Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Das älter werdende Gehirn was verbessert, was verschlechtert sich Mathias Berger und Stefan Klöppel ParkklinikSchlangenbad 11.01.2017 Das potentielle Unwort des Jahres: Ruhestand Gliederung 1. Alter: ein neu zu definierendes Phänomen 2. Gängige Sichtweisen zur Hirnalterung 3. Morphologische Veränderungen des Gehirns 4. Gedächtnis und Schlaf 5. Kognition und Emotion 6. Hirnplastizität 7. Weisheit 8. Prävention und Entwicklungsförderung Einige demographische Daten I 1880 Festsetzung des Rentenalters mit 65 Jahren Damals wurden aber nur 19 % > 65 Jahre Heute werden 75 % > 65 Jahre Einige demographische Daten II 1960 gab es in der BRD 250 100-Jährige Foto: AFP Jetzt sind es 17.000 Belgien: Zwillingsschwestern feiern 100. Geburtstag Einige demographische Daten II 1960 gab es in der BRD 250 100-Jährige Jetzt sind es 17.000 Foto: AFP Wer jetzt geboren wird, hat eine etwa 50 %Chance, 100 Jahre zu werden! Belgien: Zwillingsschwestern feiern 100. Geburtstag Einige demographische Daten III In den letzten 100 Jahren ist die Lebenserwartung um 27 Jahre gestiegen Jeanne Louise Calment (1875 – 1997) Einige demographische Daten III In den letzten 100 Jahren ist die Lebenserwartung um 27 Jahre gestiegen 1979 erachteten die Vereinten Nationen die maximale Lebenserwartung bei etwa 90 Jahren Jetzt bei etwa 120 Jahren Jeanne Louise Calment (1875 – 1997) Jeanne Louise Calment (1875 – 1997) Mit 85 Jahren: Fechten gelernt Mit 90 Jahren: Verkauf ihrer Wohnung mittels Leibrente Mit 100 Jahren: letzte Fahrradfahrt Mit 115: berühmte Geburtstagsverabschiedung Mit 120: Beendigung des Rauchens (nach gescheitertem Versuch mit 117) Mit 121: Aufnahme einer Rap CD „Maîtresse du temps“ Dies zum Alternativ-Unwort „Überalterung“ Die stetige Verminderung von Menschen vor dem Rentenalter Aus: Martin Korte: Jung im Kopf (2014) 2020 fehlen z.B. im Gesundheitswesen : 56.000 Ärzte 140.000 Nicht-ärztliche Fachkräfte „Kompressionseffekt“ von gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Alter Erkrankte > 4 Wochen Mikrozensus 2005: Krankheitsprävalenz Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2009 Lebenserwartung in Gesundheit im letzten Jahrzehnt in 30 Ländern (World Health Organization, 2009a) Nach: Laura E. Berk (2011). Entwicklungspsychologie Gliederung 1. Alter: ein neu zu definierendes Phänomen 2. Gängige Sichtweisen zur Hirnalterung 3. Morphologische Veränderungen des Gehirns 4. Gedächtnis und Schlaf 5. Kognition und Emotion 6. Hirnplastizität 7. Weisheit 8. Prävention und Entwicklungsförderung Lebenstreppe aus dem 19. Jahrhundert Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kunstgeschichte, Münster Stigmatisierende Stereotypien Tradiert: kränklich hilfsbedürftig langsam unansehnlich depressiv mental abbauend nutzlos … Aktuell zusätzlich: wirtschaftliche Bürde für die jüngeren Generationen Mobilitätsbedingte Vereinsamung und Isolation, erschwerte Versorgung Bedeutungsverlust als Wissensübermittler (in Zeiten von Wikipedia) Die Demenz-Angst Altersbezogene Prävalenzraten für mittelschwere und schwere Demenzen (nach Cooper und Bickel, 1989; Häfner, 1993) 45 40 Prävalenz (%) 35 30 JORM ET AL., 1987 Australien 25 NY State Dep., 1961 USA 20 CAMPELL ET AL., 1983 Neuseeland KANEKO, 1975 Japan 15 COOPER + SOSNA, 1983 BRD 10 ESSEN-MÖLLER, 1956 Schweden KAY ET AL,. 