Die Banlieues als politisches Experimentierfeld des

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Die Banlieues als politisches Experimentierfeld des
französischen Staates
Emmanuelle Piriot
In Frankreich ist das »Problem der Banlieues« seit Anfang der 1980er Jahre Thema der Politik. Seitdem
entwickelt der französische Staat Sondermaßnahmen, um diesem »Problem« beizukommen. Als Grundlage
diente zunächst das 1977 eingeführte Stadtentwicklungsprogramm, Habitat et vie sociale (HVS), das die
Sanierung der Sozialwohnungssiedlungen und die Subventionierung sozialer und kultureller Aktivitäten
vorsah. Dieses Programm wurde in den 1980er Jahren durch »Développement social des quartiers« (DSQ –
Soziale Entwicklung der Stadtviertel) abgelöst, worauf in den 1990er Jahren ein nunmehr schlicht als
Politique de la ville (Stadtpolitik) bezeichneter Ansatz folgte.
Jeder Übergang von einer Etappe zur nächsten brachte eine Intensivierung und verstärkte institutionelle
Festschreibung der für die Banlieues bis dahin entwickelten Maßnahmen mit sich. Jedem neuen Ansatz
gingen Aufstände voraus, die landesweite Aufmerksamkeit erregten.
Parallel zur Einführung der verschiedenen Sondermaßnahmen ist die Polizeipräsenz in den Banlieues
fortlaufend erhöht worden. Dabei wurde systematisch verschleiert, dass die Revolten stets von tödlich
verlaufenden Polizeieinsätzen ausgelöst wurden.
Der Bau der vornehmlich aus Sozialsiedlungen bestehenden Trabantenstädte war die Antwort des Staates
auf die akute Wohnungskrise der Nachkriegszeit, die zugleich der Bau- und Immobilienbranche zugute kam.
Im ersten Teil dieses Textes werden sowohl die Entstehung und Veränderung dieser Großsiedlungen
dargestellt, als auch die Organisation der Arbeitsmigration – von der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte
über die Neuausrichtung der Migrationspolitik in den 1970er Jahren bis zur Erprobung neuer polizeilicher
Kontrolltechniken an den Überausgebeuteten und Illegalisierten.
Anschließend gehe ich auf die Konzepte ein, die den in den Banlieues angewandten Sondermaßnahmen
zugrunde liegen.
Das HVS-Programm war nicht zuletzt eine stadt- und sozialpolitische Ergänzung der gegen die Einwanderer
entwickelten Repressionspolitik. Jene EinwandererInnen, auf die Frankreich auch weiterhin nicht verzichten
wollte, sollten über HVS in die Gesellschaft »integriert« werden. Der dem Programm eigene Fokus auf die
Einwandererviertel
trug
zur
Festschreibung
einer
Unterscheidung
zwischen
assimilierbaren
EinwandererInnen und solchen bei, die als politisches und soziales Risiko identifiziert wurden. Ein ganz
ähnlicher Ansatz lag auch der späteren Politik der »Sozialen Entwicklung der Stadtviertel« zugrunde. Neu
war
an
dieser
Politik
die
Vorstellung,
dass
es
Stadtentwicklung
mit
einem
Maximum
an
»EinwohnerInnenbeteiligung« zu betreiben gelte.
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre wurde die soziale Frage umdefiniert. Klassenkonflikte wurden als
Problem des Ausschlusses verhandelt und die Banlieues als Räume der Exklusion und Anomie gesehen.
Diese »neue soziale Frage« wurde regelmäßig mit den »Problemen« der Einwanderung, der Delinquenz, der
1
Entstehung migrantisch geprägter Communities und dem periodischen Ausbruch städtischer Revolten in
Verbindung gebracht.
Die Politique de la ville der 1990er Jahre brachte schließlich einen umfassenderen und systematischer
organisierten Zugriff auf die nunmehr als »sensible Stadtgebiete« bezeichneten Viertel mit sich, deren
Gesamtbevölkerung aktuell auf etwa fünf Millionen Menschen beziffert wird. Der Imperativ der »Integration«
wurde bekräftigt, ging nun aber mit der Rhetorik eines »Kampfes gegen die Ausgrenzung« und einer
»Stärkung des sozialen Zusammenhalts« einher. Die Bevölkerungsgruppen, mit denen sich die Politique de
la ville befasste, wurden als Problemgruppen definiert, nie jedoch als eigenständige politische Akteure
anerkannt. Die Banlieues dienten der Politique de la ville als Experimentierfeld für die Reform des
öffentlichen Dienstes und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Auch die regierungstechnologischen
Modelle, mit denen heute an die Kontrolle städtischer Räume herangegangen wird, sind weitgehend ein
Resultat der durch die Politique de la ville in den Banlieues eingeleiteten Experimente. Weit davon entfernt,
die sozialen Verwerfungen in den Banlieues zu beheben, hat die Politique de la ville neue Formen der
sozialen Kontrolle in kapitalistischen Gesellschaften hervorgebracht.
1. Wohnraum und Arbeitskräfte – Der Mythos vom Wohlfahrtsstaat
1.1. Von der Wohnungskrise zum sozialen Wohnungsbau
Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Frankreich eine Wohnungskrise, die weniger auf die Zerstörungen des
Krieges als auf mangelhafte Planung zurückzuführen war. Ende der 1940er Jahre fehlten drei Millionen
Unterkünfte. Das Problem verschärfte sich durch die anhaltende Verstädterung. Große Teile der
Landbevölkerung sowie MigrantInnen aus den Kolonien und dem europäischen Ausland zogen auf der
Suche nach Arbeit in die Städte. Der Baby-Boom führte zu zusätzlichem Bedarf an Wohnraum.
Das Frankreich der Elendsviertel und Barackensiedlungen
In der Hauptstadt lebten die Arbeiter in elenden Verhältnissen. Viele Wohnungen hatten nur ein Zimmer, ein
Drittel der Wohnungen war überfüllt, die Hälfte hatte kein fließendes Wasser und viele waren baufällig.
Zahlreiche Familien kamen in Hotels unter. Selbst große Teile der Mittelschicht lebten in prekären
Wohnverhältnissen. Derweil hausten mehrere zehntausend Menschen, überwiegend algerische und andere
Migranten, in Barackensiedlungen (bidonvilles), die erst Ende der 1970er aufgelöst wurden.
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg galt die erste Priorität der Wiederherstellung der industriellen und
verkehrstechnischen Infrastruktur. Die Wohnungsbaupolitik wurde vernachlässigt. Um die Kluft zwischen der
»französischen Wüste« und dem rasant wachsenden Paris zu verringern, wurden zunächst Raum- und
Wirtschaftsplanungkonzepte entwickelt, die mit der Verweigerung von Baugenehmigungen in der Hauptstadt
einhergingen. Der Wohnungsmangel wurde dadurch noch verschärft. Erst der besonders strenge Winter des
Jahres 1954 veranlasste die Regierung schließlich zum Umdenken.
Die »Zonen vorrangiger Stadtplanung«
Ab 1955 heizten öffentliche Subventionen die Bautätigkeit privater, öffentlicher und halbstaatlicher
Wohnungsbaugesellschaften an. Es entstanden riesige Trabantenstädte mit zahlreichen HLM (habitation à
2
loyer modéré) genannten Sozialwohnungen. Die ersten HLM-Siedlungen wurden auf Freiflächen in den
Städten, schließlich an deren äußeren Rändern gebaut.
Ab 1958 wurde das Bebauungstempo mittels der Zone à urbaniser en priorité (ZUP – Zone vorrangiger
Stadtplanung) noch beschleunigt. Innerhalb von zehn Jahren entstanden 195 ZUPs mit 80.0000
Wohnungen. Gleichzeitig wurden die ArbeiterInnenviertel in den Stadtzentren saniert, die ärmeren
BewohnerInnen verdrängt und zum Umzug in günstigere Außenbezirke gezwungen.
Die nach den neuen Prinzipien moderner Architektur errichteten Siedlungen mochten bestimmten
Bedürfnissen der Bewohner entsprechen. Doch trotz nachdrücklich betriebener Öffentlichkeitsarbeit gelang
es nicht, das eigentliche Ziel, viel, schnell und billig zu bauen, zu verschleiern.
Es entstanden eintönige Siedlungen mit zu kleinen und schlecht isolierten Wohnungen. Grünanlagen,
Kinderspielplätze, Geschäfte, öffentliche Verkehrsmittel usw. waren zwar vorgesehen, ließen aber auf sich
warten. Die Wegstrecken zur Arbeit verlängerten sich.
Das soziale Leben der EinwohnerInnen veränderte sich radikal. Ein an der bürgerlichen Kleinfamilie
ausgerichteter Lebensstil setzte sich in ganz Frankreich durch. Die Menschen fühlten sich trotz der
Wohnungsdichte einsam und isoliert.
Da die Wohnungen jedoch elektrisch geheizt sowie mit Badewannen, fließend Wasser und besseren
Sanitäranlagen ausgestattet waren, konnten sich die EinwohnerInnen als Privilegierte wahrnehmen. Auch die
Aussicht auf eine gute Ausbildung für ihre Kinder (1959 wurde der Schulbesuch bis zum 16. Lebensjahr zur
Pflicht) und die Hoffnung auf eine künftige qualifizierte und gut dotierte Beschäftigung, trösteten über die
Schwierigkeiten des Lebens in den Vorstädten hinweg.
Arbeiterklasse und Mittelschicht waren in den HLM-Siedlungen bis Mitte der 1970er Jahre zu annähernd
gleichen Teilen vertreten. Die Sozialwohnungen wurden ArbeiterInnen ebenso wie Angestellten und mittleren
Führungskräften zugeteilt. So schien sich die französische Utopie der
mixité sociale (Soziale
Durchmischung) während der Endphase des französischen Nachkriegsbooms realisiert zu haben.
Tatsächlich
muss
das
Bild
von
der
gelungenen
mixité
sociale
stark
relativiert
werden.
Die
Gemeindeverwaltungen bevorzugten MieterInnen, die ihrer Wählerschaft entsprachen, also französische
Arbeiterfamilien. Sie versuchten, die Zahl migrantischer Familien unterhalb der inoffiziellen Quote von 15%
zu halten – eine vom Institut national des études démographiques (Institut für demographische Studien)
berechnete »Toleranzgrenze«.
Das »Frankreich der Hauseigentümer«
Als in den 1960er Jahren der Druck auf dem Wohnungsmarkt nachließ, richtete der Staat seine
Wohnungsbaupolitik neu aus. Durch günstige Bankkredite sollten Immobilienkäufe gefördert und Frankreich
zu einem Land der Hauseigentümer gemacht werden.
Ende der 1970er Jahre wurde die Förderung des sozialen Wohnungsbaus zugunsten individueller
Unterstützungsleistungen (Wohngeld) weiter zurückgefahren. Der Staat wandte sich von der Politik
kollektiver Unterstützung ab und einer Politik punktueller Förderung zu.
Immer mehr Mittelschichtfamilien verließen die HLMs. An ihre Stelle traten ärmere Familien und andere
Wohnungssuchende,
darunter
viele
Einwandererfamilien,
die
sich
glücklich
schätzten,
ihre
Übergangswohnheime verlassen zu können.
Die Wohnungsgesellschaften reagierten mit Investitionen in die profitableren Gebäude und kümmerten sich
3
nicht mehr um weniger attraktive Siedlungen, in denen immer mehr MigrantInnen wohnten. Am Ende der
1970er Jahre waren die aus minderwertigen Baumaterialien errichteten Gebäude bereits am Verfallen und
die ursprünglich vorgesehenen Gemeinschaftsanlagen nur in wenigen Fällen realisiert worden. Mit dem
Anstieg der Arbeitslosigkeit verarmten die Bewohner der Siedlungen, wo 40% jünger als 25 Jahre sind,
zunehmend.
1977 versuchte die Regierung mit dem HVS-Programm die Probleme in den Griff zu bekommen. Die
Wohnungsbaugesellschaften kamen in den Genuss von Subventionen, mit denen die dringendsten
Renovierungsarbeiten sowie kulturelle Aktivitäten finanziert werden sollten.
1.2. Arbeitsmarktpolitik und Immigration
Die Arbeitsimmigration wurde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowohl mit demographischen als auch
mit ökonomischen Zielsetzungen staatlich reguliert. Frankreich hatte im Vergleich zu den frühen 1930er
Jahren anderthalb Millionen EinwohnerInnen verloren und das Durchschnittsalter der Bevölkerung stieg. Um
sich unter den großen Nationen behaupten und die Wirtschaft ankurbeln zu können, musste außerhalb der
Landesgrenzen nach den benötigten Arbeitskräften gesucht werden.
Obwohl die Experten des Bevölkerungsministeriums (Ministère de la Population) der Einwanderung aus
nordeuropäischen Ländern aus rassistischen Motiven den Vorzug gaben, griff man vor allem auf algerische
MigrantInnen zurück. Sie boten den Unternehmen aufgrund ihres besonderen Status als »muslimische
FranzösInnen aus Algerien«1 den Vorteil, kein Visum zu benötigen. Zudem versuchte man mit der forcierten
Auswanderung nach Frankreich, der aufkommenden algerischen Unabhängigkeitsbewegung das Wasser
abzugraben. So stieg allein zwischen 1946 und 1954 die Zahl der AlgerierInnen in Frankreich von 22.000 auf
210.000.
Ohne
den
massiven
Rückgriff
auf
die
Arbeitskraft
von
Einwanderern
wären
die
ehrgeizigen
Wohnungsbauprogramme nicht zu realisieren gewesen. Ende der 1960er Jahre arbeiteten die Hälfte der in
Frankreich ansässigen Algerier und Portugiesen im Bausektor. 2 Auch die Schwerindustrie, die Landwirtschaft
und die im Zuge des Nachkriegsbooms zur Fließproduktion übergehenden Konsumgüterindustrien waren auf
die Arbeit der MigrantInnen angewiesen, denen die schwersten und zugleich am schlechtesten entlohnten
Arbeiten vorbehalten blieben.
Der Algerienkonflikt: Krieg gegen die Bevölkerung
Mit
dem
Ausbruch
des
Algerienkriegs
1954
verschärfte
die
Regierung
die
Kontroll-
und
Repressionsmassnahmen gegenüber den algerischen EinwandererInnen vehement. Die »in ›der Metropole‹
ansässigen muslimischen Franzosen« wurden als das Vermehrungsmilieu eines neuen inneren Feindes
wahrgenommen, der sowohl Kommunist als auch Unabhängigkeitskämpfer sein konnte.
In Algerien wurden umfassende Counterinsurgency-Maßnahmen ergriffen, die bereits während des
Indochinakriegs erprobt und bald schon in einer eigenen Militärdoktrin, der sogenannten doctrine de la
guerre révolutionnaire (Revolutionskriegsdoktrin), ausformuliert wurden.3
1
Im September 1947 wurde allen AlgerierInnen die französische Staatsbürgerschaft zuerkannt (Algerien-Statut).
Diese Reaktion auf das Erstarken der seit Ende der 30er Jahre bestehenden algerischen Unabhängigkeitsbewegung
konnte den Kampf um die Loslösung von Frankreich jedoch nicht aufhalten.
2
L. Pitti, Histoire politique des immigrations (post)coloniales: France 1920-2008, Paris 2008, S. 98.
3 Im Zentrum dieser Militärdoktrin stand die Bevölkerung, die als eigentlicher Ausgangspunkt der militärischen
Bedrohung begriffen wurde und deren Kontrolle als vorrangig galt. Im Kalten Krieg wurde die Doktrin gleichermaßen
4
Zur gleichen Zeit als diese Doktrin in Algerien zur Anwendung kam, wurden in der französischen Metropole
unter der Schirmherrschaft des Polizeipräfekten von Paris, Maurice Papon, 4 die Kontroll- und
Registrierungsverfahren wiederbelebt, denen die jüdische Bevölkerung unter der Vichy-Regierung
ausgesetzt gewesen war. Seinen Höhepunkt erreichte das repressive Vorgehen gegen die »muslimischen
Franzosen« am 17. Oktober 1961. Einige Tage zuvor hatte die Pariser Polizeipräfektur eine nächtliche
Ausgangssperre
für
die
»muslimischen
Franzosen«
verhängt,
woraufhin
der
algerische
Unabhängisgkeitsbewegung FLN zu gewaltlosen Protestdemonstrationen aufgerufen hatte.
Der französische Staat reagierte mit der Gefangennahme und Verschleppung mehrerer tausend
DemonstrantInnen
–
unter
ihnen
zahlreiche
Kinder
–
in
verschiedene
improvisierte
Gefangenensammelstellen wie Fußballstadien und Sporthallen, wo sie mehrere Tage festgehalten wurden.
Am Ort der Demonstration richteten Polizei und/oder Armeeeinheiten ein Massaker an. Die Zahl der
Getöteten wird auf bis zu 300 geschätzt, zahlreiche Leichen wurden noch Tage später aus der Seine
geborgen.
Nach der Unabhängigkeit Algeriens
Die Unabhängigkeit Algeriens markierte einen Wendepunkt in der Geschichte der Einwanderung nach
Frankreich. Nun wurden die AlgerierInnen zu »AusländerInnen«.
Dennoch sahen die Abkommen von Evian, mit denen die algerische Unabhängigkeit formal festgeschrieben
wurde, Reisefreiheit für FranzösInnen und AlgerierInnen in beiden Ländern vor. Dem französischen Staat
war an der Wahrung seiner ökonomischen und militärischen Interessen in Algerien gelegen, wozu vor allem
die Versorgung mit günstigem algerischem Erdöl und die Präsenz französischer Militärstützpunkte auf
algerischem Territorium gehörte.
