Thomas Malsch Die Provokation der “Artificial Societies”

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Thomas Malsch
Die Provokation der “Artificial Societies”
Ein programmatischer Versuch über die Frage, warum die Soziologie sich mit den Sozialmetaphern der Verteilten Künstlichen Intelligenz beschäftigen sollte
Erschienen in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 26, Heft 1, Februar 1997, S. 3-21
Zusammenfassung
Fast unbemerkt von der Soziologie haben soziale Metaphern und soziologische Konzepte in
den Forschungsarbeiten der “Verteilten Künstlichen Intelligenz” (VKI) eine immer gewichtigere Rolle zu spielen begonnen. Inzwischen wird sogar der Anspruch erhoben, die Soziologie
computerwissenschaftlich zu fundieren und zur Lösung soziologischer Grundfragen beizutragen. Viele Soziologen werden das als Provokation empfinden. Ich schlage vor, diese Provokation zum Anlaß zu nehmen, um in zwei Richtungen weiter zu fragen: Aus allgemeiner Sicht
bietet es sich an, die von der VKI bereitgestellten Mittel zu nutzen, um die Debatte über die
Formalisierbarkeit soziologischer Theorien neu zu eröffnen. Dabei darf man es freilich nicht
bewenden lassen, denn nichts wäre unergiebiger als ein ritueller Schlagabtausch um die soziologische Angemessenheit von Modellen der VKI, der die altbekannten Argumente bloß wiederholt und in festgefahrenen Fronten endet, noch ehe die Diskussion überhaupt begonnen hat.
Um die konventionellen Argumente zu unterlaufen, ist jenseits der angeblichen sozialwissenschaftlichen (Un)zulänglichkeit der Metaphern anzusetzen und zu untersuchen, ob sich die offenkundige Repräsentationsschwäche vielleicht als die heimliche Kreationsstärke der VKI entpuppen könnte. Damit fragen wir nach dem Innovationspfad der “Metaphernmigration”, der
schrittweisen Transformation von Sozialmetaphern in Technik. Aus techniksoziologischer
Sicht geht es dann nicht mehr um die soziologische Angemessenheit der VKI-Modelle, sondern
um die technologische Exploitierbarkeit sozialer Metaphern und soziologischer Konzepte für
die Entwicklung verteilter Computersysteme. Das aber kann, wenn die Metaphernmigrationsthese stimmt, nicht ohne Rückwirkungen auf die soziologische Theoriebildung bleiben.
Summary
Almost unnoticed by mainstream sociology, social metaphors and sociological concepts have
begun to play a role of ever growing importance within the new research field of “Distributed
Artificial Intelligence” (DAI). Meanwhile, DAI models are even claimed to provide adequate
theoretical foundations for sociology and to contribute to basic sociological issues such as the
unresolved problems of the micro-macro link. Many sociologists will reject such claims as an
unacceptable provocation. I suggest to use this provocation as a chance for probing into two
directions of further investigation: In a more general perspective we should reopen the debate
on formalization by taking advantage of the new means and methods provided by recent DAI
research. However, there would be nothing less interesting than to end up repeating the well
known arguments about the alleged sociological (in)adequacy of formal (DAI-)models and to
reach deadlock before the discussion has even begun. Instead of just teasing out sociological
inadequacies, we should from a perspective of SST (Sociology of Sciences and Technology)
try to construe social metaphors as sources of inspiration for inventing new technology. In so
doing we become aware of a path for technological innovation, which could be called
“metaphors’ migration”: social metaphors and sociological concepts have a high potential for
being exploited by DAI and must be considered as a creative force to construct new systems of
distributed computation. If the thesis of “metaphors’migration” proves to be right, this cannot
be without consequences for building sociological theory.
I.
Kann die Technik von der Gesellschaft lernen? Ist es möglich, Anregungen aus der sozialen
Welt und ihren Interaktions- und Organisationssystemen aufzugreifen, um daraus intelligente
Computertechnologien zu entwickeln? Das sind Fragen, die zunächst reichlich exotisch klingen
und bei einem unvoreingenommenen Leser ungläubiges Staunen, wenn nicht unwilliges Kopfschütteln hervorrufen dürften. Und dennoch beginnt sich seit einigen Jahren im Grenzgebiet
zwischen Soziologie und “künstlicher Intelligenz” (KI) eine neue Forschungsrichtung zu entwickeln, die solche Fragen stellt und erste Antworten zu geben versucht: die “Verteilte Künstliche Intelligenz” (VKI). Für Soziologen, die sich seit Max Weber angewöhnt haben, den Zusammenhang von Technik und Gesellschaft in völlig entgegengesetzter Blickrichtung zu konzeptualisieren, nämlich als Umwandlung der Gesellschaft nach dem Vorbild technischer Rationalität oder, seit Habermas, als Kolonialisierung der Lebenswelt durch wuchernde Subsysteme
instrumentellen Handelns, müssen solche Fragen fremdartig bis provozierend klingen. Für
Techniksoziologen jedoch, die sich seit der durch Bloor 1976) eingeleiteten Wende der Wissenschaftssoziologie mit dem kontraintuitiven Gedanken der sozialen Konstruiertheit technischer Artefakte vertraut gemacht haben, eröffnet sich eine Perspektive von hochinteressanten
“sozionischen” Anschlußfragen.
Diese Forschungsperspektive zu erschließen, ist das Anliegen des vorliegenden Beitrags. Dabei
handelt es sich um programmatische Überlegungen vorläufigen und tentativen Charakters: Absichtserklärungen werden formuliert, aber nicht eingelöst; wo man genauere Ausführungen
erwartet hätte, bleibt es bei Andeutungen; und es werden viele Fragen gestellt, aber nur wenige
werden beantwortet. Angesichts des unüblichen Themas könnte man der hier gewählten explorativen Darstellungsform freilich zugute halten, daß sie eher als ihre konventionelleren Alternativen geeignet ist, erste Schritte auf unbekanntem Gelände zu wagen. Mit meinem Beitrag
möchte ich zeigen, daß es sich lohnt, dies zu tun und die Provokation der VKI soziologisch
ernstzunehmen. Es gilt über die Möglichkeiten einer “Sozionik” (Malsch 1995, Malsch et al.
1996) nachzudenken, in der Soziologie und Technik eine neuartige, kreative Verbindung eingehen. Wenn man dazu bereit ist und einen zweiten Blick riskiert, kann man sehen, daß die
Bionik ganz ähnlich verfährt: Biologie und Technik unternehmen gemeinsame Anstrengungen,
um biologische Vorbilder und Phänomene des natürlichen Lebens für ihre technischen Entwicklungen zu nutzen.
Wenn man sich weiterhin vor Augen führt, daß die Genetik ohne den Informationsbegriff, den
sie ja ebenfalls aus einem völlig anderen Kontext übernommen hat, völlig undenkbar wäre, und
daß selbst die Soziologie, beispielsweise die Luhmannsche, geradezu davon lebt, daß sie fremde Begriffe wie “binäre Codierung” oder “Autopoiesis” metaphorisiert, indem sie diese aus
ihren informationswissenschaftlichen oder biologischen Entstehungskontexten herauslöst und
als Bausteine benutzt, um sie dem eigenen soziologischen Begriffsapparat einzuverleiben und
eine neue “Theoriebautechnik” zu begründen, dann verflüchtigt sich die exotische Aura der
Frage, ob die Technik von der Gesellschaft lernen kann. Dann verweisen diese sehr unterschiedlichen Beobachtungen auf ein gemeinsames Innovationsmuster: auf den Innovationspfad
der “Metaphernmigration”. Ausgehend von ersten Vorüberlegungen zur Metaphernmigration
werden wir im weiteren die VKI vorstellen und ihr Verhältnis zur Soziologie mit Blick auf das
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Problem der Formalisierbarkeit des Sozialen diskutieren (freilich ohne schon einen befriedigenden Lösungsvorschlag präsentieren zu können), um dann wieder zur Metaphernmigrationsthese zurückzukehren und weiterführende Präzisierungen vorzuschlagen.
II.
Metaphern sind nicht bloß als übertragene, “literarische” Wortbedeutungen, sondern mehr
noch wegen ihrer kreativen Leistungen und ihrer Erfindungskraft interessant. Darauf wird neuerdings immer nachdrücklicher und zwar vor dem Erfahrungshintergrund sehr verschiedenartiger fachwissenschaftlicher Diskurse hingewiesen (Joerges 1977, Sacks 1979, Krämer 1990,
Nolan 1992, Paton 1994, Keller 1995, Maasen/Weingart 1995). Wie das geschieht und was da
genau passiert, wenn Metaphern zu wissenschaftlichen oder technischen Innovationen umgearbeitet werden, ist dagegen eine noch weitgehend ungeklärte Frage. In erster Annäherung an
unser Thema ist davon auszugehen, daß sich Metaphernmigrationen in mehreren Schritten
vollziehen: Begriffe werden metaphorisiert, d.h. aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und in neuen Bedeutungszusammenhängen “im übertragenen Sinne” verwendet (z.B.
soziale Kooperation oder Rollenerwartung im Diskurs der VKI); die derart entstandenen Metaphern werden nach Maßgabe ihres neuen Verwendungskontextes zu neuen wissenschaftlichen Begriffen oder Paradigmen umgearbeitet; die neuen Theorien und Begriffe werden zu
technologischen Innovationen weiterentwickelt (z.B. zu Multiagenten-Systemen der VKI); die
technologischen Innovationen werden als Computerprogramme implementiert. Aus technikgenetischer Sicht interessieren hier vor allem die besonders prekären Schritte der technologischen
Innovation und der Implementierung. Gleichwohl ist die ganze Innovationskette zu beachten.
Wenn man bedenkt, daß der Innovationspfad der Metaphernmigration auf jeder seiner Etappen
scheitern kann, daß erfolgreiche Metaphernmigration eine höchst unwahrscheinliche Angelegenheit ist, daß auf vorausgehenden Etappen möglicherweise weitreichende Vorentscheidungen über die nachfolgenden Schritte des Innovationspfads getroffen werden, dann darf man
sich nicht auf die Untersuchung der letzten Migrationsschritte beschränken, sondern muß die
Transformation von Sozialmetaphern in der VKI im Ganzen untersuchen.
Mit der Frage nach den Sozialmetaphern in der VKI betreten wir Neuland. Man kann das nicht
konstatieren, ohne der bisherigen soziologischen Forschung, die sich unter Aufbietung nicht
eben geringer politischer, finanzieller und intellektueller Ressourcen von Coulter 1979) bis
Collins 1995) mit der KI auseinandersetzte, zugleich ein arges Versäumnis vorhalten zu müssen. Denn das Gros der KI-interessierten Soziologen hat die VKI und ihre soziologische Herausforderung schlichtweg verschlafen. Das ist umso erstaunlicher, als sich die Entstehung der
VKI ab 1980 gleichsam unter den argwöhnischen Augen von Soziologen abspielte, die zeitgleich begannen, sich der kognitionswissenschaftlichen Herausforderung durch die klassische
KI zu stellen. Dabei hätte sich die soziologisch inspirierte VKI durchaus als Bündnispartner im
Streit mit dem kognitivistischen Paradigma des klassischen “mainstream” der KI angeboten.
