Ernährungskultur im Wandel

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Ernährungsethik zwischen Verbraucherschizophrenie und Kundensouveränität
Durch die BSE-Krise und Maul- und Klauenseuche sowie verschiedene tatsächliche oder
vermeintliche Lebensmittelskandale rückte die Landwirtschaft in den letzten zehn Jahren wie
selten zuvor ins Rampenlicht des gesellschaftlichen Interesses. Die breite Berichterstattung in
Fernsehen und Presse führte zu einem öffentlichen Meinungsklima, das ganz plötzlich der
Agrarpolitik eine Schlüsselfunktion gesellschaftlicher Verantwortung zuwies. Aus dem einstigen
Landwirtschaftsministerium ist inzwischen ein Ministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und
Landwirtschaft mit erweiterten Kompetenzen und Zuständigkeiten geworden. Der Verbraucher
mit seinen Rechten, Forderungen und Wünschen steht im Zentrum einer als „Agrarwende“
apostrophierten Agrarpolitik. Zugleich beklagt die Landwirtschaft die Inkonsequenz des
Verbraucherverhaltens: bei Meinungsäußerungen würden Aspekte des Tierschutzes, dem
ökologischen Landbau und der Regionalität agrarischer Erzeugnisse hohe Präferenz eingeräumt,
real sei jedoch der Preis das entscheidende Einkaufskriterium bei Lebensmitteln. Tatsächlich
belegen zahlreiche Studien die Diskrepanz zwischen geäußerten Verbraucherpräferenzen
einerseits und praktischem Verbraucherverhalten andererseits, wie sich exemplarisch an der
Umsatzentwicklung der Lebensmitteldiscounter Aldi oder Lidl, dem stagnierenden Anteil von
Öko-Produkten oder der Nachfrageentwicklung bei Eiern aus Boden- bzw. Freilandhaltung
erschließen lässt. So wie von der Landwirtschaft ein besonders wirtschafts- und umweltethisches
Verhalten bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben gefordert wird, so gilt es auch für das
Verbraucherverhalten danach zu fragen, ob es seiner ethischen Verantwortung gerecht wird.
Ernährungskultur im Wandel
Die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und die Nahrungsaufnahme unterlag seit
Beginn des 20. Jahrhunderts in den Industriegesellschaften einem Wandel. Bis Ende des 19.
Jahrhunderts lebte man knapp über dem Nahrungsminimum, in Hunger- und Dürreperioden
sogar darunter. Der Übergang von der Agrargesellschaft zur Industrie- und
Dienstleistungsgesellschaft brachte für die Bevölkerung andere Arbeitswelten und neue
Ernährungsgewohnheiten mit sich. Durch die Verschiebung von schweren körperlichen Arbeiten
hin zu bewegungsärmeren Tätigkeiten gab es auch erhebliche Veränderungen bei der
Zusammensetzung des Speiseplans: von überwiegend pflanzlicher, wenig verarbeiteter
kohlenhydrat- und ballaststoffreicher Nahrung hin zu energiedichter, hohe tierische Anteile
enthaltende, stark verarbeitete, fette und ballaststoffarme Kost. (siehe Abbildung 1)
Abbildung 1
Die wichtigsten Änderungen des Lebensmittelverbrauchs in Deutschland seit der Industrialisierung
In den letzten 200 Jahren ist der Verbrauch folgender Produkte bzw. Inhaltsstoffe wesentlich gesunken:
