Die Systemische Hörtherapie nach Dr. Alfred Tomatis

Werbung
Die Systemische Hörtherapie nach Dr. Alfred Tomatis
von Dr. Dirk Beckedorf
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Einleitung
Historie
Entwicklungsgeschichte und Aufbau des Gehörs
Hören im Mutterleib
Diagnostik in der Hörtherapie
Setting und zeitlicher Ablauf der Hörtherapie
Der inhaltliche Ablauf der Hörtherapie
1. Einleitung
Unsere Ohren sind im Gegensatz zu unseren Augen scheinbar immer offen. Dennoch
hören wir nicht immer hin. Nur einen sehr geringen Teil der vielen Schall- und Klangwellen, die im Laufe unseres Lebens von unsren Ohrmuscheln aufgefangen und zum
Gehirn geleitet werden, nehmen wir bewusst wahr. Unser Gehör und Gehirn wählt
dauernd aus, was gehört werden soll.
Die Vielfalt dieser Aufgaben bewältigen wir in einem ersten Schritt bereits im Mittelohr.
Hinter dem Trommelfell sitzen zwei kleine Muskeln, die unwillkürlich gesteuert werden.
Eine gute Spannung dieser Muskeln verbessert nicht nur die Fähigkeit, aufmerksam
anderen Menschen zuzuhören, sie kann den ganzen Körper in einen wachen und auch
entspannten Zustand bringen. Im Gehirn werden die so bereits fein abgestimmten Hörsignale weiter verarbeitet. Funktionieren diese größtenteils unbewusst ablaufenden
Vorgänge gut, können wir uns zum Beispiel auch in einem großen Saal mit vielen
Menschen gut orientieren und das Gegenüber gut verstehen. Wir können die wunderbaren Klänge einer Sinfonie von Mozart in ihrer ganzen Tiefe und emotionalen Vielfalt
genießen. Und wir können unseren Mitmenschen offen begegnen, weil wir uns selber
wohl fühlen.
Sollte Sie eines dieser angesprochen Themen interessieren oder sollten Sie oder Ihr
Kind in einem der angesprochenen Bereiche Schwierigkeiten haben, empfehle ich
Ihnen, weiterzulesen. Denn dann könnte es sein, dass Ihnen die Systemische Hörtherapie weiterhelfen kann.
2. Historie
Die Systemische Hörtherapie ist eine Fortführung und Differenzierung der „Tomatis-Methode“. Sie verbessert vielfältige
Funktionen des Hörsinns und seine Auswirkungen in Körper
und Psyche. Die „Tomatis-Methode“ wurde von dem französischen Arzt Dr. Alfred Tomatis zwischen 1950 und 1980 begründet. (Abb. 1)
Abbildung 1 Dr. Alfred Tomatis (1920 Nizza - 2001 Carcassonne)
Nach der von Dr. Tomatis entwickelten Therapie hört man über Spezialkopfhörer mit
Knochenleiter Musik von Mozart und auch eine Aufzeichnung der Mutterstimme. Musik
und Mutterstimme werden dabei über Klangwandler („Elektronisches Ohr“) in individueller Weise in ihren Klangeigenschaften verändert.
Abbildung 2
Der Leiter der Hörtherapiepraxis, Dr. Dirk Beckedorf, wurde 1992/93 in Paris durch Dr.
Alfred Tomatis persönlich ausgebildet. Die Einbeziehung moderner Erkenntnisse der
Neurobiologie, Hörphysiologie und Entwicklungspsychologie führte zu dem neuen Namen „Systemische Hörtherapie“. Näheres finden Sie in dem Buch „Von der Resonanz
zur Bindung“ von Dirk Beckedorf und Franz Müller (Beckedorf/Müller 2010)
Der Artikel beschreibt nun zunächst die Entwicklungsgeschichte des Gehörs und seinen Aufbau in der evolutionär-stammesgeschichtlichen und individuell-menschlichen
Entwicklung. Hieraus werden zentrale Wirkungen der Hörtherapie gut verständlich. Es
folgt dann die Erläuterung der Diagnostik und des Aufbaus der Hörtherapie. Die Teile
sind unabhängig voneinander verstehbar, es kann also von hier auch direkt zum Abschnitt Diagnostik oder Therapie gesprungen werden.
3. Entwicklungsgeschichte und Aufbau des Gehörs
Menschen leben von und in Beziehungen. Und dazu brauchen wir in elementarer
Weise unseren Hörsinn.
Das Hören taucht in der Evolution mit den Fischen auf. Fische können hören, allerdings sind ihre Möglichkeiten, über Laute zu kommunizieren sehr eingeschränkt. (Wale
und Delphine, die sich ja in vielfältiger und wunderbarer Weise mit Klängen verständigen, sind bekanntermaßen Säugetiere). In den primitiven Ohren der Fische sitzen
schon die Hörsinneszellen, mit denen auch wir Menschen hören. Sie werden „Haarzellen“ genannt, weil an ihrem oberen Pol mehrere haarähnliche Ausstülpungen sitzen. Wenn diese „Härchen“ durch Schallwellen gebeugt werden, wandelt die Haarzelle
die Klangwellen in elektrische Impulse um. Der Hörnerv leitet die Impulse zum Gehirn
weiter. Die Haarzellen sitzen bei Fischen wie Menschen in sehr salzhaltiger Flüssigkeit.
Als die Tiere als Amphibien und Reptilien „beschlossen“, an Land zu gehen, stellten
sie fest, dass sie kaum noch hören konnten. Der Grund: Wenn Schallwellen von Luft
auf Flüssigkeit treffen (in der die Haarzellen ja sitzen), geht ca. 98 % ihrer Energie und
damit Lautstärke verloren. Mit den Vögeln und Säugetieren schuf die Evolution das
Mittelohr (s. Abb. 3).