Dies zur Kenntnis zu nehmen hätte für die Soziologie dann freilich bedeutet, sich mit einer viel
ernsthafteren, das soziologische Selbstverständnis im Innersten berührenden Herausforderung
auseinandersetzen zu müssen. Auffällig ist jedoch, daß die Soziologen, indem sie in der lärmenden Hauptströmung der offiziellen KI mitschwammen, ohne den stilleren Nebenarm der
VKI zu bemerken, sich in die erkenntnistheoretische, sprachphilosophische, phänomenologische KI-Kritik von Dreyfus, Searle, Haugeland u.a. unauffällig einreihten, ohne daß es ihnen
gelingen wollte, ein spezifisch soziologisches Erkenntnisinteresse hinreichend kenntlich zu machen. Warum das nicht gelang und warum diese ungleich wichtigere Auseinandersetzung unterblieben ist, läßt sich hier nicht abschließend klären. Jedenfalls kann man die wohlfeile Ausrede, daß Reizworte wie “Artificial Social Systems” oder gar “Artificial Societies” erst seit zwei
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oder drei Jahren zu zirkulieren begonnen haben, nicht gelten lassen. Denn die Herausforderung
der VKI liegt seit Ende der 80er Jahre unübersehbar auf dem Tisch.
Dabei sieht sich die Soziologie auf dreifache Weise herausgefordert: als Konkurrentin, als Kooperationspartnerin und als Beobachterin. Als Konkurrentin hat sie sich mit der theoretischen
Frage auseinanderzusetzen, ob die Versuche der VKI, gesellschaftliche Zusammenhänge als
Computerprogramme zu modellieren, gemessen an den (“soziologiereferentiellen”) Kriterien
soziologischer Theoriebildung akzeptiert werden können, und inwieweit dies überhaupt möglich ist und vor allem: ob dies möglich ist, ohne unterstellen zu müssen, die Gesellschaft funktioniere wie ein Computerprogramm oder wie ein Netzwerk von Computern. Als Kooperationspartnerin kann sie gemeinsam mit der VKI die praktische Aufgabe angehen, soziologische
Konzepte zu simplifizieren und zu formalisieren, und dabei zu prüfen, wieweit das Arbeitsergebnis entweder für Soziologen oder für VKI-ler (oder für beide?) neue Erkenntnisfrüchte abwirft. Als Beobachterin ist sie zu strenger Neutralität gegenüber den Erkenntnisansprüchen der
VKI verpflichtet und hat empirisch zu beschreiben, wie die VKI soziale Alltagsvorstellungen
oder soziologische Konzepte aufgreift und verarbeitet, in welcher Terminologie sie ihr eigenes
Vorgehen beschreibt und nach welchen (“VKI-referenziellen”) Kriterien sie ihre eigenen Arbeitsergebnisse bewertet. Dies ist die im weiteren einzunehmende Perspektive, in der man sich
zuallererst davor zu hüten hat, die metaphorische Zweckentfremdung soziologischer Begriffe
durch die VKI als “Mißverständnis” zu beklagen, so wie man sich mit Maturana völlig zurecht
über Luhmanns mißbräuchliche Verwendung des Maturanaschen Begriffs der Autopoiesis beschweren mag, und gerade deshalb den entscheidenden Punkt verfehlt. Erst wenn wir diese
Maxime beherzigen und auf wohlbegründete Klagsamkeit verzichten, können wir als Soziologen zu verstehen versuchen, welche Bedeutung die Sozialmetaphorik in der VKI hat.
III.
Die VKI (DAI, Distributed Artificial Intelligence) ist ein jüngerer Forschungszweig der KI, der
vor etwa fünfzehn Jahren in den USA entstanden ist. In der VKI-Gemeinschaft beschäftigt man
sich mit der Frage, wie es möglich ist, technische Systeme zu entwerfen und herzustellen, die
sich am Vorbild sozialer Systeme orientieren. Man tut dies erst in zweiter Linie deshalb, weil
man begreifen möchte, wie menschliche Gesellschaften funktionieren. In erster Linie ist man
auf der Suche nach allgemeinen, computertechnisch verwertbaren Funktionsprinzipien der
Komplexitätssteigerung, die es ermöglichen, die Begrenzungen zentraler Kontrollarchitekturen
zu überwinden. Die Stichworte dazu heißen Parallelität, Verteiltheit, Dezentralität, Kooperation, Emergenz. Dabei ist das “Urproblem”, das die VKI-Forschungen ausgelöst hat und bis
heute antreibt, beileibe kein sozialwissenschaftliches, sondern ein genuines Problem der klassischen KI. Es ist das Unentscheidbarkeitsproblem der Deduktionslogik: Was geschieht, wenn
zwei in sich geschlossene “Mikrotheorien”, die beide gleichermaßen das Recht der Deduktionslogik auf ihrer Seite haben, zu konträren Ergebnissen kommen? Dieser Widerspruch ist
logisch unentscheidbar und läßt sich nur durch Verhandlung auflösen und das wiederum erklärt, warum “Verhandlung” die erste Sozialmetapher ist, die Prominenz erlangte (Davis/Smith
1983). Es geht der VKI also darum, die Grenzen von individueller maschineller Intelligenz
durch Techniken des verteilten Problemlösens, der Multiagenten-Systeme, der offenen Systemarchitekturen u.ä. zu überschreiten und leistungsfähige Programme zu entwickeln, die auf
Prinzipien einer kooperativen, aushandlungsfähigen und sozialen Intelligenz beruhen. Weil sich
solche Prinzipien aber nicht aus der unmittelbaren Anschauung des Computers allein ergeben,
gehört es nach Auffassung der “DAI community” zu ihrem eigenen Kerngeschäft, über den
Tellerrand der Computerwissenschaften hinauszublicken und sich von den Organisations- und
Sozialwissenschaften, die an ähnlichen Fragen arbeiten, anregen zu lassen. Daher hat die VKI
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nach ihrem eigenen Bekunden nicht nur ein starkes Interesse am interdisziplinären Diskurs,
sondern versteht sich selbst als eine Forschungsrichtung, die ein massives Interesse daran hat,
soziale Zusammenhänge zu verstehen. Dies wird in allen einschlägigen Veröffentlichungen und
Sammelbänden und nicht zuletzt auch in dem von Bond und Gasser herausgegebenen Dokumentationsband, der sogenannten “Bibel” der VKI (Bond/Gasser 1988), nachdrücklich betont
und als Leitmotiv herausgestellt.
Zwischen dem zukunftsweisenden Leitmotiv der interdisziplinären Erforschung emergenter
Kooperation und dem heutigen “state of the art” der technischen Entwicklung funktionsfähiger Multiagenten-Systeme besteht ein unverkennbares Spannungsverhältnis, und dieses Spannungsverhältnis ist das Thema, das aus techniksoziologischer Perspektive besonders interessant
ist. Innerhalb der “DAI-community” artikuliert sich dieses Spannungsverhältnis in Gestalt von
zwei verschiedenen Forschungs- und Entwicklungsinteressen: Das theoretische
(Erkenntnis)Interesse der VKI besteht darin, soziale Kooperationsprozesse sogenannter autonomer Agenten zu verstehen und auf dem Computer nachzubauen, d.h. computerwissenschaftlich zu klären und zu erklären. Damit macht sie der Soziologie ein starkes Kooperationsangebot, tritt aber zugleich als Konkurrentin auf den Plan. Das praktische (ingenieurtechnische)
Interesse besteht darin, neuartige verteilte Systeme zu entwickeln, die die Mängel der klassischen KI überwinden und zur softwaretechnischen Erschließung der noch ungenutzten Potentiale einer neuen Generation von Parallelrechnern beitragen sollen. Dabei ist man sich in der
“DAI-community” weitgehend einig, daß beides zusammengehört und daß zwischen den theoretischen Erkenntniszielen und den ingenieurtechnischen Entwicklungszielen ein enger Zusammenhang besteht. Einigkeit besteht weitgehend auch darin, daß die VKI mit Blick auf ihre beiden Ziele vor einem ungelösten “Gesellschaftskonstruktionsproblem” (Müller 1993) steht, und
daß die von der klassischen KI bereitgestellten Konzepte nicht ausreichen, um die Fragen der
Kooperationsfähigkeit verteilter Intelligenz zu beantworten und leistungsfähige technische Systeme zu entwickeln. Offen und ungeklärt bleibt insbesondere die Frage, wie das
“Gesellschaftskonstruktionsproblem” zu lösen ist und ob und wie man zur Lösung des Problems auf Sozialmetaphern, auf Alltagsvorstellungen des Sozialen oder sogar auf soziologische
Konzepte zurückgreifen kann.
Ein Rückblick auf die Anfänge der VKI macht die Relevanz dieser Fragestellung deutlich. Damals machte Carl Hewitt, einer der Pioniere der VKI, in seinem Aufsatz zum “message passing” frei nach G.H.Mead den Vorschlag, die Bedeutung einer Mitteilung an der Reaktion festzumachen, die sie beim Addressaten auslöst (Hewitt 1977), und technologische Systeme der
KI als verteilte und parallele Systeme nach dem Vorbild einer sozialen Gemeinschaft von
gleichberechtigt kooperierenden Wissenschaftlern zu konzipieren. Dieser Vorschlag wurde
unter dem heute sprichwörtlich gewordenen Titel der “scientific community metaphor”
(Kornfeld/Hewitt 1981) veröffentlicht, und damit begannen die Sozialmetaphern in den Computerwissenschaften ihren Einzug zu halten. Seither ist die Gesellschaftsmetapher in der VKI
untrennbar mit der Idee verbunden, die Begrenzungen der “closed world assumption” und der
“microtheories” der klassischen KI durch die Entwurfsprinzipien von “open systems” und sozialer Kooperation (Hewitt 1986) zu überwinden. Besonders bemerkenswert aber ist die Tatsache, daß die Sozialmetaphern auch außerhalb der VKI in anderen Zweigen der KIForschung, vor allem im Konnektionismus und neuerdings auch in der Artificial LifeForschung, auf Resonanz stießen. So warnte Minsky in seiner “Society of Mind” (Minsky
1986), beeindruckt vom frischen Wind der konnektionistischen Ideen, die damals aufkamen
und die Debatte neu belebten, eindringlich vor dem methodologischen Individualismus der
klassischen KI. Stattdessen schlug er vor, Intelligenz als emergentes Phänomen zu konzipieren,
das aus der Konnektivität vieler subintelligenter Elemente entsteht. Währenddessen gelangte
die Arbeitsgruppe um Holland auf einem ganz anderen Wege zur Modellierung sozialer Wel5
ten, nämlich über die Auseinandersetzung mit dem Induktionsproblem und der Entwicklung
von induktiven Modellen, mit denen die Entdeckung naturwissenschaftlicher Gesetze simuliert
werden sollte (Holland et al. 1987).