Mithilfe der Regelung zur Reisefreiheit erhoffte er sich zudem Frankreich eine größere Community in
Algerien erhalten zu können, doch die ansässigen Franzosen reisten 1962 massenhaft nach Frankreich aus.
Die algerische Unabhängigkeit fiel mit einer neuen Phase wirtschaftlichen Wachstums in Frankreich
zusammen. Hunderttausende Arbeitskräfte wurden für die traditionell von Migrationsarbeitern erledigten Jobs
(in der industriellen Produktion, in der Bau- und Landwirtschaft) gesucht. Mehr als drei Millionen Menschen
ließen sich zwischen 1962 und 1982 in Frankreich nieder. Die Zahl der AlgerierInnen in Frankreich stieg von
350.000 auf 800.000 Personen, die der MarokkanerInnen von 310.000 auf 440.000. 5 Lediglich die Zahl der
TunesierInnen sank von 26.000 auf 19.000, während 157.000 Personen aus anderen afrikanischen Ländern
zuwanderten. Für Algerien waren die nach Frankreich Ausgewanderten eine willkommmene Devisenquelle,
für französiche Unternehmen gern gesehene, billige Arbeitskräfte.
Immigration, Sicherheitspolitik und »neue Gesellschaft«
1969 verkündete der französische Premierminister Chaban-Delmas im Parlament sein Ziel, in Frankreich
auf kommunistische wie auf antikoloniale Bewegungen angewandt. Kommunist und Antikolonialist verschmolzen
gleichsam zu einer einzigen bedrohlichen Figur. Das Mittel der Aufstandsbekämpfung war der Terror gegen die
Bevölkerung. Um auf die Aktionen des in der Bevölkerung verwurzelten Gegners zu antworten, müsse das französische
Militär innerhalb der Bevölkerung Angst und Schrecken verbreiten. Das Militär sollte dabei gleichsam chirurgisch gegen
die als krank wahrgenommenen Glieder des »Volkskörpers« vorgehen und die Bevölkerung gegen subversive
Bestrebungen immunisieren oder besser noch, dazu bewegen, sich selbst zu immunisieren.
4
Maurice Papon war ein französischer Politiker, Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher. Während des Zweiten
Weltkriegs war er Inspektor des Dienstes für jüdische Fragen des Vichy-Regimes. In dieser Position kollaborierte er mit
der deutschen Besatzung. Erfolgreich verbarg Papon seine Vergangenheit als Nazi-Kollaborateur, wurde von Charles de
Gaulle im Amt bestätigt und machte rasch Karriere.
5
Am stärksten – von 90.000 auf 760.000 Personen – wuchs der Anteil der portugiesischen Bevölkerung.
5
eine »neue Gesellschaft« (nouvelle société) zu errichten, die das »Chaos« des Jahres 1968 überwinden
sollte6. Er kündigte u.a. Privatisierungsmaßnahmen an, um die »Wettbewerbsfähigkeit« der französischen
Wirtschaft zu steigern. Das Projekt der »neuen Gesellschaft« beinhaltete vor allem aber auch einen neuen
sicherheitspolitischen Ansatz. Die Anwendung einiger Aspekte der Revolutionskriegsdoktrin auf dem
Territorium der französischen Metropole sollte auf unbestimmte Zeit ausgedehnt werden, um die Entstehung
von Protestbewegungen wie jener von 1968 von vornherein zu verhindern.
Bevorzugtes Experimentierfeld für die neue Sicherheitspolitik waren die migrantischen Communities:
- Abschiebungen galten als Mittel zur »Immunisierung des Volkskörpers gegen revolutionäre Bewegungen«. 7
- Gleichzeitig rückte die Alltagsdelinquenz, die meist mit den migrantischen Communities in Verbindung
gebracht wurde, in den Mittelpunkt der Bemühungen um sicherheitspolitische und strafrechtliche
Neuerungen.
- Das sogenannte »loi anti-casseurs« (Anti-Krawall-Gesetz) griff das aus dem Algerienkonflikt bekannte
Prinzip der »responsabilité collective« (kollektiven Verantwortung) wieder auf und richtete sich auch gegen
linksradikale Gruppen.
- Auch die Verschärfung des französischen Grenzschutzes war Teil dieser »als Reaktion auf die Revolten
von 1968 entwickelten Strategie zur Reproduktion und Verteidigung des Kapitalismus«. 8
- 1973 wurden sogenannte brigades anti-gangs (Anti-Gang-Brigaden) geschaffen. Zu ihren Aufgaben zählte
die Bekämpfung der Alltagsdelinquenz, der organisierten Kriminalität und des Terrorismus.
Der sogenannte Plan Vigipirate, ein in den letzten Jahren mehrfach aktualisiertes Bündel von
Antiterrorismusmaßnahmen, trat 1978 erstmals in Kraft.
Während sich die Sicherheitspolitik verschärfte, wurde auch das Migrationsregime immer restriktiver. In einer
Reihe von Beschlüssen aus dem Jahr 1972 wurden Arbeitsvertrag und »ordnungsgemäßer Wohnort«
(logement décent) zu Bedingungen für den Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung erklärt. Der Zugang zu
einem legalen Aufenthaltsstatus wurde erschwert, was die Reihen der illegalisierten MigrantInnen, der Sans
Papiers, anschwellen ließ. Mit dem Hinweis auf diese Sans Papiers konnte dann wiederum eine intensivere
Regulierung der Migration gerechtfertigt werden. Ab 1974 galt das Recht auf »Einwanderung aus
ökonomischen oder familiären Gründen« (immigration économique et familiale) nur noch für Personen aus
der (damaligen) EG. 1977 führte die Regierung eine als Unterstützungsleistung kaschierte Prämie für die
Rückkehr ins Ursprungsland ein. Außerdem wurden durch verschiedene administrative Maßnahmen die
Möglichkeiten für migrantische Familien, einer geregelten Erwerbsarbeit nachzugehen, eingeschränkt,
ebenso die Möglichkeit, sich ohne französischen Pass an der Universität einzuschreiben. 1980 wurden die
ersten Abschiebegefängnisse eröffnet. Die Möglichkeiten für NichteuropäerInnen legal nach Frankreich
einzuwandern oder dort Asyl zu erhalten, sind seitdem weiter eingeschränkt worden, und das sowohl unter
»linken« als auch »rechten« Regierungen.
In den 1960er und Anfang der 1970er Jahre noch primär als politische Bedrohung angesehen, wurden
EinwandererInnen nun als ökonomische und demographische Gefahr – als Bedrohung der französischen
Identität – wahrgenommen. Der »Assimilierungsdiskurs« gipfelte in der Aussage, diese erweise sich nur bei
6
Jacques Delors, damals Berater von Jacques Chaban-Delmas, kann als einer der Urheber dieses Projekts einer
»neuen Gesellschaft« gelten. Delors wurde unter der Regierung Mitterrand 1981 Wirtschafts- und Finanzminister und
behielt dieses Amt bis 1984.
7
Rigouste, Purifier le territoire: www.reseau-terra.eu/article738.html, Zugriff: 13.03.2009.
8
Ebd.
6
den EinwandererInnen aus außereuropäischen Ländern als problematisch. Dieser Diskurs stieß auf ein
beträchtliches Echo und wirkte lange nach, wie ein Zitat des Vordenkers der französischen
Sozialdemokraten, Marcel Gauchet, von 1985 belegt: »Die Prägung eines Menschen durch den Islam lässt
sich nicht so einfach beseitigen, wie sich die Spuren des pikardischen Dialekts auslöschen oder die
traditionell bretonische Weltsicht beseitigen ließen, und es fehlt uns am nötigen Nachdruck, um aus kleinen
Senegalesen gute Franzosen zu machen, so wie uns das einmal mit kleinen Polen gelungen ist.« 9
Die gesamten 1970er Jahre hindurch kämpften Arbeitsmigranten gegen schlechte Arbeitsbedingungen und
die hierarchische Spaltung der Belegschaften in den Betrieben. In der Schwer- und Automobilindustrie, wo
besonders viele migrantische Arbeitskräfte beschäftigt wurden, fanden zahlreiche, meist wilde Streiks statt. 10
Die MigrantInnen wehrten sich auch gegen schlechte Wohnbedingungen. So kam es u.a. zu einem
vierjährigen Mietstreik (1975-1979) in den Wohnheimen der Sonacotra (Société nationale de construction de
logements pour les travailleurs – Gesellschaft für Arbeiterwohnungsbau). Schließlich wurde auch gestreikt,
um gegen Abschiebungen zu protestieren. Linke Gruppen und Parteien erklärten sich mit diesen Kämpfen
solidarisch. Die Mobilisierung zugunsten der Einwanderer trug auch zur organisatorischen Konsolidierung
der Linken bei. Nutznießer der gestärkten und zunehmend einheitlich agierenden Linken war die Parti
socialiste (PS – Sozialistische Partei), die 1981 die Präsidentschaftswahlen gewann.
1.3. Die 1980er Jahre
Der Wahlsieg des PS, nach 25 Jahren »rechter« Regierung, erweckte Hoffnungen auf mehr soziale
Gerechtigkeit, die sich in den ersten Monaten der siebenjährigen Amtszeit von François Mitterand auch zu
bestätigen schien. Der Mindestlohn wurde um 10% erhöht, die Sozialhilfe aufgestockt, die gesetzlich
vorgeschriebene Wochenarbeitszeit von 40 auf 39 Stunden gesenkt, eine fünfte Woche bezahlten Urlaubs
gewährt sowie eine Vermögenssteuer eingeführt und die größten Banken und Konzerne wurden
verstaatlicht.
Im Bereich der Sicherheitspolitik wurden zwar einige der berüchtigsten Gesetze zur Kontrolle der
Einwanderer aufgehoben, aber die grundlegenden Konzepte aus den 1960er und 1970er Jahren wurden
nicht in Frage gestellt.11
Die PS hatte sich der Modernisierung des Landes, seines Staatsapparates und seiner Wirtschaft
verschrieben.
Die
Politik
der
neuen
Regierung
zeichnete
sich
u.a.
durch
eine
Vorliebe
für
Kulturveranstaltungen und öffentliche Feste aus, die an den Geist des Pariser Mai anknüpfen sollten. Das
Feiern wurde zu einem Instrument der Modernisierung. Das Fest bestimmte geradezu den »Rhythmus des
republikanischen Kalenders« ebenso wie die »enthusiastische Verherrlichung der Wissenschaft und der
Technologie«.12 Die Institutionalisierung und Orchestrierung der Festkultur wurde Kulturminister Jack Lang
anvertraut, auf den u.a. die Fête de la musique zurückgeht, die als »größtes Konzert der Welt« zum ersten
Mal am 21. Juni 1982 stattfand.
9
Zit. nach F. Cusset, La décennie. Le grand cauchemar des années 80, Paris 2006, S. 109.
10
Pitti, Histoire politique des immigrations (post)coloniales, S. 95-111.
11
Mathieu Rigouste: L'Ennemi interieur. La généalogie coloniale et militaire de l’ordre sécuritaire dans la France
contemporaine, Paris 2009.
12
Francois Cusset: La décennie. Le grand cauchemar des années 80, Paris 2006. S. 62 u. 64.
7
Die »Rodeos« von Les Minguettes und ihre Vorgeschichte
Bereits seit Anfang der 70er Jahre kam es immer wieder zu Konfrontationen zwischen Jugendlichen und der
Polizei im Großraum Lyon. 13 1971 führte eine rassistische Beleidigung in einem Einkaufszentrum bei Vaulxen-Velin zu einer Schlägerei mit der Polizei. 1978 wurden die ersten Rodeos gemeldet. 1979 kam es zu
heftigen Auseinandersetzungen zwischen Einwohnern und Polizei.
Seit Anfang der 70er Jahre wurde in Lyon an einer verbesserten polizeilichen Erfassung des Ballungsraums
gearbeitet, einschließlich der »permanenten, präventiven und territorialisierten Überwachung gewisser
Arbeiterviertel«.14
Trotzdem stand im Frühling 81 Les Minguettes, eine Lyoner Vorstadt, mit ihren futuristischen Türmen, ihren
9.000 Wohnungen, von denen viele leer standen und ihren zahlreichen Arbeitslosen im Blickpunkt der
französischen Öffentlichkeit. Mitten im Präsidentschaftswahlkampf waren der katholische Priester, Christian
Delorme, der evangelische Pastor, Jean Costil und der algerische Jugendliche, Hamid Boukhrouma, aus
dem Viertel für einen Abschiebestopp in den Hungerstreik getreten. Mitterand besuchte sie und wollte sich im
Falle eines Sieges für ihre Forderungen einsetzen. Er versprach die Legalisierung aller MigrantInnen ohne
gültige Ausweispapiere, die Aufhebung des Verbots zur Gründung von Vereinen für AusländerInnen und die
Gewährung des Wahlrechts bei den Kommunalwahlen.
Nach dem Wahlsieg Mitterands durften Minderjährige tatsächlich nicht mehr abgeschoben werden. Und den
MigrantInnen wurde erlaubt, eigene Organisationen zu gründen. Die anderen Versprechungen hielt der
Präsident nur zum Teil. Von 400.000 Personen, die ohne Aufenthaltsgenehmigung in Frankreich lebten,
wurden nur 100.000 legalisiert. Und bis heute dürfen sich nicht-europäische Staatsangehörige nicht an den
Kommunalwahlen beteiligen.
Die Polizei beantwortete den Abschiebestopp für Jugendliche mit vermehrten Razzien und Kontrollen in den
Banlieues. Aufgrund des Hungerstreikes, stand Minguettes besonders im Fokus polizeilicher Maßnahmen.
So standen sich dort im Laufe des Sommers 1981 mehrere Male Jugendliche und Polizisten bei
gewalttätigen Auseinandersetzungen gegenüber. Etwa zehn Fahrzeuge gingen in Flammen auf. Einige
wurden im Stadtzentrum gestohlen, bevor sie mit hohem Tempo durch das Viertel gefahren wurden. Diese
»Zwischenfälle« – wie die Presse sie bezeichnete – erinnern an ein französisches Remake von »Denn sie
wissen nicht was sie tun«15 und gingen als »Rodeos von Minguettes« in die Geschichte ein. Sie gelten als
erste Episode einer langen Serie gewalttätiger urbaner Auseinandersetzungen.
Öffentliches Interesse
Von den Auseinandersetzungen in den 70er Jahren hatte nur die lokale Presse berichtet. Das änderte sich
ab den »Rodeos von Les Minguettes«. Am 21. Juli 1981 berichtete der rechtslastige Figaro: »In den Vierteln
mit hoher maghrebinischer Dichte wird die Situation explosiv (…). Die Regierung ermutigt die Delinquenten
durch den Abschiebestopp für zweifelhafte Individuen«. 16 Der Figaro behauptete, die nicht mehr
abschiebbaren Ausländer wären die Unruhestifter. Andere Medien griffen die Berichterstattung auf, doch
erschienen die Artikel lediglich auf den hinteren Seiten, da die Ereignisse nur in lokalem Zusammenhang
13
Michelle Zancarini-Fournel, Généalogie des rébellions urbaines en temos de crise (1971-1981), in: Vingtième
Siècle. Revue d’histoire, Nr. 84, 2004, S. 119-127.
14
Ebd.
15
Film mit James Dean, in dem es zu einem tragisch endenden Rennen mit gestohlenen Autos kommt.
16
Zitiert in: Gérard Noiriel, Immigration, antisemitisme et racisme en France, Paris 2005.
8
gesehen wurden.17
Schließlich übertrug zwei Monate nach den Zwischenfällen ein öffentlicher Fernsehsender seine 13 Uhr
Nachrichten live aus Minguettes. In einer Reportage wurde über die Lebensbedingungen der
EinwohnerInnen berichtet: die hohe Bevölkerungsdichte eines baufälligen aber teuren Viertels, den »Auszug
der Franzosen«, die Verarmung, die Kriminalität, der hohe Anteil an EinwandererInnen, deren Kinder sich
»nicht mehr als Maghrebiner fühlen (…) und die nicht als Franzosen akzeptiert sind«, die
Jugendarbeitslosigkeit und die fehlenden Qualifikationsmöglichkeiten für Jugendliche. 18 Eine Soziologin
vertrat in einem Interview die Ansicht, dass schließlich »jeder gern mit Leuten zusammenlebt, die leben wie
man selber«, also mit »echten« Franzosen. Im Gegensatz dazu versuchte ein Mann, umringt von anderen
Jugendlichen des Viertels, deren Position zusammenzufassen: Sie wollen, dass ihnen »die Möglichkeit
gegeben wird, sich auszudrücken«, dass sie »von jemand Kompetentem repräsentiert werden«, dass sie
»von allen Leuten gehört werden« über das Viertel hinaus, und dass die Leute versuchen, sie zu verstehen«.
Er betonte die Entschlossenheit, sich aus der Verachtung zu befreien, der die Ärmsten der Bevölkerung
ausgesetzt seien. Sie forderten politische Integration und die Anerkennung der Immigration als wesentlicher
Bestandteil der französischen Gesellschaft.
Die Sozialistische Partei und die Banlieues
Frankreich war 1981 durch den Wahlsieg Mitterands ein Land im Aufbruch. Die Wirtschaftspolitik des PS war
nachfrageorientiert: Durch eine Stärkung des Konsums sollte die wirtschaftliche Entwicklung angekurbelt
werden. Technologische Innovation sollten Frankreich nach vorne bringen. So weihte Mitterand Ende
September 81 in Lyon die erste TGV-Verbindung ein. Seitdem liegt die Hauptstadt der Region Rhône-Alpes
nur zweieinhalb Zugstunden von Paris entfernt. Die Ereignisse in Minguettes, das nur unzureichend mit
öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossen war, schienen von Lyon weiter entfernt zu sein, als der Eiffelturm.
