1. Philharmonisches Sonderkonzert Donnerstag, 31. Oktober 2013 20 Uhr, Volkshaus Gala-Konzert mit Ehrendirigent Andrey Boreyko Victor Kissine (*1953) Post-scriptum César Franck (1822 – 1890) Psyché – Zwei Fragmente der sinfonischen Dichtung für Orchester I. Sommeil de Psyché. Lento II. Psyché enlevée par les Zéphyrs. Allegro vivo Pause Anton Bruckner (1824 – 1896) Sinfonie Nr. 7 E-Dur Allegro moderato Adagio Scherzo Finale Dirigent: Andrey Boreyko 1 Der Dirigent Andrey Boreyko wurde in St. Petersburg geboren und absolvierte seine musikalische Ausbildung am Konservatorium seiner Heimatstadt in den Fächern Dirigieren und Komposition bei Elisaveta Kudriavzewa und Alexander Dmitriev. Er war Erster Gastdirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR (2004-2012), Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters, der Jenaer Philharmonie, der Hamburger Symphoniker, des Poznan Philharmonic Orchestra und des Winnipeg Symphony Orchestra sowie Principal Guest Conductor der Vancouver Symphony. Seit der Saison 2009/2010 ist Andrey Boreyko Generalmusikdirektor der Düsseldorfer Symphoniker und Principal Guest Conductor des Orquesta Sinfónica de Euskadi San Sebastian/Spanien, im September 2012 ist er außerdem, zunächst für 5 Jahre, zum Chefdirigenten des Orchestre National de Belgique ernannt worden. Darüber hinaus übernimmt er ab der Saison 2014/2015 die Position des Musikdirektors des Naples Philharmonic Orchestra /Florida. Andrey Boreyko hat mit nahezu allen bedeutenden Orchestern der Welt musiziert. Er dirigierte mit großem Erfolg die führenden europäischen und amerikanischen Orchester wie Berliner Philharmoniker, Staatskapelle Berlin, die Münchner Philharmoniker, Sächsische Staatskapelle Dresden, Gewandhausorchester Leipzig, Russian National Orchestra, Royal Concertgebouw, Rotterdam Philharmonic Orchestra, Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI, Filharmonica della Scala, Wiener Symphoniker, Tonhalle Orchester Zürich, Orchestre de la Suisse Romande, Luzerner Sinfonieorchester, London Symphony Orchestra, The Philharmonia Orchestra, BBC Symphony Orchestra, Orchestre Philharmonique de Radio France, New York Philharmonic, Los Angeles Philharmonic, Boston Symphony, Chicago Symphony Orchestra, Cleveland Orchestra, Philadelphia Orchestra und Cincinnati Symphony Orchestra sowie dem Toronto Symphony Orchestra. Zahlreiche CDs sowie Fernseh- und Radioaufzeichnungen dokumentieren die künstlerische Vielseitigkeit Andrey Boreykos. Zu seinen CD-Aufnahmen zählen »Lamentate« von Arvo Pärt sowie die Sinfonie Nr. 6 von Valentin Silvestrov, eingespielt mit dem RadioSinfonieorchester Stuttgart des SWR. 2006 erschien außerdem als Live-Mitschnitt – wiederum mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR – eine CD mit der Sinfonie Nr. 4 und der Uraufführung der Originalfassung der Suite op. 29a aus der Oper »Lady Macbeth of Mzensk« von D. Schostakowitsch sowie 2010 die Schostakowitsch-Sinfonien Nr. 9 und Nr. 15. 2013 folgte die Veröffentlichung der Schostakowitsch-Sinfonien Nr. 1 und Nr. 6, ebenfalls mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR. Zu den Aufnahmen Andrey Boreykos mit den Düsseldorfer Symphonikern gehören die CD mit Tschaikowskys Symphonie »Manfred« h-Moll op. 58 (2009) sowie die DVD mit Robert Schumanns »Manfred«, erschienen 2011. Auf einer CD mit verschiedenen Violinkonzerten, ebenfalls 2011 aufgenommen mit der Los Angeles Philharmonie und dem Geiger Martin Chalifour, dirigiert Andrey Boreyko das Violinkonzert »Chain 2« von W. Lutoslawski. 