Diese Arbeiten dürften resonanzverstärkend auf die VKI zurückgewirkt und der Konjunktur
der Sozialmetaphern in den 90er Jahren weiteren Auftrieb gegeben haben. Was den Resonanzboden der Sozialmetaphern betrifft, ist damit zwar einiges klarer geworden, aber die grundsätzliche Frage, worin das Interesse der VKI an sozialen Metaphern wie “scientific community”, “negotiation”, “role expectation” etc. besteht, harrt noch immer einer Antwort. Dem
Rückgriff auf Sozialmetaphern liegt die Erwartung zugrunde, gesellschaftliche Funktionsprinzipien softwaretechnologisch exploitieren zu können. In der Tat stellt die Gesellschaft mit ihren
Interaktions- und Organisationssystemen eine erstrangige Ressource für die Entwicklung paralleler Algorithmen und verteilter Multiagenten-Systeme dar, wie sie u.a. für die künftige
multimediale Applikationssoftware (“Informationsagenten”) in Internet und World Wide Web
benötigt werden (Florian 1996). Soziale Systeme scheinen über genau die Eigenschaften zu
verfügen, die von den weltweiten kommunikationstechnischen Netzwerken der Zukunft verlangt werden. Soziale Systeme gelten als besonders robust und fehlertolerant, denn sie verfügen über enorme Fähigkeiten der Selbstreparatur und der Selbstevolution, und das macht sie
für technologische Unternehmen wie die VKI so interessant und attraktiv. Daher ist zu erwarten, daß die heute in und außerhalb der VKI zu beobachtenden Anstrengungen, aus der Kombination von sozialwissenschaftlichen und computerwissenschaftlichen Ansätzen neue Technologien zu entwickeln, erst am Anfang stehen. Hier befindet sich die VKI offenbar in einer
ähnlichen Lage wie die neuen “kombitechnologischen” (Jonas et al. 1995) Forschungsgebiete
Bionik, Artificial Life, Neuroinformatik, Bioinformatik etc., denen ein enormes technisches
Entwicklungspotential attestiert wird. Auch hier scheint das Phänomen der Metaphernmigration eine unübersehbare Rolle zu spielen, wobei man sich an biologischen Vorbildern und Begriffen orientiert: vom Gehirn über den Insektenstaat bis hin zum Evolutionsbegriff. Wenn dies
zutrifft und der VKI eine ähnliche Zukunft bevorsteht wie den biologisch ausgerichteten Kombitechnologien, dann dürfte das technologisch motivierte Interesse an den Sozialmetaphern in
den kommenden Jahren noch beträchtlich zunehmen.
Eine Durchsicht neuerer Veröffentlichungen scheint diese Einschätzung zu bestätigen. So hat
die Bereitschaft, am Vorbild tierischer oder menschlicher Gesellschaften zu lernen und intelligente Computersysteme nach dem Muster sozialer Kooperation zu bauen, in den 90er Jahren
weit über die Fachgrenzen der VKI hinaus in der gesamten “AI community” ihre Wurzeln geschlagen und beträchtlich an Einfluß gewonnen (Gasser 1992, Bibel 1995, Staniford/Paton
1995, Wooldridge/Jennings 1995). Inzwischen beschränkt man sich nicht mehr nur darauf, von
der Gesellschaft lernen zu wollen, sondern verfolgt das ehrgeizige Ziel, Algorithmen für ganze
Gesellschaftsstrukturen auszuarbeiten und künstliche Gesellschaften (Gilbert 1991, Burkhard
1993, Radermacher 1995) zu entwerfen. Tagungsbände mit programmatischen Titeln wie
“Simulating Societies” (Gilbert/Doran 1994), “Artificial Social Systems” (Castelfranchi/Werner
1994) und “Artificial Societies” (Gilbert/Conte 1995) unterstreichen diesen Anspruch. Dabei
scheint man sich mehr und mehr der Tatsache bewußt zu werden, daß man es bei der Modellierung von Multiagenten-Systemen zugleich mit einem zentralen Problem soziologischer Theoriebildung zu tun hat: dem “micro-macro link” zwischen gesellschaftlichem Handeln und Sozialstruktur. Unter Verweis auf Arbeiten von Alexander, Giesen, Münch und Smelser (Alexander
et al. 1987) führen Conte und Castelfranchi folgendes aus: “AI is required in the treatment of
the well-known problem of the micro-macro link. Only by representing (either formally or experimentally) agents’ internal mechanisms, interactions and global functions can we have a
chance to solve this problem in a non-speculative way. On the other hand, in order for AI to
provide a significant contribution, and deal with issues of social theory in a non-naive way, it
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must be able to handle social science’s typical puzzles and relevant data, and closely approach
existing theories.” (Conte/Castelfranchi 1995, S. vi) Das mag in soziologischen Ohren provozierend klingen. Und wenn man dann noch lesen muß, daß Hewitt das ehrgeizige Ziel verfolgt
“to accomplish the task of providing adequate foundations for Sociology” (Hewitt 1991: 100),
dann ist das in der Tat starker Tobak. Aber wir sollten uns weder zu vorschnellem Urteil hinreißen lassen noch unter Verweis auf längst erledigte soziologische Kontroversen müde abwinken. Stattdessen kommt es darauf an, genau hinzuhören. Man muß schon auf Zwischentöne
achten, um die feinen Unterschiede bemerken zu können, die zwischen naiver Anmaßung und
wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit bestehen.
Wenn wir das tun, stoßen wir auf einen bemerkenswerten Unterschied im Metapherngebrauch
der VKI: auf den Unterschied zwischen gesellschaftlichen Alltagsvorstellungen und soziologischen Begriffen. In den Publikationen der VKI werden soziale Metaphern zumeist naiv
(Computerlinguisten würden sagen: natürlichsprachlich) verwendet, d.h. man greift auf alltagssprachliche Vorstellungen des Sozialen zurück, ohne sich mit der Anstrengung sozialwissenschaftlicher Begriffsbildung zu beschweren. Demgegenüber ist der Rekurs auf soziologische
Theoriebegriffe eher die Ausnahme. Auch hier war es Ende der 70er Jahre zunächst wiederum
Carl Hewitt, der in Zusammenarbeit mit Soziologen wie Gerson und Star die Weichen in
Richtung Soziologie stellte, und im Anschluß an Hewitt war es vor allem Les Gasser, der ab
Mitte der 80er Jahre die “Sozionisierung” programmatisch vorantrieb und auf eine soziologische Fundierung der VKI hinarbeitete. Die techniksoziologische Bedeutung des Programms
einer soziologischen Grundlegung der VKI liegt meines Erachtens darin, daß sie von ihren
Protagonisten primär technologisch legitimiert wird. Diese ist nämlich nicht primär durch soziologische Erkenntnisinteressen motiviert. Es geht hier nicht in erster Linie darum, Gesellschaft zu erklären, sondern es geht vor allem darum, neuartige Computertechnologien zu erfinden und bessere Softwaresysteme zu bauen. Dazu muß man wissen, daß die VKI bei der Modellierung von sehr großen (“large scale”) Multiagenten-Systemen, wie sie für “real world
applications” benötigt werden, vor schier unlösbaren Komplexitätsproblemen steht. Das zentrale Argument der von Gasser so energisch verfochtenen Position lautet nämlich: ohne soziologische Fundierung kein substantieller Fortschritt in der VKI und somit auch kein technologischer Durchbruch zu “large-scale open systems” (Gasser 1991). Das ist offenkundig das glatte
Gegenteil von dem, was Hewitt, Castelfranchi und Conte mit ihrer Idee einer computerwissenschaftlichen Fundierung der Soziologie leisten wollen. Für Techniksoziologen, die sich für die
innovative Kraft von Sozialmetaphern interessieren, ist Gassers These zweifellos das interessantere Studienobjekt.
IV.
Gegenüber den Ansprüchen und Vorschlägen der “DAI community” werde ich versuchen, zugleich eine kritische Position und die Rolle des neutralen Beobachters einzunehmen. Das gilt
sowohl für das starke “sozionische” Paradigma von Gasser und Hewitt als auch für schwächere
Varianten, die frei von soziologischen Ambitionen mit vorgefundenen sozialen Alltagsvorstellungen operieren. Aus dieser gegenüber den wissenschaftlichen Wahrheits- sowie den technischen Wirksamkeitsansprüchen des “Feldes” zugleich unparteiischen wie kritischen Perspektive
interessieren die folgenden programmatischen Fragen: Wie wird in den Veröffentlichungen der
VKI auf Sozialmetaphern Bezug genommen? Welche (vermeintliche, faktische oder potentielle) Relevanz haben soziale Alltagsvorstellungen und soziologische Begriffe in der Außendarstellung und im technologischen Innovationsprozeß der VKI? Und andersherum, nämlich aus
der ingenieurtechnischen Perspektive gefragt: Welche technischen Innovationen hat die VKI
bisher hervorgebracht und wie wurden sie erzeugt? Wie greifen die (gesellschafts)theoretischen
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und (ingenieur)praktischen Interessen der VKI ineinander? In welchem Sinne beanspruchen
Vertreter der VKI wie Hewitt oder Castelfranchi, soziologische Konzepte oder soziale Systeme mit ihren Mitteln angemessen modellieren zu können? Oder um die Frage provokant zuzuspitzen: In welchem Sinne meinen sie die Soziologie belehren zu können? Die hier genannten
Fragen kreisen um zwei Problemkomplexe: den der (direkten oder indirekten) Exploitierbarkeit
gesellschaftlicher Vorbilder und der Inspirationskraft von Phänomenen des sozialen Lebens für
die Erforschung, Entwicklung und Erprobung neuartiger verteilter Informations- und Kommunikationstechniken; und den der Differenzen zwischen VKI und soziologischer Theorie um die
richtige Erklärung des Sozialen.
An dieser Stelle ist nun etwas genauer auszuführen, wie es dazu kam, daß die Soziologen, die
sich mit der klassischen KI auseinandersetzten, die VKI übersehen konnten. Einerseits ist das
ein gänzlich überraschender Befund, da die Soziologie durch die VKI und ihren metaphorischen Gesellschaftsbezug doch ganz unmittelbar angesprochen und durch ihren impliziten soziologischen Erklärungsanspruch direkt herausgefordert ist. Andererseits ist das wiederum gar
nicht so überraschend, wenn man sich mit den Eigentümlichkeiten der soziologischen KIRezeption bekannt macht. Daß die zunächst kleine, dann aber schnell wachsende Schar von
Soziologen, die sich in den letzten zehn Jahren mit der klassischen KI auseinandersetzte, die
Herausforderung der VKI übersehen konnte, hat zunächst einmal einen ganz banalen Grund.
Die VKI stand jahrelang im Schatten ihrer großen Schwester, der klassischen KI, und gewann
erst mit dem Ende der 80er Jahre soweit an Statur, daß sie nicht mehr übersehen werden
konnte. Inzwischen hatte sich die soziologische KI-Rezeption längst auf eine andere Gegnerin
eingestellt, nämlich auf die “computational metaphor” der großen Schwester, von der Nolan in
aller Bescheidenheit sagen konnte, es handele sich um eine “extremely influential notion”
(Nolan 1992). Damit ist schon fast alles gesagt. Es galt, die machtvolle Deutung des Ich, der
Welt und der Gesellschaft nach dem Bilde des Computers abzuwehren. Und nachdem sich die
Soziologen erst einmal in diese von anderen Disziplinen vorgegebene Schlachtordnung um die
Deutungsmacht der computationalen Metapher eingereiht hatten, mußten sie sich in immer
neuen Variationen und mit immer unergiebigeren “fringe benefits” an der Frage abarbeiten, ob
Maschinen denken können. Dabei ist diese Frage ungefähr so leicht zu beantworten wie die, ob
Maschinen arbeiten können: selbstverständlich können sie das! Statt die fruchtlose pro- und
anticartesianische Frontstellung zu unterlaufen und sich der Frage zuzuwenden, wie und auf
welche Weise die Reproduktion des sozialen Lebens technisch und wie die Technik ihrerseits
gesellschaftlich vermittelt ist, blieben sie im Streit um den Turing Test oder um John Searles
berühmt gewordenes chinesisches Zimmer auf ein präsoziologisches Weltverhältnis des individuellen Menschen fixiert. Um im Bilde zu bleiben: Die Soziologen blieben eingesperrt im
selbstgewählten Stubenarrest des chinesischen Zimmers, ohne zu einer gegenüber den Philosophen und Psychologen eigenständigen soziologischen Problemstellung vorzustoßen. In dieser
Lage war es außerordentlich schwer, die Beziehung von Gesellschaft und Computer anders zu
sehen als im Perzeptionsschema der extrem einflußreichen computationalen Metapher, die die
Gesellschaft nach ihrem Bilde prägt. So wurde auch die VKI kaum anders denn als eine Unterart der die computationale Geistmetapher propagierenden Kognitionswissenschaften wahrgenommen, die gegenüber dem “mainstream” der KI nichts neues zu bieten schien.