1970 Großbritanien 5 NIELSEN, 1962 Dänemark 0 60 - 64 65 - 69 70 - 74 75 - 79 80 - 84 Altersgruppen (Jahre) 85 - 89 90+ Effekte eines negativen und positiven Altersbildes Stark wirksame Klischees: • Denken an negative Attribute des Alters verschlechtert Gedächtnisleistung und Gehgeschwindigkeit • Ältere Arbeitnehmer mit negativem Altersbild bringen schlechtere Leistung • Negative Effekte durch die Bezeichnung „alter Arbeitnehmer“ schon ab 45 Jahren Aber: • Ein positives Altersbild verlängert das Leben um sieben Jahre Aus: Staudinger (2012). Fremd- und Selbstbild im Alter Gliederung 1. Alter: ein neu zu definierendes Phänomen 2. Gängige Sichtweisen zur Hirnalterung 3. Morphologische Veränderungen des Gehirns 4. Gedächtnis und Schlaf 5. Kognition und Emotion 6. Hirnplastizität 7. Weisheit 8. Prävention und Entwicklungsförderung Die für das Altern besonders relevanten Regionen des Gehirns Stirnlappen Amygdala Hippocampus Benes et al.; 2010 Neuropsychopharmacology Aus: Martin Korte: Jung im Kopf (2014) http://remf.dartmouth.edu/images/ mammalianLungTEM/source/8.html Hirnveränderungen mit dem Alter ( ab 55 Jahren 2% Verlust/10 Jahre ) Rot und gelb zeigen Regionen mit stärksten Verlusten an Aus: Matsuda 2013, Aging Dis. Hirnveränderungen im Alter 66 Jahre 25 Jahre 74 Jahre Alzheimer Demenz Bluthochdruck schädigt die weiße Substanz Dopaminstoffwechsel verändern sich • Selektive Aufmerksamkeit und Kurzzeit-Gedächtnis verschlechte • Rückgang von Neugierde • nächtliche Beinunruhe • Parkinson Krankheit Aus: Martin Korte: Jung im Kopf (2014) Gliederung 1. Alter: ein neu zu definierendes Phänomen 2. Gängige Sichtweisen zur Hirnalterung 3. Morphologische Veränderungen des Gehirns 4. Gedächtnis und Schlaf 5. Kognition und Emotion 6. Hirnplastizität 7. Weisheit 8. Prävention und Entwicklungsförderung Arbeits- (Kurzzeit-) Gedächtnis Weg in das Langzeitgedächtnis Optischer Stimulus Synapsen LTP LangzeitEnsemble LTP Münsterplatz LTP LTP Das Gehirn ist extrem lernfähig • Keine Weiterentwicklung der „Hardware“ seit 200 000 Jahren • Inhalt von zwei Mio. CDs im Langzeitgedächtnis gespeichert • durch das kollektive Gedächtnis über 6600 Generationen (Wagenhebereffekt) Savants Stephen Wiltshire Quelle: http://www.stephenwiltshire.co.uk Erworbene Hypermnesie Orlando Serrell: Kann nach einer Hirnverletzung nichts mehr vergessen Unser Gehirn mit 100 Milliarden Nervenzellen mit 10 000-30 000 Synapsen pro Zelle hat wesentlich mehr Wissen gespeichert, als uns bewusst ist. Diese Unterdrückung ist notwendig, damit wir handlungsfähig bleiben. Kurzzeitgedächtnistest Aus: Martin Korte: Jung im Kopf (2014) 50 % der > 65-Jährigen und 33 % der 25- bis 35-Jährigen halten sich für vergesslich!!! Merkstrategien Oberflächliches Tiefes Einspeichern Besonders bei Älteren wird Merken von Wörtern durch intensivere Beschäftigung mit Wort erleichtert. Beim tiefen Einspeichern waren jüngere nicht mehr klar überlegen Gedächtnistechniken visualisieren und animieren Zahl-Form-System 0 = Ball 1 = Baum 2 = Schwan 3 = Dreizack 4 = Tisch 5 = Seepferdchen 6 = Schlange, 7 = Boomerang 8 = Sanduhr 9 = Luftballon 79104 Der Postbote wirft mit dem Boomerang nach dem Luftballon, der verfehlt ihn und bleibt im Baum hängen. Er wirft einen Ball hinterher und beide fallen auf den darunterstehenden Tisch. Gedächtnisweltmeisterschaft Der Weltmeister kann sich inzwischen die Abfolge von 1000 Spielkarten merken Der Gedächtnisweltmeister Gunther Karsten beim täglichen Training. (Foto: dpa) Plastizität beim Älteren: Nutzung beider Hirnhälften Cabeza: Psychol & Aging 2002 Schlafprofile Junger Proband 20 Jahre Älterer Proband 60 Jahre Schlaf und Lernen Erwerb von Wissen oder Fertigkeiten Speicherung im Gedächtnis (Konsolidierung) Abruf von Wissen oder Fertigkeiten Motorisches = prozedurales Lernen Deutliche Verbesserung besonders nach viel REM Schlaf! REM-Schlaf Deklaratives Lernen Deutliche Verbesserung besonders nach viel Non-REM Schlaf! Proband-Nr. _______ Proband-Init. ________ Datum _______________ Wortliste Tag 2/ 3 _______ Proband-Nr. Proband-Init. ________ Datum _______________ Durchgang 1 2 Wortliste Tag 2/ 3 Trommel Durchgang 3 4 1 2 3 4 abends Vorhang 5 0 1 2 abends 3 4 5 morgens 5 0 1 2 3 4 5 morgens Trommel Glocke Vorhang Kaffee Glocke Schule Kaffee Eltern Schule Eltern Mond Mond Garten Garten Hut Hut Bauer Non-REM-Schlaf Bauer Nase Nase Ente Ente Farbe Farbe Haus Haus Fluss Doppelnennung Fluss Falschnennung Doppelnennung Falschnennung Bewusstes Wissen! Gliederung 1. Alter: ein neu zu definierendes Phänomen 2. Gängige Sichtweisen zur Hirnalterung 3. Morphologische Veränderungen des Gehirns 4. Gedächtnis und Schlaf 5. Kognition und Emotion 6. Hirnplastizität 7. Weisheit 8. Prävention und Entwicklungsförderung Psychische Leistungen im Längsschnitt (n=1803, seit 1956) Aus: Schaie, K.W. (2005). Developmental Influences on Adult Intelligence: The Seattle Longitudinal Study Veränderungen im Alter: Geschwindigkeit nimmt ab, Wissen nimmt zu. kristalline Intelligenz fluide Intelligenz Lebensjahre Digitale Seniorenkluft Mechanismen der Plastizität Bessere Verteilung der Aufgaben Cabeza: Psychol & Aging 2002 Neubildung von Synapsen Neubildung von Nervenzellen Hirnplastizität Mit 60 noch mit drei Bällen Jonglieren lernen? Boyke et. al. 2008 JNS Nature.com/ Getty images Falls Ihnen Golfspielen nahe liegt… Golfschüler zwischen 40-60 Jahren alt Ladina Bezzola et al. J. Neurosci. 2011;31:12444-12448 Viele Regionen zeigen vermehrte graue Substanz (insb. Bewegungsausführung und Koordination) Stirnlappen und Amygdala -und die EmotionalitätStirnlappen Stirnlappen Stirnlappen Hippocampus Hippocampus Amygdala Hippocampus Späteres Alter Amygdala Mittleres Erwachsenenalter Amygdala Pubertät Wohlbefinden Entwicklung des Wohlbefindens über die Lebensspanne Lebensalter Aus: Stone,2010, PNAS (Baltes & Baltes 1990) Stress Sorgen Ärger Traurigkeit Emotionsverarbeitung im Alter • Sie verspüren weniger intensive negative Emotionen • Negative emotionale Reize erhalten weniger Aufmerksamkeit als positive • Informationen mit negativem Gehalt werden mit geringerer Wahrscheinlichkeit im Gedächtnis behalten als solche mit positivem Gehalt Nach: Cohen, G. D (2005). Geistige Fitness im Alter Angst und Depression im Alter Depression Angststörungen Kombiniert Aus: Byers et al.; Arch Gen Psychiatry. 2010 Ältere Menschen am Arbeitsplatz • Heute 75-Jährige haben die kognitive und körperliche Fitness von 65-Jährigen vor 50 Jahren. • Können Neues besser in Schablonen einordnen • Kein Alterseffekt bei Arbeitsergebnissen wo nicht ausschliesslich fluide Intelligenz verlangt wird • Wissensbasierte Gesellschaft gut für Ältere. • Stärker bei der emotionalen Intelligenz • Abnahme der Ich-Zentriertheit Quelle: http://www.gesundheitsstadt-berlin.de Gliederung 1. Alter: ein neu zu definierendes Phänomen 2. Gängige Sichtweisen zur Hirnalterung 3. Morphologische Veränderungen des Gehirns 4. Gedächtnis und Schlaf 5. Kognition und Emotion 6. Weisheit 7. Prävention und Entwicklungsförderung Systematisches Denken Relativistisches Denken In einer komplexen Situation bekannte Muster wiederzuerkennen und daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen Aus: Goldberg (2007). Die Weisheits-Formel Paul Baltes, Berliner Altersstudie Alter und Weisheit Foto: dpa (http://www.mz-web.de) G. Napolitano, 11. Staatspräsident Italiens 2006 - 2015 Der Tanz, Matisse (1932) Kreative kompensatorische Strategien im Alter • Selektion ↔ Optimierung ↔ Kompensation Gliederung 1. Alter: ein neu zu definierendes Phänomen 2. Gängige Sichtweisen zur Hirnalterung 3. Morphologische Veränderungen des Gehirns 