Getreide auf unter 30% des früheren Getreideverbrauchs
Hochausgemahlene Mehle von fast ausschließlichem Anteil auf unter 20% des Getreideverbrauchs
Ballaststoffe auf unter 25% des früheren Ballaststoffverbrauchs
Kohlenhydrate von fast 80% auf etwa 45% der Gesamtenergiezufuhr
In den letzten 200 Jahren ist der Verbrauch folgender Produkte bzw. Inhaltsstoffe wesentlich gestiegen:
Niedrigausgemahlene Mehle von geringem Anteil auf über 80% des Getreideverbrauchs (auf 18% der
Gesamtenergiezufuhr)
Isolierte Zucker von geringer Menge auf etwa 110 g pro Person und Tag (auf etwa 11% der
Gesamtenergiezufuhr)
Fett von unter 10% auf etwa 36% der Gesamtenergiezufuhr
Energie tierischer Herkunft von geringem Anteil auf etwa 45% der Gesamtenergiezufuhr
Protein tierischer Herkunft von unter 20% auf über 65% der Gesamtproteinzufuhr
Alkohol auf etwa 5% der Gesamtenergiezufuhr
Ballaststofffreie Lebensmittel auf das fünffache
Die ernährungsbedingten Krankheiten als Mangelkrankheiten früherer Zeit werden heute durch
die „Zivilisationskrankheiten“ des Überflusses ersetzt: Übergewicht, Diabetes mellitus,
Bluthochdruck, Arteriosklerose und Gicht werden in allen epidemiologischen Ernährungsstudien
immer in Zusammenhang mit falscher und übermäßiger Ernährung genannt. Nicht von ungefähr
konstatiert der jährlich erscheinende Bericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE),
dass die deutsche Bevölkerung sich einseitig ernährt: nämlich zu viel, zu fett, zu salzig und zu
süß isst. Folglich entfallen in Deutschland etwa ein Drittel der Kosten des Gesundheitswesens
auf die Behandlung ernährungsbedingter Krankheiten.
Soziologisch können unterschiedliche sozial-demografische Faktoren wie die Veränderung der
Familien- und Haushaltsstruktur sowie der Erwerbsstruktur für den grundlegenden Wandel der
Ernährungsgewohnheiten angeführt werden. Die Dominanz der Erwerbstätigkeit und die
Bedeutungszunahme des Freizeitverhaltens führen dazu, dass man immer weniger Zeit zum
aufwändigen Einkaufen und Kochen hat bzw. sich nimmt. Das Alltagskochen wird im Gegenteil
zum zeremoniellen Wochenendkochen als Belastung empfunden. Zugleich gibt es immer mehr
Ein- und Zwei-Personen-Haushalte (bald zwei Drittel der Gesellschaft) und die Bedeutung der
Außer-Haus-Verpflegung durch Kantinen, Fastfood oder Gaststätten nimmt zu. Selbst innerhalb
der Familie wird die gemeinsame Mahlzeit zunehmend zur Seltenheit, da zwischen
Pflichtterminen und Freizeitaktivitäten durch Mikrowelle, „Fünf-Minuten-Terrine“ oder „Snacks“
der Hunger gestillt wird. Auch das Wissen um die Zubereitung der Ernährung, der Umgang mit
frischen Lebensmitteln geht verloren. So gibt es nicht wenige Haushalte, in denen man mit
einem Blumenkohl und einem rohen Stück Bratenfleisch gar nichts mehr anzufangen vermag,
teils weil die Kenntnis fehlt, teils weil die Kenntnis aufgrund der Außer-Haus-Verpflegung oder
industrieller Convenience-Produkte gar nicht mehr erforderlich ist.
