Würdigung Lutz Leisering Soziologische Abklärung der Sozialpolitik Laudatio auf Prof. Dr. DDr. h.c. Franz-Xaver Kaufmann anlässlich der Verleihung des Ludwig Preller-Preises für Sozialpolitik am 14.1.2005 in Frankfurt am Main Am 14.1.2005 wurde Prof. Dr. DDr. h.c. Franz-Xaver Kaufmann der mit € 5.200 dotierte Ludwig Preller-Preis der Preller-Stiftung, Frankfurt am Main, verliehen. Kaufmann ist der dritte Preisträger nach Anthony Giddens (1997) und Richard Hauser (2001). Mit dem Soziologen, Ökonomen und Bevölkerungswissenschaftler Kaufmann, der 1968 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1997 an der Universität Bielefeld gelehrt hat, wird ein Wissenschaftler geehrt, der die Soziologie der Sozialpolitik in Deutschland maßgeblich geprägt und begründet hat. Ludwig Preller (1897-1974) war ein sozialer Denker der Arbeiterbewegung, der als Politiker, Wissenschaftler und akademischer Lehrer, vor allem an der Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt am Main, nachhaltig sozialpolitisch wirkte. Seine Studie „Sozialpolitik in der Weimarer Republik“ gilt als Klassiker der sozialpolitischen Literatur.1 Bei der Feier von Franz-Xaver Kaufmanns 60. Geburtstag im Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld im Jahre 1992 meinte ein Redner, Kaufmann dadurch besonders loben zu können, dass er ihn als gediegenen Sozialkonservativen darstellte, als jemanden, der überlieferte Werte und die Bindungskraft traditionaler Vergemeinschaftungen den Atomisierungstenden1 Zu Preller siehe Preller (1946, 1951, 1962, 1970, 1978[1949]), Döring (1987) und Friedrich-Ebert-Stiftung (o.J.). ZSR, 51. Jahrgang (2005), Heft 3, S. 245-272 Lutz Leisering zen der Moderne entgegenhalte. Bei anderer Gelegenheit war Kaufmann dagegen von Vertretern des bürgerlichen Establishments der alten BRD als „der rote Kaufmann“ tituliert worden. Beide Charakterisierungen sind verfehlt. So meldete sich Kaufmann nach den Äußerungen zu seinem 60. Geburtstag sogleich, um darauf hinzuweisen, dass er wesentlich auch durch die Auseinandersetzung mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns geprägt worden sei. Kaufmann könnte also weder als ein natürlicher („roter“) Verbündeter von Ludwig Preller, noch als sozialkonservativer Opponent einer sozialdemokratischen Position, wie sie Preller verkörperte, in Anspruch genommen werden. Die extreme Divergenz der Charakterisierungen von Kaufmann verweist vielmehr darauf, dass wir es hier mit einem Wissenschaftler und Intellektuellen zu tun haben, der nicht in die üblichen Schubladen passt. Franz-Xaver Kaufmann und Ludwig Preller Franz-Xaver Kaufmann und Ludwig Preller haben sich nie getroffen. Möglich wäre es gewesen, beschäftigte sich Kaufmann doch 1974, dem Jahr, in dem Preller starb, bereits seit elf Jahren mit Sozialpolitik. Tatsächlich gehören die beiden verschiedenen Generationen an, mit einem Altersabstand von 35 Jahren. 1970 war das Jahr des Erscheinens von Prellers letztem großen Werk, „Praxis und Probleme der Sozialpolitik“, und zugleich das Jahr, in dem Kaufmanns erstes großes soziologisches und sozialpolitisches Buch, „Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem“, erschien. Aber es lohnt sich, nach Gemeinsamkeiten der beiden zu schauen. Beider Väter waren Rechtsanwälte. Das Medium des Rechts war ein immer mitlaufender Aspekt im wissenschaftlichen Werk von Kaufmann. Für Preller war die Nähe von Sozialpolitik und Sozialrecht vor allem im Arbeits- und Betriebsverfassungsrecht greifbar. Beide haben Wirtschaftswissenschaften studiert, Soziologie wurde für Kaufmann erst später der Schaffensschwerpunkt. Für beide war die Relation zwischen Sozialpolitik einerseits und Wirtschaftspolitik und ökonomischer Theorie andererseits ein durchgängiges Anliegen. Wenn sich die beiden nicht persönlich getroffen haben, so haben sich ihre sozialen Kreise doch teilweise gekreuzt. Im Nachlass von Ludwig Preller gibt es eine Korrespondenz mit Oswald von Nell-Breuning, und er war auch Mitherausgeber der Festschrift für Nell-Breuning zu dessen 75-jährigem Geburtstag. Auch Kaufmann korrespondierte mit von Nell-Breuning und gab mit 246 Soziologische Abklärung der Sozialpolitik – Laudatio auf Franz-Xaver Kaufmann Karl Gabriel ein Buch zur Soziologie des Katholizismus heraus, das diesem gewidmet war. Die katholische Soziallehre lag naturgemäß im Schnittpunkt zweier Interessengebiete von Kaufmann, Sozialpolitik und Kirche. Preller nennt – neben dem „soziologisch-ökonomischen“ – das „sittlich-religiöse“ oder „ethisch-religiöse“ als Motiv des „Sozialprinzips“, eines grundlegenden Prinzips der Gesellschaft (Preller 1951: 3). Bereits in seinem ersten in Deutschland gehaltenen öffentlichen Vortrag setzte sich Kaufmann an der Evangelischen Akademie Loccum im Jahre 1964 unter dem Titel „Anthropologische Voraussetzungen in der Sozialpolitik“ mit Ludwig Preller (sowie mit Hans Achinger) auseinander. In Kaufmanns 2003 erschienener Studie „Sozialpolitisches Denken. Die deutsche Tradition“ (Kaufmann 2003a, erste Fassung Kaufmann 2001a) wird Preller mehrfach genannt, meist jedoch nur als Verweis. Eine ausführlichere Bemerkung bezeichnet Prellers Sozialpolitikbegriff als „anthropologisch“ und als „deskriptiv-normativ“ (Kaufmann 2003a: 154-155) – Charakterisierungen, die die beiden großen Werke „Sozialpolitik. Theoretische Ortung“ (Preller 1962) und „Praxis und Probleme der Sozialpolitik“ (Preller 1970) tatsächlich treffen. Unterschiedliche Sichtweisen von Sozialpolitik sind auch einem Vergleich ihrer Arbeiten zur Weimarer Republik entnehmbar. Die drei Denker, die Kaufmann in seinem Buch „Sozialpolitisches Denken“ für die Darstellung der Weimarer Zeit auswählt – Hermann Heller, Fritz Naphtali und Hugo Sinzheimer – tauchen in Prellers Buch zur Sozialpolitik in der Weimarer Republik (1978[1949]) und auch den anderen Büchern gar nicht bzw. nur am Rande auf.2 Eines verbindet jedoch Kaufmann und Preller: Beide hatten in der Zeit ihres Wirkens eine doppelte Rolle, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung und Ausrichtung. Beide waren Wissenschaftler und zugleich Personen des öffentlichen und politischen Lebens. Nach seiner Entlassung aus dem Staatsdienst 1933 arbeitete Preller an einer Habilitationsschrift, von der große Teile in den Kriegsjahren verloren gingen und nur der Teil zu „Sozialpolitik in der Weimarer Republik“ (1978[1949]) veröffentlicht wurde. Dieser „Klassiker der sozialpolitischen Literatur“ (Tennstedt 1978: 561, 564; ähnlich Kaufmann 2003a: 80, Fn. 204) wurde 1978 mit einem Nachwort von Florian Tennstedt 2 Heller wird in keinem der Bücher erwähnt, Naphtali nur einmal kurz im Buch zu Weimar, und Sinzheimer wird mehrfach, aber auch randständig erwähnt. 247 Lutz Leisering neu veröffentlicht. 