Autistische Störungen: Von der Diagnose zur Therapie – eine kurze Einführung. Fritz Poustka Ehem. Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters J.W.Goethe Universität Frankfurt [email protected] DSM-5 Autismus Spektrum Störung (ASS): • 1) Klinisch bedeutsame, persistierende Defizite der sozialen Kommunikation und Interaktion, in allen drei Punkten, manifestiert durch: • a) deutliche Defizite der nonverbalen und verbalen Kommunikation der sozialen Interaktion • b) mangelnde soziale Gegenseitigkeit • c) Mangel, Beziehungen zu Gleichaltrigen zu entwickeln und aufrecht zu erhalten, die dem Entwicklungsalter angemessen sind DSM-5: ASS • 2) Restriktive, repetitive Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten in mindestens 2 der folgenden 3 Punkte: • a) stereotypes motorisches oder vokales Verhalten, • b) exzessives Festhalten an Routinen und ritualisierten Verhaltensmustern, • c) restriktive und fixierte Interessen. • 3) Die Symptome müssen bereits seit der frühen Kindheit bestehen • sie könnten sich aber auch erst dann vollständig manifestieren, bis soziale Anforderungen den Mangel an begrenzten Kapazitäten übersteigen. Häufigste einzelne Symptome • Fehlender Blickkontakt*, Probleme der Imitation*, • häufig verlangsamte Sprachentwicklung, • keine Kompensation durch averbale Mimik, Gestik, Tonfall (mangelnde Prosodie), fehlende Sprache bei 1/3 der Kinder, Echolalie, neologische Wortbildungen, • Probleme der Kommunikation: Konversation zu beginnen, zu halten • Repetitive und stereotype Sprache, • Schwierigkeiten Emotionen anderer Leute / Situationen zu verstehen, • sich eine Vorstellung zu machen (Theory of Mind – ToM - Defizite) • Abnormes Festhalten an bestimmten Themen, • An Details, statt am Ganzen, Haften an Nicht-funktionalen Routinen und Ritualen • Abnorme Interessen an sensorischen Eindrücken / engbegrenzten Spezialinteressen • Repetitive motorische Manierismen* / Interesse an Berühren, Geschmack, Geruch von Dingen oder Menschen • * prognostisch bedeutsam Dimensionales Rating für DSM5 ASS Soziale Kommunikation Fixierte Interessen und Repetitives Verhalten Sehr hohe Unterstützung notwendig Minimale soziale Kommunikation Bedeutsame Störung im täglichen Leben Substantielle Unterstützung notwendig Bedeutsame Defizite mit begrenzten Kontaktaufnahmen und reduzierten oder atypische Reaktionen Offensichtliche zu beobachten und situationsübergreifend Benötigt Unterstützung Hat ohne Unterstützung einige bedeutsame Defizite Bedeutsame Störungen mindestens in einem Kontext Subklinische Symptomatik Einige Symptome in diesem oder beiden Bereichen; keine bedeutsame Beeinträchtigung Normale Variation Mögliche ungewöhnliche Verhaltensweisen oder isoliert, aber innerhalb normaler Variationen Ungewöhnlich oder exzessiver, aber ohne Störungen Verhalten innerhalb normaler Variationen ohne Störung im Alltag Ursachen bei ASS (nicht syndromal) • Genetische Bedingungen, • 10 % wahrscheinlich Spontenmutationen • Etwa 1000 Gene mit jeweils geringen Defekten weltweit identifiziert • Häufig Synaptopathie, • die zu Störungen der Konnektivität zwischen Hirnpartien führen • Mendelt nicht, keine familiären Stammbäume, • Geschwister in 2-10% betroffen • Hohe Differenz im Vorkommen des Autismus zwischen ein- und zweieiigen Zwillingen = wenig Umwelteinflüsse Leo Kanner 1896 – 1981 1943: „Autistische Störungen des affektiven Kontakts“ Hans Asperger 1906 – 1980 1944: „Die autistischen Psychopathen im Kindesalter“ Fombonne. 2005 L. Wing: Asperger Syndrome Fombonne 2005 Häufigkeit und Prognose • 1%-1,5% der Kinder und Jugendlichen • Geistige Behinderung bei 1/3 – 1/2 aller Betroffenen • Früher: 3/4 - 4/5 aller Betroffenen • Ursachen der höheren Hfgk.: • Bessere Klassifikation, • bessere Aufklärung der Experten und Betroffenen • Spezifische Hilfe ist häufiger möglich Diagnostik Untersuchungsinstrumente (derzeitiger Standard) • Screening: FSK / SRS • ADI-R (Lord C, Rutter M, Le Couteur A., 1994, dt. Adaptation und Validierung v. Poustka F. et al. 1996) • strukturiertes, semistandardisiertes, untersuchergeleitetes Interview mit der Bezugsperson (vorgegebene