Rationalisierung der Ernährung
Die heutige Ernährung steht unter einem extremen Rationalisierungsdruck im Alltag. Die reine
Ernährungsfunktion von Lebensmitteln reicht dem Verbraucher in einer schnelllebiger
gewordenen Gesellschaft immer weniger aus. Die Lebensmittel müssen durch ergänzende Sachund Dienstleistungen einen Zusatznutzen erfüllen – Anforderungen, die von der
Ernährungsindustrie gerne angeboten werden. Die Rationalisierung der Ernährung ist daher
unmittelbar mit der Rationalisierung des Einkaufens, bei der Haushaltsführung und der
Lebensmittelzubereitung gekoppelt. Konkret heißt das: das Einkaufen wird zeitsparend
organisiert – einmal wöchentlich, alles unter einem Dach, im Supermarkt-Discounter. Das erste
Dilemma einer Ernährungsethik offenbart sich bereits beim Einkaufen: einerseits wird der Verlust
von Einkaufsmöglichkeiten vor Ort um die Ecke beklagt, andererseits ist es der Verbraucher, der
den großen Discountern und Einkaufszentren den Weg des Wachstums bereitet und den
sogenannten „Tante-Emma-Läden“ den Todesstoß versetzt hat. Damit wird das Einkaufen
anonymer Warenströme begünstigt, welche die Transparenz des Produktionsverfahrens und der
regionalen Herkunft außer Acht lässt. Auch der Umgang mit Lebensmitteln ist rationellen
Erfordernissen unterworfen: sie müssen handlich, praktisch, leicht transportabel und möglichst
transparent (Klarsichtfolie) zwecks schnellem Warenbegutachten verpackt sein. Lebensmittel
sollen möglichst lange haltbar und in einer nach Haushaltsgröße konsum-gerechten Weise
lagerfähig sein, um die häusliche Vorratshaltung entsprechend flexibel gestalten zu können
(Konserve, Gefriertruhe). Die Waren müssen schließlich konsumfertig sein, um zeitraubende und
arbeitsaufwändige Zubereitung aus Waschen, Schälen, Kochen, Würzen, Abschmecken,
Portionieren, etc. zu reduzieren. Resultat sind Lebensmittel-Fertigerzeugnisse wie bratfertiges
Fleisch, kochfertiges Gemüse, löffelfertige Desserts, trinkfertige Milchmix-Getränke, die zwar
landwirtschaftlichen Ursprungs sind, ihre Endgestaltung jedoch industriellen Verarbeitungs-,
Konservierungs- und Verpackungsverfahren verdanken.
In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft reduziert sich die gemeinsame Mahlzeit auf
Festtage (Familienfeiern) oder gesellschaftliche Erfordernisse (Arbeitsessen). Im Alltag dominiert
die rationalisierte, zeitsparende Ernährung: schnell und wenig arbeitsaufwändig – eben durch
Fertiggerichte oder sogenanntes „Fast- und Finger-Food“. Das Innehalten, Ge- und Bedenken
des Wertes von Lebensmitteln, unserem „täglich Brot“ zur Stärkung von Leib, Geist und Seele
tritt in den Hintergrund. Der Bedeutungsverlust des gemeinsamen Tischgebets ist deutlicher
Ausdruck hiervon.
Veredelung der Agrarerzeugnisse
Anders als früher ist heute nicht mehr die mengenmäßige Sicherstellung der Ernährung ein
Problem, so dass bei physiologischer Sättigung der Bevölkerung neue Qualitätskriterien wie
diversifizierte Geschmackskomponenten und Zubereitungsarten, Lagerfähigkeit, Haltbarkeit und
Gesundheitsfreundlichkeit in den Vordergrund treten. So ist die Kartoffel im Urzustand als
Rohprodukt wenig wert im Gegensatz zu den „verfeinerten“ Kartoffelerzeugnissen, seien es
Rösti, Pommes Frites, Klöße, Puffer, Pürrée oder Chips. Aus der von der Landwirtschaft
erzeugten Rohmilch, entstehen erst „industriell veredelt“ Jogurt, Quark, Buttermilch,
Sahnedesserts in verschiedenen Fettstufen, Geschmacksvariationen, mit Mineralien- und
Vitaminzusätzen. Die Landwirtschaft ist damit nur noch ein Glied einer langen
Verarbeitungskette, deren Wünschen und Erfordernissen sie sich unterwerfen muss.
Eine neue Einkaufsethik muss ein bewusstes und damit auch geplanteres Einkaufen beinhalten.