1962 und 1970 erschienen die beiden genannten weiteren sozialpolitischen Bücher. Schließlich lehrte Preller 1951 bis 1965 an der Akademie der Arbeit in der Universität Frankfurt. Vor allem war Preller jedoch ein sozialer Denker der Arbeiterbewegung, in SPD und Gewerkschaften. Er war Politiker – 1953-1957 Mitglied des deutschen Bundestags – und bekleidete zahlreiche sozialpolitische Fachämter in SPD und Gewerkschaften und in der Gesellschaft für sozialen Fortschritt. Kaufmann, wenn auch primär Wissenschaftler, wirkte und wirkt wesentlich auch als Intellektueller, der sich jedoch, anders als Preller, an eine bürgerliche Öffentlichkeit wandte und wendet. Als Wissenschaftler wie als öffentlicher Intellektueller beschäftigte sich Kaufmann nicht nur mit Sozialpolitik. Die drei großen Gebiete seines Schaffens waren und sind Sozialpolitik, Familie und Religion. Es dürfte keinen anderen deutschen Soziologen geben, der in drei ganz unterschiedlichen Gebieten und Scientific Communities maßgebliche Beiträge geleistet hat und in jedem Gebiet zu den meistzitierten Autoren zählt. Darüber hinaus liegt eine große Zahl substanzieller Veröffentlichungen zu anderen Gebieten vor, vor allem zur allgemeinen Soziologie, zur Bevölkerungswissenschaft, zur Wirtschaftssoziologie (u.a. Kaufmann 1982a, 2001c), zur Politik- und Verwaltungswissenschaft und zur Anwendungsforschung. Schaut man die Liste seiner Publikationen durch, sowie die Liste der von ihm selbst als seine wichtigsten Bücher bezeichneten Werke, so rangiert das Gebiet Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat oben mit sechs Seiten in der Publikationsliste und mit sechs Büchern aus der Liste der wichtigsten Bücher. Das Gebiet Religion und Theologie bringt es ebenfalls auf sechs Seiten in der Literaturliste, aber „nur“ auf drei Bücher unter den wichtigsten. Auf das Thema Familie entfallen dreieinhalb Seiten und drei der wichtigsten Bücher. Zwischen den drei Hauptgebieten gibt es inhaltliche Bezüge: Bei allen dreien dreht es sich um Probleme sozialer Integration und des Zusammenhalts in der modernen Gesellschaft. Dies ist ein, wenn nicht das zentrale Thema von Franz-Xaver Kaufmann. In einigen Arbeiten werden die Gebiete konkret kombiniert, etwa Sozialpolitik und Familie (Kaufmann 1982c) oder Christentum und Wohlfahrtsstaat (Kaufmann 1988b). Im Folgenden fokussiere ich naturgemäß auf Kaufmanns Beitrag zur Sozialpolitik. Kaufmann war und ist der wichtigste und wissenschaftlich einflussreichste deutsche Sozialpolitikforscher. Zugleich hat er als Intellektueller maßgeblich in die Gesellschaft hineingewirkt. Des Weiteren, drittens, an der Schnittstelle 248 Soziologische Abklärung der Sozialpolitik – Laudatio auf Franz-Xaver Kaufmann von Wissenschaftler und ‚gesellschaftlicher‘ Person, hat Kaufmann wesentliche Beiträge zur Zeitdiagnostik geliefert, im Kontext Sozialpolitik insbesondere zur Krise des Sozialstaats. Gerade erscheint sein seit 1997 viertes Buch in der Edition Suhrkamp, mit dem Titel „Schrumpfende Gesellschaft“ (Rezension Mayer 2005). Diesen drei Aktivitätsfeldern – gesellschaftlicher Raum, Wissenschaft und Zeitdiagnostik – möchte ich im Hauptteil meines Vortrags nachspüren.3 Die ‚gesellschaftliche‘ Person: Öffentlichkeit und Praxisbezug Obwohl Kaufmann als Schweizer Staatsbürger bis heute in Deutschland nicht wählen kann, mischte er sich politisch und gesellschaftlich ein, oft gerufen, manchmal auch ungerufen. In dieser öffentlichen Rolle war seine Welt die der Politikberatung, der Wissenschaftsorganisationen, der Akademien, der Beiräte von Institutionen, von Kommissionen und, nicht zuletzt, der katholischen Kirche, in der er sich in unterschiedlichen Kontexten wie der deutschen Bischofskonferenz, der Synode und dem Zentralkomitee der Deutschen Katholiken engagierte. Kaufmann machte die Rolle des Wissenschaftlers in Politik und Öffentlichkeit und den Anwendungsbezug der Soziologie selbst zu einem Untersuchungsgegenstand, zu einem Thema der Soziologie. Prozesse der Anwendung von Wissenschaft waren für ihn Teil des politischen Prozesses und damit Teil des Gegenstands auch der sozialpolitischen Analyse. Gut systemtheoretisch sah er das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, von Theorie und Praxis, nicht als Frage innerwissenschaftlicher, methodologischer Reflexion – wie in den Werturteilsstreiten und dem Positivismusstreit des 19. und 20. Jahrhunderts – , sondern als Frage der Kommunikation zwischen gegeneinander differenzierten, eigenlogischen sozialen Systemen: zwischen Wissenschaft und Politik, zwischen Wissenschaft und Verwaltung oder auch zwischen Wissenschaft und Kirche. Der Anwendungsbezug von Wissenschaft ist keine Reflexionsleistung des Wissenschaftlers oder des Praktikers, sondern ein Prozess 3 Zu Interviews mit und Arbeiten über Kaufmann siehe Gabriel, Herlth und Strohmeier (1997), Leibfried (1998), Berner u.a. (1998), von Thadden (2003), Gauly (2004), Leisering (2005) und Kaufmanns Internetseite (www.uni-bielefeld.de/soz/personen/ kaufmann/). 249 Lutz Leisering der Interaktion zwischen sozialen Systemen. Entsprechend kritisierte Kaufmann den „voluntaristischen“, nicht in Differenzierungskategorien denkenden Sozialpolitikbegriff der älteren Generation von Sozialpolitikforschern, etwa bei Eduard Heimann und Gerhard Weisser, die er ansonsten schätzte. Diese Kritik träfe analog auch auf Ludwig Preller zu. Diese älteren Autoren unterstellten einen „gemeinsamen Horizont von beratender Sozialwissenschaft und politischen Entscheidungsträgern“ (Kaufmann 2003a: 157). Aufgabe der Soziologie in dieser älteren Sicht war es, sich in den Staat als Akteur hineinzuversetzen und bei der Suche nach rationalen Lösungsmodellen sich gleichsam „den Kopf des Akteurs (zu) zerbrechen“ (ebd.). Das Kurzschließen von Wissenschaft und Politik in der älteren Sozialpolitiklehre verweist darauf, so Kaufmann, dass diese Autoren Sozialpolitik von ihrem Wirkungsfeld her konzipierten – mit dem Staat als einem monolithisch vorgestellten zentralen Akteur –, unter Vernachlässigung des politischen Prozesses der Willensbildung und Implementation sozialpolitischer Entscheidungen. Zur Verknüpfung der Systeme Soziologie und Politik oder Soziologie und berufliche Praxis hat die Anwendungsforschung Kaufmanns wie seine eigene berufliche Praxis wesentliche Beiträge geleistet. 