4. Gedächtnis und Schlaf 5. Kognition und Emotion 6. Weisheit 7. Prävention und Entwicklungsförderung 30% der Alzheimer Demenzen kann verhindert werden Risikofaktor für USA Risikozunahme Niedriger Ausbildungsstatus 1.59 (1.35-1.86) Rauchen (Gefäßschädigung, direkte Hirnschädigung) 1.59 (1.15-2.20) Körperliche Inaktivität (u.a. Bewegung fördert hirnschützende Faktoren) 1.82 (1.19-2.78) Depression (nicht nur Vorbote der Demenz) 1.90 (1.55-2.33) Bluthochdruck in Lebensmitte 1.61 (1.16-2.24) Diabetes 1.39 (1.17-1.92) Übergewicht in Lebensmitte (BMI>30 kg/m2) 1.60 (1.34-1.92) Quelle: Barnes: Lancet Neurol. 2011 Alterseffekte auf das „Gedächtnis“ Reichhaltige Merkschablonen „Sensoren“ gestört Kurzzeit-/ Arbeitsgedächtnis Erhöhte Ablenkbarkeit Langzeitgedächtnis Gezielter Faktenabruf Unabhängig vom Alter beeinflusst die Stimmung das Gedächtnis! Häufigkeit von Seh- und Hörschwächen unter Männern und Frauen in den USA nach Lebensalter (nach US Department of Health and Human Services, 2008) Nach Laura E. Berk: Entwicklungspsychologie (2011) Gesundheitsberichterstattung des Bundes, 2009 Seniorensport Foto: Patrick Pleul (http://www.wn.de) Raji et al., 2010 Neuste Studien zeigen stärkste Wirksamkeit wenn Ernährung, Bewegung und kognitives Training kombiniert werden. Ngandu et al.; Lancet, Juni 2015 Individuelles Gedächtnistraining http://www.demenzhilfe.at • Gedächtnistraining z.B. wöchentlich 1-2 mal über 3 Monate bewirkt eine subjektiv bessere Gedächtnisleistung, eine bessere Alltagskompetenz, sowie (je nach Studie) besseres Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Kognitive Strategien im Alter • Selektion ↔Optimierung ↔ Kompensation • Tätigkeiten suchen, bei denen man von früheren Erfahrungen profitieren kann und die man bis ins hohe Alter fortführen kann. • Soziales Engagement à gut für Kognitionen Zeitaufwand für Bildung und Lernen „use it or lose it“ • Welche der folgenden Maßnahmen trägt am meisten dazu bei, das Leben zu verlängern? Blutdruckreduktion Gewichtsreduktion Körperliches Training Soziale Beziehungen Reha-Sportprogramm Impfung Alkoholabstinenz Rauchstopp 0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 Meta-Analyse zur Bedeutung sozialer Beziehungen für die Lebenserwartung Blutdruckreduktion Gewichtsreduktion Körperliches Training Soziale Beziehungen Reha-Sportprogramm Impfung Alkoholabstinenz Rauchstopp 0 0,1 0,2 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7 0,8 Holt-Lunstad et al., 2010; PLoS M Das soziale Netz • eine der wichtigsten Zutaten für die innere Balance im Alter • bedarf der intensiven Pflege. Die Neudefinition des „Ruhestandes“ • Das kognitive Leistungsprofil bleibt lange stabil • Vokabular und Emotionskontrolle steigen mit dem Alter • Abruf von Fakten ohne Kontext wird schwierig à Wiederholung und Verknüpfen • Die Zufriedenheit nimmt nach 50 kontinuierlich zu • Das Gehirn bleibt plastisch und lernfähig! • Jeder muss seine Einstellung zum Alter ändern. – Lösen von unsinnigen Vorstellungen • Besonders weil gesunde ältere Menschen gesellschaftlich dringend benötigt werden Take-Home Messages für Ihre Patenten wider den gefährlichen Ruhestand • Tun Sie alles von Jugend an für die Gesunderhaltung Ihres Gehirns • Dann bleibt das Gehirn plastisch und lernfähig, wenn Sie es intensiv nutzen! • Freuen Sie sich, dass die Zufriedenheit nach 50 kontinuierlich zu nimmt und Ihre Emotionskontrolle steigt • Behalten Sie Ziele, z.B. indem Sie sich weiter beruflich, ehrenamtlich/ bürgerschaftlich und/oder als Großeltern engagieren • Überdenken Sie Ihre Einstellung zum Alter • Die Gesellschaft wird zunehmend erkennen, wie dringend gesunde Ältere benötigt werden