Von den Sicherheitspolitischen Leitlinien wollten die Sozialisten allerdings nicht abrücken. »Ich will, dass auf
den Straßen Tag und Nacht uniformierte Polizisten zu sehen sind«, erklärte Innenminister Gaston Defferre. 19
Die festgenommenen Jugendlichen von Les Minguettes wurden zu hohen Haftstrafen verurteilt. Eine
Kommission von Lokalpolitikern wurde beauftragt, neue Sicherheitsmaßnahmen zu entwickeln. 20
Nur wenige Monate nach der Wahl kam die »linke« Regierung jedoch nicht umhin, soziale Maßnahmen
einzuleiten. Eine zweite Kommission von Lokalpolitikern wurde beauftragt, ein umfassendes sozialpolitisches
Konzept für den Umgang mit den Banlieues zu entwickeln. Dieser sogenannten »Nationale Kommission zur
sozialen Entwicklung der Viertel (CNDSQ) saß Hubert Dubedout, Bürgermeister von Grenoble und aktives
Mitglied der deuxième gauche (zweite Linke), vor.21 Seine Ernennung sprach für die Ratlosigkeit der
Regierung angesichts der unerwarteten Schwierigkeiten in den Banlieues. Die parteiinterne Opposition
bekam die Aufgabe zugeteilt, die man sich selbst anzugehen scheute. Die Dubedout-Kommission 22 knüpfte
an das HVS-Programm der 1970er Jahre an und schlug eine Kombination aus Sanierungsmaßnahmen und
Kulturveranstaltungen vor. Diese Vorschläge ergänzten die Repressionspolitik. Wer nicht abgeschoben
wurde, sollte »integriert« werden.
17
Sylvie Tissot, L’Etat et les quartiers. Genèse d’une categorie de l’action publique, Paris 2007, S. 21.
18
Siehe Archive Ina: www.ina.fr. La vie à Vénissieux. MIDI 2 A2 – 22/09/1981 – 00h05m33s.
19
Zitiert in Nicole Bachmann / Christian Le Guennec, Violences urbaines, Paris 2002.
20
Siehe unten im Text, dritter Absatz.
21 Die »deuxième gauche« war eine sozial-liberale Minderheitenströmung innerhalb der Sozialistischen Partei. Sie
forderte u.a. die Partizipation der Zivilgesellschaft an der lokalen Verwaltung.
22 Nach ihrem Vorsitzenden wird die CNDSQ auch Kommission Dubedout genannt. Auf die im Bericht entwickelten
Analysen und Strategien, die ab 1983 umgesetzt wurden, wird weiter unter eingegangen.
9
Parallel zur CNDSQ befassten sich andere Kommissionen mit der Jugendarbeitslosigkeit und der Reform
des Schulwesens. Die Vorschläge dieser Kommissionen zielten auf eine verbesserte berufliche
Eingliederung der Jugendlichen. Bestimmte Gebiete wurden zu »zones d’éducation prioritaire« (ZEP –
bildungspolitischen Schwerpunktgebieten) ernannt. Die als ZEP deklarierten Gebiete waren in etwa mit den
früheren ZUP identisch. Die dort gelegenen Schulen erhielten Zuschüsse. Die Unterrichtsmethoden wurden
allerdings nicht in Frage gestellt – dieser Ansatz aus der Zeit um 1968 hatte sich überlebt.
1982 gab es die ersten Aktivitäten gegen sommerliche Unruhen (anti-été-chaud, wörtlich: gegen den heißen
Sommer). Unter dem Vorwand, Jugendlichen aus sozial benachteiligten Stadtvierteln die Möglichkeit zu
Fernreisen zu bieten, wurden jene Jugendliche, die als unangepasst galten, den Sommer über aus den
Siedlungen entfernt. So durften die Teenager von Les Minguettes im Sommer 1982 in vom Militär zur
Verfügung gestellten Zelten kampieren. Es sollte sich jedoch zeigen, dass solche Aktivitäten nicht
ausreichten, um weitere Auseinandersetzungen in der Siedlung zu verhindern. Sie waren aber als
Modellversuch von Bedeutung, schufen sie doch die Grundlage für einen neuen Umgang des Staates mit
den Banlieues: »Partnerschaft« war der Überbegriff für diese neue Politik. 23
Verschiedene soziale und politische Akteure sollten von nun an in Fragen der Prävention und der Sicherheit
kooperieren und ihre Kompetenzen einbringen.
Der Umbruch von 1983: Austeritätspolitik und Rassismus
Trotz der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik kam die Ökonomie nicht wie vorgesehen wieder in Gang.
1982 gab es fast zwei Millionen Arbeitslose. Der Französische Franc wurde abgewertet, ein Lohn- und
Preisstopp angeordnet. 1983 schwenkte die Regierung auf einen rigorosen Sparkurs um. Die Sozialisten
bekehrten sich zum Neoliberalismus, die Regierung forcierte eine Reihe der üblichen Reformen
(Rationalisierung, Automatisierung, Entlassungen, Leiharbeit usw.).
Im Frühling 1982 kam es in der Automobilindustrie zu heftigen Arbeitskämpfen, durch die die zahlreichen
Migrationsarbeiter in diesem Sektor deutlich sichtbar wurden. Ihre Kampfbereitschaft war groß, denn sie
wurden in den am schlechtesten bezahlten Jobs eingesetzt und standen am unteren Ende der
hierarchischen Arbeitspyramide.24 Zwar wurden neue gewerkschaftliche Rechte erkämpft, letzlich gingen die
Arbeitskämpfe jedoch verloren. Die Automobilindustrie steckte in einer Krise. Weitere Automatisierungen
sollten für eine Senkung der Kosten sorgen. Von nun an sollten nur qualifizierte Arbeiter festangestellt
werden. Es kam zu Massenentlassungen, die in den Arbeitervierteln heftigen Unmut provozierten.
Den
(gering
qualifizierten)
Einwanderern
wurde
eine
Mitschuld
an
den
Schwierigkeiten
der
Automobilindustrie nachgesagt. Solch rassistische Positionen wurden bis weit in die politische Klasse hinein
vertreten. Premierminister Pierre Mauroy äußerte die Ansicht, die »wichtigsten noch ungelösten Probleme«
würden auf »eingewanderte Arbeiter« zurückgehen. Diese würden »von religiösen und politischen Gruppen
aufgewiegelt, deren Ideen wenig mit den gesellschaftlichen Realitäten Frankreichs zu tun [hätten]«. 25 Indem
er einen Zusammenhang zwischen religiösem Fanatismus und den Streiks in Frankreich unterstellte, nahm
23 Das »anti-été-chaud«-Programm führte zu zahlreichen Forschungsprojekten und zu ersten großen soziologischen
Untersuchungen über die Jugendlichen in den Banlieues.
24
Laure Pitti, La main d’oeuvre algérienne dans l’industrie automobile (1945-1962), ou les oubliés de l’histoire,
in: »Hommes et migrations« n°1263, sept.-oct. 2006.
25 Nicolas Hatzfeld et Jean-louis Loubet: Les conflits Talbot, du printemps syndical au tournant de la rigueur (19821984), Vingtième Siècle. Revue d’histoire 84, 2004, S. 159. Der Hintergrund des aufkommenden antiislamischen
Rassismus bildet die Revolution im Iran.
10
Mauroy die Eckpunkte eines neuen Diskurses über die postkoloniale Immigration vorweg, der die
Einwanderer und ihre Kinder mit Islamismus und Terrorismus in Verbindung bringt.
So war es kein Zufall, dass der Front National bei den Kommunalwahlen von 1983 erfolgreich abschnitt. Dem
Wahlerfolg der Rechtsextremen ging eine Kampagne voraus, in deren Mittelpunkt die »Verteidigung
französischer Arbeitsplätze« und die Dämonisierung der Einwanderer standen. Im gleichen Jahr erschütterte
eine Serie von rassistischen Morden die Öffentlichkeit.
In Les Minguettes hatte sich das Verhältnis zwischen den EinwohnerInnenn und der Polizei nicht entspannt.
Jugendliche schlossen sich in einem Verein namens SOS Avenir Minguettes zusammen. Sie forderten an
den Sanierungsarbeiten im Viertel beteiligt zu werden sowie die Einrichtung einer unabhängigen
Untersuchungskommission zur Polizeigewalt.
Wie von den Jugendlichen befürchtet, eskalierte die Situation. Als der Präsident von SOS Avenir Minguettes,
Toumi Djaïdja, versuchte, während eines massiven Polizeieinsatzes zu schlichten, traf ihn eine Kugel im
Bauch.
Die AktivistInnen von Les Minguettes reagierten. Sie organisierten eines landesweiten Protestmarsch »für
die Gleichheit und gegen den Rassismus« nach dem Modell der gewaltlosen Initiativen von Ghandi und
Martin Luther King. Dabei erhielten sie die Unterstützung christlicher, humanistischer und anti-rassistischer
Netzwerke, politischer Parteien und Gewerkschaften und mobilisieren viele nichtorganisierte Jugendliche.
Die antirassistische Bewegung, die sich bis dahin auf die Verteidigung der zugewanderten Arbeiter
konzentriert hatte, veränderte sich radikal. Plötzlich ergriffen auch Jugendliche und Frauen das Wort.
Vereinnahmung des Antirassismus
Der »Marsch für die Gleichheit und gegen den Rassismus« startete am 15. Oktober in Marseille und
erreichte am 3. Dezember Paris, wo er von mehr als 100.000 Menschen feierlich empfangen wurde. Im
Demonstrationszug waren keine Fahnen oder parteipolitischen Symbole zu sehen. Es gab lediglich ein
Transparent mit der Aufschrift: »Steckt die Waffen ein, wir kommen. Die Jagd ist beendet!« Arabische Mütter
liefen vorneweg und hielten die Fotos ihrer ermordeten Kinder in den Händen, ein Bild, das an die damaligen
Demonstrationen in Chile erinnerte.
Die Organisatoren des Marsches wurden von Präsident Mitterand empfangen. Er kündigte die Vergabe
zehnjähriger Aufenthaltsgenehmigungen – die eine Arbeitserlaubnis beinhalteten – sowie die Erweiterung
des Strafgesetzbuches um den Tatbestand des rassistischen Übergriffs an. Außerdem verpflichtete sich die
Regierung, die »soziale Entwicklung der Stadtviertel« fortan zu einem Schwerpunkt ihrer Politik zu machen.
Dieses scheinbare Entgegenkommen der PS verhinderte jedoch nicht die Verschärfung des französischen
Aufenthaltsrechts nur wenige Monate später.
Der Marsch von 1983 markierte den Auftritt der Einwandererkinder auf der politischen Bühne. Sie
formulierten deutlich ihre Kritik an der französischen Gesellschaft. Die »zweite Generation« wollte ihre
Zugehörigkeit zur republikanischen Gemeinschaft und die sich daraus ergebenden Rechte durchsetzen.
Gleichzeitig sollte der Marsch ihre an die Geschichte ihrer Immigration und Kämpfe gebundene Identität
unterstreichen.
11
Der Marsch wurde in den Medien bezeichnenderweise seines ursprünglichen Namens beraubt und in
»Marsch der Araber« (marche des beurs) umbenannt. Diese Bezeichnung, die sich im historischen
Gedächtnis Frankreichs festgesetzt hat, ist symptomatisch für die Rezeption dieser einzigartigen politischen
und kulturellen Bewegung, eine Rezeption, die auf Vereinnahmung hinauslief.
1984 wurde ein zweiter landesweiter Marsch organisiert, an dem sich allerdings bedeutend weniger
Menschen beteiligten. Doch entstanden im Zuge der Mobilisierung zahlreiche mittels Staatsgeldern gefördete
Organisationen, von denen SOS Racisme am bekanntesten wurde. In den Banlieues verfügte SOS Racisme
über so gut wie keine Basis, dafür bestanden jedoch freundschaftliche Beziehungen zur PS. Die Regierung,
die aufgrund ihrer Austeritätspolitik erheblich an Popularität eingebüßt hatte, erkannte die Vorteile, die sich
aus einem Aufgreifen antirassistischer Themen ergaben. Die autonom 26 agierenden Segmente der
antirassistischen Bewegung wurden damit an den Rand gedrängt. Zugleich wusste die PS natürlich um das
politische Gewicht der »zweiten Generation«. Immerhin verfügten die Kinder der Einwanderer über 800.000
Wählerstimmen.
Ab 1985 war das Symbol, die kleine gelbe Hand, von SOS Racisme allgegenwärtig. Kein Prominenter, der
das Logo nicht an seiner Jacke zur Schau stellte, wenn er im Fernsehen auftrat. Unter dem Motto Ne touche
pas à mon pote (Rühr meinen Kumpel nicht an) wurden Popkonzerte organisiert, die Hunderttausende
anzogen. Auf eine einfache moralische Forderung reduziert und von jeder effektiven politischen Praxis
entkoppelt, gerieten der Antirassismus von SOS Racisme und sein »multinationales Unternehmen der
Freundschaft« in die Kritik.
Viele Aktivisten misstrauten der Wiederannäherung an die politische Klasse und der im Umfeld von SOS
Racisme sich bewegenden beurgeoisie.27
Eine andere, fremdenfeindliche Kritik kam aus dem rechten Lager. »Werden wir in 30 Jahren immer noch
Franzosen sein?«, fragte Le Figaro und brachte auf der Titelseite der Ausgabe vom 24. Oktober 1985 das
Bild einer verschleierten Marianne.
Schließlich kam auch aus der PS Kritik. Bildungsminister Chevènement warf SOS Racisme Verrat an den
republikanischen Werten und mangelnde Abgrenzung vom Islam vor.
Der Integrationsbegriff wurde zum festen Bestandteil des politischen Diskurses der Linken. Den
Einwanderern wurde der Verzicht auf jeglichen Versuch, ihre Positionen jenseits der politischen Linie der PS
auszudrücken, abverlangt – sie sollten ins Korsett des Staatsbürgers geschnürt werden. Schließlich könne
einzig
die
Republik
sie
vor
Rassismus
und
den
Wechselfällen
des
Marktes
schützen.
Das
Unterwerfungsdispositiv der republikanischen Rhetorik war in Gang gesetzt. Bald schon sollte es, im Zuge
der ersten öffentlichen Debatten über den muslimischen Schleier, außer Kontrolle geraten. In der Politik der
»sozialen Entwicklung«, die auf die Wiederherstellung der staatlichen Kontrolle über die Banlieues zielte,
wurde dieses Unterwerfungsdispositiv praktische Politik.
2. »Soziale Entwicklung der Stadtviertel« (DSQ)
26
»Autonom« bezeichnet hier die Unabhängigkeit von den Parteien.
27
Beurgoisie: Wortspiel, Vermischung von bourgeoisie (Bürgertum) und beur (Araber). Bezeichnung für gut
situierte Personen mit arabischem Hintergrund.
12
2.1. Der Dubedout-Bericht
Die nach den Vorfällen von Les Minguettes im Sommer 1981 eingesetzten Dubedout-Kommission wollte die
Verzahnung von lokalen Verwaltungsstrukturen und zivilgesellschaftlichen AkteurInnen vorantreiben. Der
Ende 1982 vorgelegte Bericht der Kommission »Die Stadt gemeinsam neu gestalten«, wurde breit rezipiert
und prägte den staatlichen Umgang mit den Banlieues nachhaltig.
Der Bericht diagnostizierte eine »Krise des urbanen Modells, dem es nicht mehr gelinge, den Pluralismus der
sozialen und ethnischen Gruppen, aus denen sich die französische Gesellschaft zusammensetze, gerecht zu
werden«.28 Das eigentliche Krisenphänomen – die Frankreich seit den 70er Jahren heimsuchende soziale
Krise, die in der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, Massenarbeitslosigkeit und Verarmung der
Unterklassen zum Ausdruck kam – wurde ausgeklammert, um stadtplanerische Probleme in den Mittelpunkt
zu rücken.
Doch nicht die stadtplanerischen Beschlüsse der Nachkriegszeit, die Abgeschiedenheit der Siedlungen, ihre
schlechte Bauqualität oder das Fehlen von Gemeinschaftseinrichtungen wurden als problematisch benannt,
sondern die Entwicklung der Banlieues zu migrantisch geprägten Vierteln seit dem weitgehenden Exodus der
Mittelschichten. Sie seien keine Orte, an denen die erfolgreiche Assimilierung in die französische
Gesellschaft gewährleistet sei. Als »Eingangspforten in die Stadt und in die Republik« hätten sie sich nicht
bewährt. Es drohe eine Entwicklung hin zu einer »Ghettoisierung« und »rassischen Aufständen« wie in den
USA.29
Gleichzeitig unterstellte der Bericht den MigrantInnen ein doppeltes Versagen: Weder in der französischen
Gesellschaft noch in den politischen Strukturen der Republik seien sie aufgegangen. Da die ökonomischen
Hintergründe, unter denen die MigrantInnen am stärksten zu leiden hatten, außer Acht gelassen wurden,
blieben als Problemursache nur noch die Einwanderer selbst. Damit wurde die Ausgrenzung der
EinwohnerInnen der Banlieues weiter festgeschrieben.