1970/71 war Kaufmann der zweite Dekan der 1969 gegründeten Fakultät für Soziologie an der Universität Bielefeld. Das Konzept der „aktiven Professionalisierung“, das wegweisend für die Reform des Soziologiestudiums in Bielefeld und später in anderen deutschen Universitäten wurde, ist wesentlich auf ihn zurückzuführen (Kaufmann 1995). Erst in den 1970er Jahren wurde die deutsche Soziologie eine durch und durch empirische und auch anwendungsbezogene Wissenschaft. Die von Kaufmann koordinierten Forschungsprogramme „Bürgernahe Gestaltung der sozialen Umwelt“, „Gesellschaftliche Bedingungen sozialpolitischer Intervention“ und „Wirkungen öffentlicher Sozialleistungen auf den familiären Sozialisationsprozeß“ haben dazu beigetragen (Kaufmann 1979, 1982c; Kaufmann mit A. Herlth und K.P. Strohmeier 1980). Das von ihm konzipierte und 1981 gegründete Institut für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS) und die von ihm mitangeschobene, 1994 gegründete Fakultät für Gesundheitswissenschaft – beide an der Universität Bielefeld – waren bzw. sind Institutionen, die Wissenschaft und Praxis nachhaltig verknüpfen. Wesentlich für die Kommunikation zwischen Soziologie und Praxis sind neben Institutionen auch Begriffe und Kategorien, die zwischen beiden Sphä250 Soziologische Abklärung der Sozialpolitik – Laudatio auf Franz-Xaver Kaufmann ren überbrücken können. Besonders produktiv kann eine mittlere Distanz zwischen wissenschaftlichem Wissen und Praxiswissen sein (Kaufmann 1977; 2002). Ein wesentliches Potenzial der Soziologie sieht Kaufmann in „ihrem Beitrag zur Strukturierung schlecht definierter Probleme und Situationen“ (Kaufmann 1984: 370). Aus soziologischer Sicht wird das Handeln von Akteuren wesentlich durch ihre Definition der Situation, hier etwa eines sozialen Problems, bestimmt, so dass die Soziologie durch begriffliche Klärung diffuser Problemkonstellationen auf die Praxis Einfluss nehmen kann. Des Weiteren ist Interdisziplinarität bei Kaufmann ein wesentliches Element der Anwendung sozialwissenschaftlichen Wissens.4 Von den vier außersoziologischen Disziplinen, mit denen er in besonders engem Austausch stand – Wirtschaftswissenschaft, Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft und Demographie –, sind die ersten drei Disziplinen Reflexionstheorien je eines gesellschaftlichen Subsystems und als solche für eine handlungsrelevante Analyse des jeweiligen Praxisfeldes zu berücksichtigen. 1981/82 war Kaufmann Geschäftsführender Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) an der Universität Bielefeld. Der Wissenschaftler Franz-Xaver Kaufmann hat die Soziologie der Sozialpolitik in Deutschland seit den 1970er Jahren geschaffen. Er gilt als und ist tatsächlich der Doyen der Disziplin. Orientiert man sich am Werk der Leitfigur Kaufmann, so markieren die 15 Jahre von 1968 bis 1982 die Inkubationszeit der deutschen Soziologie der Sozialpolitik. In diesem Zeitraum bot sich ein „Fenster“, wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungen auf gesellschaftsgeschichtliche Entwicklungen zu beziehen, und Kaufmanns Verdienst besteht darin, diesen Bezug hergestellt zu haben. Er hat, in Max Webers Terminologie, die „Kulturprobleme“ seiner Zeit früh erkannt und sie im Bereich der Sozialpolitik mit definiert und geformt. 1872 bis 1930 gab es noch einen dichten interdisziplinären Kommunikationszusammenhang sozialpolitischen Denkens (Kaufmann 2003a: 138). Dieser Zusammenhang löste sich nach dem Zweiten Weltkrieg auf. Sozialpolitik 4 Zum Problem der Interdisziplinarität siehe generell Kaufmann (1980, 2001c). 251 Lutz Leisering zerfiel in ein Thema der Rechtswissenschaft – dort wurde sie zu dem eher randständigen öffentlich-rechtlichen Gebiet „Sozialrecht“ sowie, personell meist getrennt, im Privatrecht zu „Arbeitsrecht“ – und der Wirtschaftswissenschaft. In letzterer wurde Sozialpolitik reduziert auf Verteilungsökonomie. Zudem wurde die Sozialpolitikanalyse in der Wirtschaftswissenschaft marginalisiert, da eine modelltheoretisch orientierte Ökonomie unter USamerikanischem Einfluss dominant geworden war, die der institutionellen Ökonomie nur einen Platz am Katzentisch ließ. Die Sozialpolitik befand sich „in den 1960er und frühen 1970er Jahren in einem wissenschaftlichen Niemandsland“ (Kaufmann 2002: 13). In diese Leerstelle rückte, nicht nur, aber vor allem durch Kaufmann, die Soziologie ein. Nach einem Vorlauf auf dem 18. Deutschen Soziologentag 1976 in Bielefeld und einem daraus erwachsenen Sonderheft „Soziologie und Sozialpolitik“ der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (von Ferber/ Kaufmann 1977) gründete Kaufmann 1978 mit anderen die Sektion Sozialpolitik in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, die 1979 von der DGS offiziell anerkannt wurde (Kaufmann 2004: 11-12). In gewisser Weise kehrte damit ein sozialpolitisches Erkenntnisinteresse in die Soziologie zurück. Denn 1910 hatte sich die Deutsche Gesellschaft für Soziologie als Abspaltung vom Verein für Socialpolitik formiert, da Max Weber, Werner Sombart und andere in der Werturteilsfrage die normative Mehrheitsposition des Vereins nicht teilen konnten. Die Werturteilsfrage war und ist unhintergehbar mit der Disziplin Sozialpolitik verknüpft. Gerade in den politisierten 1970er Jahren der Bundesrepublik wurde dies im Gründungsprozess der Sektion Sozialpolitik greifbar. Denn auf dem Soziologentag 1976, so Kaufmann in einem Rückblick, erschienen unerwartet 130 Personen zu der Versammlung, auf der über die Gründung einer Sektion beraten werden sollte. Dabei war es „völlig unklar, welche wissenschaftlichen und sonstigen Interessen uns einen solchen Zulauf bescherten“ (Kaufmann 2004: 14), weshalb die Sektionsgründung vertagt und in einem kleineren, besser kontrollierbaren Zusammenhang bei der Werner-Reimers-Stiftung weiter betrieben wurde. Im November 1968 wurde Kaufmann mit 36 Jahren zum Professor für Sozialpolitik und Soziologie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld ernannt, noch bevor diese eigentlich gegründet wurde. Dies war der erste deutsche Lehrstuhl für Soziologie der Sozialpolitik. Die Einrichtung eines solchen Lehrstuhls an der neugegründeten Reform- und Eliteuniversität 252 Soziologische Abklärung der Sozialpolitik – Laudatio auf Franz-Xaver Kaufmann Bielefeld dürfte auf Helmut Schelsky zurückgehen, der in Sozialpolitik ein soziologisch relevantes Praxisgebiet zu sehen schien, und zudem in den vorangehenden Jahren Leiter eines DFG-Projekts über Einstellungen zu sozialpolitischer Umverteilung gewesen war. In diesem Projekt, das Teil eines noch Ende der 1950er Jahre von Hans Achinger angestoßenen DFG-Schwerpunktes zu dringenden sozialpolitischen Fragen war, hatte Kaufmann seine Sicherheitsstudie erarbeitet. Bei der disziplinären ‚Besetzung‘ des Gebiets Sozialpolitik konnte sich Kaufmann die allgemeine Aufbruchsdynamik der Disziplin Soziologie zunutze machen und zugleich deren Entwicklung zu einer empirischen Disziplin mit vorantreiben. Gesellschaftsgeschichtlich reagierte die neue Disziplin Soziologie der Sozialpolitik auf die Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates in der Nachkriegszeit. Nicht Sozialpolitik, aber „Wohlfahrtsstaat“ bzw. „Sozialstaat“ sind Phänomene der Nachkriegszeit (für Deutschland siehe Leisering 1999). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Wohlfahrtsstaat zu einer prägenden Strukturkomponente westlicher Gesellschaften, die dadurch zu ‚gemischten Gesellschaften‘ (mixed societies) wurden. Thomas Humphrey Marshall sprach von „democratic welfare capitalism“ (Marshall 1981). Ähnlich Kaufmann (2003b: 56; 1997a: 24), der aber noch mehr als Marshall das eigenständige Gewicht des Wohlfahrtsstaats – als institutioneller „Sozialsektor“ wie auch als Verantwortlichkeit des Staates für die soziale Teilhabe der Bürger – als Strukturelement des gemischten Gesellschaftstyps betont. Die Vielzahl sozialpolitischer Einzelmaßnahmen und Einrichtungen, die jeweils für spezifische soziale Probleme geschaffen worden waren, verdichteten sich und weiteten sich aus zu einem eigenen, massiven institutionellen Sektor der Gesellschaft, der die Lebensformen der Menschen und die Sozialstruktur tiefgreifend veränderte. In politischer Hinsicht wurde Wohlfahrtsstaatlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer zentralen Legitimationsquelle des Staates und der politischen Akteure. Diese neue politisch-soziale Konfiguration ‚Wohlfahrtsstaat‘ überschritt die parzellierten Gegenstandsbereiche der Wirtschaftswissenschaft, der Politikwissenschaft und anderer Sozialwissenschaften und konnte so zu einem neuen Gegenstand der Soziologie werden. Einige Soziologen haben die neue Struktur Wohlfahrtsstaat identifiziert und zu modellieren versucht, vor allem T.H. Marshall (1950), Hans Achinger (1958), Gaston Rimlinger (1971), Harold L. Wilensky (1975), Morris Janowitz (1976) und, in gewisser Weise als Ab253 Lutz Leisering schluss, Gøsta Esping-Andersen (1990). Kaufmanns sozialpolitische Arbeiten verdichteten sich erst seit Mitte der 1980er, manifest seit Mitte der 1990er Jahre zu einer genuinen Theorie des Wohlfahrtsstaats, obwohl schon die Sicherheitsstudie, die als Habilitationsschrift 1968 vorgelegt wurde und 1970 in erster und 1973 in zweiter, überarbeiteter Auflage erschien, hierzu beitrug. Mit der Formierung des Wohlfahrtsstaats der Nachkriegszeit wandelte sich auch die Sozialpolitik grundlegend und ließ die sozialpolitische Welt, die Ludwig Prellers Denken geprägt hatte, hinter sich. Zu nennen sind vier Entwicklungen. Erstens wurde Sozialpolitik von Klassenpolitik zunehmend zu einer Politik individueller Lebenslagen, zu einer Politik für alle Bürger (Kaufmann 2003a: 150-156). Zweitens weitete sich der Einzugsbereich von Sozialpolitik aus, von der Bearbeitung basaler Risiken des industriellen Erwerbslebens zu einer allgemeinen „Daseinsvorsorge“, verbunden mit erweiterten Zielformeln wie „Lebensqualität“ und „Bürgernähe“. Drittens gewannen im politischen Prozess Fragen der Implementation und Organisation sozialer Dienste und Leistungen zunehmend an Gewicht gegenüber ideologisch geprägten Programmdebatten. Viertens nahm der Bereich sozialer Sicherung gegenüber den früher im Vordergrund stehenden Bereichen Arbeitsrecht und Betriebsverfassung an Gewicht zu und begann, Debatten zur Sozialpolitik zu prägen. Innerhalb der sozialen Sicherung nahm die Bedeutung sozialer Dienstleistungen gegenüber monetären Transfers deutlich zu. 1925 gab die gesetzliche Krankenversicherung noch mehr für Krankengeld als für medizinische Behandlung aus, während heute erwogen wird, den kleinen Posten Krankengeld aus der GKV auszugliedern. In seinem letzten großen Werk deutete auch Preller (1970: V) einige der Ausweitungen des Sozialpolitikbegriffs nach dem Zweiten Weltkrieg an. Diese Veränderungen leisteten dem Aufstieg der Soziologie zur Leitdisziplin der Sozialpolitikforschung Vorschub, da die erweiterten soziokulturellen Zielformeln und sozialen Dienstleistungen in besonderer Weise einer soziologischen Analyse zugänglich sind. Dabei hat Kaufmann mehr als jeder andere deutsche Forscher das Thema Sozialpolitik mit den Theorien und Methoden der allgemeinen Soziologie verbunden – insbesondere mit der Organisationsund Interorganisationstheorie, mit der Gesellschaftstheorie (vor allem als Differenzierungstheorie), mit der Professionensoziologie, mit der Sozialpsychologie und diversen anderen allgemein-soziologischen Forschungssträngen. Vor diesem Hintergrund etablierte Kaufmann die steuerungstheoretische 254 Soziologische Abklärung der Sozialpolitik – Laudatio auf Franz-Xaver Kaufmann Perspektive als neues Paradigma der deutschen Sozialpolitik- und Wohlfahrtsstaatsforschung. Die beschriebene formative Phase der Kaufmannschen Soziologie der Sozialpolitik, 1968-1982, fällt zusammen mit soziokulturellen Veränderungen der deutschen Gesellschaft im Kontext der „68er“-Generation. Im Vergleich zu dieser politisierten, „gesellschaftskritischen“ und „emanzipatorischen“ Strömung erscheint das wissenschaftliche Projekt von Kaufmann zunächst merkwürdig nüchtern und begrenzt. Der Bielefelder Kollege Claus Offe stand damals für eine größer geschnittene, neomarxistische Sicht auf Sozialpolitik. In den späten 1990er Jahren wurde jedoch endgültig erkennbar, dass Kaufmanns Werk auf grundlegendere gesellschaftliche Strukturen reagiert als es in weiten Teilen des „68er“-Diskurses der Fall war. Wie kam aber ein junger Schweizer Soziologieprofessor in den 1970er Jahren dazu, sich mit sozialpolitischen „Interventionsformen“, mit „Wirkungsforschung“ und mit „Bürgernähe“ (Kaufmann 1979) sozialpolitischer Leistungssysteme zu befassen? Den Geist dieser pragmatischen, dabei dezidiert theoretisch orientierten Sozialpolitikforschung hat Kaufmann selbst anhand seiner Biographie beleuchtet. Zum einen arbeitete er 1960-1963 bei der Schweizer Chemiefirma CIBA (heute Novartis) und organisierte dort Kurse für das mittlere Management, wozu er auch auf externe wissenschaftliche Referenten zugriff. Zum anderen berichtet er in dem 2002 veröffentlichten Sammelband seiner wichtigsten sozialpolitischen Aufsätze von einer Erfahrung mit einer öffentlichen Behörde aus dem Jahre 1963: Nachdem ich im Mai 1963 eine Stelle an der von Helmut Schelsky geleiteten Sozialforschungsstelle an der Universität Münster angetreten hatte, überbrachte mir nach Jahresende der Postbote 1039 DM in bar vom Finanzamt als Lohnsteuerjahresausgleich, eine damals stolze Summe, die in etwa meinem Netto-Monatsgehalt entsprach. Mich wunderte allerdings diese Formlosigkeit, der jede Begründung für die Höhe der Summe fehlte, und so schrieb ich an das Finanzamt und bat um eine schriftliche Begründung. Die Überraschung war groß, als einige Wochen später der Postbote mir zunächst eine zweite Summe überbrachte, bevor ich die entsprechende Berechnung seitens des Finanzamts erhielt. Offensichtlich hatte meine Nachfrage zu einer Überprüfung und Korrektur der Berechnung zu meinen Gunsten geführt. […] Dies wurde zum Schlüsselerlebnis für meine erste selbst gewählte Forschungsthematik: Das Verhältnis von Bürgerrechten und Verwaltungsstaat. Offensichtlich kommt es auf die Handlungsfähigkeit des 255 Lutz Leisering Bürgers an, wenn er zu seinem Recht kommen soll. […] Meine wissenschaftliche Beschäftigung mit Sozialpolitik begann somit von außen (aus der Perspektive des Verwendungszusammenhangs) [CIBA – L.L.] und von unten (aus der Perspektive der Adressaten). Nicht die politischen Deklamationen und die damals virulente Demokratisierungsdebatte interessierten mich, sondern die Wirkungen praktizierter Politik und ihre Bedingungen (Kaufmann 2002: 11). Warum diese Perspektive aber nicht in Deskription und unreflektierte Nähe zur politischen Praxis mündete, sondern im Gegenteil eng mit einer gesellschaftstheoretischen Perspektive verknüpft war, wird erkennbar, wenn wir die bis heute maßgebliche Analyse von Sozialpolitikbegriffen durch Kaufmann (1982b) betrachten. Kaufmann brachte damit eine Ordnung in den Wust von Definitionen und Konzeptualisierungen von