Landwirte, die Umwelt- und Tierschutzaspekte bei der Erzeugung berücksichtigen wollen, sind
darauf angewiesen, dass der Verbraucher in seinem Verhalten eine verlässliche Größe darstellt.
Multioptionales Verbraucherverhalten
So vielfältig, hoch differenziert und spezialisiert unsere gesamten Lebensvollzüge in der
arbeitsteiligen modernen Gesellschaft geworden sind, so hoch differenziert zeigt sich auch das
Ernährungsverhalten des Verbrauchers: alles ist grundsätzlich möglich, weswegen man auch von
multioptionalem Ernährungsverhalten sprechen kann (siehe Abbildung 2, Ernährungstrends).
Historisch liegt dies in unterschiedlichen Trends, die sich nach dem zweiten Weltkrieg parallel
zur gesellschaftlichen Entwicklung herausgebildet haben:
™ In den 50er Jahren stand infolge der nachkriegsbedingten Erfahrungen des „Sichbescheiden-müssens“ das „Satt-essen“ im Vordergrund.
™ In den 60er Jahren wurde das „Gut-essen“ zum festen Bestandteil des
Wirtschaftswachstums: fetthaltige Kost gehörte zur Dokumentation von Lebensqualität –
Buttercremetorten, fettes Fleisch, Mayonnaisen, etc., so dass Übergewicht sogar zu einem
Statussymbol des „Otto Normalverbraucher“ wurde.
™ In den 70er Jahren unterlag die mengenbezogene Ausrichtung der Ernährung einer Umkehr
hin zur qualitativen Betonung: dem „Fein-essen“ wurde mehr Bedeutung beigemessen,
wobei erstmals Ernährung auch als Event praktiziert wurde (z.B. Fondue)
™ Über das „Edel-essen“ in den 80er Jahren erwuchs die Ernährung zu einer Frage des
gepflegten Lebensstils, in dem man sich in Habitus, Ausdruck und Kompetenz gegenüber
anderen Schichten abgrenzen konnte. Zeitgleich setzte die „grüne Bewegung“ auch
innerhalb der Ernährung entsprechende Akzente: Vollwert- und Biokost, welche als
„Müslikultur“ ebenfalls als Ausdruck eines besonderen Lebensstils gepflegt wurde.
™ Die 90er Jahre waren gekennzeichnet von „Edel-und-schlicht essen“, wobei ein Kontrast
zwischen der edlen Ernährung mit der schlichten klassischen Kost verbunden wurde: so
kamen traditionelle Rezepte aus Großmutter’s Küche und original bäuerliche Kost verfeinert
mit der Edelgastronomie zusammen. Zugleich kündigte sich die Globalisierung an in der
Internationalisierung der Ernährung – italienische Pasta, griechisches Gyros, türkischer
Kebab, japanisches Sushi sowie chinesische und mexikanische, koreanische oder
thailändische Küche. Der kalifornische Chardonnay tritt in Konkurrenz zum Mosel-Riesling
oder württembergischen Trollinger, das argentinische Steak verdrängt den schwäbischen
Rostbraten.
™ Inzwischen zeigt sich eine vielschichtige Verbrauchertypologie, die innerhalb des einzelnen
Verbrauchers ein unterschiedliches und sogar widersprüchliches Ernährungsverhalten
erkennen lässt: heute Bio, morgen Aldi, tags darauf Fertiggericht, zwischendurch
Edelgastronomie und Imbiss und immer wieder auch mal ganz urig-rustikal Hausmannskost
– eben multi-optionales Verbraucherverhalten, das zwischen unterschiedlichen Einkaufs- und
Ernährungsformen hin und her pendelt, wie es gerade situativ oder zeitlich im jeweiligen
Lebensabschnitt, Wochen- oder Tageszyklus adäquat erscheint.
Abbildung 2: Ernährungstrends – kurz erklärt
Convenience: bezeichnet Lebensmittel, die weitgehend zubereitet sind. Dazu zählen Trocken- und Nassfertiggerichte
sowie Tiefkühlkost.