So gesehen wird verständlich, warum die Soziologen, abgesehen von Gerson und Star, die aus
dem unmittelbaren Kreis um Gasser und Hewitt stammen und sich bezeichnenderweise nicht
am allgemeinen Streit um die KI beteiligten, die VKI bis heute ignorieren konnten. Die Literaturübersicht spricht hier eine ganz klare Sprache. Zwar liegen viele soziologische Veröffentlichungen zur klassischen KI vor und inzwischen ist sogar, wenn auch mit dem üblichen akademischen Viertel verspätet gegenüber der angloamerikanischen Debatte, ein Sammelband zur
KI-Rezeption in der deutschsprachigen Soziologie erschienen (Rammert 1995). Doch das Teil8
gebiet der VKI wird von den Soziologen, von einer (rühmlichen?) Ausnahme abgesehen
(Baecker 1995), ebensowenig zur Kenntnis genommen wie die Rolle der Sozialmetaphern im
Innovationsprozeß von “advanced computation”. Blickt man über die deutschsprachige Literatur hinaus und nimmt die soziologischen Veröffentlichungen insgesamt in Augenschein, so
lassen sich diese etwa folgendermaßen einteilen: Studien zur Geschichte und zu den wissenschafts- und forschungspolitischen Enstehungsbedingungen der “AI community” (Fleck 1982,
Ahrweiler 1995); Auseinandersetzungen mit den erkenntnis- und kognitionstheoretischen Ansprüchen und Grenzen der KI sowie zur wissenschaftstheoretischen Grundlagengeschichte des
Computers (Coulter 1979, Woolgar 1987, Wolfe 1991, Heintz 1993); diskursanalytische Arbeiten zur maschinellen Sprachverarbeitung, zu den sogenannten natürlichsprachlichen Systemen und zur Mensch-Maschine-Kommunikation (Gilbert/Heath 1985, Suchman 1987, Luff et
al. 1990); Untersuchungen über die Probleme der Wissenstransformation und die Entwicklungsmethoden der sogenannten Wissensaquisition (Collins 1987, Malsch 1987, Forsythe
1993, Becker et al. 1994); und vor allem Studien über die Einsatzbedingungen, das schwächliche Leistungsvermögen und die sozialen Folgen der mit viel Vorschußlorbeer bedachten wissensbasierten Expertensysteme (Collins 1990, Hatchuel/Weil 1990, Bachmann et al. 1992,
Malsch et al. 1993, Rammert et al. 1993, Degele 1994, Reicherts 1994).
Auffällig daran ist, daß sich das soziologische Interesse vor allem an Themen wie dem
“Akquisitionsdialog” zwischen Experte und Wissensingenieur, der Mensch-Maschine-Kommunikation oder der Interaktion zwischen Expertensystem und Benutzer festmacht. Stets geht
es den Soziologen darum, den menschlichen Akteur ins Spiel zu bringen und zu zeigen, wie
Menschen intelligente Programme produzieren und wie sie sie benutzen. Dabei geht man prooder antithetisch von der bald energisch verteidigten (Wolfe 1991), bald vehement geleugneten
Differenz (Woolgar 1985) des Gesellschaftlichen und des Technischen aus und setzt sich mit
der Frage auseinander, was es heißt, die Derivattechniken der KI als sozial konstituiert zu betrachten. So geht es denn in der soziologischen KI-Rezeption, wie auch im neuerlich enflammten soziologischen Forschungsinteresse am Cyberspace und an den virtuellen Welten des
Internet, typischerweise um die zwischen Technikfolgen und Technikgenese angesiedelten,
zweifellos wichtigen Fragen, warum an sich dumme, weil allein und auf sich selbst gestellt,
handlungsunfähige computationale Programme und Netzwerke gleichwohl, sofern in gesellschaftliche Kontexte eingewoben, für uns intelligent sein können; wie sie mit ihrer technischen
Intelligenz das kulturelle Leben, die Erwerbsarbeitswelt und die politische Öffentlichkeit
“informatisieren”; und wie sie unsere gesellschaftlichen Vorstellungen von “Intelligenz” und
“Wissen” formen, vielleicht sogar pervertieren können. Im Kern geht es letztendlich immer
wieder um das, was Soziologie und klassische KI gemeinsam zu erklären beanspruchen: Wissen.
Das gemeinsame Erkenntnisinteresse am Wissensbegriff wird denn auch von Collins bis Rammert, sofern die Soziologen angesichts der hilfsbedürftigen Derivattechniken der KI, auf die sie
bei ihren empirischen Untersuchungen stießen, nicht auf der Stelle zu theoretisch desinteressierten, dafür gutwilligen soziotechnischen Designwissenschaftlern mutierten, als die eigentliche Herausforderung für unsere Disziplin angesehen. Spätestens hier beginnt man jedoch, sich
im Kreise zu drehen: Wissenstechnik ist “sozial konstruiert”, weil sie ebenso wie menschliches
Wissen sozial situiert, eingebettet, kontextuiert, addressiert ist und niemals für sich selbst stehen kann; und sie ist eingebettet, weil sie “sozial konstruiert” ist; man ersetze den Turingschen
Laborversuch durch die realgesellschaftlichen Bedingungen und Anforderungen und erhalte
den von Star vorgeschlagenen “Durkheim Test” (Star 1989), eine ökologisch akzeptable Bewährungsprobe für die These der “sozialen Konstruiertheit” maschinellen Wissens, die dann
ihrerseits wiederum für ein sozialverträgliches Softwaredesign in Anspruch genommen werden
kann. Aber so verlagert man die Problemstellung doch bloß. Ob Turing- oder Durkheim-Test:
9
Das Wissen der Wissenstechnik ist dann nichts anderes als eine Inskription durch Menschen,
die mit der Wissenstechnik interagieren. Wenn man nun bedenkt, daß sich “dieses Produkt einer Zuschreibung weder der Maschine noch dem Menschen, sondern ihrer Interaktion oder
eben: Kommunikation, verdankt” (Baecker 1995: 165) könnte man eigentlich auch gleich fragen, wie sich der interaktive Aufbau von “Zuschreibungen” (oder um den semantisierenden
Beigeschmack des radikalen Konstruktivismus zu tilgen: von gesellschaftlichen Handlungsstrukturen) maschinell darstellen ließe, und hätte damit unversehens die Grundfrage der
verteilten KI gestellt. Baecker hat dies zwar gesehen, hat aber die grundlegende Bedeutung der
Differenz zwischen klassischer und verteilter KI nicht klar genug markiert und so die spezifisch
soziologische Herausforderung der VKI nicht sichtbar machen können (Baecker 1995: 177ff).
Das liegt wohl daran, daß man sich offenbar (noch?) nicht vorstellen kann, wie soziale Konstruktionsprozesse auf soziologisch nicht-triviale Weise durch Computerprogramme darzustellen wären.
Um ein besonderes soziologisches Interesse an der VKI zu begründen, ist es zweckmäßig sich
zu vergegenwärtigen, worin sich die Herausforderungen der Soziologie durch die VKI von der
durch die klassische KI unterscheiden. Die Antwort auf diese Frage findet sich im gemeinsamen Gegenstandsbereich der beiden Disziplinen. Das soziologische Erkenntnisinteresse besteht
darin, Gesellschaft zu erklären, und das ist der entscheidende Grund, sich als Soziologe für die
VKI zu interessieren. Selbst wenn es der VKI in erster Linie darum geht, computerwissenschaftliche Innovationen zu erzeugen und Softwaresysteme zu bauen, arbeitet sie mit ihren
Multiagenten-Systemen nolens volens immer auch daran, Gesellschaft zu verstehen, also Gesellschaftserklärungsmodelle hervorzubringen. Genau das ist auch der Grund, warum von der
Soziologie eine besondere Sensibilität hinsichtlich der Sozialmetaphern in der VKI erwartet
werden darf. Und das gilt umso mehr, als sich die VKI mit ihren protosoziologischen Ambitionen, d.h. mit der Frage nach der technischen Modellierbarkeit des sozialen Lebens, ja nicht erst
seit gestern, sondern bereits vor anderthalb Jahrzehnten, als man die klassische KI als soziologisches Forschungsthema eben erst zu “entdecken” begann, zu Wort meldete und damit die
Grenze zum angestammten Terrain der Soziologie überschritt. Demgegenüber teilen Soziologie und klassische KI lediglich den gemeinsamen Gegenstandsbereich des Wissens. Das betrifft,
wenn man Soziologie nicht in Semantik auflösen will, also nur einen Teilbereich des soziologischen Erkenntnisinteresses.
Was nun die impliziten oder expliziten soziologischen Ambitionen der VKI betrifft, so ist es
instruktiv, sich ihrer Abgrenzung gegenüber klassischer KI und modernem Konnektionismus
zuzuwenden. Dabei begegnen uns immer wieder zwei Begriffe, um die das Denken der VKI
kreist: Agent und Kooperation. Mit diesen Begriffen versucht die VKI einen Weg zu gehen,
der sich sowohl vom individualistischen Intelligenzbegriff der traditionellen symbolischen KI
als auch vom subsymbolischen Intelligenzbegriff des Konnektionismus und seinen neuronalen
Netzen unterscheidet. Während der “klassische” Ansatz der symbolischen KI von der kognitivistischen Grundannahme geprägt ist, intelligentes Handeln sei allein dem Einzelakteur zuzurechnen und funktioniere nach den irreduziblen Prinzipien der logischen Symbolverarbeitung,
ist der Konnektionismus daran interessiert, die Funktionalität des Gehirns mit Computerprogrammen (den sogenannten neuronalen Netzen) “subsymbolisch” darzustellen. Danach ist Intelligenz als emergentes Phänomen anzusehen, das aus der neuronalen Verbindung vieler
“dummer” oder “blinder” Komponenten hervorgeht. Die Kontroverse zwischen symbolischer
und subsymbolischer KI kann an dieser Stelle nur angedeutet werden. Daher nur soviel: Beide
Ansätze sind nach Auffassung der VKI kaum geeignet, um die soziale Kooperation vieler intelligenter, (teil)autonomer Agenten zu erfassen und angemessen zu modellieren. Die symbolische
KI vertritt zwar ein hochabstraktes “humanoides” Intelligenzkonzept, wonach Denken nichts
anderes ist als Symbolmanipulation nach syntaktischen Regeln. Aber dieser Intelligenzbegriff
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beruht auf den Grundannahmen einer bis auf Descartes zurückgehenden “asozialen” Robinsonade, d.h. das denkende Ich wird als außerhalb des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs
stehend konzipiert: “Current AI is largely a-social, and because of this, it has been inadequate
in dealing with much human behavior and many aspects of intelligence.” (Gasser 1991: 108)
Dagegen verfügt die subsymbolische, konnektionistische KI mit ihren spezifischen Formalismen, die den Neuronen und Synapsen des Gehirns nachempfunden sind, wenigstens über einen
rudimentären Interaktionsbegriff, aber sie muß passen, wenn sie die soziale Interaktion von
menschlichen Akteuren modellieren soll, die mit eigenem Willen und Bewußtsein begabt sind.