2.1.1. Renovierung der HLM-Viertel unter Einbeziehung der Bewohner
Der Bericht initiierte das Programm DSQ – Soziale Entwicklung der Stadtviertel. Der Begriff des Quartier(s),
der in der Ära funktionalistischer Stadtplanung als antiquiert galt, kam wieder in Mode. Dahinter verbarg sich
die Hoffnung, eine simple terminologische Änderung – von »Vierteln« statt von Cités HLM (HLM-Siedlungen)
zu sprechen – könne genügen, um die vermeintlich in Auflösung begriffene Gesellschaftlichkeit in den
Banlieues wiederherzustellen und in die städtischen Strukturen einzubinden.
Neu war der Begriff der »sozialen Entwicklung«. Er sollte weniger an sozialpolitische Maßnahmen als an
wirtschaftliche Entwicklung erinnern – und damit die Möglichkeit einer planmäßigen Herstellung und
Stärkung von Gesellschaftlichkeit suggerieren.
Politisch drückte das Programm den Konsens über das Verschwinden des Wohlfahrtsstaates aus und ging in
die gleiche Richtung wie das HVS-Programm von 1977: Es sollten nur lokal begrenzte Staatshilfen gewährt
28
Zit. nach Jacques Donzelot / Catherine Mével / Anne Wyvekens: Faire société. La politique de la ville aux EtatsUnis et en France, Paris 2003, S.105.
29 Die Aufstände von Brixton, die sich nur wenige Wochen vor denen in Les Minguettes ereigneten, wurden jedoch
nicht als Vergleich herangezogen. Die politische Klasse Frankreichs scheute offenbar die Auseinandersetzung mit den
Parallelen zwischen den sozialen und politischen Verwerfungen in England und Frankreich.
13
werden. Die in den 70er von Linksradikalen entwickelten Prinzipien der Selbstorganisation wurden zur
Staatspolitik.30
Der Bericht diskutierte verschiedene Lösungsansätze wie den der Zerstreuung der MigrantInnen über die
ganze Stadt oder die Festsetzung von Ausländerquoten pro Gemeinde, um die »Ghettos« der armen
Einwanderer aufzulösen. Offensichtlich rassistische Ansätze, die aus unterschiedlichen Gründen wieder
verworfen wurden.
Fassaden neu streichen, gemeinnützige Einrichtungen bauen, Kultur- und Sportvereine finanzieren, waren
schließlich die wichtigsten konkreten Aktivitäten im Rahmen des DSQ-Programms.
Keine grundlegenden baulichen Veränderungen, sondern das Renovieren der Wohnsiedlungen unter
Beteiligung der BewohnerInnen hatte erhebliche finanzielle Vorteile. Staatliche Kredite erlaubten es ab 1983,
in 150 Banlieue-Siedlungen entsprechende Programme einzuleiten.
Als unerlässliche Voraussetzung für den Erfolg der DSQ-Programme galt die Beteiligung der
EinwohnerInnen. Nach den Vorstellungen der Dubedout-Kommission sollte eine Dynamik der Partizipation in
Gang gebracht werden, die die Banlieue-BewohnerInnen zur Selbsthilfe befähigen und aus der Abhängigkeit
staatlicher Unterstützung befreien würde.
Einerseits sollten also Sozialausgaben gesenkt, die finanzielle Belastung des Staates reduziert werden und
andererseits sollte die Partizipation der BewohnerInnen zur Wiederherstellung von sozialen Bindungen
beitragen, um so eine vormals über Beruf oder Partei- und Gewerkschaftszugehörigkeit gewährleistete
Gesellschaftlichkeit neu herstellen. Die Viertel würden dadurch eine als fehlend betrachtete Identität
herausbilden und für BewohnerInnen wie Investoren an Attraktivität gewinnen.
Zunächst sollten DSQ-Subventionen nur dort fließen, wo die BewohnerInnen zuvor in Eigeninitiative ein
passendes Projekt entwickelt hatten. Da es an solchen Projekten mangelte, wurden umgekehrt den
BewohnerInnen bestimmte über lokale Vereine vermittelte Projekte (etwa die Organisation von sportlichen
oder kulturellen Aktivitäten) vorgeschlagen.
Allerdings waren für die Ausführung der DSQ-Projekte dann nicht die Vereine, sondern die jeweilige
Verwaltung zuständig, die diese auch ko-finanzieren musste. Darüber hinaus hatten die Städte einen
Abgeordneten als Ansprechpartner für die BewohnerInnen zu ernennen, was kaum zu einer verbesserten
Kommunikation zwischen BewohnerInnenn und Verwaltung beitrug. Schließlich waren die lokalen
Verwaltungen verpflichtet »Kommunale Räte für die Soziale Entwicklung der Stadtviertel« zu gründen, die
sich als bürokratische Einrichtungen zur effizienten Abwicklung der DSQ-Maßnahmen, aber nicht als Foren
für einen offenen Dialog über die Zukunft der Viertel, erwiesen.
2.1.2. Ausbau und Institutionalisierung von DSQ
Die mit der landesweiten Koordination der DSQ-Programme beauftragten Institutionen wurden zwischen
1983 und 1988 ausgebaut. 1984 wurde das »Interministerielle Komitee der Städte« (CIV) ins Leben gerufen,
das bis heute regelmäßig tagt, um Banlieue betreffende Themen zu verhandeln. Die Verlautbarungen und
Beschlüsse des Komitees werden noch immer meist ohne jeden kritischen Kommentar in den Medien
wiedergegeben.
30 Dies ermöglichten nicht nur ehemalige Linksradikale, die nun innerhalb des Staatsapparates am DSQ-Programm
arbeiteten, sondern auch Gewerkschaften wie die CFDT, die die Prinzipien der Selbstorganisation in reformistische
Ansätze ummünzten.
14
Auch der »Fonds für städtische Solidarität« (FSU) wurde 1984 gegründet. Er wurde von der Zentralregierung
unterhalten und unterstützte die ärmsten Vorstadtgemeinden, die nicht über die Mittel Schulen, Kindergärten,
kulturelle sportliche und ähnliche Einrichtungen zu finanzieren, verfügten – war aber nur mit geringen Mitteln
ausgestattet und konnte sie nur wenig entlasten.
1988 wurde die CNDSQ-Kommission durch zwei neue Organisationen ersetzt: die
Délégation
interministérielle à la ville (DIV – interministerieller Ausschuss für die Stadt) und den Conseil national des
villes (CNV – Nationaler Rat der Städte).
Der CNV ist ein rein beratendes Gremium, das sich paritätisch aus LokalpolitikerInnen, StadtexpertInnen und
VertreterInnen zivilgesellschaftlicher Organisationen zusammensetzt. Die DIV ist fester Bestandteil des
Staatsapparats und beschäftigt sich ausschließlich mit den Banlieues. An ihr wird die fortschreitende
Institutionalisierung der DSQ-Programme im Laufe der 1980er Jahre besonders deutlich.
Immer mehr DSQ-Projekte wurden initiiert und die Verfahren vereinheitlicht. Schon bald gab es Projekte in
400 Stadtvierteln. Am Anfang stand stets die Erklärung eines Stadtviertels zum sozialen Brennpunkt und die
genaue Erfassung seiner besonderen sozialen Bedingungen. Darauf folgte die Festlegung auf bestimmte
Maßnahmen. Die Möglichkeiten, auf Bedürfnisse der BewohnerInnen zu reagieren, blieben, nachdem dieser
Entscheidungsprozess einmal in Gang gekommen war, beschränkt. Die Formalisierung des Ablaufs sollte die
Projekte vergleichbar und besonders erfolgreiche Strategien als solche erkennbar machen. Das
ursprüngliche Ziel der Selbsorganisation wurde zu einem standardisierten Kontrollsystem des sozialen
Lebens im Stadtteil durch die Stadtverwaltung.
2.2. Der Aufstand von Vaulx-en-Velin als Wendepunkt
Am 6. Oktober 1990 löste der Tod von Thomas Claudio, einem jungen Bewohner der Lyoner Vorstadt Vaulxen-Velin, einen mehrtägigen Aufstand aus. Nacht für Nacht kam es in der Siedlung Mas-du-Taureau zu
Auseinandersetzungen
zwischen
Jugendlichen
und
der
Polizei.
Autos
wurden
angezündet,
ein
Einkaufszentrum geplündert. Offiziellen Angaben zufolge war Thomas Claudio zu Tode gekommen,
nachdem er mit seinem Motorrad gegen eine Polizeisperre gestoßen war, doch die BewohnerInnen des
Viertels glaubten diese Version nicht. Zu viele andere Jugendliche waren bereits durch die Polizei ums
Leben gekommen. Diese bestand auf ihrer Sichtweise und wies jede Verantwortung für Claudios Tod zurück.
Der schwelende Konflikt zwischen der Bevölkerung und der Polizei rückte durch den Aufstand in den
Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit.
Anders als bei den Rodeos von Les Minguettes berichtete die nationale (und internationale) Presse
unverzüglich und umfangreich über die Ereignisse. Auf die Ursachen des Aufstandes wurde allerdings kaum
eingegangen. Er wurde als Symptom einer unbestimmten, in den Banlieues schwelenden Wut gedeutet, wo
sich die Probleme der gesamten Gesellschaft bündelten .31 Einzig die Libération nannte die Namen einiger
Dutzend Personen, die im Laufe der 1980er Jahre bei Polizeieinsätzen gestorben waren; die meisten mit
migrantischem Hintergrund. Doch auch die Libération vermied die weitere Analyse des Sachverhalts. Die
Wochenzeitung L’Express fragte mit scheinbarer Naivität: »Genügt der tragische Tod eines jungen
Motorradfahrers, um den Aufstand in Vaulx-en-Velin zu erklären?«
31
Vgl. Tissot, S. 26-29.
15
Der Aufstand erschien aus dieser Perspektive wie ein Rätsel, dessen versteckten Sinn es ans Tageslicht zu
befördern galt. Er war umso unbegreiflicher, als Mas-en-Taureau für ein Erfolgsmodell des DSQ gehalten
wurde. Der mediale Konsens lautete: an der »Sozialen Entwicklung der Stadtviertel« gibt es nichts
auszusetzen. Kein Aufstand durfte das Vertrauen in die DSQ-Politik in Frage stellen.
»Die Methode des Staates ist richtig,« erklärte Mitterand im Dezember 1990 anlässlich eines Besuchs der
Lyoner Vorstadt, der DSQ-Politik hätten lediglich die nötigen Mittel gefehlt.
Für die Projekte in insgesamt 400 Stadtvierteln waren ca. 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt worden.
Hinter der Entscheidung, an der DSQ-Politik (vorläufig) festzuhalten, stand die Einschätzung, die HLMSiedlungen würden sich immer weiter von der übrigen französischen Gesellschaft weg entwickeln, was
staatliches Eingreifen erforderlich mache. Was als sozialstaatliche Kontinuität verkauft wurde, beinhaltete
tatsächlich eine radikale Transformation sozialstaatlicher Institutionen unter den Leitbegriffen der
Modernisierung und Dezentralisierung.
2.3. Exklusion und »neue soziale Frage«
Der Begriff des »Quartiers« wurde wieder fallen gelassen und die DSQ-Politik wich der Politique de la ville,
die auch unter »Soziale Entwicklung der Stadt« (Développement social urbain) firmierte. Bei diesem neuen
Ansatz ging es weniger um eine endogene Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens in bestimmten
Stadtvierteln, als um die Anbindung dieser Viertel an den Rest der Stadt.
Diese Neuausrichtung beruhte auf einem Paradigmenwechsel in den Sozialwissenschaften. Seit Mitte der
80er Jahre warf eine Strömung der französischen Soziologie um Alain Touraine eine »neue soziale Frage«
auf. Ihr zufolge war die soziale Frage früherer Zeiten – die des Klassenkonflikts –, nunmehr dem Problem der
»Exklusion« gewichen. Die Gesellschaft bestehe nicht mehr aus Klassen, sondern sei auf zwei Gruppen
reduziert: Den Menschen, denen gesellschaftliche Teilhabe noch möglich sei, stehe ein wachsendes Heer
von »Ausgegrenzten« gegenüber. Die Verschärfung der Arbeitsbedingungen und die gravierende
Arbeitslosigkeit seien »der Exklusion und dem Problem der Stadt« gewichen, so wie die »Ausbeutung der
Ausgrenzung« gewichen sei.32 Allerdings bestimme die Arbeit »die Identität der Menschen nicht mehr so
stark wie in der Industriegesellschaft«.33 An die Stelle der Arbeit seien »die ethnische Herkunft, das
Geschlecht, der Bildungsgrad, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Region und das Alter« getreten, also
all das, woran sich die Protest- und Emanzipationsbewegungen der 1970er Jahre orientiert hatten. Dagegen
wurde die neue soziale Frage der Exklusion mit Fragen »der Immigration, der jugendlichen Delinquenz und
der Unsicherheit« und den gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, den sogenannnten
violences urbaines, in Zusammenhang gebracht.34 Somit drohe ein Zerfall der Gesellschaft.
Die intellektuelle Elite Frankreichs akzeptierte dieses Modell weitgehend, ebenso die Mitarbeiter der DIV,
unter denen sich viele ehemaligen 68er befanden. 35 Die Zustimmung zu Touraines soziologischem
Paradigma sollte nachhaltige Auswirkungen auf den staatlichen Umgang mit den Banlieues entfalten.
Touraine war vom Anbruch einer postindustriellen Ära überzeugt, in der zivilgesellschaftliche Organisationen
eine ähnlich bedeutende Rolle spielen würden wie zuvor die Organisationen der Arbeiterbewegung bei der
Integration der Arbeitern in die kapitalistische Gesellschaft. Zur gleichen Zeit begannen immer mehr
32
33
34
35
Ebd., S. 7.
Dubet u. Lapeyronnie, S. 26.
F. Dubet u. D. Lapeyronnie, Les Quartiers d’exil, Paris 1992, S.
Vgl. Tissot, S. 62-106.
16
SoziologInnen, die lange zur Arbeiterbewegung geforscht hatten, sich mit den Banlieues und ihren
BewohnerInnen zu befassen, wobei ihr Interesse insbesondere Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund
und der Delinquenz galt. François Dubet, der 1987 seine Studie La galère veröffentlichte,36 beschrieb das
Aufkommen einer neuen Epoche, die jene der Banlieues rouges ablöse und in der es keinen Klassenkonflikt
mehr gebe. Die Jugendlichen der Banlieues seien, da vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, nicht mehr fähig,
auf die Identitäts- und Integrationsangebote früherer Zeiten (Gewerkschaften, politische Parteien)
zurückzugreifen und fänden sich stattdessen in einem leeren, ungeregelten Universum wieder. Die Vororte
würden zum Raum einer verfallenden Ordnung und der Exklusion. Es gelte nun, die Transformation der
Vorstädte den Experten zu überlassen.
3. Politique de la ville: Die Banlieue als Experimentierfeld
1991 wurde ein ministère de la ville (Städteministerium) eingerichtet, das seitdem unter dem Dach des
Sozialministeriums für den Umgang mit den Banlieues zuständig ist. Die Politique de la ville übernahm die
Hauptfunktion der DSQ, die Verwaltung des Vereinslebens. Ihr wurden darüber hinaus zwei grundlegende
Aufgaben zugeteilt:
Die Förderung der »sozialen Durchmischung« (mixité sociale) und die »Modernisierung« öffentlicher
Dienstleistungen in den »benachteiligten Vierteln«. Parallel wurden in den Banlieues die Sicherheitskräften
umgestaltet und verstärkt. Somit wurden die Stadtviertel zum Laboratorium für neue Formen des Regierens.
3.1 Neue rassistische Diskurse und Praktiken
Das Konzept der mixité sociale
Das 1991 verabschiedete »städtische Orientierungsgesetz« (loi d’orientation pour la ville, LOV), auch
bekannt als »Anti-Ghetto-Gesetz«, galt als Antwort der Regierung auf den Aufstand in Vaulx-en-Velin. In den
dazugehörigen Debatten war immer wieder davon die Rede, dass es in den Banlieues eine stärkere soziale
Durchmischung (mixité sociale) durchzusetzen gelte.
Zwei Aspekte des LOV wurden als besonders bedeutsam eingeschätzt. Zum einen wurde ein »Recht auf die
Stadt« (droit à la ville) proklamiert, das als Recht der StadtbewohnerInnen auf »Lebensbedingungen und ein
Lebensumfeld [definiert wurde], die geeignet sind, den sozialen Zusammenhalt zu fördern und
Segregationserscheinungen zu vermeiden oder zu beseitigen«. Diese Regelung verpflichtete den Staat und
die lokalen Behörden, »die Wohnmöglichkeiten, die öffentlichen Einrichtungen und die öffentlichen
Dienstleistungen zu diversifizieren«. Zum zweiten sollte in den Stadtbezirken, die in Ballungsräumen lagen
und mehr als 3.500 Einwohner hatten, ein Anteil von 20% des Gesamtwohnungsbestandes als
Sozialwohnungen geschaffen werden.
Somit sollte das Gesetz nicht nur symbolischen Charakter haben, sondern konkret die Verteilung des
sozialen Wohnungsbaus – bzw. der Armen – über die städtischen Gebiete regeln. 37
Solange das Ideal sozial »durchmischter« Städte nicht erreicht sei, sei es Aufgabe der Politique de la ville,
36
F. Dubet, La Galère. Jeunes en Survie, Paris 1987 Galère bedeutet sowohl Sklavenschiff als auch Zwangsarbeit.
Hier steht es umgangssprachlich für die ganzen Schwierigkeiten, die entstehen, wenn man kein Geld hat.
37
Diese Zielsetzung spielte im Umgang mit den Banlieues während der nächsten Jahre eine bedeutende Rolle.