Kodierung von 117 items und 40, die die Diagnose etablieren) • ADOS (Lord, C.; Rutter, M.; DiLavore, P, 1996, dt. Bölte S. & Poustka F.) • strukturiertes Beobachtungsinstrument für verschiedenes Sprachvermögen und Alter • ADOS II in Bearbeitung mit Toddler-ADOS (Poustka, L. et al. • Anwendbar ab 12. Monat Nachuntersuchung (Bennett, Szatmari et al. 2014) 330 Kinder (Alter b. Diagnose 44-37 Monate alt) 3 Gruppen: nur ASD/ LI= mit Sprachstörung/ ID= mit intellektueller Beeinträchtigung Soziale Kompetenz gemessen mit Vineland II Prognose – Nachuntersuchung (DK Anderson DK, JW Liang, C. Lord, 2014) • Erstuntersuchungen mit 2 und 3 Jahre alten Kindern N= 213 • Nachuntersuchung 17 Jahre später (N=113) • 19,9% ohne Diagnose von ASD! • sehr guter Verlauf: Diese Kinder hatten mehr Therapie und eine höhere Reduktion im repetitiven Verhalten zwischen 2. und 3. L.Jahren • Im Gegensatz zu Kindern mit VIQ >=70 Therapien • Verhaltenstherapien in Form der ABA (Applied Behavior Analysis) am besten evaluiert. • Wird in verschiedenen Settings angewandt • Auch in Schulen und Gruppen, meist in Familien • Theorie of Mind – Training / TEACCH • Beispiele neuer deutschspr. Therapien:Gruppen: KONTAKT, SOSTA (in Gr.); FIPP KONTAKT: Herbrecht E., Bölte S., Poustka F. Frankfurter Kommunikations- und soziales Interaktions-Gruppentraining bei AutismusSpektrum-Störungen, Hogrefe 2007 SOSTA: Cholemkery H., Freitag C. Soziales Kompetenztraining für Kinder und Jugendliche, ISBN 978-3-621-28200-2014 Beltz Verlag, Weinheim Basel FIPP: Freitag C, Feineis-Matthews S, Valerian J., Teufel K, Wiker C. Frankfurter Früh-Interventionsprogramm für Vorschulkinder mit Autismus-Spektrum-Störung: In Vorbereitung. Absolut notwendig sind im Abstand von 6-12 Monaten wiederholte Untersuchungen zur Einschätzung der Wirksamkeit der angewandten Therapien: Gibt es eine Annäherung an die Norm? (Aufholen?) • Ausprägung der Kernsymptomatik des Autimus • Rezeptive und expressive Sprache • Entwicklungsniveau / IQ • Komorbidität, am häufigsten: • soziale Ängste, • Störungen der Aufmerksamkeit und Konzentration, • Aggressionen Kosten • Familienbasierte verhaltenstherapeutische Vorgangsweisen (EIBI -- early intensive behavioural intervention ): • benötigen etwa 20-30 bis 40 Stunden pro Woche für mindestens 2 Jahre. • Vergleichsstudien mit in Kindergärten implementierten Therapien mit klaren Therapieprogrammen* benötigen ca. 5 Stunden / Woche weniger, • entlasten aber die Familien, wenn auch elternbegleitende Vorgangsweisen nötig erscheinen. • Die Kosten werden dabei z. B. in Großbritannien von kommunalen Trägern unterstützt • Sie betragen um die 15 – 20 Tausend Pfund pro Jahr (umgerechnet 19 - 25 Tausend Euro / Jahr) * Magiati I, Charman T, Howlin P. A two-year prospective follow-up study of community-based early intensive behavioural intervention and specialist nursery provision for children with autism spectrum disorders.J. Child Psychol. Psychiat. 84, 8, 2007, pp 803-812. Ausbildung von Therapeuten ist dringend notwendig: • Geregeltes Studium: BA mit MA • Für chronische, psychische Erkrankungen mit Beginn im Kindesalter • Nicht nur für ASS ausschließlich • Begründung • Bedarf reicht derzeit bei weitem nicht aus • Hohe Komorbiditäten, hohe Überschneidungen mit syndromalen Autismus: • z.B. Rett-Syndrom, Fragiles-X, tuberöse Hirnsklerose u.a.m. • Soziale Phobie, Hyperkinetische Störung der Aggression, isolierte, schwere Sprachentwicklungsverzögerung • Mit und ohne intellektuelle Behinderung Konklusion • Probleme • der Emotionserkennung beim Autismus • zeigt tiefgreifende zerebrale Störungen (u.a. visuell und auditiv) der „Konnektivität“, und fehlende „Spiegelneuronen“ • Wahrscheinlich liegen dem ASS genetisch bedingte Fehlsteuerungen • der Migration der Nervenzellen in verschiedenen Regionen des Gehirns zugrunde • Keine medikamentöse TH. derzeit möglich • gegen die Autismus-Kernsymptomatik • Frühes, langwieriges Training ist hilfreich (Kompensationsmechanismen!), • und kann wahrscheinlich den Defekt in bestimmten Fällen verbessern oder auch bewältigen und zur besseren Teilhabe am Leben führen.