Demgegenüber geht man in der VKI im Unterschied zum klassischen Ansatz der sogenannten
physikalischen Symbolsysteme und zum subsymbolischen Paradigma des Konnektionismus von
der Leitvorstellung einer Gesellschaft vieler intelligenter und sozialkompetenter Akteure aus
und beansprucht, geeignetere konzeptionelle Mittel (Multiagent-Testbeds, agentenorientierte
Programmiersprachen) bereitstellen zu können, um gesellschaftliche Aushandlungs- und Koordinationsprozesse zu modellieren.
V.
Wenn die Soziologie dies zur Kenntnis und die protosoziologischen Ansprüche der VKIForschung ernst nimmt, muß sie sich mit der Frage nach der soziologischen Angemessenheit
computertechnischer Modelle des Sozialen in einer Weise auseinandersetzen, die die Turingund Durkheim-Tests hinter sich läßt. Wenn sie die Konstruktion des Technischen nach dem
Vorbild des Gesellschaftlichen zu denken beginnt, muß auch die alte Schlachtordnung um die
computationale Metapher des Geistes durcheinander geraten. Denn einerseits werden VKI-ler
und Soziologen sich als Konkurrenten, möglicherweise aber auch Kooperationspartner, hinsichtlich der Deutung und Erklärung von Gesellschaft betrachten müssen. Andererseits sind sie
quasi natürliche Bündnispartner in gemeinsamer Skepsis gegenüber dem kognitivistischen Ansatz und im Streit mit der traditionellen KI. Die Soziologie hat ja, seit sie vor etwa fünfzehn
Jahren die KI “entdeckte”, das in der klassischen KI dominierende kognitivistische Paradigma
der Philosophie des Geistes stets kritisiert und ihren eigenen Wissensbegriff dagegengehalten,
freilich, so wird man retrospektiv wohl einräumen müssen: ohne besonders viel dabei gelernt
zu haben. In dieser Auseinandersetzung ging es nicht eigentlich um den methodologischen Individualismus der klassischen KI, sondern um ihr positivistisch halbiertes Wissenschaftsverständnis. Das wurde vor allem in der Kontroverse um die sogenannten “discovery programs”
der KI und um den Erklärungsanspruch der sozialkonstruktivistischen Wissenschaftssoziologie
deutlich. In der “Slezak-Debatte” (Slezak 1989, Social Studies of Science Vol.19/1989) um die
Wissenschaftsforschung, in welcher Anhänger der KI und der Wissenschaftssoziologie mit
großer Vehemenz aufeinander einschlugen und um “kognitive” Konstitution versus “soziale”
Konstruktion wissenschaftlicher Entdeckungen stritten, wurde dies geradezu exemplarisch
vorgeführt (zur detaillierten Kommentierung des Pro und Contra vgl. Kertész 1993). Dabei
ging es um die grundlagentheoretische Frage, ob wissenschaftliche Entdeckungen kraft ihres
sachlichen Inhalts gültig sind oder ob sie sich durch Aushandlungsprozesse soziale Geltung
verschaffen, und ob die in der klassischen KI-Forschung entwickelten “discovery programs”
fähig oder unfähig sind, naturwissenschaftliche Gesetze zu entdecken. Wir brauchen diese
Kontroverse hier nicht weiter nachzuvollziehen. Hier genügt es deutlich zu machen, daß die
Soziologie die KI stets vor allem als wissenschaftliche Konkurrenz aufgefaßt hat.
Geht man den Motiven nach, die sich hinter dieser Kritik verbergen, so kommt eine tiefsitzende
soziologische Skepsis nicht nur gegenüber einem individualistischen Erkenntnisbegriff, sondern
gegenüber den Möglichkeiten der Formalisierung und Kodifizierung von Wissen schlechthin
zum Vorschein. Dieser Vorbehalt, der wohl am schärfsten von Woolgar formuliert worden ist
11
(Woolgar 1987, gegen Woolgar vgl. aber McIlvenny 1990), wird in fast allen soziologischen
Stellungnahmen zur KI vorgetragen, dabei freilich mit je unterschiedlicher Begründung und mit
je anderer Akzentsetzung versehen (vgl. zuletzt Collins 1995 und die Beiträge im Sammelband
von Rammert 1995). Daß sich die soziologische Kritik auf die “asoziale” kognitivistische Idee
des einsamen Erkenntnis- und Handlungssubjekts der KI bezieht, kann nicht überraschen. Daraus indes zu folgern, daß die Soziologie die VKI mit offenen Armen empfangen würde, weil ja
beide in gemeinsamer Front gegen die kognitivistischen Konzepte der klassischen KI stehen,
wäre jedoch mehr als voreilig. Vielmehr dürfte das Gegenteil der Fall sein, und zwar aus zwei
Gründen. Zum einen ist der “mainstream” der VKI keineswegs prononciert antikognitivistisch
eingestellt, sondern orientiert sich noch weitgehend am Akteursbegriff der klassischen KI
(Schulz-Schaeffer 1993). Und zum anderen gilt umgekehrt für den “mainstream” der Soziologie, daß dort wenig Zutrauen in die Innovations- und Aussagekraft formaler Modelle besteht,
vor allem wenn diese mit explizit soziologischem Theorieanspruch auftreten. Jedenfalls findet
sich, vielleicht mit Ausnahme von James Coleman, unter den bekannteren Namen, die das Bild
der Gegenwartssoziologie prägen, kaum einer, der der Formalisierung oder gar einer Algorithmisierung soziologischer Grundprobleme das Wort redet.
Inwiefern lassen sich soziale Welten auf dem Computer nachbilden und inwieweit können
Computermodelle dem sozialwissenschaftlichen Gegenstand “Gesellschaft” gerecht werden?
Auch wenn ich die Antwort schuldig bleiben muß, ist es zum Verständnis der Problemstellung
unerläßlich, die Formalisierungsfrage zu stellen und ihr einen angemessenen (nämlich zweitrangigen) Ort im sozionischen Argumentationszusammenhang zuzuweisen. Um wenigstens die
Richtung anzudeuten, in der nach Antworten zu suchen ist, dürfte es nützlich sein, einen Blick
auf die Gemeinsamkeiten von symbolischer KI und Konnektionismus zu werfen. Als Forschungszweige der Informatik stehen beide ja ebenfalls vor einem Problem der Übereinstimmung von Modell und Realität (Malsch 1992) und vielleicht lassen die dort gefundenen Lösungen erste Rückschlüsse auf die informatische Modellierbarkeit von Gesellschaft zu. Bemerkenswert ist allein schon die Tatsache, daß beide versuchen, wissenschaftlich angemessene
Modelle je unterschiedlicher Realitätsausschnitte mit computerwissenschaftlichen Mitteln zu
bauen, ohne über die den jeweiligen Realitätsausschnitt betreffende fachwissenschaftliche
Kompetenz zu verfügen. Um realitätsangemessene Computermodelle entwerfen zu können,
sind sie auf Theorien angewiesen, die sie von den zuständigen Fachwissenschaften übernehmen, d.h. sie sind auf die Mitarbeit von Philosophie, Psychologie und Neurologie angewiesen.
Was die klassische KI angeht, so orientiert sie sich an der philosophischen Auffassung von
menschlicher Intelligenz als Symbolverarbeitung und an der “physical symbol systems hypothesis” (Newell/Simon). Ihre Leitidee ist die computertechnische Modellierbarkeit des menschlichen Geistes, und hier lautet die Frage: Kann der Ansatz der physikalischen Symbolsysteme
dem Gegenstand “Denken” gerecht werden? Das muß sich nach Auffassung der klassischen KI
an Computermodellen erweisen können, die die Operationsweise des menschlichen Intellekts
imitieren. Dementsprechend müssen sich die Programme der KI an ihrer Übereinstimmung mit
dem menschlichen Geist wissenschaftlich legitimieren, und sie tun das, indem sie Anleihen machen bei Philosophie, Psychologie und Linguistik. Solange die Übereinstimmung nicht erwiesen
ist, entsprechen die Programme nur in einem hypothetischen oder metaphorischen Sinne dem,
was die alteuropäische Aufklärung als “Geist” bezeichnete.
Ähnliches gilt für die Gehirn- und Lebensmetaphern aus Neurologie und Biologie. Auch hier
haben Informatiker ihre Anleihen gemacht (Paton 1994). Es geht um die computertechnische
Abbildung von Gehirnfunktionen durch neuronale Netze oder um die informatische Modellierung biologischer Vorgänge durch sogenannte evolutionäre Algorithmen (Holland, Varela).
Auch hier stellt sich die Frage: Können diese Computerprogramme der Realität “Gehirn” oder
“Evolution” gerecht werden? Stimmen sie mit dem neurologischen oder biologischen Stand der
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Forschung überein? Und hier sind es die Biologen und Neurologen, die über die Übereinstimmung zwischen Programm und Realität aus wissenschaftlicher Perspektive zu entscheiden haben. Hier wie in der symbolverarbeitenden KI gilt, daß sich die entsprechenden Computerprogramme an externen Referenzen bewähren müssen, die außerhalb der Computerwissenschaften
liegen, nämlich bei den zuständigen Fachwissenschaften. Die Referenzkriterien, an denen sich
die Computerprogramme messen lassen müssen, die beanspruchen als künstliche Intelligenz,
künstliches Gehirn oder künstliche Evolution bezeichnet werden zu wollen, werden von den
fachwissenschaftlichen Diskursen der Biologie, Neurologie, Kognitionspsychologie usw. festgelegt und bleiben insofern außer-informatisch. Es ist nicht die Informatik, sondern es sind
stets andere Wissenschaften, die die Validitätskriterien festlegen und darüber wachen, ob und
in welchem Geltungsbereich die vorgestellten Computermodelle voll und ganz oder nur annähernd oder gar nur metaphorisch stimmen.
Was nun die “Artificial Social Systems” oder ähnliche Unternehmen der Modellierung des Sozialen betrifft, so erhellt sich aus dem zuvor Gesagten, daß auch hier eine bestimmte Disziplin
zuständig ist, nämlich die Soziologie. Das gilt jedenfalls dann, wenn man mit Computerprogrammen angemessene Aussagen über “das Soziale” zu treffen beansprucht und die Auffassung
teilt, daß soziale Tatsachen nicht unmittelbar aus der Teilnehmerperspektive begriffen werden
können, sondern der Vermittlung durch soziologische Theorien bedürfen. Insofern müssen
soziale Tatsachen soziologisch rekonstruiert werden, bevor sie mittels eines Computermodells
angemessen dargestellt werden können. Dahinter steht die These, daß soziologische Begriffe
aus dem unmittelbaren Erleben nicht umstandslos konzeptualisiert und modelliert werden können. Aus dem Blickwinkel des am sozialen Geschehen unmittelbar Beteiligten kann es nur zu
einer unzulänglichen und naiven Kategorienbildung kommen. Angemessen lassen sich soziale
Tatsachen erst dann modellieren, wenn sie zuvor in soziologische Begriffe umgearbeitet wurden. Wenn man also den Gedanken akzeptiert, daß auch hier eine Fachwissenschaft zu konsultieren ist, nämlich die Soziologie, dann kann man die Auffassung vertreten, daß die VKI an der
Soziologie nicht vorbei kommt, wenn ihr daran gelegen ist, angemessene künstliche Gesellschaften oder virtuelle Gemeinschaften zu bauen.
Bekanntlich stehen viele Soziologen der Idee, formale Modelle des Sozialen zu entwickeln,
skeptisch gegenüber. Sie halten bei allem Respekt für den Wissenschaftspluralismus in den eigenen Reihen recht wenig von der Idee, soziales Handeln, Kommunikationsverhältnisse, Gruppenbeziehungen, Institutionen oder Gesellschaftsstrukturen auf dem Computer nachzubauen.