Das 2000 unter Jospin verabschiedete »Gesetz für urbane Solidarität und Erneuerung« (loi solidarité et renouvellement
urbains) greift die 20%-Richtlinie des LOV wieder auf; sie gilt dort für Bezirke mit mehr als 3.500 Einwohnern, in
Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern. Bezirke, die der Quote nicht gerecht werden, müssen ein Bußgeld entrichten.
17
für den »sozialen Zusammenhalt« in den Banlieues zu sorgen. Dabei müssten »innovative« Programme
gefördert werden, auch mit dem Ziel den verknöcherten, gegenüber den gravierenden Problemen der
Banlieues ohnmächtigen Staatsapparat, zu reformieren. Insofern wurde die Politique de la ville als
»Ausnahmepolitik« bezeichnet und legitimiert. Somit konnte die Politik der »Ausnahme« zum permanenten
Umgang des Staates mit den Banlieues werden, was die Ausweitung der dort gestesten Masnahmen auf das
ganze Territorium bzw. die gesamte Bevölkerung ermöglichte.
Das »Recht auf die Stadt« blieb eine bloße Proklamation. Die betroffenen Bezirke widersetzten sich der
Verpflichtung zum sozialen Wohnungsbau, bis die 20%-Richtlinie infolge des Wahlsiegs der Rechten 1993
schließlich aufgehoben wurde.
1995 gewann Jacques Chirac mit einer am Thema der »sozialen Spaltung« ausgerichteten Kampagne die
Präsidentschaftswahl. »Soziale Durchmischung« bedeutete nun, die Mittelschicht in die Banlieues
zurückzuholen – beispielsweise indem man den höheren Mietsatz für BewohnerInnen von Sozialwohnungen,
deren Einkommen eine gewisse Höhe überschritt, abschaffte. Chiracs Auffassung von der mixité sociale
stieß in der politischen Klasse auf breite Zustimmung und prägt bis heute den staatlichen Umgang mit den
Banlieues.
Ethnisierung des stadtpolitischen Diskurses
Der Begriff der »sozialen Durchmischung« verweist unausgesprochen auf den Begriff der »ethnischen
Durchmischung«. Die Sorge um die Entstehung »ethnischer Ghettos« waren Anfang der 1980er Jahre
bereits im Dubedout-Bericht zum Ausdruck gekommen; im Zuge der Parlamentsdebatten um das LOV
tauchte sie wieder auf. Die Abgeordneten der »Rechten« wie der »Linken« hüteten sich zwar davor, offen
von »Ghettos« oder »ethnischer Durchmischung« zu sprechen, doch dienten solche Vorstellungen implizit
als Grundlage ihrer Überlegungen. Das bezeugt beispielsweise ein im Parlament diskutierter Vorschlag zur
Ergänzung des LOV um eine Klausel, nach der die Zuteilung von Wohnraum durch die HLM-Gesellschaften
so vorzunehmen sei, »dass die Ansiedlung mehrerer ausländischer Familien im gleichen Gebäude
vermieden wird.« Der Vorschlag wurde schließlich mit der Begründung zurückgewiesen, er könne in der
Praxis zu Diskriminierung führen. Ein sozialistischer Abgeordneter hielt dennoch fest, dass man nicht »die
Augen vor einem realen Problem verschließen« dürfe. 38 Das »Problem« der Banlieues wurde zunehmend
ethnisiert. Als in Mantes-la-Jolie und Sartrouville noch während der Parlamentsdebatten über das LOV neue
Aufstände ausbrachen, vermieden es die Politiker in ihren Kommentaren erneut, auf Grundlegendes
einzugehen, um stattdessen über den Zusammenhang zwischen den Banlieues, der Immigration und der
Delinquenz zu sprechen.
Die Strategen der Politique de la ville wollten ihre Agenda als sozialpolitische verstanden wissen, und
bemühten sich um ein entsprechendes Bild der Stadtpolitik in den Medien. Gleichzeitig trugen sie einiges
dazu bei, dass die Banlieues immer häufiger als »sensible Gebiete« wahrgenommen wurden, weil sie den
vermeintlichen Zusammenhang zwischen Stadtrandsiedlungen, Einwanderung und der Herausbildung sozial
und politisch gefährlicher Bevölkerungsgruppen betonten. So stand in den Medien die »Unsicherheit« in den
von ihnen zu »rechtsfreien Räumen« erklärten Banlieues auch im Mittelpunkt der Berichterstattung.
Es war die Politique de la ville, die Lage und Ausdehnung der gefährlichen Viertel exakt definierte, und so zur
Bestimmung eines sozialen und ethnischen Feindbildes beitrug – dem Bild einer inneren, auf französischem
38
Zit. nach Tissot, S. 47.
18
Territorium verorteten Bedrohung, das eine Forcierung der bisherigen sicherheitspolitischen Maßnahmen
erforderlich mache.
Aufwind bekam der Diskurs vom inneren Feind nach dem Kollaps der Ostblockstaaten, als in sämtlichen EUStaaten eifrig an neuen Bedrohungsszenarien (illegale Migration, organisierte Kriminalität, Terrorismus)
gearbeitet wurde.
In diesem Zusammenhang konnte 1991 auch die Umgestaltung der Sicherheitskräfte in den Banlieues
legitimiert werden. Die als überholt erklärte politische Abteilung der Renseignements généraux (der innere
Nachrichtendienst), wurde nun für die »städischen Ausschreitungen« zuständig. Die sogennante
Antikriminalitätsbrigade (Brigade anti-criminalité, BAC), eine auf Einsätze in städtischem Gebiet spezialisierte
Sondereinheit der Polizei, wurde geschaffen. Ein weiterer Einschnitt markierte das Jahr 1997, als die
Konzeption und Koordinierung der polizeilichen Kontrolle der Banlieues ausdrücklich zu einer Aufgabe der
Politique de la ville erklärt wurde. Unter dem Motto einer »Ko-Produktion im öffentlichen Sektor« wurden
polizeiliche und sozialarbeiterische Kontrolltechniken immer weitgehender miteinander verschränkt – was
sich heute als ein entscheidender Schritt in der Entwicklung neuer Formen des Regierens zu erkennen gibt.
3.2 Die Modernisierung öffentlicher Dienstleistungen
Vom Kampf gegen die »Exklusion« in den abgehängten Vierteln zur Modernisierung öffentlicher
Dienstleistungen war es ein weiter intellektueller Weg, der hier nur ansatzweise nachgezeichnet werden
kann. Nur soviel: Seit den 1970er Jahren war bekannt, dass in den Sozialwohnungssiedlungen ein akuter
Mangel an Gemeinschaftseinrichtungen existierte und der Zugang zu den öffentlichen Dienstleistungen
schlecht war. Anfang der 90er Jahre konnte die Politique de la ville nur deswegen in den Staatsapparat fest
verankert werden, weil sich der Reformwille der DSQ-Vordenker mit dem der Sozialistischen Partei traf.
In Frankreich galten damals öffentliche Dienstleistungen noch als Ausdruck der staatsbürgerlichen
Solidarität. Nach den Revolten der frühen 1990er Jahre setzte sich nun die Vorstellung durch, dass die
Probleme der Banlieues ihre Ursache in den verknöcherten Strukturen des öffentlichen Sektors hätten, und
öffentliche Dienstleistungen auf ganz andere Weise zu organisieren wären.
In der Folge wurde die Politique de la ville in den Banlieues zum Testlauf für eine umfassende Reform des
gesamten Bereichs. Parallel entwickelte sich die Politique de la ville im Vergleich zu den DSQ-Maßnahmen
in eine Richtung, in deren Focus weniger die »Einwohner« als die »Staatsbürger« standen, denen es ihre
Rechte und vor allem Pflichten zu erklären galt. Somit wurde auch die Politique de la ville zum festen
Bestandteil der Integrationspolitik.
1993 wurde die »Modernisierung öffentlicher Dienstleistungen« offiziell zu einem Schwerpunkt der Politique
de la ville. Diese »Ausnahmepolitik« bediente sich der Begriffe der Managementliteratur:
- »Partnerschaft« und »Transversalität«: Die verschiedenen »lokalen Akteure« wurden angehalten zu
kooperieren, was als notwendige Bedingung der Effektivitätssteigerung angesehen wurde. 39
- »Kontraktualisierung«: Staat und lokale Akteure sollten ihre die Politique de la ville betreffenden Aktivitäten
durch einen mehrjährigen Vertrag formalisieren. Entgegen der zu Beginn der 80er Jahre verabschiedeten
Dezentralisierung-Gesetze ermöglichten solche Übereinkünfte Städte, Départements und Regionen
staatlichen Erwartungen nachzukommen.
39
Transversalität ist ursprünglich ein mathematischer Begriff, steht hier für Vernetzung.
19
- »Hebelwirkung«: Nicht allein der Staat solle sich um die Probleme der Vororte kümmern, sondern auch
andere Akteure sollten angeregt werden, sich finanziell einzubringen. Dabei handelte es sich zunächst um
öffentliche Stellen, dann zunehmend auch um Privatfirmen.
Die Politique de la ville nahm somit die umfassenden Reformen des öffentlichen Sektors, die in Frankreich
ab Anfang der 1990er Jahre durchgesetzt wurden, im Kleinen teilweise vorweg. Die »sensiblen Viertel«,
dienten als Experimentierfeld.
Reform des öffentlichen Sektors
Zu Beginn der 1990er Jahre ging es allerdings noch nicht um den Abbau öffentlicher Einrichtungen, sondern
um deren »Stärkung« sowie um »Annäherung«, also darum, den BewohnerInnen die Einrichtungen und
deren Leistungen »näher« zu bringen.
Die erste Maßnahme, die ergriffen wurde, um die öffentlichen Dienstleistungen zu »stärken«, bestand in der
Einführung einer Prämie für in den Banlieues arbeitende Angestellte. Damit sollte einer allzu hohen
Fluktuation entgegengewirkt werden. Das vergrößerte allerdings die Kluft zwischen den Festangestellten im
öffentlichen Sektor und einer zunehmend verarmenden Bevölkerung, die auf dessen Leistungen angewiesen
war. Darüber hinaus war die Voraussetzung für den Erhalt der Prämie, in einem geographisch definierten
»Problemviertel« zu arbeiten, was eine weitere Stigmatisierung der Banlieues bedeutete.
Gleichzeitig wurden in den Banlieues die ersten sogenannten Plateformes des services publics eingerichtet:
Gebäude, in denen Büros sowohl von Behörden als auch von lokalen Vereinen untergebracht wurden, die
zuvor im gesamten Stadtteil verstreut waren. Dem lag die Vorstellung zugrunde, die BewohnerInnen der
Banlieues würden sich zu unrecht ihrem Schicksal überlassen fühlen und müssten nur über die ihnen zur
Verfügung stehenden Leistungen informiert werden.
Durch die Schaffung der Plateformes konnte die Sichtbarkeit des bestehenden Angebots gesteigert werden,
ohne dass das Angebot selbst ausgeweitet oder verändert werden musste. Die plateformes wurden und
werden als großer Erfolg der Politique de la ville gefeiert: Hier werde das stadtpolitische Imperativ, die
Verwaltung zu »öffnen«, um »Transversalität« und »Partnerschaft« herzustellen, umgesetzt.
Darüber hinaus sollte sich zeigen, dass sie Einsparungen im Verwaltungsbudget ermöglichen – ein Grund,
weshalb sie sich später, zu einer Zeit, als Budgetkürzungen zur Schließung zahlreicher öffentlicher
Einrichtungen wie Postämter und Krankenhäuser führten, im ganzen Land ausbreiteten.
Neue Arbeistverhältnisse
Eine weitere wichtige vermittelnde Rolle spielten (u.a. im Konzept der »Annäherung«) die zahlreichen
Vereine, die mit Mitteln der Politique de la ville finanziert, Gesellschaftsabende, Sportveranstaltungen,
Nachhilfeunterricht und ähnliches organisierten. Teilweise handelte es sich dabei um die Auslagerung
öffentlicher Dienstleistungen, was sich auch in Hinblick auf das Ziel, Beschäftigungsmöglichkeiten in den
Banlieues zu schaffen, als funktional erwies. Denn es handelte sich in der Regel um befristete
Arbeitsverträge; gearbeitet wurde meist zum Mindestlohn und in Teilzeit. Die Prekarität dieser Jobs sollte
durch einen symbolischen Gewinn aufgewogen werden: das Bewusstsein, an der Verbesserung der
Lebensbedingungen im Stadtviertel beteiligt zu sein. Freilich sollte sich auch dieses Bewusstsein immer
wieder als sehr prekär erweisen.
20
Die staatlich subventionierten Jobs erschienen manchen als Ausdruck des Festhaltens an sozialstaatlichen
Prinzipien und als Versuch, die arbeitende Bevölkerung vor der Willkür des »Marktes« zu schützen, für die
politische Klasse hatten sie aber vor allem die Funktion, zu einem durchaus günstigen Preis den sozialen
Frieden zu sichern. Gleichzeitig schufen diese neuen Jobs jenseits des Normalarbeitsverhältnisses (hors
statut) eine Grauzone zwischen Erwerbslosigkeit und Festanstellung.
In Ermangelung einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik konnten die ergriffenen
Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nur wenig bewirken. 1991 plädierte »Stadtminister« Michel
Delebarre für eine vorrangige Finanzierung jener Arbeitsverhältnisse, die die »Eingliederung« der
Erwerbslosen in ihr Stadtviertel zu fördern versprachen. Auf die als »Gemeinnützige Arbeit« (TUC)
bekannten Praktika der 1980er Jahre folgten so in den 1990ern zuerst die »Beschäftigungs - und
Solidaritätsverträge« (CES) und dann die »Verträge zur Begleitung in die Beschäftigung« (CAE). Später
kamen noch andere Vertragsformen im öffentlichen Sektor und in den Vereine hinzu. 40 Auf solche
Beschäftigungsverhältnisse folgte zwar nur in den seltensten Fällen eine Festanstellung, sie erlaubten den
Behörden aber eine Senkung ihrer Personalkosten. Ein Aufruf Delebarres zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit durch Festanstellung im Privatsektor – der Aufruf richtete sich dabei an »Bürgerbetriebe«
(entreprises citoyennes) – stieß auf sehr viel weniger Gegenliebe.
Nachfolger Delebarres wurde im April 1992 der bekannte Unternehmer, Bernard Tapie. Mit ihm wurde ein
Mann »Stadtminister«, der als Verkörperung eines unternehmerischen Ideals, als der Firmengründer und
self-made-man
schlechthin,
galt.
Die
Drosselung
der
Sozialausgaben
und
die
Senkung
der
Unternehmenssteuer waren Hauptziele der ab 1995 unter rechter Regierung betriebenen Politique de la ville.
Dazu gehörte auch das Programm der »Freihandelszonen« (zones franches), über das unten mehr zu sagen
sein wird. Eine nennenswerte Senkung der Erwerbslosigkeit brachte keine der in diesem Zusammenhang
ergriffenen Maßnahmen mit sich.
Jungendliche an die Arbeit
Von besonderer Bedeutung für die Kopplung von Beschäftigungspolitik und der Reform des öffentlichen
Sektors, wie sie seit den frühen 1990er Jahren betrieben wurde, war das 1997 unter der Regierung Jospin
lancierte Programm zur »Jugendbeschäftigung« (emploi-jeunes). Diese neuen Stellen sollten hauptsächlich
im Bereich öffentlicher, aber auch privater Dienstleistungen geschaffen werden – schwerpunktmäßig in
Bereichen, die als schwach entwickelt galten. Die Regierung erklärte sich bereit, 400.000 auf fünf Jahre
befristete und für unter 25jährige reservierte Arbeitsplätze zu finanzieren – dabei deckten die Subventionen
75% des Mindestlohns. Die Träger, lokale Verwaltungsbehörden oder Vereine, wurden zur Ausbildung der
Jugendlichen verpflichtet und aufgefordert, die neu entstandenen Stellen möglichst auch nach Ablauf der fünf
Jahre zu erhalten, was nur selten geschah.
In der Folge entstand ein buntes Spektrum an Stellen mit teilweise abstrusen Bezeichnungen:
40 All diese Vertragsformen zeichnen sich durch miserable Bezahlung sowie das Fehlen von Sozial- und Arbeitsrechten
aus, und sie sind bzw. waren zeitlich begrenzt. Es sollten »Etappen auf dem Weg zur Integration« sein, wie Delebarre
bemerkte.
21
vom »Beauftragten für öffentliche Dienste« über den an Haupt- und Oberschulen für die Beaufsichtigung der
Schüler
zuständigen
»Ausbildungsassistenten«
und
dem
bei
der
Polizei
beschäftigten
»Sicherheitsassistenten« bis hin zu dem im öffentlichen Nahverkehr tätigen »Umgebungsangestellten«.
Zwar war die Arbeitslosigkeit unter den Banlieue-Jugendlichen besonders hoch, doch richtete sich das
Jugendbeschäftigungsprogramm nicht ausschließlich an sie.
Das Programm fügte sich hervorragend in die vom »Städteministerium« betriebene Politik der
Modernisierung öffentlicher Dienstleistungen.
Die Stellen der Jugendlichen, die unter dem Stichwort der »Vermittlung« (médiation) eingestuft wurden,
lagen quer zu den traditionellen bürokratischen, technischen und sozialarbeiterischen Zuständigkeiten der
Stadtverwaltungen und wurden zum Ansatzpunkt einer umfassenden Modernisierung der öffentlichen
Dienstleistungen. Aufgaben, die traditionell zentral und vertikal organisiert worden waren, konnten nach und
nach an die in den Stadtvierteln neu entstandenen horizontalen Strukturen abgegeben werden. Diese
»Streuung« von Aufgaben innerhalb der Stadtviertel, die sogenannte Territorialisation, wurde – wie schon
viele Maßnahmen zuvor – mit dem Hinweis gerechtfertigt, man werde den »Bedürfnissen der
BewohnerInnen« auf diese Weise besser gerecht. Im Laufe der 1990er Jahre konnte sich die Logik der
Territorialisation, begleitet von einem »Managementjargon«, auf allen lokalen Verwaltungsebenen
durchsetzen.