Das Mittelohr ist ein Hebelwerk von 3 winzigen Knochen, deren erster am Trommelfell
sitzt und die Schallwellen weiterleitet. Von dem relativ großen Trommelfell werden die
Schallwellen konzentriert auf eine zweite viel kleinere Membran am Innenohr. Durch
dieses Hebelwerk wird die Lautstärke um etwa das 30zig-fache erhöht. Hiermit wurde
also der starke Energieverlust, der durch den Übergang des Schalls von Luft auf Wasser entsteht, wieder ausgeglichen. Gesteuert wird diese Hebelwerk durch zwei kleine
Muskeln, die von den unwillkürlichen Teilen des Gehirns gelenkt werden. (Die Steuerung der Muskeln ist also vergleichbar mit der Lenkung des Herzmuskels oder auch
des Darms. Beide werden auch vom Gehirn mitgesteuert über das unwillkürliche, autonome Nervensystem.)
Abbildung 3 Aufbau und Funktion
des Ohres
Mit dem Mittelohr war nun
die Voraussetzung geschaffen für die enorme Ausweitung stimmlicher Kommunikation bei Vögeln und Säugetieren. Säugetiere wollen
nicht nur fressen, schlafen
und beißen wie die Reptilien,
sondern sie wollen auch Körperkontakt genießen, sich
ankuscheln. Sie wollen mit
ihrer Stimme ihre Emotionen
ausdrücken und in seelischen Kontakt gehen. Und dafür müssen sie gut hören.
Für uns Menschen bedeutet dies: Wenn unser Gehirn wahrnimmt, dass wir uns sicher
fühlen und wir in Kontakt mit unseren Mitmenschen treten wollen, werden die benannten Mittelohrmuskeln unwillkürlich in eine gute Spannung gebracht. Diese von Alfred
Tomatis vorüber 40 Jahren aufgestellte Erkenntnis wird aktuell durch die Forschungen
des amerikanischen Wissenschaftlers Stephen Porges bestätigt (Polyvagaltheorie,
Porges 2010). Durch Spannung der Muskeln bekommt das Trommelfell eine optimale
Spannung und arbeitet nun wie die gut gespannte Membran einer Trommel oder
Pauke: Die mittleren und hohen Töne werden besser weitergeleitet. In diesem Bereich
hat sich unsere Sprache entwickelt. Das heißt also: Mit Straffung der Mittelohrmuskeln
richtet sich unser Gehör auf Sprache und damit Kontakt und Kommunikation aus. Wir
hören hin, wir lauschen. Im übertragenen Sinn „spitzen“ also auch wir Menschen die
Ohren ähnlich wie ein Fuchs oder eine Katze dies mit ihren äußeren Ohren so schön
können.
4. Hören im Mutterleib
Unsere menschliche Entwicklung beginnt im Bauch unserer Mutter in der weiblichen
Eizelle. Diese Eizelle ist so groß wie der Punkt auf diesem „i“. Nach der Befruchtung
durch das männliche Spermium teilt sich diese Ursprungszelle unseres körperlichen
Seins unaufhörlich und es formt sich in den erste 8 Wochen der Embryonalzeit allmählich unser menschlicher Körper mit allen Gliedmaßen und inneren Organen.
Noch bevor nun die verschiedenen Sinne arbeiten können oder erste aktive Bewegungen möglich werden, geht der winzige
Körper des Embryo, wenige Millimeter
groß, in Resonanz, in Schwingung mit
seiner Umgebung. Dabei hat der Embryo
aufgrund seiner äußerst geringen Größe
und Leichtigkeit eine Resonanz zu den
sehr hohen Tönen. Mit diesen sehr hohen
Frequenzen erlebt er eine synchrone, gemeinsame Schwingung. Dies wird nicht
bewusst erlebt, das Gehirn ist ja kaum
angelegt und noch lange nicht arbeitsfähig. Aber sie wird als eine ozeanische
Einheitserfahrung in unserem Körpergedächtnis gespeichert. (Abb .4)
Im 4. Schwangerschaftsmonat ist die gesamte Körperoberfläche vollständig sensibel und das Kind bewegt sich unentwegt. Es schwimmt im vergleichsweise
riesigen „Ozean“ des Fruchtwassers von
einer Wand der Gebärmutter zur anderen, betastet das eigene Gesicht, zieht an
der Nabelschnur und nuckelt am DauAbbildung 4 Menschlicher Embryo im Alter von 4
men. Der Tast- und Bewegungssinn hat Wochen
also in den ersten Monaten unserer Existenz eine besondere Bedeutung für unser
Wahrnehmung und Erforschung unserer ersten Welt, den Bauch unserer Mutter. Wir
wachsen und allmählich wird der Raum enger, bis am Ende der Schwangerschaft das
Kind sein Köpfchen in das mütterliche Becken senkt und auf den nächsten großen
Schritt wartet, die Geburt.
In diesen letzten Monaten wird nun der Hörsinn immer bedeutsamer. Im ersten Drittel
der Schwangerschaft werden wesentliche Teile des Gehörs bereits geformt. Die Hörsinneszellen, die Haarzellen, von denen oben schon die Rede war, werden im 5.-6.
Monat elektrisch aktiv. Sie fangen jetzt an zu arbeiten, das Innenohr ist zum Leben
erwacht. (Es geistert durch verschiedene Bücher und Schriften die Aussage, dass der
Hörsinn der erste Sinn sei, der im Mutterleib vollständig ausgereift sei. Diese Aussage
trifft nach heutigen Erkenntnissen nicht zu, der Bewegungs- und Tastsinn ist wie oben
beschrieben wurde deutlich früher aktiv.)
Nun wird noch im etwa 7. Monat der Hörnerv mit einer isolierenden Eiweißschicht, der
Myelinscheide, umhüllt und dadurch elektrisch leitfähig. Ab jetzt ist das Gehör weitgehend fertiggestellt (wobei die Vernetzung der Hörzellen im Gehirn immer weitergeht,
im Prinzip das ganze Leben hindurch). Die Hörfähigkeiten des Fetus im Bauch der
Mutter sind äußerst beeindruckend. So haben Wissenschaftler überzeugend nachgewiesen, dass die Babys im Bauch Silbenfolgen wie bi-ba-bi von bi-ba-bo unterscheiden. Die Babys im Bauch erkennen auch Musikstücke wie zum Beispiel „Peter und der
Wolf“, die ihnen im 7. Monat der Schwangerschaft vorgespielt wurden, im 8. und 9.