Sozialpolitik, die sich seit dem 19. Jahrhundert angesammelt hatten, und begründete einen eigenen, Gesellschaftstheorie und praktische Sozialpolitik überbrückenden Sozialpolitikbegriff. Kaufmann (1982b: 53-55, 57) unterscheidet drei in der Literatur vorfindliche Sozialpolitikbegriffe, zeigt deren Schwächen und konstruiert einen vierten, eigenen Sozialpolitikbegriff, der Elemente der ersten drei im Hegelschen Sinne aufhebt und soziologisch generalisiert. Ein erster, verbreiteter Sozialpolitikbegriff ist der maßnahmenorientierte, deskriptiv-institutionelle. Sozialpolitik wird definiert als eine theoretisch nicht näher begründete Aufzählung einzelner Leistungssysteme, so etwa häufig in der britischen Literatur und in der Rechtswissenschaft. Ein zweiter Begriff ist ziel- und wertorientiert, also normativ, und definiert Sozialpolitik durch bestimmte Ziele wie soziale Gerechtigkeit oder Harmonisierung der Klassengegensätze und ist in vielfältigen Varianten verbreitet. Ein dritter Begriff ist funktionsorientiert und will durch Aufzeigen gesamtgesellschaftlicher Funktionen von Sozialpolitik die Beliebigkeit normativer Definitionen überwinden. Meist sind dies neomarxistische bzw. politökonomische Theorien, die der Sozialpolitik eine spezifische Funktion in Bezug auf die kapitalistische Ökonomie zuweisen (prominent Lenhardt/ Offe 1977). Der vierte, Kaufmannsche Sozialpolitikbegriff lässt sich so zusammenfassen: Sozialpolitik ist die erklärte politische Beeinflussung individueller Lebenslagen in Hinblick auf als defizitär definierte Teilhabe (Inklusion). Diese Definition ist zum einen sozialpolitiknah und daher erklärungskräftig in Bezug auf konkrete Untersuchungsfragen (anders als die funktionsorientierte 256 Soziologische Abklärung der Sozialpolitik – Laudatio auf Franz-Xaver Kaufmann Definition), zugleich ist sie theoretisch generalisiert und anschlussfähig, im Unterschied zu maßnahmen- und wertorientierten Sozialpolitikbegriffen. Der Inklusionsbegriff stellt die Verbindung des Sozialpolitikbegriffs zur Theorie funktionaler Differenzierung der modernen Gesellschaft von Talcott Parsons und Niklas Luhmann her. Funktionale Differenzierung erzeugt Bedarfe gesellschaftlicher Integration, wobei die Inklusion (Teilhabe) von Personen in funktionale Systeme und in die Gesamtgesellschaft ein zentraler Imperativ sozialer Integration ist. Inklusion als Bezugspunkt sozialpolitischen Handelns definiert Individuen – nicht Kollektive wie Klassen, nicht Strukturen wie das Lohnarbeitsverhältnis – als Bezugsgrößen von Sozialpolitik. Diese Definition reflektiert den Übergang von Klassenpolitik zu einer Politik individueller Lebenslagen, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen hat. Der Begriff ‚Inklusion‘ macht auch klar: es geht bei Sozialpolitik um Teilhabe an Handlungssystemen, nicht um ‚Versorgung‘, gleichsam ein ‚Abliefern‘ von Gütern bei Hilfeempfängern. Es geht auch nicht um Befriedigung anthropologisch begründeter menschlicher Bedürfnisse. Im Sozialpolitikbegriff liegen Welten zwischen Kaufmann und Preller. Prellers älterer Sozialpolitikbegriff ist zugleich deskriptiv und normativ. Preller definiert Sozialpolitiklehre explizit als normativ (Preller 1962: 292). Prellers Sozialpolitikbegriff ist zudem anthropologisch fundiert, und hier liegt doch ein Schritt in Richtung eines wesentlichen Merkmals des Kaufmannschen Sozialpolitikbegriffs, des Bezugs auf Individuen. Tatsächlich ist im Werk von Preller ein Wandel festzustellen (den er selbst als solchen beschreibt, Preller 1962: 291), von einem Kollektivbezug von Sozialpolitik zu einem Individualbezug. Noch 1949 sprach Preller von Sozialpolitik als Ordnung des „Sozialgefüges“ (Preller 1978[1949]: XVIII), erst in dem Buch von 1962 trat der Mensch, die Einzelperson, explizit ins Zentrum der Definition. Auch in einer anderen frühen Schrift (Preller 1946: 8, 32) wird noch ein ausgeprägtes Denken in Kollektivitäten erkennbar, eine Vorordnung von Strukturen vor Einzelpersonen. Preller beharrt aber auf dem freiheitlichen Charakter der von ihm angestrebten Sozialordnung. Er sieht Sozialpolitik geradezu als Waffe gegen den „Bolschewismus“. Es ist in der soziologischen Literatur nicht hinreichend wahrgenommen worden, dass Kaufmann im Zusammenhang seines Sozialpolitikbegriffes einen wegweisenden Beitrag zur Theorie sozialer Inklusion geleistet hat, indem er soziale Teilhabe in ihren Dimensionen und in ihrer politischen Be257 Lutz Leisering einflussbarkeit handlungstheoretisch rekonstruiert hat (vgl. Abbildung 1). Kaufmann hat damit in denselben Jahren wie, aber unabhängig von Amartya Sen eine dessen capability-Ansatz nahestehende Begrifflichkeit entwickelt (Kaufmann 1982b, 1988a; leicht verändert wieder abgedruckt in Kaufmann 2002/2005). Sens und Kaufmanns Begriffsbildungen zielen gleichermaßen darauf zu zeigen, dass es recht verstandener Gesellschafts- und Sozialpolitik nicht darum geht, bestimmte Endzustände und Güterausstattungen bei den Bürgern herbeizuführen, sondern darum, individuelle Handlungsfähigkeit und Handlungsvoraussetzungen, also Teilhabechancen, zu schaffen. Zur schwierigen Operationalisierung dieser (unter Bezug auf Sen) zunehmend rezipierten Perspektive tragen die in Abbildung 1 dargestellten Kategorien von Kaufmann wesentlich bei. Insbesondere leisten diese Kategorien – wie Sens Begriff capabilities – einen Beitrag dazu, die Verschlingungen von individuellem Handeln und strukturellen Handlungsbedingungen bei der Konstitution individueller Lebenslagen analytisch rekonstruierbar zu machen, also eine individualistische wie eine strukturlastige Engführung zu vermeiden. Abbildung 1: Soziale Teilhabe und sozialpolitische Intervention soziale Teilhabe Dimensionen sozialer Teilhabe Status sozialpolitische Güter Rechtsansprüche Interventionsformen rechtliche Ressourcen Gelegenheiten Kompetenzen Geldleistungen infrastrukturelle Einrichtungen personenbezogene Dienstleistungen ökonomische ökologische pädagogische Quelle: Kaufmann (2002: 89) 258 Soziologische Abklärung der Sozialpolitik – Laudatio auf Franz-Xaver Kaufmann Der Zeitdiagnostiker Nun zur dritten Rolle von Franz-Xaver Kaufmann, der des Zeitdiagnostikers. Elisabeth von Thadden hat in der Zeit Kaufmann als ein „wissenschaftliches und ethisches Frühwarnsystem“ bezeichnet (von Thadden 2003). Tatsächlich können mehrere Themen und Fragestellungen genannt werden, bei denen er der öffentlichen bzw. wissenschaftlichen Diskussion um 20 bis 30 Jahre voraus war. Zu betonen ist: wissenschaftliches Frühwarnsystem, denn dies waren keine dramatisierenden Prophezeiungen oder idiosynkratischen Visionen. Drei besonders hervorstechende „Frühwarnungen“ möchte ich kurz ansprechen. Zum ersten ist dies seine 1960 veröffentlichte, an der Hochschule Sankt Gallen erstellte Dissertation zur demographischen Alterung der Bevölkerung (Kaufmann 1960). Diese Arbeit hat das Altern der Bevölkerung nicht nur weit vor den öffentlichen Debatten in westlichen Gesellschaften umfassend und tiefgreifend untersucht, sondern sie hat dies sogar