2003 wurde das Jugendbeschäftigungsprogramm beendet, die entstandenen, staatlich subventionierten
Stellen großenteils aufgelöst. Im Mittelpunkt der Arbeitsmarktpolitik stand nun die Ausweitung des
Dienstleistungssektors, insbesondere der persönlichen Dienstleistungen (Altenpflege, Kinderbetreuung
usw.).
Diese neue Arbeitsmarktpolitik ging weitgehend auf den neuen Ministre de la Ville Jean-Louis Borloo zurück
und war in die Bemühungen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des Dienstleistungssektors innerhalb
der gesamten Eurozone (Bolkestein-Richtlinie) eingebettet, Bemühungen, die bekanntlich auf eine
Angleichung der verschiedenen arbeitsrechtlichen Bestimmungen der EU nach unten hinausliefen.
Der Übergang zu dieser aktualisierten Politik der prekären Beschäftigung vollzog sich vor dem Hintergrund
einer drohenden Rezession, im Zuge derer zahlreiche Jugendliche in die Arbeitslosigkeit entlassen wurden.
Im Jahr 2005 war der Einbruch besonders spürbar. »Die Situation ist außerordentlich angespannt,«
berichtete ein Sozialarbeiter einige Monate vor Ausbruch der Novemberrevolte. »Wir schaffen es nicht mehr,
zu den Jugendlichen durchzudringen. Sie haben überhaupt keine Perspektive.« 41
»Die gesamte Ökonomie ist im Begriff, sich von einer Ökonomie der Arbeiter zu einer der Diener zu
entwickeln. Das ist es, was für die Jugendlichen aus den Vierteln vorgesehen ist. Darum befinden sie sich in
einer prekären Situation«, erklärte der Philosoph Laurent Ott, der auch Sozialarbeiter ausbildet. »Es gibt
einen gewissen Widerstand dagegen. Die Jugendlichen aus den Vierteln weigern sich, Diener zu sein. Das
ist auch der Grund, weshalb es eine Jugendrevolte gibt.« 42
3.3. »Sensible Stadtgebiete«
Die Institutionalisierung der Politique de la ville ist stets mit ihrer Rationalisierung einhergegangen. In den
41
42
Interview geführt von der Autorin, April 2005.
Interview geführt von der Autorin, März 2007.
22
1980er Jahren wurden Stadtviertel, in denen DSQ-Maßnahmen zum Einsatz kommen sollten, von der
Zentralregierung, der Regionalverwaltung und der Gemeindeverwaltung gemeinsam ausgewählt. Ab dem
Beginn der 1990er Jahre wurden diese Stadtviertel Gegenstand immer intensiver betriebener statistischer
Erhebungen, von denen man sich ein genaueres Verständnis der Armutsformen und eine Justierung der
angewandten Maßnahmen versprach. Zunächst ging es darum, »Mythen« über die Banlieues aus der Welt
zu schaffen – doch das genaue Gegenteil wurde erreicht. Es entstand eine einheitliche und weiverbreitete
Vorstellung von den »sensiblen Stadtgebieten« als Orten einer nicht integrierbaren postkolonialen
Immigration. Das Bild von den Banlieues als gefährlichen Orten wurde festgeschrieben. Die Presse hat bis
heute nicht aufgehört, entsprechende Stereotype beizusteuern. So bemüht sie etwa regelmäßig
medizinische Metaphern, die suggerieren, bei den Banlieues handle es sich um »kranke« Glieder der Nation,
die einer »Behandlung« bedürften.
Enklaven der Armut und Unterentwicklung
Die ersten statistischen Erhebungen in den Stadtvierteln mit DSQ-Projekten bezogen sich auf die Anzahl der
Sozialwohnungen, die Arbeitslosigkeit, das Durchschnittsalter der BewohnerInnen, den Anteil an
MigrantInnen usw. Es ging weniger um eine Darstellung der ungleichen Verhältnisse zwischen
verschiedenen
Gebieten
oder
Bevölkerungsgruppen
als
um
den
Nachweis,
das
bestimmte
Armutserscheinungen innerhalb bestimmter Personengruppen gehäuft auftreten. Im nächsten Schritt wurden
die ermittelten Zahlen mit den Durchschnittszahlen für die betreffende Stadt verglichen und die
Abweichungen hervorgehoben. Solche statistischen Erhebungen wurden nach und nach in sämtlichen
Stadtvierteln vorgenommen, in denen DSQ-Maßnahmen zur Anwendung kamen. 1993 wurde dann eine
zusammenfassende Studie veröffentlicht, die auf die Existenz von 500 »sensiblen Stadtvierteln« (Quartiers
sensibles) mit einer Gesamtbevölkerung von drei Millionen Menschen hinwies. Auf diese Weise wurde ein
einfaches und widerspruchsfreies Bild der Banlieues gezeichnet. Die teilweise beträchtlichen Unterschiede
zwischen den verschiedenen Vierteln verschwanden hinter dem vereinheitlichenden Begriff des »sensiblen
Stadtgebiets«. Darüber hinaus verdeckte dieser Begriff auch das, was zu erforschen man anfangs noch
vorgegeben hatte: die Armut. Sie erschien nur noch in ihrem statistischen Verhältnis zur Anzahl der
Einwanderer – gleichsam, als hätte die Dritte Welt ihre Enklaven von Unterentwicklung innerhalb des
französischen Territoriums.
An dem Prinzip begleitender empirischer Forschung hielt die Politique de la ville auch in den Folgejahren
fest. Allerdings waren es nun die Gemeinden, die bestimmten, in welchen Vierteln Bedarf an
sozialpolitischen Eingreiffen bestehe. Dabei hielten sie sich häufig zurück, um nicht in den Ruf zu geraten,
mit besonders vielen »Problemvierteln« versehen zu sein. Es gab aber auch Gemeinden, die an den Geldern
des Ministère de la ville interessiert waren und die Anzahl ihrer Problemviertel entsprechend nach oben
korrigierten.
Die statistische Analyse der Banlieues wurde fortlaufend verfeinert. Je nach Ausrichtung der gerade von
Paris aus betriebenen Politik wurden unterschiedliche empirische Befunde in den Mittelpunkt gestellt: die
Anzahl allein erziehender Mütter, die der Schulabbrecher, die Wahlbeteiligung usw. Wie besessen von ihrem
Ziel, möglichst präzise auf die jeweilige BewohnerInnenstruktur zugeschnittene Maßnahmen zu entwickeln,
plagte die Funktionäre der Politique de la ville beständig die Sorge, nicht genug zu wissen. Die im Laufe der
23
Zeit angesammelte Datenmenge war bald nicht mehr weit von einer vollständigen Bestandsaufnahme der in
den Banlieues angesiedelten Bevölkerungsgruppen entfernt. Wobei sich immer wieder die Neigung
durchsetzte, den Datenbestand anhand ethnischer Kategorien aufzuschlüsseln.
2003 wurde das sogenannte »Nationale Zentrum zur Beobachtung der sensiblen Stadtviertel« (observatoire
national des zones urbaines sensibles) eingerichtet. Es ist zuständig für die Auswertung des beständig
anwachsenden statistischen Materials. Offiziell fühlt sich das »Nationale Zentrum« aber dem Ziel verpflichtet,
»die Republik wieder in die Stadtviertel einzuführen und die Stadtviertel wieder in die Republik
einzugliedern.«
Pakt zur Wiederbelebung der Stadt
Einen wichtigen Einschnitt in der umfassenden statistischen Erfassung der Banlieue-BewohnerInnen
markiert der sogenannte »Pakt zur Wiederbelebung der Stadt«, ein 1995 unter Premierminister Juppé
verabschiedetes Bündel von Maßnahmen, das die Unterscheidung zwischen drei Kategorien von
Stadtvierteln einführte: »Städtische Freihandelszonen« (zones franches urbaines, ZFU), »Zonen städtischer
Re-Dynamisierung« (zones de redynamisation urbaines, ZRU) und »Sensible Stadtgebiete« (zones urbaines
sensible«, ZUS).43
Die Anzahl der ZFU belief sich zunächst auf 44, in 2003 wurden dann weitere 41 Stadtviertel zu ZFU erklärt.
Es handelt sich um Freihandelszonen, wie sie auch aus den Entwicklungs- und Schwellenländern bekannt
sind, also um Gebiete, in denen Unternehmen Steuerfreiheit und andere Privilegien zugesichert werden.
Gearbeitet wird dort meist zum Mindestlohn. Eine Besonderheit der französischen ZFU ist, dass die
Unternehmen nachweisen müssen, dass 25% ihrer Belegschaft im ZFU-Gebiet ansässig sind.
In den ZRUs sind Unternehmen von Sozialabgaben befreit. In den »sensiblen Stadtgebieten« gelten keinerlei
Sonderrechte; es handelt sich schlicht um eine neue Bezeichnung für die Viertel, in denen die Maßnahmen
der Politique de la ville zum Einsatz kommen. Die Zahl der »sensiblen Stadtgebiete« beläuft sich mittlerweile
auf 751. Es handelt sich um 2.200 Stadtviertel mit etwa fünf Millionen EinwohnerInnen. In Frankreich gibt es
keine noch so kleine Stadt mehr, die nicht ein solches Ausnahmegebiet aufzuweisen hätte.
Eine Folge des »Paktes« waren drastische Spaltungen in Städten, die sich bis dahin noch vergleichsweise
homogen entwickelt hatten. In den Stadtgebieten wurden neue Grenzen gezogen, die zwar auf keiner
Landkarte verzeichnet sind, dafür aber umso nachhaltiger die Erfahrungen der Einwohner prägen.
Von der ZEP über die ZUP und die »sensiblen Viertel« bis hin zu ZUS, ZRU und ZFU hat es also nicht an
Etiketten gefehlt, mit denen die Banlieues im Rahmen einer Politik, die vorgibt, die »Ausgrenzung« zu
bekämpfen, abgestempelt wurden.
3.5. Die Politique de la ville und neue Formen des Regierens
Auf kommunaler Ebene wird die Politique de la ville von kleinen, vergleichsweise unabhängig agierenden
Projektgruppen organisiert. Es gibt einen Projektleiter, dem einige Experten zur Seite stehen, außerdem
ausführende »Stadtteilbetreuer« (Animateurs de quartier). In den 1990ern wiesen die Verantwortlichen für
die Umsetzung der Projekte noch häufig eine Vorgeschichte als politische AktivistInnen oder
SozialarbeiterInnen vor, heute werden sie überwiegend aus den Universitäten rekrutiert, wo eine
43 Eine detaillierte Übersicht über die ZUS inclusive Kartenmaterial gibt es unter:
http://i.ville.gouv.fr/divbib/doc/chercherZUS.htm.
24
entsprechende Ausbildung angeboten wird.
»Modernisierung« der Lokalverwaltung
Die Arbeit jeder Projektgruppe orientiert sich an der Zielvereinbarung, dem sogenannten »Stadtvertrag«
(contrat de ville), auf die sich das Ministère de la ville, die Stadtverwaltung und ihre lokale
Partnerorganisationen geeinigt haben. Wo es um die Förderung bestimmter, als innovativ eingestufter
Bewohnerinitiativen geht, fällt für die Projektgruppe überwiegend bürokratische Arbeit an wie die
Unterstützung der Vereine bei der Formulierung ihrer Finanzierungsanträge. Außerdem gilt es stets,
Lageberichte über das Viertel und Zwischenauswertungen der laufenden Projekte zu verfassen. Diese
Arbeitsweise – auf eine Lageeinschätzung folgt eine Zielvereinbarung, später werden Resultate ausgewertet
– hat sich in Frankreich mittlerweile auf allen Ebenen der öffentlichen Verwaltung durchgesetzt. Auf lokaler
Ebene war es die Politique de la ville, die diesem Prinzip zum Durchbruch verhalf. Bei der »Modernisierung«
der öffentlichen Verwaltung ist ihr damit eine Schlüsselrolle zugekommen.
Verwaltung der Bevölkerung – Verwaltung der Territorien
In Frankreich wird bis heute über die Frage diskutiert, ob die Politique de la ville eher an sozialen oder an
stadtplanerischen Kriterien auszurichten sei, ob es um die Unterstützung der »Bevölkerung« oder um die der
»Territorien« gehe. Es handelt sich insofern um eine Scheindebatte, als sich die Politique de la ville längst
durch die Verschränkung beider Ansätze auszeichnet.
Im Laufe der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurden die als Grundlage stadtpolitischer Interventionen
fungierenden Zielvereinbarungen, die Contrats de ville, von den »sensiblen Stadtgebieten« einer einzelnen
Stadt, auf die von Ballungsräumen (agglomérations), die mehrere Städte umfassen können, ausgedehnt. Die
Politique de la ville orientierte sich bereits an der Kategorie der agglomérations, bevor diese neue politische
sowie Verwaltungsebene ab 2000 geschaffen wurde. Dies ist einerseits als Rationalisierungsmaßnahme,
über die eine gesteigerte Kosteneffizienz erreicht werden sollte zu verstehen, andererseits aber auch als Teil
eines fortlaufenden Prozesses der Entwicklung neuer Techniken des Regierens. Damit trug die Politique de
la ville sowohl zur Kontrolle der ZUS-Bevölkerung bei, als auch zur Rückeroberung dieser Sonderterritorien
im Rahmen einer auf ein gesamtes Stadtgebiet bezogenen Strategie.
Die politische Intervention in einzelne Viertel oder Siedlungen orientiert sich also mittlerweile explizit an den
Planungsvorgaben für ganze »urbane Regionen«. Diese Kopplung von Mikro- und Makroebene wurde später
von allen Bereichen der Stadtverwaltung übernommen. Die Politique de la ville war nicht nur Impulsgeber für
eine interne Umstrukturierung der Verwaltungsorgane, sondern hat auch deren Herangehensweise an die zu
verwaltenden Territorien grundlegend verändert. Bereits seit den 1990er Jahren hatten die Vordenker der
Politique de la ville eine Abkehr von der engstirnigen Fixierung auf lokale Kleinprojekte gefordert und von der
Notwendigkeit, sich stets an der Gesamtentwicklung der Region zu orientieren, gesprochen.
Eine neue Qualität erreichte die Verknüpfung von stadtplanerischen und sozialtechnologischen Zugriffen
Ende der 1990er Jahre mit den »Stadterneuerungsmaßnahmen« (opérations de renouvellement urbain,
ORU) und den »großen Stadtprojekten« (grands projets de ville, GPV). Mit deutlich mehr Subventionen als
die üblichen Maßnahmen der Politique de la ville versehen, ermöglichten es diese Programme, ganze
Stadteil radikal umzugestalten, um sie an der Rest der Stadt anzupassen. Der 2003 formulierte »Nationale
25
Plan für die Erneuerung der Städte« (plan national de rénovation urbaine, PNRU, siehe Abschnitt 3.6) hat die
Logik von ORU und GPV noch um ein Vielfaches potenziert.
Militarisierung
Seit den 1990er Jahren wurde die polizeiliche Kontrolle der Banlieues intensiviert, propagandistisch
abgesichert durch die denunziatorischen Darstellungen sowohl der Einwanderer und ihrer Kinder als auch
der Stigmatisierung der Banlieues als Orte der Verwahrlosung und Delinquenz. Der Katalog der sogenannten
»neuen Bedrohungen« (nouvelles menaces) wurde dabei ständig erweitert. Zu »Organisierter Kriminalität«
und Drogenhandel kamen Islamismus, Terrorismus und »städtische Ausschreitungen« (violences urbaines)
hinzu. Die Rede von den »neuen Bedrohungen« wurde ergänzt durch den Diskurs über die sogenannten
»rechtsfreien Räume« (zones de non-droit), die sich weltweit und eben auch innerhalb Frankreichs
ausbreiten würden. Sie dienten der Legitimation der Militarisierung der Innenpolitik als Vorbereitung auf zu
erwartende Revolten der Unterklassen.44
So bot die Revolte von 2005 den Anlass das kurz zuvor verankerte Sicherheitspaket 45 zu testen, das u.a. die
ständige Stationierung von Einheiten der als »republikanische Sicherheitseinheit« (compagnie républicaine
sécuritaire, CRS) bekannten Bereitschaftspolizei in der Nähe der Banlieues vorsieht. Auf Einsätze in
Stadtgebieten und die Kontrolle größerer Menschenmengen spezialisierte Militäreinheiten wurden aus dem
Kosovo und der Elfenbeinküste abgezogen, um in den Banlieues eingesetzt werden zu können. 46
Die rechtliche Grundlage des im November 2005 verhängten Ausnahmezustands, ein Gesetz aus der Zeit
des
Algerienkonflikts,
ist
dahingehend
verändert
worden,
dass
eine
erneute
Ausrufung
des
Ausnahmezustands nun zu jedem Zeitpunkt möglich ist. An der staatlichen Reaktion auf den 2007 in der
Banlieue Villiers-le-Bel ausgebrochenen Aufstand war zu sehen, wie weit die Militarisierung der
Sicherheitspolitik mittlerweile gediehen ist. In der durch Straßensperren von der Außenwelt abgeriegelten
Banlieue kamen Überwachungsdronen, Helikopter, Scharfschützen und Antiterrorismus-Einheiten zum
Einsatz, ebenso Flugblätter, in denen zur Denunziation der Aufständischen aufgerufen wurde.