Monat wieder! (Spitzer 2007)
Sprachwahrnehmung beginnt im Mutterleib. Das Baby lernt die besondere Melodie,
die Klangfarbe und den Rhythmus der Sprache (Sprachen), die die Mutter während
der Schwangerschaft spricht und kommt mit diesem Wissen auf die Welt. Wie kommt
es zu diesem Wissen?
Neben den Körpergeräuschen wie Herzschlag, Atmung und Darmbewegungen lauscht
das Kind besonders auf die Stimme seiner Mutter. Dabei lebt es in zwei Klangwelten:
Über das Fruchtwasser werden besonders die tiefen Töne übertragen, das Kind
schwimmt in einem wohlig umhüllenden Klangraum der dumpfen Körpergeräusche.
Immer wenn es sich mit seinem Köpfchen an die Wirbelsäule oder ins Becken der
Mutter begibt und die Mutter gerade spricht, kommt es zu einem weiteren Weg der
Klangübertragung: Die Mutterstimme wird über ihre Wirbelsäule in ihr Becken geleitet
und durch die halbkugelige Form des Beckens 2,5-fach verstärkt. „Das Becken einer
schwangeren Frau schwingt wie eine Violine“ sagt Alfred Tomatis.
Der Hirnforscher Manfred Spitzer bemerkt: Das weibliche Becken arbeitet wie ein Stereokopfhörer. Diese Schwingungen werden nun direkt auf den Schädelknochen des
Babys und sein Innenohr übertragen. Der Knochen leitet aber genau entgegengesetzt
zum Wasser besonders die hohen Töne weiter. So hellt sich die Mutterstimme über
diese Knochenleitung auf und hebt sich aus dem dumpfen Wasserhören hervor. (s.
Abb.5)
Abbildung 5 Zwei Klangwege im Mutterleib
Das Baby kann inhaltlich nicht verstehen, was die Mutter sagt. Es nimmt aber sehr
genau die emotionale Botschaft der Mutterstimme wahr, in ihrer Melodie, ihrer Klangfarbe und ihrem Rhythmus. Stimme ist gleichbedeutend mit Stimmung. So erlebt der
Fetus, wie es seiner Mutter geht: Ist sie traurig, fröhlich, still, zufrieden oder hat sie
Ängste, ist wütend oder depressiv? Wir alle haben darauf reagiert: War uns die Stimme
und Stimmung unserer Mutter überwiegend angenehm und anziehend, so hat sich unser Körpersystem ausgedehnt und geöffnet. Wir wollten mehr davon und haben ihre
Nähe über den Knochenkontakt gesucht und gefunden.
Die Babys im Bauch entwickeln über diesen Kontakt mit der Mutterstimme eine erste
Bindungserfahrung (Beckedorf/Müller 2010). Ein erstes Beziehungsmuster entsteht
schon rudimentär im Bauch. Dies wird zur Grundlage aller späteren Beziehungserfahrungen und erzeugt auch eine Bereitschaft, ob man überhaupt hören möchte oder besser unwillkürlich die Ohren verschließen will.
Wenn die Hörerfahrungen im Bauch überwiegend schwierig sind, weil die Mutter sich
in schwierigen sozialen oder emotionalen Situationen befindet, wie zum Beispiel bei
ausgeprägten existentiellen Ängsten durch Arbeitslosigkeit oder heftigen Partnerschaftskonflikte, kann im Kind auch eine Beziehungsangst als Muster entstehen, ein
unsicherer Bindungsstil angelegt werden.
Wesentlich für unseren späteren Weg durch das Leben ist eine Reihe von psychischen
Regulationssystemen. Ein grundlegendes System ist das Stressbewältigungssystem,
ein weiteres ist das Beruhigungssystem und dann das Bindungssystem, von dem gerade schon die Rede war. Das Stressbewältigungssystem sorgt dafür, wie schnell, wie
heftig und wie lange Körper und Psyche bei bestimmten Reizen in einen Gefahrenund Kampfmodus gehen. Viele Menschen leiden unter überschießenden Reaktionen
ihr Leben lang und haben wenig gelernt, sich selbst in guter Weise zu beruhigen und
einen angemessenen Umgang z.B. mit Aggressionen zu finden. Viele psychosomatische Symptome und Erkrankungen können hieraus entstehen.
Sehr bedeutsam für unseren Kontext sind nun Erkenntnisse der modernen Hirnforschung: Die Art und Weise, wie man sein ganzes Leben mit Stress umgeht oder sich
selbst beruhigen kann, wird auf dem Boden einer genetischen Veranlagung durch die
Erfahrungen im Mutterleib und in den ersten Monaten nach der Geburt entscheidend
geprägt wird! (Roth 2014, Bauer 2008). Es gibt ernstzunehmende empirische Erfahrungen, dass sich durch die Hörtherapie auch diese körperlich-seelischen Reaktionsmuster positiv verändern können. Die Menschen ruhen dann mehr in sich und können
mehr Nähe zulassen und in Konflikten besser bei sich bleiben.
In den meisten Fällen ist das Erleben im Mutterleib eine Kraftquelle. Die Natur hat gut
für uns gesorgt! Im unbewussten Körpergedächtnis bleiben diese Erinnerungen gespeichert. Und diese guten Erfahrungen können in der Hörtherapie aktiviert werden
und sich im Erleben des erwachsenen oder kindlichen Hörtherapiepatienten ausbreiten. Dieser Prozess braucht häufig einige Zeit. Er ist wie eine Art akustisches Wasser,
das langsam von den nervalen Wurzeln unseres Körpers und Gehirns aufgenommen
wird und schließlich zur Neubildung von Nervenverbindungen führt ähnlich wie ein
Baum neue Triebe in seiner Krone bildet. Unser Gehirn ist ein Leben lang wandlungsfähig und in der Lage, neue neuronale Vernetzungen zu bilden.