getan vor dem drastischen Einbruch der Geburtenziffern seit den späten 1960er Jahren, der dem schon länger andauernden Prozess demographischen Alterns den jüngsten, die heutigen Debatten bestimmenden Schub gegeben hat. Zweitens fokussierte Kaufmann schon früh das Phänomen des Bevölkerungsrückgangs. Bereits 1975 gab er einen Band „Bevölkerungsbewegung zwischen Quantität und Qualität“ heraus, mit einem eigenen Beitrag „Makrosoziologische Überlegungen zu den Folgen eines Bevölkerungsrückgangs in industriellen Gesellschaften“ (vgl. Kaufmann 1975a; 1975b). Dieser Band blieb jedoch folgenlos und verschwand in der Versenkung. So ist es möglich, dass Kaufmann genau 30 Jahre später dasselbe Thema in seinem neuen Suhrkamp-Band „Schrumpfende Gesellschaft“ in diesem Jahr erneut fokussiert und damit immer noch einen neuen Anstoß gibt. Denn während das Altern der Bevölkerung mittlerweile ein gängiges Thema öffentlicher Debatten ist, wird das andere, möglicherweise noch folgenreichere demographische Phänomen des Bevölkerungsrückgangs weiterhin verdrängt. In seinem neuen Buch verweist Kaufmann darauf, dass selbst die Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags zum demographischen Wandel dieses Thema als Problem ausklammerte. Drittens empfahl Kaufmann bereits im Vorwort zur zweiten Auflage (1973) der Buchveröffentlichung seiner 1968 verfassten Habilitationsschrift, „die gesellschaftspolitischen Prioritäten stärker auf eine Verbesserung der Bildungs- und Sozialisationsleistungen als auf die Vermehrung der herkömmlich unter dem Namen ‚soziale Sicherheit‘ zusammengefassten Sozialleistungen zu 259 Lutz Leisering richten“ (Kaufmann 1973: VII). Dies ist keine bloß programmatische Forderung, keine kurze Bemerkung, sondern erwachsen aus einer komplexen theoretischen und empirischen Analyse zur Sicherheitsidee (Kaufmann 1973: 347353). Heute, 30 Jahre später, ist die Forderung einer Gewichtsverlagerung von redistributiver zu sozialinvestiver Sozialpolitik – also zu Bildungs- und Familienpolitik – zu einer gängigen Formel geworden und dabei politisch weiterhin kaum umgesetzt. Des Weiteren hat Kaufmann schon lange vor der heutigen Diskussion die – wie er es prägend nannte – „strukturelle Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenüber Kindern“ analysiert (Kaufmann 1990). Weitere Themen und Probleme sind zu nennen, die Kaufmann lange vor ihrer Verbreitung im wissenschaftlichen oder politischen Diskurs aufzeigte und analysierte. Seine Studie zu Sicherheit und Individualisierung (Kaufmann 1973) erschien lange vor den Debatten zu Risikogesellschaft und Individualisierung in der deutschen Soziologie der 1980er und 1990er Jahre (siehe auch Kaufmann 2003e). Zu nennen ist auch die systematische Thematisierung globaler, internationaler Sozialpolitik, die Kaufmann auch in seinem Sicherheitsbuch 1968 begann. 35 Jahre später griff er das Thema in einer Abhandlung der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften zu sozialen Menschenrechten wieder auf (Kaufmann 2003c), und noch heute ist diese Behandlung des Themas eine Pionierleistung. Kaufmanns große internationale ZiF-Forschungsgruppe von 1981/82 zu Steuerungsproblemen im öffentlichen Sektor (Kaufmann et al. 1986; Kaufmann 1991) griff weit vor auf die in den 1990ern und voll erst heute sich entwickelnde Governance-Debatte und stieß eben deshalb in ihrer Zeit nur auf begrenzte Resonanz. Dies war auch der gesellschaftspolitischen Situation geschuldet. Im trägen Etatismus und Korporatismus des Deutschlands der 1980er und 1990er Jahre trafen die Analysen vielfältiger, nicht-staatlich-bürokratischer Steuerungsformen und Akteursbeziehungen auf einen wenig aufnahmebereiten Boden. Die Fähigkeit zu frühen Warnungen ist nicht nur dem besonderen intellektuellen Scharfsinn geschuldet, sondern theoretisch begründet, in Kaufmanns Theorie der Moderne. „Modern“, so Kaufmann, „sind soziale Verhältnisse insoweit, als ihre Änderbarkeit und damit Vergänglichkeit in ihrer Definition mitgedacht wird“ (Kaufmann 1986: 292). Eine solche Theorie rechnet mit Wandel. Zeitlichkeit wird damit zu einem notwendigen Konstruktionsprinzip der Theoriebildung in Bezug auf soziale Institutionen und Strukturen, aber auch in Bezug auf die Sozialform des modernen Individu260 Soziologische Abklärung der Sozialpolitik – Laudatio auf Franz-Xaver Kaufmann ums. „Entgegen dem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus erweist sich die im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung zum Regelfall werdende Freisetzung des Individuums von umfassenden Sozialzwängen als problematisch. Das Individuum wird nun mit seiner eigenen Zukunft konfrontiert, d.h. es erhält überhaupt erst eine eigene Zukunft“ (Kaufmann 1973: 342). Damit ist auch die Politik auf eine Zukunftsperspektive verwiesen. Die aktuelle, schon modische Semantik der „Nachhaltigkeit“ reflektiert diesen Zukunftsbezug. Krisen werden im Lichte dieses Modernitätsbegriffs zu einem normalen, erwartbaren Phänomen: „[…] die neuzeitliche Gesellschaftsentwicklung [ist] sozusagen konstitutionell krisenhaft. Eine Gesellschaftsformation, für die fortgesetzte Innovationen und daraus folgende unvorhergesehene Veränderungen konstitutiv sind, produziert laufend Gefährdungen des Bestehenden (‚Krisen‘) und richtungsändernde Entscheidungen (also ebenfalls ‚Krisen‘)“ (Kaufmann 2003b: 173). Es bedarf daher keiner besonderen „Krisentheorien“, zumindest rücken diese nicht ins Zentrum der Theoriebildung, wie in neomarxistischen und anderen holistischen Gesellschaftstheorien. Auch die Sozialpolitik wurde in ihrer Geschichte von der Krisenthematik begleitet. So beschreibt Ludwig Preller in seinem Buch zur Weimarer Sozialpolitik die Debatte zur Krise des Sozialstaats (Preller 1978[1949]: 208-219; siehe auch die Debatte zu „Soziallasten“, ebd.: 459-464; zur Deutung der Zeit von 1920-1945 als Krise der Sozialpolitik siehe Kaufmann 2003a: Kap. 3). Als Alternative zu den Krisentheorien des Sozialstaats macht Kaufmann den komplexeren und zugleich spezifischeren konzeptuellen Vorschlag des „‚Veraltens‘ des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements“ (Kaufmann 1997a: 52). In dieser Sicht handelt es sich bei dem Wohlfahrtsstaat um eine „im wesentlichen gelungene Problemlösung […], deren Leistungsfähigkeit jedoch aufgrund von weiteren Entwicklungen, die teils unabhängig, teils als Folge der wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen eingetreten sind, im Zuge der Zeit zurückgehe“ (ebd.). Dies könnte das anschlussfähigste Deutungsangebot in der überbordenden Debatte zur aktuellen Lage und Zukunft des Sozialstaats sein. Entscheidend für Kaufmanns Theorie des historischen Erfolgs des Wohlfahrtsstaats war sein Befund, dass der Wohlfahrtsstaat nicht nur individuellen, sondern substanziellen kollektiven Nutzen stiftet, und dies in mehreren Dimensionen: wirtschaftlich, politisch, sozial und kulturell (Kaufmann 1997a: Kap. 4). 