Ab 1997 kam es zu einer intensiven Zusammenarbeit zwischen dem Ministère de la ville und den
Repressionsapparaten im Rahmen der Wiederbelebung der sogenannten lokalen Sicherheitskommissionen,
mit denen bereits nach dem Aufstand in Les Minguettes 1981 experimentiert worden war. Damals trafen sich
die französischen Bürgermeister einmal pro Jahr mit lokalen Vertretern der Polizei, der Schulen und der
HLM-Gesellschaften, um sich über die Lage in der Stadt auszutauschen, was allerdings kaum konkrete
Folgen gehabt hatte. Dies änderte sich mit den nun umgenannten »Lokalkommissionen für Sicherheit und
Prävention«, wodurch die Zusammenarbeit zwischen Polizei und SozialarbeiterInnen forciert wurde. Dabei
werden die umfangreichen Datenbestände und das Know-how der Politique de la ville dem Polizeiapparat
zur Verfügung gestellt.
3.6. Ein »Marshall-Plan« für die Banlieues
2002 wurde Jean-Louis Borloo »Ministre de la ville« in der Regierung Raffarin. Borloo, ein auf
Wirtschaftsrecht spezialisierter Anwalt, galt damals bereits als eine Art Volksheld. Anfang der 1990er zum
44
M. Rigouste, La guerre à l’intérieur: La militarisation du contrôle des quartiers populaires, in: L. Mucchielli, Hg.,
La frénésie sécuritaire, Paris 2008.
45 Vgl. D. Dufresne. Quellenangabe unvollständig!
46 Rigouste, L’ennemi intérieur, S. 280.
26
Bürgermeister
von
Valenciennes
gewählt,
war
es
ihm
gelungen,
dieser
von
den
Deindustrialisierungsschüben der 1970er und 1980er Jahre verödeten Stadt in Nordfrankreich Subventionen
aus Paris und Brüssel zu sichern. Ein Theater und verschiedene Bildungseinrichtungen konnten gebaut
werden, wodurch das eine oder andere Viertel an Trostlosigkeit verlor und die Stadt für den Immobiliensektor
wieder interessant wurde. Vor allem war Borloo dank guter Beziehungen die Ansiedlung eines ToyotaWerkes gelungen, wodurch 2.000 neue Arbeitsplätze in der Region entstanden. Die Erwartungen an Borloo,
der aus seinen politischen Ambitionen nie einen Hehl gemacht hatte, waren 2002 entsprechend hoch, und
die Frage, ob es ihm gelingen würde, die sozialen Verwerfungen in den »sensiblen Stadtgebieten« zu
beseitigen, wurde ausführlich debattiert.
Im Folgejahr hatte Borloo einen »Marshall-Plan für die Banlieues« entwickelt, den sogenannten
»Nationalplan für die Erneuerung der Städte« (PNRU), dessen Kosten auf stattliche 30 Milliarden Euro
beziffert wurden. Erklärtes Ziel war, den Bevölkerungsgruppen in den »sensiblen Stadtgebieten« eine höhere
Lebensqualität zu sichern.
Zunächst ging es darum, eine gesteigerten mixité sociale zu verwirklichen. Durch eine ganze Serie von
radikalen städtebaulichen Eingriffen sollte die Armutsbevölkerung der Banlieues über das Stadtgebiet
zerstreut werden und die »sensiblen Stadtgebiete« für die Mittelschicht wieder zu attraktiven Wohnorten
werden. Wenn die HLM-Bauten verschwinden, so die Überlegungen, würde es auch das Problem einer
übermäßigen Konzentration von »Risikofamilien« in den Siedlungen nicht mehr geben.
An ihrer Stelle wünschte sich Borloo Reihenhäuser mit nicht mehr als fünf Stockwerken und »einer Mutter
vor jeder Haustür, wenn die Kinder aus der Schule kommen« – also eine polizeilich und sozialtechnologisch
leicht zu überwachende Architektur und patriarchal-kleinfamiliären Reproduktionsverhältnissen.
Innerhalb von fünf Jahren sollten die Banlieues so ein völlig neues Gesicht erhalten: Der Plan sah die
Sprengung von Siedlungsbauten mit insgesamt 200.000 Wohnungen vor, um Platz für kleinere,
komfortablere Gebäude zu machen. Ebenfalls vorgesehen war die Sanierung von Gebäuden mit weiteren
200.000 Wohnungen.
Konkrete Bauprojekte mussten drei Zielvorgaben erfüllen: »Wiedereingliederung« des betroffenen Viertels in
die Stadt, Diversifizierung des Wohnungsangebots (im Sinne einer gleichmäßigen Verteilung von Sozial- und
Privatwohnungen) und Herstellung einer möglichst vollständigen Mischung von Einkaufs-, Arbeits- und
Freizeitmöglichkeiten.
Transformation des Staatsapparates
Um ein derart umfangreiches, an staatliche Programme aus der Blütezeit des französischen
Wohlfahrtsstaates erinnerndes Projekt verwirklichen zu können, musste Borloo zufolge erst eine
weitreichende Transformation des Staatsapparates bewerkstelligt werden. Zur Finanzierung des PNRU
wurde unter Rekrutierung verschiedener Experten aus dem »Interministeriellen Ausschuss für die Stadt«
(DIV) eine sogenannte »Nationalagentur für städtische Erneuerung« (ANRU) ins Leben gerufen. Parallel
dazu wurde auch eine »Nationalagentur für sozialen Zusammenhalt und Chancengleichheit« (Acsé)
gegründet, die bestimmte Aufgaben des Sozialministeriums übernehmen sollte.
Aus dem öffentlich angekündigten Budget von 30 Milliarden Euro sollten nicht mehr als 6 Milliarden aus der
Staatskasse kommen. Der Großteil des Budgets sollte aus Gewerbeabgaben bestritten werden, wobei auf
27
eine Regelung aus dem Jahr 1953 zurückgegriffen wurde, nach der jeder Betrieb mit mehr als 20
Angestellten eine Summe, die einem bestimmten Prozentsatz seiner jährlichen Lohnkosten (seit 2006
0.45%) entspricht, für den Wohnungsbau 47 zur Verfügung stellen muss. Hinzu kamen Kredite des staatlichen
Finanzinstituts Caisse des dépôts et consignations und des Bundes der Wohnungsbaugesellschaften. Die
eigentlichen Bauprojekte sollten durch Bankdarlehen finanziert werden, die die Stadtverwaltung und die
HLM-Gesellschaften aufnehmen würden. Die ANRU finanzierte so zwar nur einen Teil des Budgets, verfügte
aber dank der relativ hohen Subventionen, die sie bereitstellte, über beträchtlichen Einfluss auf die
Entscheidungen, die im Rahmen des PNRU getroffen wurden.
Die betriebswirtschaftlichen Kriterien, nach denen die ANRU arbeitet, und der sich aus ihnen ergebende
Zwang, schnell greifbare Resultate vorzuweisen, hatten zur Folge, dass Projekte, die mit dem erklärten Ziel
der Bekämpfung gesellschaftlicher Ausgrenzungserscheinungen wenig zu tun haben, begünstigt wurden. Die
Zukunft der abgelegeneren, für den Immobilienmarkt uninteressanten HLM-Siedlungen, blieb offen. Aus den
400 Gebieten, in denen der PNRU aktuell zum Einsatz kommt, werden 189 vom Ministère de la ville als
»sensible Stadtgebiete« geführt. Hundertzwanzig sind zwar keine »sensiblen Stadtgebiete«, haben aber
bereits Erfahrungen mit ORU und GPV gesammelt. Weitere 90 hatten bislang keinerlei Sonderstatus.
Die Parole von der »Wiedereingliederung der Viertel in die Kontinuität der städtischen Struktur« entspricht
den Zielsetzungen der Politique de la ville der frühen 1990er Jahre.
Der PNRU sollte als eine Reaktion auf die weitreichenden Veränderungen, die sich während der letzten 20
Jahre in den französischen Städten vollzogen haben, verstanden werden. Massive Investitionen in den
Stadtzentren haben die Immobilienpreise in die Höhe getrieben und die Wohnviertel immer weiter Richtung
Stadtrand verschoben. Dieser Prozess musste in dem Moment an seine Grenze stoßen, als auch am
Stadtrand Grundstücke fehlten, die nicht allzu nah an den berüchtigten Siedlungsvierteln oder an
heruntergekommen ehemaligen Industriegebieten lagen. Der PNRU bot insofern Abhilfe, als seine
drastischen architektonischen und stadtplanerischen Eingriffe die erneute Verdrängung der Armutsgruppen
und eine entsprechende Aufwertung der Stadtrandgebiete versprachen.
Die Hoffnungen, die in den PNRU gesetzt wurden, haben sich jedoch nicht erfüllt. In einer Ende 2008
vorgelegten Auswertung ihrer bisherigen Tätigkeit wies die ANRU auf akute Finanzierungsprobleme hin. Die
ursprünglich formulierten Ziele ließen sich mit den zur Verfügung stehenden Krediten unmöglich realisieren,
heißt es dort. Die 2003 genannten Zahlen sind durch andere ersetzt worden. Nicht 200.000, sondern
140.000 Wohnungen sollen nun zerstört werden. Die Zahl der Wohnungen, die den Plänen zufolge von
Sanierungen betroffen sein werden, ist auf 280.000 angestiegen. Zugleich sollen 300.000 Wohnungen für
den Markt gebaut werden. Etwa die Hälfte der zu zerstörenden Sozialwohnungen soll durch außerhalb des
betreffenden Viertels liegende Sozialwohnungen ersetzt werden, d.h. die Tendenz geht eindeutig in Richtung
einer Privatisierung des Wohnungsmarktes in den bislang von sozialem Wohnungsbau geprägten Vierteln.
Für 80% der Projekte seien Gelder bewilligt worden, doch sei es noch ein weiter Weg bis zu ihrer
vollständigen Umsetzung. Dabei sind von den 12 Milliarden Euro der ANRU bereits 9 Milliarden ausgegeben
worden. Die Kosten im Bausektor sind seit 2004 um 25% gestiegen, was die Projekte stark verteuert; die
entstandenen Zusatzkosten sollen die Stadtverwaltungen übernehmen. Vor allem aber hat sich die
Regierung in Paris nicht an ihre finanziellen Zusagen gehalten. Von den zuletzt zugesagten 4 Milliarden Euro
wurden nur 307 Millionen ausgezahlt. 48 Die Regierung spielt die Folgen dieses Rückzugs herunter; was sie
47 Seit 1953 wird der Bau von Sozialwohnungen durch Gewerbeabgaben bezahlt, welche heute 0,45% der Lohnkosten
entsprechen. Die dafür eigens eingerichtete sogenannte Kasse 1%-Logement hat ausschließlich die Aufgabe
Wohnungen zu bauen.
48 Bekanntmachung Nr. 1127 des französischen Parlaments, der Assemblée Nationale, abrufbar unter:
28
selbst nicht bezahle, werde sich anderswo auftreiben lassen. Nachdem die Regierung in Reaktion auf die
aktuelle Finanzkrise ankündigte, 2009 würden überhaupt keine Gelder mehr an die ANRU fließen, versprach
sie dann im Rahmen des späteren wirtschaftlichen »Rettungspakets« doch 350 Millionen Euro. Diese
Zusage genügt aber kaum, um die mittlerweile beträchtlichen Zweifel an der Durchführbarkeit des PNRU
auszuräumen. Schließlich haben sich auch die städtebaulichen Prioritäten der Regierung geändert. Aktuell
scheint sie auf die Sanierung der Altstädte größeren Wert zu legen als auf die Finanzierung der ANRU.
Übrigens gesteht die ANRU in ihrem Rechenschaftsbericht ein, was ihr die wenigen politischen Initiativen,
die gegen ihre Projekte protestieren, seit Jahren vorwerfen: dass nämlich die zum Auszug aus ihren
Sozialwohnungen gezwungenen Banlieue-Bewohner anschließend in kleinere und teurere Wohnungen
ziehen müssen.
Ende der Ausnahmepolitik?
Unter Präsident Sarkozy wurde Fadela Amara 2007 Staatssekretärin im Ministère de la ville. Der ehemaligen
sozialistischen Aktivistin und Gründerin der Bewegung Ni putes ni soumises 49 kommt seitdem die schwierige
Aufgabe zu, die wachsenden Zweifel am PNRU auszuräumen. Im Weg stehen Amara dabei nicht nur ihre
eigene wachsende Unbeliebtheit, sondern auch die ernüchternden Resultate, die die ANRU in ihrem
Rechenschaftsbericht vorgelegt hat.
Im Juni 2008 stellte Amara ihren bereits mehrfach angekündigten »Plan der Hoffnung für die Banlieues«
(Plan espoir Banlieues) vor, der die für die nächsten drei Jahre anvisierte Politique de la ville darlegt. Als Ziel
ihres Plans stellte sie das Ende der bisherigen Ausnahmepolitik gegenüber den Banlieues in Aussicht.
Der Plan sieht u.a. beschäftigungspolitische Maßnahmen vor. Zwischen 2008 und 2011 sollen bis zu 45.000
sogenannte Autonomieverträge (contrats d’autonomie) zwischen jungen Arbeitssuchenden und privaten
Arbeitsvermittlungsagenturen unterschrieben werden. Die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen wird
weiter forciert. Die privaten Agenturen lassen sich die Vermittlung vom Staat teuer bezahlen. Für jeden
unterzeichneten Vertrag erhalten sie 9.300 Euro, die Arbeitssuchenden dagegen nur 300 Euro. Die Gelder
der öffentliche Arbeitsagenturen, der sogenannten lokalen Beschäftigungsmissionen (missions locales pour
l’emploi) wurden gekürzt, sie erhalten für jeden von ihnen betreuten Fall 500 Euro im Jahr.
Im bildungspolitischen Bereich, der aufgrund der anhaltenden Proteste gegen die angekündigte Entlassung
tausender Lehrkräfte heftig umkämpft ist, setzt Amara unter dem Motto der »Chancengleichheit« im
wesentlichen auf zwei Maßnahmen: zum einen sollen die Möglichkeiten, Nachhilfeunterricht zu erhalten,
ausgebaut werden. Zur Zielgruppe gehören vor allem jene Jugendlichen, von denen befürchtet wird, sie
könnten in die Delinquenz abrutschen. Zum anderen sollen als besonders begabt eingeschätzte Jugendliche
gefördert werden (Sonderbetreuung, Erleichterung des Zugangs zu Eliteschulen und Internaten).
Die Anbindung der Banlieues an den Rest der Stadt soll durch Investitionen in die öffentlichen Verkehrsmittel
verbessert werden. Damit wird ein Problem angegangen, dessen erstmalige Diagnose über 20 Jahre
zurückliegt. Wobei jene Anbindungen bevorzugt werden, die bestimmte Vorstädte für die Mittelschicht wieder
attraktiver machen.
Vorgesehen ist auch die Wiedereinführung der unter Jospin erprobten »Nachbarschaftspolizei« (police de
proximité), was innerhalb des PS für Begeisterung gesorgt hat. Im Rahmen der Schaffung sogenannter
»Territorialeinheiten der Stadtviertel« (unités territoriales de quartier, UTEQ) sollen 4.000 Polizisten
http://www.assemblee-nationale.fr/13/budget/plf2009/a1200-tIX.asp.
49 Siehe den Beitag von A. Brügmann und E. Piriot in diesem Band.
29
bestimmten Siedlungen fest zugeteilt werden und nach Möglichkeit informelle Kontakte zu den
BewohnerInnen pflegen.50 Gleichzeitig soll die Überwachung verschärft werden. So sollen in den als
besonders problematisch eingeschätzten Banlieues 60.000 neue Videoüberwachungsanlagen installiert
werden. Darüber hinaus soll die Ausbildungseinrichtung des französischen Militärs, das Etablissement public
d’insertion de la défense vom Ministère de la ville mit 20 Millionen Euro pro Jahr unterstützt werden, um die
Aufnahme von BanlieuebewohnerInnen ins Militär zu fördern.
Besondere Aufmerksamkeit widmet die neue Politique de la ville den Frauen und der Bekämpfung der
sexuellen Diskriminierung. Amaras Erwartungen an die Frauen sind dabei so hoch wie vielfältig. Nicht nur
sollen die Frauen die polizeilichen und sonstigen sicherheitspolitischen Maßnahmen gleichsam von
zivilgesellschaftlicher Seite aus begleiten, sondern sie werden auch als potentiell wichtigste Trägerinnen
einer anvisierten lokalen Dienstleistungsökonomie begriffen, die an die entwicklungspolitischen Konzepte für
Trikont-Gesellschaften erinnert und auf einem breiten Sockel unbezahlter und informeller Arbeit ruhen soll.
Sichtlich stolz hat Amara die Einrichtung von 40.000 Kindertagesstätten in den Banlieues versprochen.
Die Frauen sind es auch, die von der DIV aufgefordert werden, sich gemeinsam mit anderen »gefährdeten
Personengruppen« (publics fragiles) wie älteren oder behinderten Menschen vermehrt in den Straßen zu
zeigen – als gelte es, sich selbst und allen anderen zu beweisen, dass die von der Politique de la ville
gewünschte soziale Transformation der Banlieues endlich in Gang gekommen ist.