5. Diagnostik in der Hörtherapie
Vor jeder Hörtherapie findet in aller Regel ein Erstgespräch statt. In diesem Gespräch
von meist etwa 1 ½ - 2 Stunden Dauer wird ein spezieller Hörtest durchgeführt, das
„Hörprofil“. Hinzu kommen einige Fragen zu einigen biographischen Hintergründen
des Patienten, die für die Hörtherapie von Belang sind. Im Weiteren wird dann das
Hörprofil genau erläutert.
Im Fall der Kindertherapien wird das Kind nach Durchführung des Hörprofils von einer
Mitarbeiterin separat betreut, während der Hörtherapeut das Gespräch mit den Eltern
führt. Beobachtungen aus dem freien Spiel des Kindes in dieser Zeit fließen in das
Gespräch mit ein. Bei sehr kleinen Kindern unter zwei Jahren, Kindern mit besonderem
Hilfebedarf oder tiefgreifenden Entwicklungsstörungen aus dem autistischen Formenkreis ist ein Hörprofil im Erstgespäch manchmal nicht möglich. Dann wird die Entscheidung über die Durchführung der Hörtherapie abhängen von der Kindesbeobachtung,
den Angaben der Eltern und den Erfahrungen des Hörtherapeuten.
Das Hörprofil ist eine spezielle Form des Basishörtests beim HNO-Arzt (Tonschwellenaudiometrie). Das Hörprofil wird jedoch achtsamer und mit einem anderen Fokus,
einem anderen Blickwinkel durchgeführt. Der HNO-Arzt will wissen, ob das Gehör des
Patienten organisch gesund ist oder ob Erkrankungen vorliegen. Wir als Hörtherapeuten wollen wissen, wie, in welcher Weise der Betreffende hört und wahrnimmt. Wir
wollen wissen, ob der Patient unwillkürlich auch eine Bereitschaft des „Zuhörens“ oder
„Lauschens“ hat. (Zudem ist unser Hörtestgerät vor allem in der Knochenleitung anders geeicht nach „Tomatis-Hearinglevel“)
Durchführung des Hörprofils: Wir prüfen zuerst die Empfindlichkeit des Hörens für das
Trommelfell, die „Luftleitung“. Der Patient bekommt Kopfhörer aufgesetzt und es wird
für eine Reihe von Tönen (im Umfang ungefähr dem Bereich eines Klaviers entsprechend) die jeweilige Schwellenlautstärke ermittelt, also wann man gerade anfängt zu
hören. Man beginnt für jede Tonhöhe jeweils sehr leise, einen Ton vorzugeben und
wird langsam immer lauter, bis der Patient den Ton wahrnimmt. Dann zeigt er (oder
sie, immer sind selbstverständlich beide Geschlechter gemeint) auf das Ohr, wo der
Ton wahrgenommen wurde. Im Hörprofildiagramm entsteht so eine blau eingezeichnete Luftleitung für beide Ohren. In einem zweiten Schritt wird nun ein Knochenleiter
auf den Knochen hinter das Ohr gesetzt und auch für die Knochenleitung jetzt die rot
eingezeichnete Knochenleitungsschwelle ermittelt.
Abbildung 6 Das Hörprofil
Viele Menschen sind nun überrascht, zu erfahren, dass wir auch über den Knochen
hören. Dazu ist zu sagen, dass jede Schwingung einen Resonanzraum braucht, um
einen hörbaren Ton zu erzeugen. Im Fall von einer Violine ist es ihr Korpus, der durch
seine besondere Form den spezifischen Klang einer Violine hervorbringt. Bei uns Menschen ist unser natürlicher Resonanzraum vor allem unser Knochengerüst. Wenn wir
sprechen, bringen die Schwingungen unserer Stimmbänder die Halswirbelsäule und
auch den Brustkorb in Vibration. Diese Schwingungen werden über die Halswirbelsäule zum Schädelknochen und dem dort sitzenden Innenohr geführt.
Über die Knochenleitung hören wir also sehr deutlich uns selbst. Das ist auch ein
Grund, warum wir unsere eigene Stimme anders wahrnehmen als unsere Mitmenschen. Wir sind immer überrascht, wenn wir eine Tonaufzeichnung unserer Stimme
vom Band oder über Lautsprecher hören, während die anderen sagen: „Ja, so klingt
deine Stimme.“
Die Knochenleitung hat im Hörprofil einen starken Bezug zur Selbstwahrnehmung,
zum „Ich“ oder „Selbst“. Ihr spezifischer Verlauf erlaubt uns Aussagen über das Ichgefühl und Aspekte wie Motivation und Willen. Die Luftleitung ist Ausdruck des Hörens
über das Trommelfell, unseres „akustischen Fensters“ zur Welt. Die Luftleitung entspricht der Weltwahrnehmung, den anderen, unserem Kommunikationsmuster nach
außen. Aus dem Verhältnis beider Kurven zueinander können wichtige Aussagen über
das Verhältnis von „Ich“ und „Welt“ gemacht werden.
Zudem können aus dem Verlauf beider Kurven auch Aussagen gemacht werden zur
Spannung der Mittelohrmuskeln, zur Körperwahrnehmung und der Muskelgrundspannung des Körpers. Es kann Folgen haben, wenn man zum Beispiel auf dem rechten
Ohr ganz anders hört als auf dem Linken. Dann können unter bestimmten Umständen
die Raumwahrnehmung und das Gleichgewichtsempfinden gestört sein. Der Betreffende befindet sich im Ganzen nicht im Gleichgewicht.
