunde Geriatrie angestrebt werden. Bei fördert indirekt die leider immer noch vorhandene Stigmaunklaren Präsentationen oder Patienten vor dem 60. Lebenstisierung. Zum zweiten Mal sollte die Aufklärung über die jahr empfiehlt sich in jedem Fall eine fachärztliche Vorstellung. Diagnose nicht zwischen Tür und Angel oder im Zeitdruck erfolgen! Der Arzt sollte den Patienten und, wenn vorhanAu ssc h l u ssdi a g n os t i k den, seinen Partner motivieren, proaktiv eine Beratung über kommunal oder regional vorgehaltene HilfemöglichNotwendig sind nach der S3-Leitlinie eine strukturelle Bildgekeiten bei dem zuständigen Pflegestützpunkt wahrzunehbung und Laborwerte, mit denen sich Schilddrüsenfunktion, men. Wir konnten in einer randomisierten Studie in der Leber- und Nierenfunktion abschätzen lassen, zudem EntzünPrimärversorgung zeigen, dass eine proaktive psychosozidungsparameter, Elektrolyte und Vitamin B12. Tabelle 3 fasst ale Beratung nach der Diagnosestellung die „Depressionsdie notwendigen und optionalen Zusatzuntersuchungen zu­­ anfälligkeit“ der betreuenden Angehörigen auch noch 18 sammen. Monate nach der Beratung signifikant reduziert (1). Den möglichen Einfluss ko-morbider organischer oder psychi- b) Teil des regionalen Versorgungsnetzwerkes sein. scher Erkrankungen (zum Beispiel Schlaf-Apnoe-Syndrom oder Im Bereich der komplementären, niederschwelligen HilfsDepression) sowie den möglichen Einfluss von Medikamenten angebote für Menschen mit Demenz und ihre Unterstützer (wie Amitriptylin! aber auch Opiate bei Schmerzen, Benzodiahat sich vielerorts in den vergangenen Jahren viel getan, zepine!) auf die kognitive Leistungsfähigkeit sollte der Diagnosauch dank der gezielten Initiativen der rheinland-pfälzitiker in jedem Fall eruieren. schen Landespolitik. Die Pflegestützpunkte werden flächendeckend vorgehalten, in vielen Regionen haben sich Besteht ein charakteristisches demenzielles Syndrom vom Demenznetzwerke gebildet. Hausärzte, Fachärzte und Alzheimer-Typ und liefert die „Ausschlussdiagnostik“ keine Krankenhäuser sollten sich zur Unterstützung einer guten anders richtungsweisenden Befunde, kann mit hoher SicherDemenzversorgung aktiv mit den regionalen Versorgungsheit eine Alzheimer-Demenz diagnostiziert werden. strukturen (insbesondere den Demenz-Netzwerken) asso- 16 Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 3/2015 For tbildung Ta be lle 3: N o t wen d ige u n d o p t io n a le Zu sat zd ia gno s ti k z u r D e me n z a bk l ä r u n g notwendig (Basisdiagnostik nach S3-Leitline) optional Neuropsychologie Neuropsychologische Kurztests: MMST plus DemTect, evtl. Ergänzung durch Uhrentest Oder etwa: Syndrom-Kurz-Test (SKT), Moca erweiterte Neuropsychologie: bei jungen Patienten unter 60 Jahren, unklarem oder sehr leichtem Syndrom, komorbider psychischer Störung oder hohem prämorbidem intellektuellem Niveau: z.B. CERAD-plus Labor TSH, BB, CRP, Na++, K+, Ca++, GOT, gGT, Krea, Harnstoff, Vit. B12 Vitamin B1, B6 , Lipide, HbA1c, Homocystein, Lues-, ­ Borrelien-Serologie etc. Liquor: Entzündung? spezifische Biomarker: Tau, phospho-Tau, ß-Amyloid (1-42), ß-Amyloid (1-40); bei V.a. Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung: 14-3-3 Protein Genetische Diagnostik: bei jungen Patienten (unter 60 Jahren) und V.a. autosomal-dominante Vererbung und nach humangenetischer Beratung Bildgebung, EEG Strukturelle Bildgebung cMRT oder CCT EEG, FDG-PET, L-Dopa-PET, IBZM-SPECT, Amyloid-PET ziieren. Idealerweise sollten sie sich aktiv gegen die Stigmatisierung der Demenz engagieren. Gute Demenzversorgung bedarf Entstigmatisierung, Multiprofessionalität und Kooperationskultur (siehe Empfehlungen Expertenforum Demenz 2014: http://msagd.rlp.de/soziales/pflege/demenz/ expertenforum-demenz/ ). So können wir Ärzte neben der von uns durchgeführten Frühdiagnostik zu einer optimierten Demenzversorgung in der von uns mitgestalteten demenzfreundlichen Kommune beitragen. Mit dem Ziel, Wohlbefinden und Lebensqualität unserer Demenzpatienten und deren betreuenden Angehörigen möglichst lange auf einem möglichst guten Niveau zu stabilisieren. L i te rat u r b e i de n Au toren Ko r re sp o nde n z : Prof. Dr. Andreas Fellgiebel Leiter Forschungsschwerpunkt Normales Altern und Neurodegeneration, Demenz Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsmedizin Mainz Chefarzt Gerontopsychiatrie Rheinhessen-Fachklinik Alzey E-Mail: [email protected] Ärzteblatt Rheinland-Pfalz ❙ 3/2015 17