2 Ein Orgelkonzert – Klangfarbe, Glaube, Handwerkskunst Bitte lassen Sie sich nicht von dieser Überschrift irritieren. Es steht heute kein Werk für die Königin der Instrumente auf dem Programm! Dennoch sind die Kompositionen alle auf ihre Weise mit der Orgel verbunden. So bezieht sich Victor Kissine in seinem Werk Post-scriptum auf Charles Ives, einen amerikanischen Organisten sowie Komponisten und seine »Unanswered Question« (Unbeantwortete Frage). César Franck, selbst Organist, überträgt die unterschiedlichen Klangfarben der Orgelregister auf das Orchester und schafft damit ein sphärisches Poem: Psyché. Der Linzer Domorganist Anton Bruckner nutzt all seine reiche Erfahrung in der Kirchenmusik für seine Sinfonien. Dabei setzt er die unterschiedlichsten Klangfarben und Choralzitate ein. Schließlich impliziert er ihren Kirchendienst als Trauermusik in seine Orchesterwerke, man denke dabei nur an das berühmte Adagio aus der 7. Sinfonie, welches im zweiten Teil des heutigen Konzerts erklingen wird. Aber zurück zum Anfang: Victor Kissines Post-scriptum. Der heute in Belgien lebende russische Komponist schuf dieses Werk 2010 im Auftrag der San Francisco Symphony. Wie soeben erwähnt, bezieht er sich damit auf das Stück The Unanswered Question des amerikanischen Komponisten und Geschäftsmanns Charles Ives (1874 – 1954). Dies bedeutet, dass er in einem Nachsatz oder Anhang (post scriptum) Themen der Vorlage aufnimmt und diese noch einmal reflektiert. Victor Kissine erklärt, dass er Ives’ Musik während seines Musikstudiums am RimskijKorsakow-Konservatorium (St. Petersburg) in den 1970er Jahren kennen gelernt hat. Dabei empfand er es damals schon so, als besäße das Werk kein Ende. Vielmehr erfuhr er es als Metamorphose einer Frage, die sich von einem unscheinbaren Einwand zu der tiefgreifenden Frage nach unserer Existenz entwickelt. Ives vertonte diesen Prozess als Divergenz zwischen dem Glauben und dem drängenden Erforschen unseres Daseins: »Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin?«. Als choralähnliche Ostinatofolge – eine Grundlage seines Wirkens als Organist – in den Streichern wird das Leben harmonisch verklärt, erfährt jedoch immer wieder Beunruhigung durch dissonante Einsprüche vor allem der Holz- und Blechbläser. Über allem aber steht das siebenmalig eingesetzte Trompetenmotiv, welches die ewige, immer wiederkehrende Frage stellt, aber keine Beantwortung erfährt. An dieser Stelle setzt Kissine an: Er nimmt die Motive der Iveschen Komposition auf und intensiviert sie, indem er die einzelnen Instrumente kommentierend auftreten lässt. Hierfür benutzt er eine Folge von fünf Klängen: »In formaler Hinsicht ist dieses Stück eine Variation auf das Thema in Charles Ives’ The Unanswered Question. Was wir tatsächlich hören, ist ein Thema, das aus einer Reihe von fünf Klängen konstruiert ist. Trotzdem kann man sagen, dass es sechs Klänge sind, weil jedes Mal, wenn die Frage wiederholt wird, sich der letzte Klang verändert, indem er mit dem vorangegangenen das Intervall entweder einer kleinen oder einer großen Terz bildet. Idee, Sujet, Form, tonale Ordnung und Orchestrierung meines Postscriptum basieren exakt auf dieser alternierenden Sequenz.