Idealerweise (nicht normalerweise) hat die Hörschwelle einen Verlauf wie in Abb. 4
dargestellt: Die Empfindlichkeit für die mittleren und hohen Töne zwischen 1000 und
4000 Hz ist größer als für die sehr tiefen und hohen Töne. Die blaue Luftleitung liegt
über der roten Knochenleitung und die Hörschwellen verlaufen auf beiden Ohren ähnlich. Die ist Ausdruck einer guten Mittelohrmuskelspannung und einem „Ja“ zu Kommunikation und Kontakt mit sich selbst wie mit der Welt.
Es wird vielleicht deutlich, dass aus einem Hörprofil vielerlei Aussagen abgeleitet werden können in Bezug auf Motivation, Aufmerksamkeit, Wachheit, Muskelspannung
und Kommunikationsverhalten. Diese Informationen sind wichtig für den individuellen
Aufbau einer Hörtherapie.
6. Das Setting und der zeitliche Ablauf der Systemischen Hörtherapie
Das Grundprinzip der Hörtherapie wurde bereits in der Einleitung beschrieben: Kinder
wie Erwachsene hören Werke von Mozart, Gregorianische Gesänge und evtl. auch
eine Aufzeichnung der Mutterstimme über Spezialkopfhörer mit einem Luft-und Knochenleiter normalerweise zwei Stunden pro Tag. Die Musik und Stimme werden
über Klangwandler individuell gefiltert, also in ihrem Klangspektrum verändert.
Erwachsene Hörtherapiepatienten hören in einem schönen Raum allein oder mit anderen Patienten ihre jeweils eigene Musik. An den Kopfhörern sind etwa 10 m lange
Kabel. Die Musik ist auf die jeweiligen Therapiebedürfnisse und Ziele abgestimmt. Sie
erlaubt, aufmerksam zuzuhören, zu träumen oder zu schlafen. Vielfach entstehen auch
kreative Impulse. Es ist ein besonderer Schwerpunkt unserer Hörtherapiepraxis in Bremen, dies zu unterstützen. So liegt in dem Hörraum ein breites Angebot an Farben
bereit. Viele nutzen dies und es entsteht immer wieder Bilder, die den inneren Erlebensprozess illustrieren. Dabei kommt es nicht auf „Schönheit“ sondern auf Ausdruck
an. Regelmäßige Gespräche begleiten die Hörtherapie.
Kinder kommen zur Hörtherapie in Begleitung eines Elternteils, am Anfang möglichst
die Mutter. Dabei hören sie räumlich getrennt von den Eltern in einem Kinderraum in
Begleitung eines Hörtherapeuten. Sie dürfen in den zwei Stunden frei spielen (es ist
ein großes Angebot an Spielmaterialien für die unterschiedlichen Altersstufen vorhanden). Sie können auch zu feinmotorischen Tätigkeiten wie z.B. Basteln oder Malen
angeleitet werden. Häufig hören die Kinder mit anderen Kindern zusammen. So gibt
die Spielsituation wichtige zusätzliche Information über das Sozialverhalten der Kinder
und erlaubt im Verlauf der Hörtherapie den Kindern auch, die durch die Hörstimulation
angeregten emotionalen Fortschritte direkt und unmittelbar auszuprobieren. Durch
sachkundige Betreuung während des Hörens wird die Hörwirkung gefördert und gesteigert.
Die begleitenden Eltern hören in einem Hörraum für Erwachsene meist ähnliche Musik
wie ihre Kinder. Sie sollen ihnen durch ihre Teilnahme mit „gutem Beispiel voran gehen“. Die Motivation der Kinder zur Hörtherapie wird dadurch sehr gefördert. Es heißt
nicht: „Du, Kind, hast ein Problem, was behandelt werden muss“, sondern „Wir machen
das gemeinsam“. Zudem können die Eltern, manchmal durch Negativspiralen in der
Eltern-Kindbeziehung gestresst, durch die Wirkung der Hörtherapie entspannen, zu
sich finden und so gestärkt ihren durch die Musikwirkung gleichfalls veränderten Kindern neu begegnen. Dieser systemische Wirkungsansatz wurde bereits von dem Begründer Alfred Tomatis so erfunden und ist einer der Gründe für den neueren Namen
„Systemische Hörtherapie“.
Die Hörtherapie erfolgt für Erwachsene wie Kinder in Hörabschnitten von mehreren
direkt aufeinander folgenden Hörtagen:
Der 1. Hörabschnitt umfasst 15 aufeinanderfolgende Tage täglich 2 Stunden Hörtherapie. (Sonntags Pause). In der Mitte und ab Ende des ersten Hörabschnitts führen wir
Kontrollen des Hörprofils durch, deren Resultate in den begleitenden Gesprächen ausführlich besprochen werden ebenso wie die Therapieauswirkungen.
Manchmal kann es aus inhaltlichen oder organisatorischen Gründen richtig sein, statt
15 lieber 12 oder 10 Hörtage zu vereinbaren.
Nach einer Hörpause von 4-8 Wochen folgende weitere Hörabschnitte. Der 2. Hörabschnitt und alle folgenden Hörabschnitte umfassen im Regelfall 8 (10) Hörtage täglich,
zwei Stunden Hörtherapie mit Hörprofilen und begleitenden Gesprächen zu Beginn
und am Ende.
Der Standard einer Hörtherapie umfasst vier Hörabschnitte. Dann ist in aller Regel
eine bleibende Wirkung erreicht. Die Therapiewirkungen sind nun vom Körpersystem
und Gehirn integriert und verinnerlicht.
Manchmal sind aus unterschiedlichen Gründen auch nur 2 Hörabschnitte nötig oder
möglich. Bei einer Reihe von Erwachsenen und Kindern wird die Hörtherapie auch
über einen deutlich längeren Zeitraum fortgeführt mit immer längeren Intervallen zwischen den Hörabschnitten, z.B. bei Kindern mit besonderem Hilfebedarf.