Ich beschränke mich hier auf die zentralen Argumente, mit denen sich der Erkenntnisgewinn
entsprechender Computerprogramme aus soziologischer Sicht bestreiten läßt: Die “faits sociaux” lassen sich, um einen Begriff aus der Computer-Linguistik zu verwenden, nur
“natürlichsprachlich” explizieren; soziale Welten sind nicht als syntaktisch konsistente und geschlossene Modelle darstellbar; formale Modelle haben stets einen objektivistischen “bias” und
sind ungeeignet, die Reflexivität und Rekursivität sozialer Verhältnisse zu erfassen; selbst
hochkomplexe Simulationsprogramme mit einer Vielzahl von Variablen und Parametern sind
immer noch viel zu einfach gebaut, um der sozialen Welt “realitätsnah” beikommen zu können.
All das sind triftige Gründe, die aus soziologischer Sicht dagegen sprechen, Anleihen beim
Modellplatonismus der traditionellen KI oder der VKI oder bei beliebigen anderen Ansätzen
der Computersimulation zu machen. Um das Anliegen der Soziologie positiv zu formulieren:
Wer neue Erkenntnisse beispielsweise über Lebensstile und soziale Normen, Rollenerwartungen und Interessenkonflikte, Institutionenbildung und Wertewandel und vieles andere mehr
gewinnen möchte, der benötigt nach herrschender soziologischer Auffassung hochkomplexe
Theorien und interpretative Beschreibungssprachen von der Art, wie sie die Soziologie in ihrer
über hundertjährigen Geschichte ausgearbeitet hat.
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Die Resistenz der Soziologen gegenüber dem Vorschlag, soziale Interaktionsbeziehungen, Organisationen oder gar Gesellschaftsstrukturen zu kalkülisieren oder zu algorithmisieren, erklärt
sich aus der kontroversenreichen Historie der Soziologie. Gestritten wurde nicht zuletzt auch
um Erkenntnisgewinn und -grenzen formaler Modelle. Dieser Streit ist längst erloschen und
flackert nur hin und wieder noch einmal auf. Heute hat er einem breiten Konsens Platz gemacht, wonach formale Modelle und Computerprogramme als methodologisches Rüstzeug der
empirischen Sozialforschung gern benutzt werden, aber im soziologischen Theoriediskurs eher
als unergiebig gelten. Über die Qualität soziologischer Theorien wird offenbar nach anderen
Regeln geurteilt, und so ist wohl auch Colemans Theorie der rationalen Wahl nicht so sehr
wegen ihrer mathematischen Anteile, sondern vor allem ihrer begrifflichen Inhalte wegen auf
allgemeinsoziologische Resonanz gestoßen. Dessen ungeachtet hat sich in der Grauzone zwischen Empirie und Theorie eine inzwischen recht gewichtige Forschungsrichtung entwickelt,
die sich mit soziologischer Computersimulation à la KI beschäftigt (Carley 1996). Diese neue
Richtung, die sich vor allem in den USA auszubreiten begonnen hat, ist von der allgemeinen
soziologischen Theoriedebatte bislang weitgehend ignoriert worden - ein meines Erachtens
schwerer Fehler, der fatale Folgen nach sich ziehen könnte, wenn er nicht schleunigst korrigiert
wird. Die verbreitete Ignoranz gegenüber dem neuen Phänomen hat ihre (scheinbare) Berechtigung freilich darin, daß die Vertreter der Modellsimulation offenbar keinerlei nennenswerte
Theorieambitionen verfolgen. Ablesbar ist das an den Artikeln eines neueren Sammelbandes,
der mit seinem Titel “Simulating Societies” (Gilbert/Doran 1994) bei einem Leser, der an den
theoretischen Grundfragen der Soziologie interessiert ist, die Erwartung weckt, hier etwas über
den Erkenntnisgewinn formaler Modelle erfahren zu können. Diese Erwartung wird, was den
soziologischen Theoriediskurs betrifft, bitter enttäuscht: nicht die Spur von Anschlußfähigkeit!
Dabei ist daran zu erinnern, daß die im Streit um die KI engagierten Soziologen vor allem an
Theoriefragen interessiert sind und soziologischen Milieus entstammen, denen der Gedanke,
man könne sich als Soziologe sinnvollerweise mit dem Entwerfen von soziologischen Computermodellen beschäftigen, völlig fremd ist. Man hält die Anwendbarkeit von KI-Konzepten auf
die soziale Welt für dermaßen abwegig, daß man sie mit großer Selbstverständlichkeit überhaupt nicht in Betracht zieht. Und wenn man sie doch in Betracht zieht, wird sie sogleich als
unzumutbares Ansinnen zurückgewiesen. So hält selbst ein Harry Collins, der sich besonders
gründlich mit der KI beschäftigt hat und für seine konstruktiven Vorschläge zur Entwicklung
von wissensbasierten Systemen mit einem Preis der “British Computer Society” ausgezeichnet
wurde, eine Formalisierung oder Algorithmisierung der Sozialwissenschaften für deplaziert.
Nur dort, sagt Collins, wo die Gesellschaft aus sich selbst heraus hochgradig standardisierte
und durchrationalisierte technische Handlungsstrukturen (wie den Abacus oder das Fließband)
hervorgebracht hat, sind modelltheoretische Konzepte angebracht. Generell aber gilt:
“...neither regular science nor machines can model social life.” (Collins 1992: 730)
VI.
Die dargelegten Einwände sind zweifellos ernstzunehmen. Es wäre jedoch zu fragen, ob die
Soziologie nicht besser daran täte, sich angesichts der VKI rechtzeitig auf eine Neuauflage
ihres Grundlagenstreits einzustellen und dabei die neuen computationalen Ressourcen zu nutzen. Denn wir wissen noch viel zu wenig darüber, um abschließend beurteilen zu können, ob
und wie die VKI mit ihren Mitteln zur “Validierung” soziologischer Theorien beitragen könnte
(v. Martial 1992). Das diesbezügliche Angebot der VKI lautet, “(to) provide the social sciences with conceptual and experimental tools, namely the capacity to model, and make up in parallel, reactive and cognitive systems, and the means to observe their interactions and emerging
effects.” (Conte/Castelfranchi 1995, S. v) Diesem Angebot sollten sich die Soziologen nicht
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verschließen und sich gleichzeitig die Frage stellen, was sie umgekehrt zur “Validierung” von
VKI-Modellen beitragen könnten. In beiden Richtungen ist indes vor falschen Versprechen und
deplazierten Hoffnungen zu warnen. Man wird sich wohl, so oder so, auf Enttäuschungen einstellen müssen, aber das können Erwartungsenttäuschungen auf durchaus hohem Niveau sein,
die überraschende Einsichten bereithalten werden. Daher möchte ich an dieser Stelle nachdrücklich dafür plädieren, die bisher versäumte Auseinandersetzung mit der VKI und ihren
Sozialmodellen nachzuholen. Es sind hauptsächlich drei Argumente, mit denen ich dieses Plädoyer unterstreichen will:
(1) Das erste Argument verweist auf eine Analogie und appelliert an die wissenschaftliche
Neugier der Soziologie, sich auf ein unbekanntes Unternehmen einzulassen. Es lautet, daß man
erst dann, wenn man sich auf das Angebot der VKI einläßt, ernsthaft ausloten kann, ob sich
daraus neuartige Erkenntnismöglichkeiten des Sozialen ergeben können oder nicht. Wenn wir
(analog zu der auf Searle zurückgehenden Unterscheidung von starker und schwacher KI) so
etwas wie schwache VKI oder schwache “Sozionik” annehmen, dann können wir als Soziologen von vornherein vermeiden, VKI-Modelle unangemessen zu reifizieren, d.h. sie mit wirklichen sozialen Systemen zu verwechseln. Dann können wir uns auf ungewohnte Modellierungsund Simulationsexperimente einlassen und ausprobieren, ob Computermodelle soziologischer
Konzepte oder Theorien tatsächlich zu überraschenden Einsichten führen könnten. Angesichts
dessen ist es schon erstaunlich zu beobachten, wie selbst jene Soziologen, die sich gründlich
mit der klassischen KI beschäftigten, die kritische Frage ignorieren konnten, wie es denn wäre,
wollten sie versuchen, ihre eigenen Sozialtheorien mit den Mitteln der KI zu rekonstruieren.
Bisher haben auch die mit der KI befaßten Soziologen ja immer nur gefragt, ob und unter welchen Bedingungen gesellschaftliche Wissensbestände durch “Wissensakquisition” soweit umstrukturiert werden können, bis sie zu den vorhandenen Techniken und Formalismen der KI
“passen”. Hier geht es jedoch um die ganz andere Frage, ob und in welchem Sinne es möglich
ist, aus dem Fundus der VKI heraus neuartige “nicht-kognitivistische” Systementwürfe zu
kreieren, die auf Phänomene des gesellschaftlichen Lebens im Sinne einer angemessenen soziologischen Darstellungsform “passen”.
(2) Dabei geht es auch um eine genauere Beschäftigung mit dem Sinn von “angemessener Repräsentation”. Vor allem ist die verbreitete Konfusionen zwischen der Modellierung des sozialen Lebens und der Mechanisierung sozialen Handelns zu vermeiden, zu der klassische KI und
VKI selbst beigetragen haben. Tatsächlich unterscheiden sie sich grundlegend voneinander,
denn Modellierung des sozialen Lebens ist eine theoretisch-wissenschaftliche Darstellungsweise, eine Theoriebautechnik, während Mechanisierung sozialen Handelns ein praktischtechnisches Ziel realisiert. Zweifellos trifft es zu, daß sich reguläres soziales Handeln einer Mechanisierung weitgehend entzieht und daß es nur im Extremfall standardisierter und repetitiver
Operationen möglich ist, soziales Handeln durch Computerprogramme zu ersetzen (Collins
1990). Wenn es dagegen um die Frage der wissenschaftlichen Modellierung sozialer Zusammenhänge geht, gelten andere Beurteilungskriterien, weil die wissenschaftliche Darstellung des
Sozialen nicht identisch mit seiner technischen Substituierbarkeit ist. Vielleicht können Modelle
der VKI Sozialtheorien repräsentieren, aber sie können nicht die soziale Wirklichkeit ersetzen.
Insofern ist ein Begriff wie “Artificial Societies” natürlich ebenso vorbelastet und mißverständlich wie der Begriff der “Artificial Intelligence” und trägt wenig zur Klärung der Frage bei, wie
und was die Technik von der Gesellschaft lernen kann. In der Frage der soziologischen Angemessenheit von VKI-Formalismen geht es darum, ein tieferes Verständnis sozialer Zusammenhänge zu erarbeiten und dabei von den Mitteln und Möglichkeiten der VKI Gebrauch zu machen, ohne diesen Weg durch vermeidbare Reizworte wie “künstliche Gesellschaften” zu verbauen (Burkhard 1993).