« Auf diese Weise erweitert er den Klangraum bis zum Rande der Wahrnehmung. Diese Details verknüpfen sich dann mit einem vom Klavier bzw. Celesta suggerierten Spannungsbogen. Aus der musikalischen Grundlage des Organisten Charles Ives mit der harmonischen Choralfolge entwickelt Kissine neue Klangdimensionen. Der Ausgangspunkt für das kompositorische Schaffen Cesár Francks war zunächst die Orgel. Als Junge erlernte er das Klavierspiel, welches er nach einem Umzug von Lüttich nach Paris am dortigen Konservatorium intensivierte. Neben seinem Studium war er an verschiedenen Kirchen als Organist tätig. Seine Vorliebe für dieses Instrument manifestierte sich, als er 1858 3 zum Titularorganisten an der Pariser Kirche Sainte-Clotilde ernannt wurde. Dieser Posten war weniger mit dem liturgischen Orgelspiel während des Gottesdienstes als vielmehr mit einer Konzerttätigkeit, Kompositionsaufträgen und pädagogischen Ausführungen an Musikhochschulen verbunden. Nun begann seine Karriere als Komponist mit dem Schwerpunkt auf der Orgel. Orchesterwerke nahm er erst im letzten Jahrzehnt seines Lebens in sein Oeuvre auf. Dies hängt wahrscheinlich mit der Gründung der Société Nationale de Musique 1871 zusammen. Neben Franck waren auch Saint-Saëns, Massenet oder Fauré Gründungsmitglieder dieser Organisation. Sie wurde als Reaktion auf den Deutsch-Französischen-Krieg, zur Stärkung zeitgenössischer französischer Musik und Kultur sowie zur Abgrenzung gegenüber deutschen, auch wagnerianischen Einflüssen ins Leben gerufen. Aus dieser Notwendigkeit heraus fühlte sich Franck sicherlich verpflichtet, sein kompositorisches Schaffen auch auf sinfonische Gattungen auszudehnen. Das heute aufgeführte Poem »Psyché« steht in einer Reihe mit vier weiteren sinfonischen Dichtungen, sticht aber durch den Einsatz eines Chores hervor. Das zeitgenössische Publikum war bei der Uraufführung 1888 in Paris jedoch wenig angetan, so dass César Franck sich gezwungen sah, die vier Chorsätze aus den insgesamt acht Sätzen zu extrahieren. Ein neues viersätziges orchestrales Opus entstand, wobei wir am heutigen Abend zwei Fragmente der sinfonischen Dichtung Psyché für Orchester hören werden. Es handelt sich um die Erzählung von Amor/Eros und Psyché, welche von Apuleius (antiker Schriftsteller, um 170 n. Chr.) in seinem zur Weltliteratur zählenden Werk »Metamorphosen/Der goldene Esel« niedergeschrieben wurde, jedoch schon ca. 330 v. Chr. im Hellenismus, bekannt war. Auch die Orgel selbst hat einen griechischen Ursprung. Sie wurde etwa hundert Jahre früher von dem griechischen Techniker und Mathematiker Ktesibios, damals noch mit Hilfe von durch Wasser erzeugtem Luftdruck angetrieben, erfunden. César Franck entwickelt aufgrund seiner Erfahrung mit den verschiedenen Orgelregistern in seinem symphonischen Poem Psyché einen sphärischen Orchesterklang. Schon in den ersten Takten des Lento kann man die Bewegungen der Schmetterlingsflügel, mit denen Psyché häufig dargestellt wird, spüren. Da Venus, die Göttin der Liebe, eifersüchtig auf die schöne Königstochter Psyché (griechisch für Seele) war, sollte ihr Sohn Amor dafür Sorge tragen, dass Psyché sich in einen schlechten Mann verliebte. Daraufhin wurde Psyché im Brautkleid auf einen Berggipfel geschickt, um einen Dämon zu heiraten. Inzwischen hatte Amor jedoch seine Gefühle für die schöne Königstochter entdeckt und ließ sie mit Hilfe von Zephyr, dem Herrn der Winde, in ein Märchenschloss bringen, wo er sie in der Dunkelheit besuchte. Psyché wartete ihm eines Nachts mit einer Lampe auf, um ihn besser zu erkennen. Amor fühlte sich von ihr hintergangen und kehrte zu seiner Mutter zurück. Venus ihrerseits war darüber verärgert, dass die menschliche Königstochter ein Kind von ihrem Sohn erwartete und setzte sie deshalb verschiedenen Prüfungen aus, wobei Psyché an der letzten Aufgabe scheiterte und in einen tiefen Schlaf verfiel. Amor jedoch konnte sie erretten und erbat von Jupiter, der