7. Der inhaltliche Aufbau der Systemischen Hörtherapie
Der erste Hörabschnitt :15 (12) Hörtage:
Das Basiswirkprinzip der Hörtherapie ist die „Klangwippe“. Jede in der Hörtherapie
eingesetzte Musik oder Stimmaufzeichnung wird auf dieser Basis gehört. Erwachsene
wie Kinder hören Musik über Spezialkopfhörer, die durch Klangwandler im Klangspektrum moduliert wird.
Man hört die Musik dabei in einem dauernden Wechsel zwischen einer leichten Betonung der tiefen Töne und dann wieder einer Verstärkung der hohen Töne. Dieser dauernde pulsatorische Wechsel zwischen dumpf und hell ist lautstärkeabhängig: Ist die
Musik leise und bleibt unter einer im Klangwandler eingestellten Grenzlautstärke, klingt
sie dumpf. Wird sie lauter und geht über die Lautstärkegrenze, wird sie aufgehellt.
Die Tiefenbetonung wirkt auf die meisten Menschen entspannend. Sie ruft eine Erschlaffung der oben beschriebenen Mittelohrmuskeln hervor. Man wird müde im Sinne
eines liebevollen Ruhens. Die Höhenbetonung ist ein Signal für die Mittelohrmuskeln,
sich anzuspannen. Dadurch wird eine sprachbezogene Aufmerksamkeit hervorgerufen, ein Zustand von Wachheit, Präsenz und fokussierter, gerichteter Aufmerksamkeit.
Alle diese Wirkungen erfolgen über die unbewussten Teile des Nervensystems und
Körpers. Man kann sie mitverfolgen, indem man aufmerksam der Musik lauscht, man
kann aber auch genauso gut dösen oder schlafen.
Der dauernde Wechsel zwischen Entspannung und Anspannung wirkt zurück auf das
unwillkürliche Nervensystem, das die beiden Mittelohrmuskeln reguliert. Über diesen
Rücklauf vom Ohr zum Gehirn wird der ganze Körper mit beeinflusst und findet wieder
seine Balance und Mitte. Eine weitere ausführliche Darstellung der Wirkungen der
Hörtherapie auf das autonome Nervensystem finden Sie hier auf der Website unter
„Autonomes Nervensystem und Systemische Hörtherapie“.
Zu Beginn einer Hörtherapie verweilt die Musik deutlich länger in den tiefen Tönen.
Hierdurch tritt sehr häufig eine Beruhigung und Zentrierung ein. Das zuvor häufig
stressbelastete Körpersystem mit Unruhe und Ängsten kommt zur Ruhe und entspannt
sich. Diese Wirkungsweise wird meist 3-5 Tage durchgeführt und ist die Basis für die
nun folgenden Schritte.
Es werden nun aus der Musik von Mozart im Verlauf von etwa einer Woche die tiefen
Töne nach und nach immer stärker herausgefiltert. Die Musik wird immer höhenbetonter. Dies gilt für die erste und dritte halbe Stunde der täglichen Hörzeit, in der zweiten
und vierten halben Stunde bleibt die Musik meistens wie zu Beginn der Hörtherapie
tiefenbetont.
Meistens muss man sich an diese veränderte Hörwahrnehmung gewöhnen. Manche
fühlen sich in dieser Zeit dünnhäutig und empfindsam, andere entspannen darunter
weiter. Im Prinzip ist diese schrittweise erfolgende Höhenbetonung auch wie eine Resonanzreise durch den Körper, denn subjektiv werden tiefe Töne unten im Körper und
hohe Töne weiter oben im Körper als Schwingung gespürt. Als Beispiel sei angeführt:
Wo spüren Sie den Klang eines lauten Basses? Richtig, im Bauch oder Becken. Und
was passiert, wenn Sie einen lauten, schrillen Ton hören, wie das Kreischen einer
Gabel auf dem Teller? Ja, jetzt ziehen Sie das Gesicht zusammen, Sie spannen damit
unwillkürlich ihren einen Mittelohrmuskel (Stapediusmuskel) heftig an, der versucht Sie
nämlich jetzt zu schützen vor diesem lauten unangenehmen Geräusch.
So durchwandern wir mit der Musikfilterung der verschiedenen Körperregionen und
dadurch können sich auch Spannungen in diesen Körperregionen lösen.
Nun sind wir mit der Mozartmusik im Frequenzbereich von 8000 Hz angekommen. Die
meisten Menschen fühlen sich darunter etwas mehr nach innen getragen. Manche beschreiben es auch als eine leichte Trance. Die Musik klingt wie von ganz weit her und
doch, gestärkt durch die Knochenleitung, wie tief in einem drin.
Manchmal werden Gefühle frei, die erst schwer greifbar und noch wenig in Worte zu
bringen sind. Und doch merkt man meistens deutlich, dass etwas in einem passiert.
Manche träumen mehr, manche haben Erinnerungsbilder aus früherer Zeit. Gerade in
dieser Phase kann das Malen eine große Hilfe sein, die Dinge zu verstehen, die in
einem angeregt sind. In einigen Bildern sehen wir in dieser Zeit immer wieder Formen
und Farben, die an die frühe Kindheit und besonders die vorgeburtliche Zeit erinnern.
Aufgrund der Vielzahl der Erfahrungen mit dieser hochgefilterten Musik kam Alfred
Tomatis und wir mit ihm zu der Erkenntnis, dass diese hochgefilterte Musik an die
frühen Resonanzerfahrungen als Embryo und Fetus im Bauch der Mutter erinnert.
Es ist aber keine bewusste Erinnerung, es ist eine subtile und manchmal auch deutlichere Erinnerung unseres Körpergedächtnisses. Diese Erinnerung hat vielfach eine
befreiende, wohltuende Wirkung. Manchmal kommen auch heftige Gefühle hoch, die
dann in den Gesprächen aufgefangen werden.
In Nachgesprächen zu diesem Hörabschnitt wird meist noch deutlicher, was passiert.
Jetzt lässt es sich besser in Worte bringen. Viele fühlen sich gestärkt, weniger ihren
Stimmungen unterworfen. Sie spüren sich intensiver und haben mehr Selbstvertrauen.