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(3) Das Forschungsgebiet der VKI hält ein weiteres gewichtiges Argument bereit, das in der
soziologischen KI-Rezeption bisher weitgehend unbeachtet geblieben ist. Obgleich der
“mainstream” der VKI nach wie vor auch vom kognitivistischen Paradigma der traditionellen
KI beeinflußt wird, mehren sich die Stimmen in der VKI, die ein generelles Unbehagen mit dem
kognitivistischen Paradigma zum Ausdruck bringen und eine Neuausrichtung an sozialen Metaphern und soziologischen Konzepten vorschlagen. Auch in dieser Frage, wie in der VKI generell, ist die Vorreiterrolle der “DAI community” der USA nicht zu übersehen (Hewitt 1977,
Kornfeld/Hewitt 1981, Hewitt 1986, Bendifallah et al. 1988, Gasser et al. 1989, Star 1989,
Gasser 1991, Hewitt 1991, Gasser 1992, Gasser 1993, Gasser/Majchrzak 1994, Shoham/Tennenholtz 1992 und 1994). Allerdings hat die europäische VKI inzwischen nachgezogen und weitere und teilweise eigene “sozionische” Akzente gesetzt (Werner 1989, Castelfranchi/Conte 1992, Burghard 1993, Müller 1993, Castelfranchi/Werner 1994, Conte/Castelfranchi
1994, Conte/Castelfranchi 1995, Gilbert/Conte 1995). Dabei wird die in der VKI durchaus
(noch?) gängige Vorstellung des individualistischen und rationalistischen Akteurs, wie sie beispielsweise auch der Spieltheorie zugrunde liegt, zunehmend in Frage gestellt. H.-J. Müller hat
dieses allgemeine Unbehagen auf die schon mehrfach angesprochene prägnante Formel gebracht, daß die VKI mit einem “Gesellschaftskonstruktionsproblem” (Müller 1993) konfrontiert ist. Das geht in Teilen der “DAI community” inzwischen offenbar soweit, daß man gewillt
ist, mit den kognitivistischen Annahmen der klassischen KI endgültig zu brechen.
Die weitestgehende und zugleich soziologisch fundierteste Position wird, soweit ich sehe, von
Les Gasser vertreten. Nach Gasser sind die konzeptionellen Probleme der Kooperation und
Koordination in der VKI nicht zu lösen, solange man vom Einzelakteur und seinen Motiven,
Interessen und Intentionen ausgeht. “The traditional set of analytical categories and implementation techniques used in AI does not include fundamentally social elements; the focus is
on the individual actor as the locus of reasoning and knowledge and the individual proposition
as the object of truth and knowing. (...) To make substantial theoretical progress, we must
begin to lay firm social foundations for DAI research. (...) DAI systems, as they involve multiple agents, are social in character; there are properties of DAI systems which will not be derivable or representable solely on the basis of properties of their component agents. We need to
begin to think through and articulate the bases of knowledge and action for DAI in the light of
their social character.” (Gasser 1991: 111f) Dem liegt die Auffassung zugrunde, daß Gesellschaft nicht aus dem Zusammenwirken von vereinzelten Individuen resultiert, sondern umgekehrt: menschliche Individuen und ihre “mental states” sind sozial konstruiert, sie entstehen aus
sozialer Interaktion. Insofern ist auch die Idee des autonomen Subjekts gesellschaftlich erzeugt. Dasselbe gilt dann auch für die Kategorie des “commitment”, die nur als soziale Kategorie, basierend auf reziproker Rollenübernahme, begriffen werden kann. “In other words, the
notion of commitment is distributed because the agent of commitment is a distributed entity.”
(113) Gasser hat das in seiner Kritik an der einflußreichen mentalistischen Auffassung von Cohen und Levesque deutlich gemacht und gezeigt, daß man unmöglich bis zur sozialen Konstruktion von “webs of commitment” vorstoßen kann (Gasser 1991), wenn man den Begriff
der Intention mentalistisch als “choice with commitment” (Cohen/Levesque 1990) definiert.
Stattdessen schlägt Gasser vor, das Gesellschaftskonstruktionsproblem völlig anders zu lösen,
nämlich auf der Grundlage soziologischer Basiskategorien: “AI research must set its foundations in ways that treat the existence and interaction of multiple actors as a fundamental category.” (Gasser 1991: 112) Unter ausdrücklicher Berufung auf G.H. Mead und den symbolischen
Interaktionismus formuliert Gasser das Ziel, die Basiskategorie der individuellen Aktion durch
die Basiskategorie der sozialen Interaktion zu ersetzen und VKI-Systeme auf dieser neuen
Grundlage zu entwickeln. Gassers Kritik an der klassischen KI ist also grundsätzlicher Natur.
16
Nun können die von Gasser artikulierten Desiderata einer soziologisch fundierten VKIForschung heute beileibe (noch?) nicht als Mehrheitsmeinung der “DAI community” gelten.
Überblickt man jedoch die Veröffentlichungen der letzten Jahre und weiß die darin der Soziologie mehr und mehr erwiesene Reverenz zu würdigen, so könnte man fast schon von einer
soziologischen Wende der VKI sprechen. Dabei wäre freilich noch gesondert zu beachten, daß
die Sozioniker in der “DAI community” sich nicht bloß an Mead, sondern offenbar auch an
anderen soziologischen Referenzautoren orientieren. So benutzt Werner 1989) einen Rollenbegriff, der an Parsons erinnert, Marsh 1994) bezieht sich auf Luhmanns Vertrauenskonzeption,
und Conte und Castelfranchi 1995) referieren auf Giddens Theorie der Strukturation. Im übrigen ist auch Gassers eigener Ansatz nicht nur von Mead, sondern mindestens ebenso stark von
Latours “actor-network”-These geprägt. Das sind Differenzen, die möglicherweise weitreichende Konsequenzen für die Ausarbeitung eines sozionischen Forschungsprogramms haben.
Dessen ungeachtet ist die von Gasser vorgetragene starke Behauptung, die VKI könne ohne
soziologisches Fundament keine entscheidenden Fortschritte erzielen und keine “large-scale
open systems” entwickeln, eine offene Frage, die sich nur empirisch beantworten läßt. An die
Adresse der “DAI community” richtet sich Gasser mit der ausdrücklichen Empfehlung, die von
ihr benutzten Alltagsvorstellungen des Sozialen auf den Begriff zu bringen, d.h. vage Sozialmetaphern durch soziologische Theoriebegriffe zu ersetzen. Für Gasser verbindet sich damit
die Hoffnung, die VKI als technologisches Unternehmen entscheidend voranbringen zu können. Aus techniksoziologischer Sicht ist die These der “soziologischen Fundierung”, wonach
Innovationen durch soziologische Fundierung von Sozialmetaphern entstehen, indessen nur
eine plausible Annahme unter mehreren, doch es ist genau diese These, die die Frage der Konkurrenz zwischen Soziologie und VKI besonders stark berührt. Daher ist dem Thema der
möglichen Paradigmenkonkurrenz zwischen soziologischer Theorie und VKI die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Aber das darf uns als Techniksoziologen nicht dazu verleiten, die Perspektive des neutralen Beobachters aufzugeben. Wir müssen uns, gerade wenn
wir die Perspektive des neutralen Beobachters durchhalten wollen, mit ganz besonders kritischer Sorgfalt der Frage nach der soziologischen Angemessenheit von Modellen der VKI widmen. Nur wenn man sich dieser Problematik bewußt ist, kann man die ganz andere und ungleich subtilere Frage verfolgen, wie Innovationen durch “Metaphernmigration”, d.h. durch
Umstellung von Sozialmetaphern von soziologischer Referenz auf computerwissenschaftliche
Referenz, entstehen können.
VII.
In den beiden vorigen Abschnitten ging es um die soziologische Adäquanz und um die soziologische Anschlußfähigkeit von Modellen der VKI. Dabei wurde vor allem Gassers These herausgestellt, wonach der wissenschaftliche und technologische Fortschritt der VKI auf der soziologischen Adäquanz ihrer Modelle beruhe. Folgt man Gasser, so geht der technische Fortschritt der VKI direkt aus der soziologischen Fundierung, d.h. hier: aus dem Anschluß an die
Theoriebegriffe des symbolischen Interaktionismus hervor. Das ist eine interessante, freilich
noch unausgearbeitete und vor allem ungeprüfte Annahme. Mit gleichem Recht könnte man bis
zum Beweis des Gegenteils aber behaupten, die beschworene soziologische Grundlegung sei
eine rein akademische, rein rhetorische Übung, die mit dem technologischen Fortschritt der
VKI nichts zu tun habe. Ich halte beide Annahmen für fragwürdig und möchte stattdessen die
These vertreten, daß der technologische Fortschritt der VKI nicht geradlinig von der soziologischen Adäquanz ihrer Grundbegriffe ausgeht, sondern geradezu von einem in der VKIForschung selbst angelegten Spannungsverhältnis zwischen Sozialreferenz und Computerreferenz lebt: Aus dem Widerspruch zwischen den konzeptionellen und technischen Mitteln der
17
VKI und dem (sozial)wissenschaftlichen Ziel sozialadäquater (nicht: sozialverträglicher!) Modellbildung könnten technologische Innovationen entstehen, indem die vom ursprünglichen
Bezugsrahmen der menschlichen Gesellschaft abgelösten Begriffe als Sozialmetaphern über
mehrere Zwischenschritte erst in informatische Konzepte und Formalismen und schließlich in
technische Artefakte transformiert werden. Dieser Innovationspfad läßt sich als
“Metaphernmigration” bezeichnen: Es kommt zu einem schrittweisen Umbau von Vorbildern
des sozialen Lebens zu technischen Artefakten, denen die Inspirationsquelle, der sie sich ursprünglich verdanken, nicht mehr anzusehen ist (Malsch et al. 1996).
Wendet man sich in dieser Frage an die soziologische Rezeption der KI-Forschung, so ist, wie
schon zuvor hinsichtlich der Frage nach der Herausforderung der soziologischen Theorie durch
die Multiagenten-Systeme der VKI, wiederum Fehlanzeige zu vermelden, obgleich die Sozialmetaphern, wie oben gezeigt, durchaus nicht nur in der VKI vorkommen, sondern auch in der
Induktionsforschung der klassischen KI, im Konnektionismus und in den Forschungen zum
“Artificial Life” angesprochen werden. Soweit der Metapherngebrauch der KI in der soziologischen Literatur überhaupt angesprochen wird, geschieht dies in warnender Absicht: um der
irreführenden Metaphorik vom Computer als sozialem Akteur, als Schmetterling oder Fledermaus entgegenzutreten, oder, um in umgekehrter Blickrichtung, die Computermetapher der
Gesellschaft zurückzuweisen (Joerges 1988); um auf das Blendwerk von scheinbar klaren
Termini wie Intelligenz, situative Handlungskompetenz, geteiltes Wissen etc. hinzuweisen und
begriffliche Klärungen zur Schließung der “Metaphernlücke” einzufordern (Star 1989), oder
um diese Forderung als illusionär abzutun (Collins 1995); oder um ausgehend von der
“symmetriebrechenden” Potenz von Metaphern im distribuierten Verhältnis von künstlicher
und menschlicher Intelligenz für eine zugleich de- und remetaphorisierende Verschränkung der
Beobachtungsperspektiven von KI und Soziologie zu plädieren (Baecker 1995), deren Sinn
dunkel und unergründlich bleibt. Einen Hinweis auf die techniksoziologisch interessante innovatorische Potenz von Sozialmetaphern sucht man indes vergebens: Nirgendwo wird die Frage
des technologischen Innovationspotentials von Sozialmetaphern angesprochen, obgleich den
Autoren die Kreativität des metaphorischen Denkens durchaus nicht fremd ist und notabene
fast immer miterwähnt wird. Statt etwas daraus zu machen, verstricken sie sich jedoch in bloße
Abwehrkämpfe und sind vollauf damit beschäftigt, das Illusionäre, Unstimmige und Verschleiernde im Metapherngebrauch der KI zu brandmarken. Auch daran läßt sich ablesen, wie wenig
es der Soziologie gelungen ist, sich dem Einfluß der übermächtigen computationalen Metapher
zu entziehen.