obersten Gottheit, die Erlaubnis, Psyché zu heiraten, woraufhin sie die Unsterblichkeit erlangte. Beide bekamen eine Tochter: Voluptas, das Vergnügen. Nach der Pause erklingt das monumentalste Werk des Abends. In seiner Sinfonie Nr.7 B-Dur vereint der virtuose Domorganist zu Linz Anton Bruckner den weiten Klang des Kirchenraumes, die Farbenpracht der Orgelregister, liturgische Motive und funktionale Aufgaben zu einem orchestralen Höhepunkt. Darüber hinaus fanden auch Akzente seines von ihm hochgeschätzten Kollegen Richard Wagner Eingang in das Orchesterstück, wahrscheinlich auch aus aktuellem Anlass, denn Wagner verstarb am 13.2.1883, während Bruckner diese Sinfonie komponierte. Die Uraufführung fand am 30. Dezember 1884 in Leipzig statt. Eine weitere Aufführung in München folgte etwas später. Widmungsträger 4 wurde dann Ludwig II., König von Bayern, der große Mäzen wagnerianischer Musik. Gleich zu Beginn des ersten Satzes befindet man sich im Klanggeschehen eines Wagners, wobei sich Bruckner die Melodieführung nicht aus der Hand nehmen lässt. Bald darauf kann man ihn mühelos an den ausgeprägten rhythmischen Akzentuierungen erkennen. Neben- und Überlagerungen von Zweier- und Dreier-Rhythmen sind sein Markenzeichen. Dann wieder liegt die Betonung auf orchestralen Farbschattierungen, von Obertönen bis zum Subbass. Es gibt eine Vielzahl an Orgelregistern, die wiederum in ihrer Kombination eine unerschöpfliche Menge an Klangfarben hervorbringen. All diese setzt Bruckner ohne Beschränkung in seiner Orchestrierung ein und rührt damit unser Innerstes an. Das Adagio ist eine Hommage an Wagner. Die Wagner-Tuben intonieren eine Trauermusik, das Te-Deum-Thema »In Ewigkeit werde ich nicht zuschanden« erklingt. Ein Hoffnungsschimmer durch das Vertrauen auf Erlösung wird in Fis-Dur vorgetragen, bevor der Höhepunkt – mit oder ohne Beckenschlag und Triangel, je nach Façon – in strahlendem, von Dankbarkeit durchdrungenen C-Dur erreicht wird. Bruckner arbeitete mit Vorliebe immer wieder Ton(arten)symbolik in seine Musik ein. Auch im 3. Satz begegnet uns zugleich mit der Trompete ein prägnantes Rhythmus-Motiv, welches sich auf die anderen Instrumentengruppen ausbreitet. Kriegerisch-dämonische Spannung baut sich auf, wird mit den Holzbläsern und hohen Streichern positiv gestimmt, um dann wieder in die dramatische Erregung zu verfallen. Das Trio bringt einen stilisierten Ländler, der Harmonie und Ruhe ausstrahlt. Erinnerungen an seine oberösterreichische Heimat werden wach, das Stift St. Florian, wo er seine musikalische Laufbahn als Sängerknabe begann und später vom Lehrer zum professionellen Musiker reifte. Aus der Tiefe erhebt sich erneut das Scherzo, allen voran die Trompete. Die Steigerung wird zurückgenommen, um dann wild und urwüchsig, rhythmusgeprägt wieder hervorzubrechen. Das Finale wird von drei Themengruppen dominiert: 1. Punktierter Rhythmus über einem Violin-Tremolo – 2. Ein klarer Choral – 3. Unisono, im Zusammenspiel mit dem punktierten Rhythmus. Dann erfolgt das spiegelverkehrte Abspielen der 3 umgestellten Themen. Die erste Themengruppe wird mit dem Hauptthema des 1. Satzes kombiniert und bis ins fortissimo des gesamten Orchesters gesteigert. Bruckner wurde oft vorgeworfen, er würde zu viele zerstückelte Motive und Themen ohne Bezug zueinander verwenden. Dabei nutzte er diese musikalischen Einfälle als einen Stein, der ins Wasser fällt und dort eine Welle auslöst, die in gewaltigen dynamischen Prozessen kulminiert. Dies sind die Ausmaße der Königin der Instrumente – der Orgel. Jessica Brömel, M.A. 5