Sie können vor allem auch Dinge fühlen, die sie vor der Therapie nur verbal äußern
konnten. Viele Menschen können unter der Hörtherapie mehr Nähe zulassen, sie fangen an, mehr zu vertrauen und gleichzeitig werden sie selbstständiger. Mit anderen
Worten: Die Bereitschaft zu sicherer Bindung baut sich auf.
Bei Erwachsenen manchmal und bei Kindern häufig kann in diesen letzten Tagen des
ersten Hörabschnitts auch eine Aufzeichnung der Stimme der Mutter eingesetzt werden. Die Mutter liest eine halbe Stunde einen Text vor, den wir aufnehmen. Anschließend hören die Patienten diese Aufzeichnung mit dem Filter 8000 Hz. Die Stimme
klingt nun wie ein Gewisper. Sie ist inhaltlich nicht zu verstehen, aber die Klangfarbe,
die Melodie und der Rhythmus sind hörbar. Kinder werden nun häufig anhänglicher,
schmusiger, manchmal auch kleinkindhafter. Im Hörraum wollen sie auf die Matratze
und spielen auch mitunter, sie seien im Bauch der Mutter. Bei vielen heißt es: Der
Mund steht nicht mehr still, die Kinder plappern, dass es eine Freude ist. Sie erlangen
ihre fröhliche Unbefangenheit wieder.
Für Erwachsene läuft dieser Prozess naturgemäß meist stiller ab. Es kann eine große
Chance gerade auch für Menschen sein, die eine schwierige Mutterbeziehung hatten.
Sie fangen an, Erfahrungen aus den frühen Jahren, an die wir uns ja nicht direkt erinnern können, allmählich atmosphärisch besser greifen zu können.
2. und 3. Hörabschnitt:
Nach dem ersten Hörabschnitt folgt eine unterschiedlich lange Pause, je nach Alter,
Symptomen, Erkrankungen, Behandlungsmotiven und auch zeitlichen Möglichkeiten.
Die Hörpausen dienen der Integration, dem Reifen, Durchfühlen und Verstehen. Ein
Gespräch (im Fall der Erwachsenentherapie) in dieser Pause hat die Funktion einer
Nachbereitung, Stabilisierung und auch des Kontakt Haltens.
Im zweiten (und häufig auch dem dritten) Hörabschnitt führen wir viele Hörtherapiepatienten in individuellem Tempo wieder in die Welt des hochgefilterten Hörens. Manchmal dauert dies zwei, seltener bis zu fünf Tagen. Nun hört man wieder die hochgefilterte Musik. Die innere Reise geht weiter. Manchmal entsteht der Eindruck, dass Abschnitte des vorgeburtlichen Erlebens durchlaufen werden, nicht immer chronologisch.
Immer wieder klingen auch Fragen nach einem Lebenssinn, nach den eigenen Visionen oder einer „Bestimmung“ an. Die hochgefilterte Musik entspricht in ihrer Körperresonanz dem obersten Punkt am Schädel. Sie scheint einen Kanal für spirituelle Fragen
zu öffnen. Dies ist ganz und gar nicht als „ Esoterik“ miss zu verstehen. Große Psychologen wie C.G.Jung oder Yrvin Yalom sind der Ansicht, dass therapeutische Prozesse
bei Menschen ab der Lebensmitte nur dann wirklich weiterhelfen oder zu einem Kern
vordringen können, wenn auch diese Fragen gestellt werden: Wozu sind wir hier?
Ein nächster Schritt kann nun auch sein, dass wir mit dem Hören der eigenen Stimme
in der Hörtherapie beginnen. Dabei summt oder liest man in ein Mikrofon und hört die
eigene Stimme im gleichen Moment, in Echtzeit mit einer Aufhellung durch den Klangwandler. Wir hören unsere Stimme nun heller und im selben Augenblick verändert sich
unsere Stimme. Wir haben diese Effekte in vielen Seminaren bei den Teilnehmern
demonstriert und das Ergebnis ist immer wieder überraschend eindeutig: Mit einem
durch den Klangwandler veränderten Hören ändert sich sofort der Stimmklang. Dieser
Effekt ist meist für die Zuhörenden viel eindeutiger als für den Betroffenen selbst.
Was passiert da?
Wir erleben den Effekt der Zusammenhänge, auf die Alfred Tomatis zu Beginn seiner
Forschungen stieß: Den Regelkreis zwischen Stimme und Ohr. Diese Entdeckungen
fasste Tomatis in den Tomatis-Gesetzen zusammen. Sie wurden an der Pariser Universität, der Sorbonne, nachgeprüft und bestätigt. (Tomatis, Klang des Lebens).
Das erste Gesetz lautet:
Die Stimme enthält als Obertöne nur die Frequenzen, die das Ohr hört.
Das bedeutet: Hat man zum Beispiel als älterer Mensch eine Abnahme der Hörfähigkeit der hohen Töne, also eine Alterschwerhörigkeit, dann fehlen diese Frequenzen
auch in der Stimme bzw. sind sie vermindert.
Wenn wir nun in der Hörtherapie einen Menschen mit Altersschwerhörigkeit summen
oder lesen lassen, so hört sein Ohr durch den Klangwandler wieder besser und sofort
tauchen die verminderten hohen Töne wieder auf. Durch diese Übungen wird das Hörvermögen für die hohen Frequenzen trainiert, die Stimme vitalisiert sich und auch das
Selbstwertgefühl kann sich steigern.
Tomatis hat mit seiner
Methode auch großen
Sängerinnen wie Maria
Callas oder Schauspielern wie Gerard Depardieu weiterhelfen können.