Ethnic-Food: sind Lebensmittel, die nach Rezepturen aus fremden Kulturkreisen zubereitet wurden. Rezepte aus
Mexiko, China, Japan und dem Mittelmeerraum sind in Deutschland besonders beliebt. Geschätzt werden vor allem
die oft scharfen Gewürze der Speisen. Als Gegentrend gilt die Besinnung auf die traditionelle Regionalküche.
Fastfood: darunter versteht man Speisen in Schnellrestaurants, an Imbissbuden und Ständen, die ohne großen
Zeitaufwand verzehrt werden können. Das Sortiment reicht von der klassischen Currywurst und dem Hamburger über
Pizzen, Kartoffelpuffer, Döner Kebab, Croissants bis hin zu Eintöpfen.
Junk Food: damit werden Speisen bezeichnet, die ernährungsphysiologisch keinen hohen Wert haben, aber den
Magen rasch füllen, z.B. Pommes frites.
Novel-Food: sind hochpreisliche Lebensmittel, mit neuartigen Inhaltsstoffen, Eigenschaften und
Produktionsverfahren, darunter fallen auch gen- oder biotechnisch veränderte Lebensmittel.
Premium-Food: sind Lebensmittel, die im Supermarkt fertig vorbereitet in Regalen liegen, sich scheinbar durch
besonders hohe Qualität auszeichnen (z.B. Pfifferlingcremesuppen, Fertigpasteten oder tiefgefrorene Scampi als
Fertiggerichte für Gourmets.)
Probiotisch: („Lebensstiftend“) gilt als Werbeetikett von Milchprodukten. Im Mittelpunkt steht der Lactobacillus, ein
Bakterium welches die Verdauung von Milchprodukten unterstützt. Durch dessen Anreicherung soll die Verdauung
verbessert werden.
Functional-Food: sind Lebensmittel, denen chemisch hergestellte Vitamine und Mineralstoffpräparate zugesetzt
sind, um spezifische Gesundheitsfunktionen im menschlichen Organismus zu fördern. (z.B. Orangensaft mit CalciumZusatz).
Ernährung und Risikoeinschätzung
So vielfältig unser heutiges Ernährungsverhalten ist, so widersprüchlich zeigt es sich. Man
pendelt zwischen preis- und qualitätsbewusstem Einkauf, zwischen anonymer Weltmarktware
und Regionalerzeugnissen, zwischen billiger Massenstandardware und Premium-Produkten. Die
Inkonsequenz des Ernährungsverhaltens spiegelt sich in der Wahrnehmung und Einschätzung
von Ernährungsrisiken. Die Aufregung infolge tatsächlicher oder vermeintlicher
Lebensmittelskandale ist jedes Mal groß, verschwindet jedoch dann genau so schnell wie sie
entstanden ist. Besonders prägnant konnte dies infolge der BSE-Krise verfolgt werden. Die
Verbraucher reagierten sofort und unerbittlich, die Nachfrage nach Rindfleisch brach zusammen,
man wusste nicht mehr wohin mit den tausenden von Rinderhälften. Selbst verzehren wollte
man sie nicht aus gesundheitlichen Bedenken, vernichten wollte man sie auch nicht aus
ethischen Bedenken (Tierschutz und Welthunger), die eigene Verantwortung als Verbraucher
wurde damit abgeschoben. Stattdessen explodierte die Nachfrage nach Geflügel aus
Massentierhaltung. Die ethischen Bedenken, welche beim Rind zu leidenschaftlich debattiert
wurden, schienen wie weggeblasen. Ein Paradebeispiel für Risikowahrnehmung und individuelles
Risikoverhalten in schizophrener Weise. Die modernen Zivilisationsrisiken Rauchen, Alkohol,
Medikamentenmissbrauch, falsche und einseitige Ernährung, Stressbelastung, Verkehr oder
Extremsportarten werden als alltägliche Begleiterscheinungen akzeptiert, um im Einzelfall eine
Risikobetroffenheit, wie z.B. bei BSE, um so dramatischer ausleben zu können. In ähnlicher
Weise
ist
unser
gesamtes
Ernährungsverhalten
berührt:
man
möchte
seine
Verzehrgewohnheiten so wenig wie möglich ändern, gleichzeitig aber die Gesundheitsrisiken
reduzieren. Die Tür für „functional food“ aus industrieller Fertigung wird damit geöffnet.