261 Lutz Leisering Die Idee eines Veraltens des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements steht in mehrfacher Frontstellung gegen andere Positionen. Zum einen beinhaltet diese Perspektive eine Verzeitlichung und Historisierung des Wohlfahrtsstaats und führt damit weiter als die vorherrschenden politisch-weltanschaulichen Positionen, die den Wohlfahrtsstaat zeitlos-ordnungspolitisch entweder befürworten – so in der sozialdemokratischen Orthodoxie – oder ablehnen – so in der liberal-ökonomischen Orthodoxie. Zum anderen erweisen sich auch dynamisch angelegte, aber holistische, institutionell nicht differenzierte Analysen, die den Wohlfahrtsstaat optimistisch als Erfolgsgeschichte oder pessimistisch als vor seiner krisenhaften Erschöpfung stehend sehen wollen, als unangemessen. Das Schicksal der Krisentheorie von Claus Offe scheint dies zu bestätigen. „Es gehört zu den Ironien der Renaissance des Neo-Marxismus, dass seine utopischen Energien sich in den Jahren erschöpften, in denen die tatsächliche Entwicklung seinen Krisendiagnosen Nahrung zu geben begann“ (Kaufmann 1997b: 7).5 Kaufmanns Alternative ist eine steuerungstheoretische Perspektive, die, auf einer mittleren Abstraktionsebene operierend, von einer Mehrzahl heterogener „Herausforderungen“ des Sozialstaats ausgeht (Kaufmann 1997a). Das Wort „Herausforderung“ verweist dabei auf die Annahme institutioneller Lernchancen. Auch in Kaufmanns Steuerungsbegriff – mit den drei Komponenten Handlungsnormierung, Handlungskontrolle/-koordination und Kommunikation von Handlungsbewertungen – spielt das Element der Evaluation und möglicher politischer Feed-Back-Prozesse eine wesentliche Rolle. Kaufmann hält den Wohlfahrtsstaat grundsätzlich für reformierbar – aber auch für fällig für Reformen –, indem er verbreitete Diagnosen wachsender Entsolidarisierung in der Gesellschaft und eines Bedeutungsverlusts des Nationalstaats als Ort von Wohlfahrtsstaatlichkeit relativiert (1997b).6 Allerdings sieht er eine Zunahme sozialer Konflikte. Reformperspektiven sieht er insbesondere in Richtung einer sozialinvestiven Sozialpolitik, abgeleitet aus seiner Analyse der Einstellungen der Bevölkerung zu Fragen der Sicherheit und des Sozialstaats: 5 Borchert und Lessenich (2004) glauben dagegen, eine Überlegenheit der Offeschen Theorie gegenüber den Theorien Luhmanns und Kaufmanns in Bezug auf die aktuelle Lage des Wohlfahrtsstaats aufzeigen zu können. 6 Weitere Diagnosen zu Krise und Perspektiven des Sozialstaats finden sich etwa bei Kaufmann (1994a, b, 1997a, 2000, 2003d). 262 Soziologische Abklärung der Sozialpolitik – Laudatio auf Franz-Xaver Kaufmann [D]ie Sicherheitschancen im werthaften Sinne der Einheit von äußerer und innerer Sicherheit [sind] heute in erheblichem Maße berufs- und bildungsabhängig. […] Versteht man unter Sicherheit retrospektiv einen Zustand primär äußerlicher Stabilität, d.h. einfacher, das Subjekt nicht beunruhigender Umstände, so erscheint Bildung, die in der Regel Selbstverständlichkeiten auflöst und den Horizont des Möglichen erweitert, eher als verunsichernd. Versteht man dagegen unter ‚Sicherheit‘ einen Zustand innerer Anpassungsfähigkeit und Elastizität, wird man Bildung eher positiv sicherheitsbezogen interpretieren (Kaufmann 1973: 351). Kaufmann entwickelt die Wohlfahrtsstaatstheorie wesentlich weiter, indem er in diesem Zusammenhang den Begriff „Humanvermögen“ einführt. Eine quantitative und qualitative Steigerung von Humanvermögen sei ein zentrales Ziel von Sozialpolitik. Dieser Begriff führt hinaus über die dominante marktbezogene Engführung sozialpolitischen Denkens – wie sie sich etwa in Esping-Andersens (1990) Konzeptualisierung von Sozialpolitik als Dekommodifizierung zeigte, die dieser erst Ende der 1990er Jahre, also 30 Jahre nach Kaufmanns Sicherheitsstudie, überwand. Der Begriff Humanvermögen führt auch über die in den Wirtschaftswissenschaften übliche Fokussierung auf human capital hinaus, denn Humanvermögen ist sowohl Arbeitsvermögen als auch „Vitalvermögen“ (Kaufmann 2002: 214). „Vitalvermögen“ zielt hier nicht auf eine idealistische Aufladung der menschlichen Existenz, sondern ist in gewisser Weise materialistischer gedacht als der Materialismus liberaler und sozialistischer Wirtschafts- und Sozialtheorien. Denn das Vitalvermögen des Menschen meint die alltägliche, psychophysische Reproduktion in Haushalt und Familie, die Organisation des Alltags und die im Haushalt stattfindende Koordination der Teilhabe der Individuen an allen anderen gesellschaftlichen Teilbereichen. Der Bezug von Sozialpolitik auf die körperliche Existenz des Menschen ist auch von anderen Autoren, so von Ludwig Preller und von von Ferber (1977), betont worden, aber in der Perspektive des Humanvermögens erscheint Körperlichkeit nicht primär als eine zu ver- und umsorgende, sondern als eine immer wieder zu schaffende und zu aktivierende Facette des Menschlichen. Das moderne Individuum sieht sich Handlungsherausforderungen in Bezug auf große organisierte Systeme, abstrakte Handlungsmittel wie Geld und Recht und die offene eigene gesellschaftliche Zukunft gegenüber. Orientierung wird in dieser Situation nur möglich bei qualitativ hoch entwickeltem 263 Lutz Leisering Humanvermögen. Dabei enthält der Wortanteil „-vermögen“ den Verweis auf die zugleich individuelle und kollektive Dimension. Kaufmann ist Schweizer, hat aber den größten Teil seines Lebens in Deutschland verbracht. Vieles von dem, was er geschrieben hat, ist als Soziologie der deutschen Gesellschaft verstehbar. Was er in den späten 1960er Jahren über die Einstellungen der deutschen Bevölkerung und ihren Begriff von Sicherheit schrieb, erscheint weiterhin informativ und auf eine Wurzel der heutigen Schwierigkeiten der Deutschen zu verweisen, institutionellen und sozialen Wandel zu bewerkstelligen: ‚Sicherheit‘ darf als dominanter Wertbegriff einer sich selbst als pragmatisch verstehenden Kultur angesehen werden. Diese Wendung zum Pragmatismus hat das von Idealismus und Wertphilosophie geprägte öffentliche Bewusstsein in der Bundesrepublik bisher noch kaum vollzogen, und so kann es nicht erstaunen, dass ‚Sicherheit‘ noch weitgehend mit ‚Geborgenheit‘ gleichgesetzt wird, einem Zustand der Unmündigkeit, in dem einem die Verantwortung für das eigene Handeln abgenommen wird. […] Dass in der deutschen Bevölkerung latente Bewusstseinshaltungen verbreitet sind, die als Ausdruck einer Unfähigkeit anzusehen sind, sich unter unüberschaubar gewordenen, nur funktional stabilisierten gesellschaftlichen Verhältnissen selbst zu stabilisieren, konnte anhand der empirischen Untersuchungen gezeigt werden (Kaufmann 1973: 344, 346). Diese (zuerst 1968 veröffentlichte) Analyse ist in manchem affin zu Befunden von Ralf Dahrendorf in seinem Buch „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ (1966), einer ebenfalls damals einsam, fast fremd im frühen Nachkriegsdeutschland dastehenden Zeitdiagnose. Die von Kaufmann identifizierten ‚deutschen‘ Bewusstseinshaltungen korrelierten in seiner Studie mit der Variable Fatalismus. Empirische Untersuchungen nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 haben gezeigt, dass in Ostdeutschland fatalistische Einstellungen noch verbreiteter sind als im Westen. Hierdurch gewinnen Kaufmanns frühe Befunde erneute Aktualität. Ein Wandel von redistributiver und ‚versorgender‘ zu sozialinvestiver und ‚aktivierender‘ Sozialpolitik hat, so ist aus Kaufmanns Sicherheitsstudie zu folgern, tiefgreifende mentale Voraussetzungen, die nur sehr eingeschränkt politisch herbeiführbar sind. Längere Übergangsphasen oder einschneidende Ereignisse scheinen erforderlich, um einen solchen mentalen Wandel zu bewirken. 