Die Experten des Ministère de la villes geben zu, dass eine solche Strategie viel mit der Vermarktung von
Politik und wenig mit Feminismus zu tun hat. 51
Ob die von Amara in Aussicht gestellte Beendigung der bisherigen Politique de la ville bedeuten wird, dass
auch die Kategorisierung bestimmter Banlieues als »sensible Stadtgebiete« aufgegeben wird, zeigt sich
möglicherweise im Laufe des Jahres 2009, dem Jahr, in dem die jetzt noch laufenden 2.500 »städtische(n)
Verträge für sozialen Zusammenhalt« (contrats urbain de cohésion sociale, CUCS) – so heißen neuerdings
die Zielvereinbarungen, die als Grundlage konkreter stadtpolitischer Projekte dienen – ausgewertet werden.
Die Experten der Politique de la ville sind jedenfalls zuversichtlich, dass sich nach dem Abschluss einer
maßgeblich
von
Paris
aus
gesteuerten
Politik
zur
Bekämpfung
gesellschaftlicher
Ausgrenzungserscheinungen neue Aufgaben ergeben werden, die allerdings – entsprechend dem
institutionellen Transformationsprozess der letzten Jahre – eher regional anzugehen sein werden.
Ob die Ballungsräume (Agglomérations) über die nötigen Mittel verfügen, ist fraglicher denn je, denn im Zuge
der gegenwärtigen Krisenpolitik werden die Steuereinnahmen der regionalen und lokalen Verwaltungsorgane
teilweise drastisch gesenkt.
»Aus der Krise wird die Welt verändert hervorgehen, und unsere Reformen müssen Frankreich auf diese
neue Welt vorbereiten,« so Henri Guaino, ein Berater Nicolas Sarkozys, in einem Interview mit Le Monde.52
Das mit den Dezentralisierungsgesetzen von 2003 durchgesetzte Verwaltungsmodell schien bis vor kurzem
noch stabil, doch jetzt soll es u.a. durch die Abschaffung der Départements aufgebrochen werden. Regionen
sollen zusammengelegt und die Entwicklung von Städten wie Lyon zu riesigen Megacities begünstigt
werden. Der Vorschlag, die Départements abzuschaffen, um so die Anzahl der Verwaltungsebenen zu
reduzieren, ist nicht neu. Doch die Gesetze von 2003 haben aus den Départements die mit Abstand
wichtigsten sozialpolitischen Akteure gemacht, die u.a. für die Auszahlung der Sozialhilfe und der
50 Die Uteq wurden bzw. werden nach und nach in verschiedenen Banlieues eingesetzt, so bspw. kurz nach den
Auseinandersetzungen um den hochgesicherten NATO-Gipfel erstmals im Mai 2009 in Strasbourg.
51
C. Jacquier, Rede vor dem Inter-Réseau Développement Social Urbain (IRDSU), 6. Juni 2008, abrufbar unter
[http://www.irdsu.net].
52
Le Monde, 5. Januar 2009.
30
verschiedenen Transferleistungen für ältere Menschen, Behinderte usw. zuständig sind. Deren Abschaffung
würde also eine völlig neue Verteilung dieser sozialpolitischen Aufgaben erfordern. Angesichts der aktuellen
Wirtschaftskrise ist aber mit einer Austeritätspolitik zu rechnen, im Zuge derer viele der bisherigen
Leistungen reduziert oder auch gänzlich gestrichen werden dürften.
Ob das der gegenwärtigen sozialen Lage gerecht wird, ist die Frage. Allen stadtplanerischen und
wohnungspolitischen Neuerungen zum Trotz leben in Frankreich heute 100.000 Menschen ohne festen
Wohnsitz, eine Million ohne eigenen Wohnraum und 2.2 Millionen unter Bedingungen, die als unzureichend
definiert werden.53 Die Immobilienpreise sind in den letzten zehn Jahren um 130% gestiegen. Die Zahl der
Haushalte, die 2008 einen Antrag auf eine Sozialwohnung stellten, beläuft sich auf 1.4 Millionen; die
Erfolgschancen eines solchen Antrags stehen etwa eins zu drei. Dagegen befinden sich in den Innenstädten
hunderttausende ungenutzte Wohnungen, doch die Regierung denkt nicht daran, dem gesetzlich
festgeschriebenen Recht auf Wohnraum Geltung zu verschaffen.
Schlussbetrachtung
»Einige Beobachter haben jenen Gewaltausbruch [die Novemberrevolte von 2005] auf das Versagen der
Politique de la ville zurückführen wollen. Mit der Politique de la ville wurde aber nie bloß das Ziel verfolgt, in
zunehmend fragmentierten Gesellschaften und Städten die Bedingungen des Zusammenlebens wieder
herzustellen«, so Claude Jacquier, leitendes Mitglied des »Nationalen Zentrums für wissenschaftliche
Forschung« (CNRS) und Vertreter Frankreichs bei URBACT, einer von der Europäischen Kommission ins
Leben gerufenen internationalen Plattform für den europaweiten Erfahrungsaustausch zu Fragen der
integrierten Stadtentwicklung.54 »Davon abgesehen, dass mit ihr auf einige akute Probleme geantwortet
werden sollte, war die Politique de la ville vor allem dem Ziel verpflichtet, neue Formen des Regierens von
Städten zu erproben, indem sie Akteure kooperieren ließ, die sich bis dahin – aufgrund unterschiedlicher
Berufskulturen und Berufsidentitäten, aber auch aufgrund bürokratischer Blockierungen – nicht weiter
miteinander beschäftigt hatten. Diese Kooperation fand statt im Rahmen von Projekten, die es innerhalb
bestimmter Territorien – das konnten Stadtviertel oder ganze städtische Regionen sein – zu verwirklichen
galt. Weder die Grundsätze noch die Methoden dieser Politik sind zu verurteilen.« Und weiter: »Die Politique
de la ville zielte vor allem darauf ab, ein Bewusstsein zu schaffen für die Dringlichkeit einer Reform der
politischen Repräsentation, der Verwaltungsstrukturen und verschiedener Politikbereiche wie Bildung,
Gesundheit, Kultur, Soziales, Wirtschaft usw. Das ist nicht geschehen. Wenn irgendwo versagt wurde, dann
hier.«55
Wer also geglaubt hatte, dass es der Politique de la ville um die Verbesserung der Lebensbedingungen in
den Banlieues gehe, wie die verschiedenen französischen Regierungen seit den 1980er Jahren behauptet
haben, wurde hier eines Besseren belehrt. Das Zitat von Jacquier ist einem Artikel entnommen, den er kurz
vor den Präsidentschaftswahlen von 2007 veröffentlichte. Die seit den Wahlen betriebene Politik hat gezeigt,
53 1,1 Millionen leben in Unterkünften ohne WC oder Badezimmer, wie z.B. in Kellern oder Garagen, und 1,03 Millionen
müssen sich den spärlichen Wohnraum mit zu vielen Personen teilen. Siehe:
www.heise.de/tp/r4/artikel/24/24447/1.html, Zugriff: 06.05.2009.
54 Das Programm URBACT soll der Zusammenarbeit zur Verbreitung bewährter Verfahren dienen. URBACT zielt darauf
ab, »bewährte Verfahren« herauszustellen und aus den in diesen Programmen festgestellten Stärken und Schwächen
zu lernen. Die Zielgruppe sind Akteure aus 216 Städten, die im Rahmen der Programme URBAN I und II und der
Städtischen-Pilotprojekte unterstützt werden. http://ec.europa.eu/regional_policy/urban2/urbact_de.htm.
55
C. Jacquier, Les urnes résonneront-elles des raisons des émeutes?, in: Urbanisme Nr. 353 (März/April 2007),
hier zit. nach http://www.urbanisme.fr/issue/magazine.php?code=353&section=AGORA.
31
dass die »sensiblen Stadtgebiete« ihre Funktion als Experimentierfeld zur Erprobung neuer Formen des
Regierens nur allzu gut erfüllt haben – auch wenn Jacquier noch meinte, das Experiment für gescheitert
erklären zu müssen.
»Die in Frankreich gängigen Organisationsformen von Politik und Verwaltung hindern die Stadt daran, als
kollektiver Akteur zu fungieren, als ein in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Umwelt aktiver Impulsgeber
innovativer Projekte, der das gesamte Spektrum gesellschaftlicher Kräfte in sich aufzunehmen vermag«, so
Jacquier an anderer Stelle.56 Zu den Hemmschuhen in Politik und Verwaltung zählt er die hermetische
Abgeschlossenheit der Verwaltungsorgane, die »teure und ineffiziente« Doppelstruktur von Zentralregierung
und Lokalverwaltung (eine Doppelstruktur, die, wie es im Artikel heißt, »das Subsidiaritätsprinzip ignoriert«), 57
die fehlende Trennung entscheidender und ausführender Organe innerhalb der Lokalverwaltung sowie die
anhaltende Spaltung zwischen der Bevölkerung und ihren politischen Vertretern, die maßgeblich auf eine
mangelnde politische Einbindung von Jugendlichen, Frauen und Personen mit Migrationshintergrund
zurückgehe. All das hindere die französische Demokratie daran, »ihre Humanressourcen bestmöglich zu
verwerten, anstatt sie zu verschleißen.« 58
Das Ideal einer schlanken Lokalverwaltung, die ihre Tätigkeit an den Kriterien maximaler Wirtschaftlichkeit
ausrichtet, hat sich mittlerweile in fast allen EU-Staaten durchgesetzt. Heute gehen die Bemühungen vor
allem dahin, dieses Modell – auch unter Rückgriff auf Instrumente der europäischen Entwicklungspolitik – im
gesamten Mittelmeerraum durchzusetzen. Es sind nicht zuletzt auch die Experten für Stadtentwicklung, die
die entsprechenden Konzepte beisteuern, etwa das der »integrierten Stadt« (ville integrée), dem das Ideal
der politischen Einbindung eines möglichst breiten Spektrums an gesellschaftlichen Akteuren zugrunde liegt.
Kombiniert werden diese Konzepte mit allem, was gerade opportun erscheint. So spielt etwa die
»nachhaltige Entwicklung« heute eine ähnliche Rolle wie früher die »Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.«
Wirtschaft, Soziales und Umwelt, die drei in der Lissabon-Strategie von 2000 hervorgehobenen
Schwerpunkte der EU-Politik, müssen nach Jacquier heute auch im Mittelpunkt einer »nachhaltigen
Stadtentwicklung« stehen.59 Die Verwaltung dieser drei Bereiche obliege nicht mehr den Zentralregierungen,
sondern den Régions urbaines, den städtischen Regionen. Damit sei für die wesentlichen Aufgaben auch
nicht die politische Klasse im engeren Sinn zuständig. Vielmehr seien jetzt die Experten für Politique de la
ville und Stadtentwicklung am Zuge. Nur diese Experten seien im Stande, die zahlreichen Akteure zu
mobilisieren, die es auf den verschiedenen Ebenen, vom Stadtviertel bis zur Region, in das neue
Entwicklungsprojekt einzubinden gelte.
Früher, so Jacquier weiter, sei es üblich gewesen, die französische Politique de la ville in einen Gegensatz
zu den Ansätzen anderer EU-Staaten zu stellen. So sei etwa die britische Regierung dafür bekannt, dass sie
besondere Maßnahmen zugunsten der ärmsten Stadtviertel ablehne, da sie davon ausgehe, der in einer
bestimmten Stadt produzierte Reichtum würde letztlich immer auch diesen Vierteln zugute kommen, sich
also über einen trickle-down-effect gleichsam von selbst über das städtische Territorium verbreite. Die
Experten der französischen Politique de la ville hätten, wie Jacquier betont, stets auf einen stärker
regulativen Ansatz gesetzt, und zwar aufgrund ihrer begründeten Befürchtung, das Wohlstandsgefälle
zwischen verschiedenen Stadtteilen könne Unruhen zur Folge haben. Die zur Förderung des »sozialen
Zusammenhalts« ergriffenen Maßnahmen hätten dabei stets auch auf eine »Transformation der
56
57
58
59
Jacquier, Rede vom 6. Juni. 2008, Paris.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
32
Mentalitäten« abgezielt,60 womit nichts anderes gemeint ist, als dass die Armutsgruppen angeregt wurden,
sich aktiv an der Verwaltung der Ungleichheit zu beteiligen. Aus seiner Rückschau auf die Besonderheiten
der französischen Politique de la ville entwickelt Jacquier die Perspektive einer auszubauenden
»Dienstleistungsökonomie«, die quer zu den eingefahrenen Zuständigkeitsstrukturen früherer Jahre zu
liegen habe (»Ko-Produktion«). Die Herstellung von »Sicherheit« wird ausdrücklich als eine der für diese
Ökonomie konstitutiven Dienstleistungen benannt. 61 Jacquier ist sich bewusst, dass vergleichbaren Modellen
in der Vergangenheit mit Widerstand begegnet wurde, etwa, wenn sich SozialarbeiterInnen geweigerten, mit
der Polizei zusammenzuarbeiten. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem hoffnungslos antiquierten
»Korporatismus«.62
Die von der Politique de la ville für die ZUS entwickelten Techniken sollen Jacquier zufolge in Zukunft im
»gesamten Territorium« der städtischen Ballungsgebiete angewandt werden, insbesondere aber in den »von
der Einwanderung geprägten Vierteln«.63 Kostspielige Pläne wie der PNRU würden es zwar erlauben, den
»Immobilienwert« solcher Viertel wieder auf den Stand von »vor 30 Jahren« anzuheben, doch sei es sinnvoll,
sie zunächst noch in ihrem gegenwärtigen Zustand zu belassen, um dort neue Modelle nachhaltiger
Stadtentwicklung zu erproben – Jacquier spricht insbesondere von der Schaffung von »Territorien eines
städtischen Recycling« (territoires de recyclage de la ville) und hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass
es von der in Afrika praktizierten Entwicklungspolitik zu lernen gelte, insbesondere von der besonderen
sozialen und ökonomischen Bedeutung, die in den neueren entwicklungspolitischen Ansätzen den Frauen
zugesprochen wird.64
Auf die Novemberrevolte von 2005 kommt Jacquier in seinem oben zitierten Artikel für die Zeitschrift
Urbanisme zu sprechen. Er meint in der Revolte einen »kolonialen Zug« erkannt zu haben, denn bei den
Aufständischen habe es sich überwiegend um »Nachkommen von Migranten aus der Karibik und aus Afrika,
d.h. aus dem ehemaligen Kolonialimperium« Frankreichs gehandelt, während es zugleich »nur geringe
Kontakte zwischen Beurs und Blacks und nur eine geringe Beteiligung von Personen mit türkischem,
osteuropäischem,
asiatischem
oder
lateinamerikanischem
Hintergrund«
gegeben
habe. 65
Dieser
ethnisierende Blick auf die Revolte kann sich auf keinerlei Forschungsergebnisse stützen. Selbst Polizisten,
die während der Revolte im Einsatz waren – und die ebenso wenig wie irgendwer sonst für sich
beanspruchen können, unter den Kapuzenpullover eines jeden der 20.000 Aufständischen geblickt zu haben
– betonen in ihrem ohne Absprache mit dem Innenministerium herausgegebenen Bericht, die Revolte habe
keinerlei »kommunitaristische« Züge aufgewiesen. Aus Jacquiers Aussage spricht also weniger eine
konkrete Kenntnis als vielmehr der Wunsch, die soziale Realität zu ethnisieren. So kann er die Jugendlichen
der Banlieues als Opfer eines »bruchstückhaften Geschichtsverständnisses voller Verkürzungen« und einer
»ideologisierten Umschreibung der Geschichte« denunzieren, und ihnen zugleich vorwerfen »die Begriffe
von gestern zu benützen, um die Schmerzen von heute zu benennen«, indem »sie die Sackgassen, in denen
sie sich befinden, in Verbindung mit den Erlebnissen ihrer Vorfahren, ihrer Eltern und jener MigrantInnen, die
vor den Toren Europas stehen, stellen«.
Wir haben in diesem Text dargelegt, wie eine Republik, die ihre Kolonialpolitik jahrzehntelang auf
rassistischen Diskursen gegründet hatte, in den 1970er Jahren zur Eindämmung der Arbeitsmigration auf
60
61
62
63
64
65
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
Jacquier, Les urnes résonneront-elles des raisons des émeutes?
33
Konzepte und Techniken zurückgegriffen hat, die auf den Krieg gegen die algerische Befreiungsbewegung
zurückgehen. Unter Berufung auf die Bekämpfung gesellschaftlicher Ausgrenzungserscheinungen hat dieser
Staat innerhalb seines eigenen Territoriums Zonen der Ausnahmepolitik geschaffen, die sich nicht zufällig mit
den von der Arbeitsmigration am stärksten geprägten Gebieten decken. In den »sensiblen Stadtgebieten«
konnten sicherheitspolitische Dispositive entwickelt werden, die quer zur Unterscheidung zwischen den
Bereichen des Militärischen und des Zivilen liegen. Die Sozialpolitische und mililtärisch-polizeiliche
Maßnahmen haben sich in Frankreich seit den 1970er Jahren nur scheinbar unabhängig voneinander
entwickelt; heute fließen sie in die neuen Techniken des Regierens städtischer Räume ein. Mit dem Jargon
der »nachhaltigen Entwicklung« und der Beschwörung einer neuen »Dienstleistungsökonomie« soll eine
wirtschaftliche Ordnung abgesichert werden, deren Zukunftsfähigkeit immer fragwürdiger scheint.
Die postkoloniale Republik, die auf der Verleugnung aller Kontinuitäten zwischen ihr und dem Kolonialismus
gründet, schickt sich heute an, ihre in den »sensiblen Stadtgebieten« erprobten Regierungstechniken zu
exportieren. Dass die Entwicklung dieser Regierungstechniken sich nicht zuletzt aus dem staatskritischen
Denken der 1970er Jahre zu speisen gewusst hat, ist dabei noch das geringste Übel.
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