Ernährungsethik konkret: mehr Souveränität als König Kunde
Käse aus Italien, Äpfel aus Neuseeland, Spargel aus Griechenland – von den gekauften
Lebensmitteln stammt heute der Großteil gar nicht mehr aus der eigenen Region, sondern aus
dem Ausland oder sogar aus Übersee. Das ist einerseits eine schöne Ergänzung und
Abwechslung auf dem Speiseplan, andererseits jedoch auch mit langen Transportwegen
verbunden. Dies bedeutet mehr Verkehr, mehr Abgase, Lärm und Energieverbrauch, Belastung
für Mensch und Natur. Zugleich gehen durch lange Transportwege Qualität und Inhaltsstoffe
von Gemüse und Obst verloren, die Fleischqualität verschlechtert sich durch lange
Viehtransporte und das Leiden der lebenden Tiere wird erhöht. Saisonfrüchte aus der Region
weisen eine geringere Belastung an Schadstoffen auf, weil sie nicht bestrahlt oder haltbar
gemacht werden und die kurzen Entfernungen vom Erzeuger direkt zum Verbraucher
garantieren nachvollziehbare Herkunft und Frische – eben gesunde und hochwertige
Lebensmittel. Zugleich wird damit ein Beitrag zum Erhalt der heimischen Kulturlandschaft
geleistet, denn nur durch eine naturverträgliche landwirtschaftliche Nutzung können
Lebensräume erhalten und geschaffen werden, auf die viele Tier- und Pflanzenarten angewiesen
sind. Je mehr Lebensmittel verarbeitet werden und über längere Strecken transportiert werden,
um so mehr und aufwändiger wird das Verpackungsmaterial. Regionaler und saisonaler Einkauf
heißt daher auch Vermeidung von überflüssigem Plastik, Folien, Körben und sonstigen
Transportmaterialien.
Solches Wissen um die Folgewirkungen des eigenen Einkaufs- und Ernährungsstils ist der erste
Schritt zu einer praktischen Ernährungsethik. Das muss nicht in missionarischen Eifer ausarten,
aber doch die Bereitschaft zur Einsicht beinhalten. Einsicht bedeutet zugleich Weitsicht im
Hinblick auf die Konsequenzen des eigenen Verhaltens, bedeutet aber auch Vorsicht im Wissen
um die Risiken, die das eigene Verhalten nicht nur für die eigene Gesundheit, sondern auch für
Landwirtschaft, Tiere und Umwelt bedeutet und nicht zuletzt auch Rücksicht in Solidarität, die
die eigene unmittelbare Vorteilhaftigkeit des Verbraucherverhaltens in Beziehung zu anderen
Betroffenen setzt. Ohne solche Einsicht wird der vom Schnäppchenfieber befallene Verbraucher,
der bedenkenlos und „Geiz-geil“ nur konsumiert, also Waren verbraucht, nicht gesunden.
Einsicht in die eigene Verantwortung des Ernährungs- und Einkaufsverhaltens lässt aus einem
Verbraucher wieder die Gattung des Kunden entstehen, der um die Folgen des
Verbraucherverhaltens Bescheid weiß, eben „kundig“ ist. Er wird zum wahren Souverän über das
Marktgeschehen, weil er bewusst aus dem Angebot auswählt. Er ist Kunde König, dessen
Wünsche sowohl Landwirtschaft, Ernährungsindustrie und Lebensmitteleinzelhandel Folge
leisten. Unter solchen neuen Voraussetzungen wird dann auch der Anteil, der heute vom
durchschnittlichen Haushalt in Deutschland für Lebensmittel ausgegeben wird, von 12.3%
wieder ansteigen, um die wahre Preis-Wertigkeit unserer Mittel zum Leben anzuerkennen.