Daß die Soziologie hinsichtlich ihrer KI-Rezeption von der allgemeinen Einsicht in die kreative
Potenz von Metaphern (Joerges 1977, Sacks 1979, Maasen/Weingart 1995) bisher keinen
ernsthaften Gebrauch gemacht hat, liegt offenbar wiederum am Konkurrenzverhältnis zwischen
beiden Disziplinen. Dieses erweist sich als außerordentlich hinderlich, wenn man weiterführende techniksoziologische Fragen stellen will. Um die technikgenetische These der Metaphernmigration in Augenschein nehmen zu können, muß man die paradigmatische Kontroverse zwischen Soziologie und (V)KI rigoros beiseite lassen. Das verlangt denjenigen, die an soziologischen Grundfragen interessiert sind, zweifellos eine gewisse Selbstverleugnung ab. Erleichtert
wird diese methodisch erforderliche ‘Als-ob-Einstellung’ jedoch dadurch, daß sie in keiner
Weise dazu nötigt, eine etwaige formalisierungskritische Grundhaltung aufzugeben. Im Gegenteil: Aus forschungspraktischen Gründen muß man geradezu rigoros voraussetzen dürfen,
daß die VKI ihren erklärten Anspruch auf soziologische Fundierung und Schließung der Metaphernlücke verfehlt. Erst wenn wir dies tun, haben wir den Rücken frei und können uns unbeschwert von den Einwänden gegen die Formalisierbarkeit soziologischer Konzeptionen auf die
techniksoziologisch spannende Frage einlassen, wie Multiagenten-Systeme im praktischen Arbeitsprozeß von VKI-Wissenschaftlern tatsächlich konstruiert werden. Dabei ist der Frage
18
nachzugehen, welche Bedeutung soziale Metaphern und Begriffe für die Erzeugung computerwissenschaftlicher Innovationen (nicht: für die soziologischen Erklärungen und Deutungen
der sozialen Welt!) tatsächlich haben.
Bei dem hier angesprochenen Migrationspfad geht es überdies ganz generell um die Frage, wie
psychologische, linguistische oder biologische Konzepte oder Metaphern die Informatiker dazu
anregen können, sich ihrerseits computerwissenschaftlich neuartige Konzepte und Formalismen
auszudenken und Programmiersprachen oder Computermodelle zu erfinden - und zwar eben
ausdrücklich mit Blick auf das, was ich als “Computerreferenz” bezeichnen möchte: Rechenzeit
und Tempogewinn, Speicherbedarf und -optimierung, algorithmische Effizienz, architektonische Eleganz und softwaretechnische Wartbarkeit von Sprachen, Programmen und Werkzeugen sind die hier gültigen computerreferenziellen Bewertungskriterien, an denen sich die innovativen Leistungen der VKI (und das gilt analog für die klassische KI, den Konnektionismus
und die Artificial Life-Forschung) messen lassen müssen. Es sind die Kriterien der Kerninformatik, um die es hier geht. So gesehen sind die technologischen Produkte der VKI-Forschung
wie “blackboard architektures”, Kooperationsprotokolle, “agent-oriented programming” usw.
(analog in anderen Gebieten des “advanced computation”: semantische Netze, neuronale Netze, genetische Algorithmen usw.) nichts anderes als computertechnische Formalismen, die
letztlich daraufhin befragt werden müssen, was sie in der Kerninformatik gelten.
Sobald auf Computerreferenz umgestellt worden ist, lautet die Frage nur noch, ob und auf
welchen Gebieten die Konzepte der VKI sich in Softwaretechnik niederschlagen, ob sie mit
den Optimierungsalgorithmen anderer Informatikzweige konkurrieren können und was man in
computertechnischer Hinsicht mit ihnen anfangen kann. Die ganz und gar andere Frage, ob die
mit der Erforschung neuronaler Netze, evolutionärer Algorithmen oder Multiagenten-Systeme
beschäftigten Informatiker in der Lage sind, einen für die Neurologen, Biologen oder Soziologen relevanten Beitrag zur Erforschung von Gehirndefekten oder Immunsystemen oder sozialen Systemen zu leisten, kann in der hier eingenommenen Perspektive zunächst völlig vernachlässigt werden. In der besonderen Perspektive der Metaphernmigration lauten die weiterführenden Fragen: Was haben die Unternehmungen der KI, der Neuroinformatik und des Artificial
Life eigentlich der Kerninformatik gebracht, was haben sie generell zur Erforschung des Computers beigetragen? Für die Metaphernmigrationsthese heißt das, daß sie im Vergleich und in
Konfrontation mit alternativen Thesen weiter ausgearbeitet, präzisiert und operationalisiert
werden muß. Dazu sind die beiden bereits angesprochenen konkurrierenden Annahmen zum
forschungslogischen Status von Sozialmetaphern in der VKI gleichsam als Sparringspartner
heranzuziehen, die ich als (1) die Gasser-These der soziologischen Fundierung und als (2) die
Kontingenzthese der Metaphernrhetorik bezeichnen möchte. Diese sollen als wahrnehmungsund problemschärfende Komplementärthesen fungieren, die den Bezugsrahmen abstecken helfen, innerhalb dessen (3) die These der Metaphernmigration ihre Plausibilität gewinnen muß.
(1) Die These der soziologischen Fundierung läßt sich auf den Punkt bringen, daß die VKIForschung keine substantiellen theoretischen Fortschritte machen kann und auch keinen technologischen Durchbruch zu “large-scale open systems” erzielen wird, wenn es ihr nicht gelingt,
an die Grundbegriffe und theoretischen Konzeptionen der Soziologie anzuschließen. Sie artikuliert sich unter anderem im Bedauern darüber, daß “frequently enough DAI social notions
are merely metaphorical” (Castelfranchi/Werner 1994, p.xiii). Danach reicht es nicht aus, soziale Metaphern aus der Alltagssprache aufzugreifen und “naiv” in Computerprogramme umzusetzen. Um die VKI-Forschung computertechnisch entscheidend voranzubringen, kommt es
demgegenüber darauf an, gesellschaftliches Handeln und soziale Strukturen vorab wissenschaftlich angemessen d.h.: soziologisch zu begreifen. Das ist eine ebenso interessante wie
starke These. Ob soziologisch angemessene VKI-Modelle tatsächlich vorausgesetzt sind, um
technisch leistungsfähige verteilte Systeme zu bauen, bleibt indessen fraglich, wenn man einer19
seits die Themenkarriere des Problems der “Gesellschaftskonstruktion” überblickt und andererseits die lose Kopplung zwischen erkenntnistheoretischer und ingenieurtechnischer VKI zur
Kenntnis nimmt. Insofern kann diese These nur begrenzte Plausibilität für sich in Anspruch
nehmen.
(2) Die Gegenthese dazu lautet, daß der technische Progress der VKI-Forschung nichts mit
Fragen der angemessenen Rezeption soziologischer Ansätze und sozialer Sachverhalte zu tun
hat. Dieser “Rhetorikthese” zufolge besteht überhaupt kein Zusammenhang, sondern höchstens
eine kopplungsfreie Koinzidenz zwischen soziologischer Adäquanz und computertechnischer
Relevanz von VKI-Modellen. Demgemäß läßt sich argumentieren, daß die wachsende Popularität, derer sich die sozialen Metaphern in den Veröffentlichungen der VKI-Gemeinschaft erfreuen, nichts mit ihrer technologischen Forschungs- und Entwicklungspraxis und der Qualität
ihrer technischen Artefakte zu tun hat. Auch die Rhetorikthese ist angreifbar. Sie setzt sich
dem Einwand aus, den technologischen Fortschritt der VKI ausschließlich durch die immanente technische Entwicklungslogik erklären zu wollen. Um diesen Einwand auszuräumen,
müßte man zeigen können, daß der Bezug auf “extratechnische” Bedingungen dem Innovationsprozeß äußerlich ist, und daß technische Innovationen auf rein computerreferenzielle Erwägungen reduzierbar sind - eine angesichts der kumulierten wissenschaftssoziologischen Forschungserfahrungen eher unwahrscheinliche Annahme. Dennoch ist diese “Nullhypothese” als
ein unerläßliches und forschungspraktisch nützliches Korrektiv zu den beiden anderen Thesen
anzusehen.
(3) Die These der Metaphernmigration ergibt sich gewissermaßen aus den Einwänden gegen
die ersten beiden Thesen. Sie eröffnet größere Interpretationsspielräume und ist insofern klärungsbedürftiger, aber auch “wahrscheinlicher” als die überstarke These der soziologischen
Fundierung und die bloß skeptische, irrtumsängstliche These der Metaphernrhetorik. Die interessante Frage lautet hier: Gibt es neben oder jenseits von “soziologischer Fundierung” und
“Metaphernrhetorik” eine dritte Interpretationsmöglichkeit zum Status von Sozialmetaphern in
der VKI? Um diese Frage plausibel zu machen, muß die Problemsicht gegenüber der
“adäquanztheoretischen” Orientierung an der soziologischen Begriffsbildung ebenso wie gegenüber der Orientierung an der skeptischen “Antithese” der kontingenten oder rein legitimatorischen Rhetorik verschoben werden. Stattdessen ist zu fragen, ob sich die VKI in ähnlicher
Weise durch soziale Metaphern anregen lassen kann wie die klassische KI oder die Artificial
Life-Forschung durch Geist- und Lebensmetaphern oder die Bionik durch Vorbilder aus der
Biologie. In der Perspektive der Metaphernmigration ist die streng wissenschaftliche Übereinstimmung der entworfenen Computerprogramme mit den Sozial-, Geistes-, Gehirn- oder Lebensvorbildern unerheblich. Vielmehr ist geradezu umgekehrt zu unterstellen, daß die Modelle
der VKI die soziale Realität, auf die sie bezugnehmen, nicht oder nur unzulänglich abbilden
beziehungsweise repräsentieren können.
Dies vorausgesetzt, können wir nun jenseits der wissenschaftlichen (Un)zulänglichkeit von
Metaphern ansetzen und einigermaßen entlastet von substanziellen Darstellungsproblemen fragen, ob sich die offenkundige (Repräsentations-)Schwäche vielleicht als die heimliche
(Kreations-)Stärke der VKI entpuppen könnte. Dahinter steht die Vermutung, daß das “hidden
curriculum” der Metaphern, das es aufzudecken gilt, in ihrer innovatorischen Inspirationskraft
liegt. Die Programme der VKI könnten, so möchte ich diese Annahme abschließend zuspitzen,
selbst wenn sie über die Gesellschaft als soziologischem Gegenstand rein gar nichts aussagten,
dennoch aus computerwissenschaftlicher Sicht von hohem Erkenntnis- und technologischem
Innovationswert sein.
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Mitarbeiter am Institut für Soziologe an der FU-Berlin. 1982-1989 Research Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin. 1986 Habilitation. 1989-1995 Inhaber des Lehrstuhls Technik und
Gesellschaft an der Universität Dortmund. Dort zuletzt Dekan der Wirtschafts- und Sozialwis25
senschaftlichen Fakultät. Seit 1996 Leiter des Arbeitsbereichs Technikbewertung und Technikgestaltung an der Technischen Universität Hamburg-Harburg. Forschungsschwerpunkte: Industrie- und Techniksoziologie mit dem Schwerpunkt Informations- und Kommunikationstechnologie. Publikationen in dieser Zeitschrift: Die Informatisierung des betrieblichen Erfahrungswissens und der “Imperialismus der instrumentellen Vernunft”. Kritische Bemerkungen zur
neotayloristischen Instrumentalismuskritik und ein Interpretationsvorschlag aus arbeitssoziologischer Sicht. (1987 : 77-91).
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