264 Soziologische Abklärung der Sozialpolitik – Laudatio auf Franz-Xaver Kaufmann Was bleibt „Sozialpolitik. Theoretische Ortung“ – so betitelte Ludwig Preller seine große Studie von 1962. Franz-Xaver Kaufmann hat zu dieser Ortung nach dem Zweiten Weltkrieg in der deutschen Sozialwissenschaft mehr als jeder andere beigetragen. Die Soziologie der Sozialpolitik in Deutschland maßgeblich begründet, ihr Begriffe und Fragestellungen gegeben und damit wissenschaftsgeschichtlich die Sozialpolitiklehre disziplinär reorientiert zu haben, ist nicht wenig. Gesellschaftsgeschichtlich hat Kaufmann das schwer greifbare, merkwürdig zerklüftete und multireferenzielle Nachkriegsgebilde ‚Wohlfahrtsstaat‘ als Kerninstitution europäischer Gesellschaften identifiziert. Dass die Soziologie keine Reflexionswissenschaft eines gesellschaftlichen Teilsystems ist, macht es ihr möglicherweise leichter, ein derartiges Gebilde zu beobachten. „Bei einer Theorie wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung geht es aber gerade um die evolutionäre Vorteilhaftigkeit der Sozialpolitik im Zuge der Ausdifferenzierung von Staat, Marktwirtschaft und dem Bereich der privaten Reproduktion, also um das Problem der Kombination unterschiedlicher ‚Logiken‘ gesellschaftlicher Teilsysteme, wie sie sich auch in den diesbezüglichen Wissenschaften ausdrücken“ (Kaufmann, in Berner et al. 1998: 50). Kaufmann hat das systemübergreifende Potential der Soziologie genutzt und gezeigt, dass diese Wissenschaft des Multireferenziellen, des Weichen und Unordentlichen, wenn gut betrieben, triftigere Analysen der modernen Institution ‚Wohlfahrtsstaat‘ liefern kann als die angesehenere und mächtigere Funktionswissenschaft Ökonomie. Insbesondere führt Kaufmann vor, wie weit die Theorie funktionaler gesellschaftlicher Differenzierung, wenn stärker für Fragen sozialer Integration fruchtbar gemacht als bei Luhmann, doch tragen kann. Der Mut eines jungen brillanten Schweizer Wirtschaftswissenschaftlers in den frühen 1960er Jahren, sich der unansehnlichen Disziplin Soziologie zu verschreiben, hat sich ausgezahlt. Kaufmanns Analysen legitimieren überzeugend den Wohlfahrtsstaat als integralen Teil der Moderne – durch seine Wertideen, seine Organisationsmittel und seinen Bezug auf Herausforderungen gesellschaftlicher Integration und Inklusion. Zugleich blickte Kaufmann schon zu Beginn seines Werkes über die Schön-Wetter-Variante des Wohlfahrtsstaats, das Golden Age des Wohlfahrtsstaats der ersten Nachkriegsjahrzehnte (Esping-Andersen 1996), hinaus auf Orientierungsprobleme und Reformbedarfe des Wohlfahrtsstaats. Diese 265 Lutz Leisering Wohlfahrtsstaatskritik war nicht, zumindest nicht primär, die von Soziologen mit Vorliebe geübte entlarvende Kritik, die externe Motive unterstellt (Luhmann 1970: 68-69), wie Verwertungsinteressen des Kapitals, Eigeninteressen von Verteilereliten oder Hedonismus der Sozialstaatsklientel, sondern eine immanente Kritik der Grenzen und Probleme von Wohlfahrtsstaatlichkeit in einer sich verändernden Moderne (siehe Abbildung 2, gegenüber). „Abklärung der Aufklärung“ hat Luhmann (1970: 66-67) ein solches Forschungsprogramm genannt. Auch Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat sind ein Erbe der Aufklärung, folgen der Idee der Selbstperfektionierung des Individuums durch institutionelle Steuerung (Janowitz 1976). Zum Schluss: Mit welchem neuen Wohlfahrtsstaat, mit welcher neuen Sozialpolitik- und Wohlfahrtsstaatstheorie können wir nach dem Golden Age des Wohlfahrtsstaats, in seiner nachexpansiven Phase, rechnen? Auch hier hat das Frühwarnsystem bereits reagiert: Schon 1968 und erneut 2003 analysierte Kaufmann differenziert die Entstehung globaler Normen und Akteure einer neuen, globalen Sozialpolitik. Ebenfalls 2003 bezeichnete bereits der Titel seines Buches „Varianten des Wohlfahrtsstaats“ (Kaufmann 2003b, erste Fassung 2001b) ein weiteres Konfliktfeld der Zukunft, das in einem vorschnellen Durchgriff auf ‚Globalisierung‘ leicht übersehen wird: den weltweiten Kampf um die Varianten nationaler Kapitalismus- und Wohlfahrtsstaatsmodelle beim Umbau westlicher Wohlfahrtsstaaten wie beim Aufbau staatlicher Sozialpolitik in Übergangsgesellschaften. 266 Soziologische Abklärung der Sozialpolitik – Laudatio auf Franz-Xaver Kaufmann Abbildung 2: Soziologie der Sozialpolitik in der modernen Gesellschaft: Elemente der Sozialpolitik- und Wohlfahrtsstaatstheorie von FranzXaver Kaufmann (1968-2005) Theoriedesign Kernbegriffe/-befunde Sozialpolitik erklärte politische Beeinflussung individueller Lebenslagen unter Teilhabegesichtspunkten („Inklusion“) • „sozialpolitische Intervention“: vier Interventionsformen (rechtlich, ökonomisch, ökologisch, pädagogisch) • vier Dimensionen von Teilhabe/„Inklusion“ (Rechte, Ressourcen, Gelegenheiten, Kompetenzen) Wohlfahrtsstaat • „Leistungszusammenhang“: • „Sozialsektor“, „Steuerung“; „noisy wohlfahrtsstaatliche Institutionen • „Anerkennungszusammenhang“: soziales Staatsziel, soziale Rechte • „Wertideen“ • Recht public sector“ „wohlfahrtsstaatliches Arrangement“ • gemischte Wohlfahrtsproduktion • Wohlfahrtsstaat als Rahmung gesellschaftlicher Wohlfahrtsproduktion • außerwohlfahrtsstaatliche Voraussetzungen des Wohlfahrtsstaats • „Steuerungsstaat“ • „stille Reserve des Wohlfahrtsstaats“ (weibliche Arbeitskraft) • Bevölkerung/Nachwuchs, „Humanvermögen“ • Synergie individuellen und kollektiven • „Veralten des wohlfahrtsstaatl. Arrangements“; „Herausford. d. Wohlfahrtsstaats“ Nutzens des Wohlfahrtsstaats Moderne Gesellschaft • gemischte Gesellschaftsverfassung (Deutschland): rechtsstaatlich-demokratisch-wohlfahrtsstaatlicher Kapitalismus • Modernität: – funktionale gesellsch. Differenzierung – Freisetzung des Individuums – Veränderbarkeit als Prinzip • „wohlfahrtsstaatlicher Kapitalismus“/ • • • • • „Wohlfahrtsstaat“ (Europa) vs. „Kapitalismus“ (USA) „Varianten des Wohlfahrtsstaats“: „Eigensinn“ nationaler Wohlfahrtsstaatlichkeit soziale Integration als Herausforderung soziale Inklusion als Herausforderung innere Stabilisierung als Herausforderung für die Individuen; sozialinvestive Sozialpolitik institutionelle Lernfähigkeit Quelle: eigene Darstellung 267 Lutz Leisering Literaturverzeichnis Achinger, Hans (1979[1958]): Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Von der Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat. Frankfurt: Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Berner, Frank u.a. 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