Die Wertigkeit von Lebensmitteln – Kleine Begriffserklärung
Der Genusswert eines Lebensmittels umfasst die Eigenschaften, die man beim Verzehr mit seinen Sinnen
wahrnimmt, also Aussehen, Geruch, Geschmack, Konsistenz und Temperatur.
Der Gesundheitswert wird auch als ernährungsphysiologische Qualität bezeichnet. Maßstab sind die wertgebenden
Inhaltsstoffe (Vitamine, Mineralstoffe, gesundheitsfördernde Nährstoffe wie Ballaststoffe und sekundäre
Pflanzenstoffe, die Hauptnährstoffe Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate sowie der Energiegehalt) und wertmindernde
Inhaltsstoffe (Fremd- und Schadstoffe wie Rückstände von Medikamenten und Pflanzenschutzmitteln sowie
pathogene Keime).
Gesundheitswert und Genusswert werden in der Regel durch chemische, physikalische und mikrobiologische
Methoden erfasst. Dabei sind nicht enthalten Messverfahren zur Qualitätsbestimmung von Lebensmitteln im Hinblick
auf ihre Auswirkung auf Umwelt, soziale Gegebenheiten oder auch internationale Verantwortung.
Der psychologische Wert eines Lebensmittels beruht auf der individuellen Beurteilung, ob man Freude empfindet
oder nicht.
Der soziokulturelle Wert von Lebensmitteln erfolgt nicht nach dem persönlichen Lustprinzip, sondern aufgrund
gesellschaftlicher Normen und Werte. Lebensmittel können ein bestimmtes Prestige einnehmen, (z.B. Kaviar,
Champagner, heimische Erzeugnisse aus bäuerlicher Herstellung) oder auch mit Tabus belegt sein (z.B.
Hormonfleisch, tierische Lebensmittel bei Veganern)
Der ökologische Wert von Lebensmitteln wird gemessen am Verbrauch von Energie, Rohstoffen und Wasser, am
Aufwand von Verpackungen, deren Entsorgung sowie an der Menge der Schadstoffemissionen, die bei der
Lebensmittelerzeugung und beim Transport anfallen.
Der ökonomische Wert ist der Marktwert des Lebensmittels aus der Sicht von Erzeugung, Verarbeitung und Handel.
Er wird unter anderem gemessen an Ertrag, Haltbarkeit, Verarbeitungseigenschaften, Transportfähigkeit und nicht
zuletzt am Preis, die die einzelnen Gruppen jeweils erzielen.
Der politische Wert setzt sich aus vielfältigen Aspekten zusammen, welche eine ganzheitliche Erfassung von
Lebensmittelqualität beinhaltet. Import und Export von Lebens- und Futtermitteln (unsere Ernährung und Beziehung
zur Dritten Welt, Vernichtung von Lebensmitteln und gesellschaftlichen Dienstleistungsfunktionen).
Der Eignungswert oder Gebrauchswert bezeichnet die Eignung eines Lebensmittels hinsichtlich der
Verwendungsmöglichkeiten (z.B. Haltbarkeit, Preis- und Zeitaufwand für Einkauf, Zubereitung und Verzehr).
Dr. Clemens Dirscherl ist Geschäftsführer des Evangelischen Bauernwerks in Württemberg e.V.
und Ratsbeauftragter der EKD für Landwirtschaft, Ernährung und ländlichen Raum
Dr. Clemens Dirscherl
c/o Evangelisches Bauernwerk in Württemberg
74638 Waldenburg-Hohebuch
07942/107-70, Fax: 07942/107-77
E-Mail: [email protected]
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