4. Hörabschnitt
Manchmal wird im Rah- Abbildung 7 Alfred Tomatis und Maria Callas
men des Hörprozesses
eine unbewusste Bereitschaft erkennbar, geboren zu werden. Etwas möchte ins Leben
kommen. Bei Kindern kann sich dies dadurch bemerkbar machen, dass sie selbstständiger, unabhängiger von ihren Eltern geworden sind und sich jetzt Dinge zutrauen, die
vor der Hörtherapie nicht möglich erschienen. Manchmal zeigt sich diese Bereitschaft
auch in Träumen oder Bildern, die in der Hörtherapie gemalt werden.
Ein Beispiel aus der Hörtherapie eines 10-jährigen Jungen:
Der Junge kam zur Hörtherapie aufgrund einer Aufmerksamkeitsschwäche, ausgeprägten Lese/Rechtschreibschwäche und Kontaktschwierigkeiten. Unter dem Hören
der Mutterstimme wurde er wesentlich selbstbewusster und offener. Seine Rechtschreibleistungen hatten sich innerhalb kürzester Zeit sprunghaft verbessert von ca.
20 Fehlern auf 2-3 Fehler im Diktat. Im 3. Hörabschnitt baute er spontan beim Hören
die abgebildete Figur aus Duplosteinen. Man sieht ihn im ersten Bild stolz vor der Figur
sitzen. Im zweiten Bild sieht man auf die Rückseite der Figur: In Bauchhöhe hat er
einen Fensterstein mit einer kleinen Figur darin sitzend eingebaut! Direkter kann wohl
das Leben im Bauch der Mutter nicht gezeigt werden! Und dann im dritten Bild sieht
man, dass der Junge noch eine Treppe nach unten dran setzte, die durch einen Torbogen führt. Wohlgemerkt, dies ist im spontanen Spiel entstanden. Der Junge hat
nachgebaut, was die gefilterte Mutterstimme in seinem Inneren anklingen lies. Und er
zeigte mir weiter: Jetzt ist er bereit, innerlich den Geburtsprozess zu erleben. Die herabführende Treppe entspricht der Geburt, dem Weg heraus aus seinem Mutterbauch,
der durch den Torbogen führt, der die Enge des Geburtskanals symbolisiert.
Was heißt das nun, eine Geburt im Rahmen der Hörtherapie?
Wir nennen diesen Abschnitt die „akustische Geburt“. Bei der realen Geburt läuft mit
dem ersten Schreien und Schlucken die Flüssigkeit, die sich im Mutterleib hinter dem
Trommelfell, also im Mittelohr, befand, heraus. Im Mutterleib war das Hören über das
Fruchtwasser sehr dumpf, über den Knochen höhenbetont hell.
Jetzt, mit der Geburt, wird aus der Wasserleitung eine Luftleitung. Das Baby lernt allmählich, seine kleinen Mittelohrmuskeln zum ersten Mal in seinem Leben anzuspannen. So erschließt sich allmählich der Weg des Hörens über die Luftleitung mit dem
vollen Klang aller hörbaren Frequenzen. Diesen großen akustischen Schritt und Wechsel können wir bei der akustischen Geburt nachvollziehen, indem in die hochgefilterte
Musik von Mozart und der Mutterstimme die tiefen Töne im Verlauf einer Reihe von
Tagen immer mehr eingeblendet werden. Man kommt also mit dem immer stärkeren
Auftauchen der tiefen Tön im übertragenen Sinn auf die Erde, auf den Boden der tiefen
Töne. Die Stimme der Mutter wird immer klarer und ist jetzt am Ende verstehbar.
Wir haben nun eine große Reise gemacht von den ersten Höreindrücken im Mutterleib
hin zum Hören der Mutterstimme oder auch dem Hören der eigenen Stimme und mit
der akustischen Geburt sind wir in der Welt angekommen. Für Erwachsene kann dies
auch bedeuten, dass ein neuer seelischer Inhalt, eine neue Erfahrung real wird und
besser ins Leben kommen kann. Manchmal rundet sich hiermit die Hörtherapie ab.
Der Kreis ist geschlossen. Manchmal will die Reise aber auch noch weiter gehen.
Es ist nun unbedingt wichtig, hervorzuheben, dass diese akustische Geburt keinesfalls
immer im 4. Hörabschnitt erfolgt und schon gar nicht bei jedem durchgeführt werden
muss. Ob und wann dieser Schritt sinnvoll und gewünscht ist, ist immer absolut individuell zu entscheiden.
Gegebenenfalls 5. Hörabschnitt (und etwaige weiter Hörabschnitte):
Im 5. Hörabschnitt tauchen wir stärker ein in das nachgeburtliche Hören. Die für die
Kommunikation so wichtigen „prosozialen“ Frequenzen, die wir brauchen, um Sprache
zu verstehen, werden hervorgehoben.
Inhaltliche Themen können gerade auch das Kontaktverhalten und die Beziehungsbereitschaft sein.
Intensiviert wird häufig das Hören der eigenen Stimme. Häufig wird nun in ein Mikrofon
gesungen, zum Beispiel gregorianische Tonfolgen und anderes mehr. Diese aktive
Arbeit mit der eigenen Stimme kann den Selbstausdruck fördern und so den krönenden Abschluss der Hörtherapie bilden.
Literatur:
Bauer, J. (2008): Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Gene unser
Leben steuern. München: Piper
Beckedorf D., Müller F. (2010): Vom der Resonanz zur Bindung. Förderung von
Wahrnehmung und Bindung durch die Systemische Hörtherapie. Berlin: Ulrich
Leutner
Porges S. (2010): Die Polyvagaltheorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Paderborn: Junfermann
Roth, G. (2014): Wie das Gehirn die Seele macht. Stuttgart: Klett-Cotta
Spitzer, M. (2007): Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im
neuronalen Netzwerk, Stuttgart: Schattauer
Tomatis, A.A. (1995): Der Klang des Lebens. Hamburg: Rowohlt
Tomatis, A. A. (1989): Vertiges. Neuilly: Ergo-Press
Tomatis, A.A. (1987): L´Oreille et la Voix. On chante avec son Oreille. Paris: Robert
Laffont, S. 138
Herunterladen