Vom „Arzt der Cultur“ zum „Arzt und Kranker in einer Person“ Eine Hypothese zur Entwicklung Nietzsches als Philosoph der Kultur(en) Paul van Tongeren (RU Nijmegen / KU Leuven) Der Titel unsrer Tagung ist nicht unbedingt eindeutig. “Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?” Das Fragezeichen – dem ich in meinem Vortrag eine zentrale Rolle geben werde – bestimmt den Titel zu einer Frage. Aber was genau die Frage ist oder sein soll, ist damit noch nicht klar. Oder vielleicht besser: die Organisation hat mit diesem Titel mehrere Fragestellungen ermöglicht. Es gibt deren wenigstens drei oder vier. Es kann zunächst gefragt werden was Nietzsche uns als Kulturphilosoph zu sagen hat, d.h. es können verschiedene Themen seiner Philosophie der Kultur ausgearbeitet werden. Zweitens könnte auf dem durch Klammern verdoppelte Wort ‘Kultur(en)’ fokussiert werden und dann wird gefragt ob (und eventuell: wie) Nietzsches Philosophie der Kultur sich verhält zur Pluralität der Kulturen. Beide Interpretationen der Frage setzen aber voraus, dass es eine Kultur-Philosophie Nietzsches gibt. Man könnte aber vielleicht – und das wäre die dritte Möglichkeit – sinnvoll fragen ob Nietzsches Denken über Kultur (denn dass er über die Kultur nachdenkt, ist klar von fast jeder Seite seiner Schriften), oder besser: in welchem Sinne dieses Denken eine Philosophie der Kultur genannt werden kann. Diese letzte Frage mag zunächst befremden, scheint mir aber nicht sinnlos. Es soll dabei nicht darum gehen, ganz pauschal zu fragen ob Nietzsche ein Philosoph sei oder nicht, und ob er seinen Platz in dem Kanon der Philosophie verdiene. Wichtig scheint mir aber doch, zu fragen was denn für Nietzsche eigentlich ‘Philosophie’ heißt, und wie sich das bezieht auf eine etwaige ‘Philosophie der Kultur’ Nietzsches. Zum Vierten dürfen wir wahrscheinlich nicht übersehen, dass der Tagungstitel nicht etwa heißt ‚Nietzsches Philosophie der Kultur(en)’, sondern: ‚Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?’ Die Frage was für Nietzsche ‚Philosophie’ heißt muss also noch ergänzt werden mit der Frage was es für ihn heißt ein Philosoph zu sein. Die Frage zu dem ich in diesem Vortrag eine Hypothese versuchen werde, lautet daher: wie beziehen sich eigentlich diese Begriffe, ‘Philosophie’/’Philosoph’ und ‘Kultur’ in Nietzsches Denken aufeinander? 1. Nietzsches Sprachgebrauch m.B.auf sein Denken über die Kultur Nietzsche zwingt uns ja fast zu dieser Frage, durch seinen Sprachgebrauch. Schauen wir dem genauer zu. Zwar finden wir ein Paar Stellen wo Nietzsche Fragen stellt wie: ‘Wie sieht […] der Philosoph die Cultur in unsrer Zeit an?’ (UB III 4 1.366); auch finden wir ein Mal den – möglicherweise auf eine Philosophie der Cultur hinweisende – Ausdruck ‘Wesen der Kultur’ (NL 29[163] 7.699) und spricht Nietzsche sogar 2 Mal von einem ‘Metaphysik der Cultur’ (NL 32[68 7.778; NL 34[16 7.797).1 Aber das sind nur sehr wenige Belege, fast alle im frühen Nachlass. Der Ausdruck ‘Philosoph der Cultur’ wird von Nietzsche weder im publizierten Werk noch auch im Nachlass benutzt.2 Der Ausdruck ‘Philosophie der Cultur’ kommt im publizierten Werk 1 Einmal scheint es alsob er eine Vorlesungsreihe plant under dem Titel: ‘Ein Colleg über “System der Cultur” (NL 5[41] 8.52) 2 Ein Beleg ist zweideutig. Im Nachlass (NL 30[9] 8.523) finden wir zwar den Satz: ‘er typisch als Philosoph und Förderer der Kultur’; aber abgesehen davon, dass Nietzsche sich 1 auch nicht vor, und in dem Nachlass nur 1 Mal, und zwar in einem Entwurf zum Inhaltsübersicht von Menschliches, Allzumenschliches I. Band (NL 25[3] 8.485). In diesem Notiz finden wir ‘Philosophie der Cultur’ als Titel des ersten Hauptstückes; und das ist der einzige Hauptstück-Titel aus diesem Entwurf der nicht im endgültigen Buch übernommen wird. Das anfänglich als erstes geplante Hauptstück wird letztendlich zum 5., und dessen Titel wird ersetzt durch ‘Anzeichen höherer und niederer Cultur’. Wir werden also zur Vorsicht gemahnt durch die augenscheinliche Zögerung Nietzsches von einer ‘Philosophie der Cultur’ zu sprechen. Es giebt hierzu noch etwas merkwürdiges. Wie bekannt, ist Jenseits von Gut und Böse aus einem Versuch zur Neubearbeitung von Menschliches, Allzumenschliches I. Band entstanden. Nach einiger Zeit liess Nietzsche dieses Plan fallen und schrieb er das neue Buch Jenseits. Die Spuren dieser Vorgeschichte sind aber noch deutlich im neuen Buch nachzuweisen. Ich erwähne nur einiges. Menschliches I und Jenseits sind nicht nur die einzige zwei Bücher mit neun Hauptstücke, es sind auch die einzige zwei, in denen von ‘Hauptstücke’ die Rede ist (statt von ‘Kapittel’, Bücher’ oder ‘Abteilungen’). Die Parallele zwischen die 2 Mal 9 Hauptstücke der beiden Bücher sind unübersehbar, und zeigen, dass Nietzsche soweit wie möglich die gleiche Reihenfolge angestrebt hat. In beiden Bücher finden wir die Kritik der Philosophie in Hauptstück I, die Kritik der Religion in III und politische Betrachtungen in VIII; Texte über das Weib stehen in Jenseits am Schluss von Hauptstück VII, während das VII. Hauptstück von Menschliches ‘Weib und Kind’ überschrieben ist. Diese Übereinstimmungen zeigen auf signifikante Weise zugleich die Unterschiede, von denen einen für uns wichtig sein dürfe. Die Parallele zum V. Hauptstück von Menschliches (‘Anzeichen höherer und niederer Cultur’) finden wir nämlich im II. Hauptstück von Jenseits. In beiden Büchern hat das V. Hauptstück – d.h. das Hauptstück in der Mitte des ganzen Buches – eine zentrale Rolle. Während diese Rolle in Menschliches offenbar der Kultur übergeben war, ist es in Jenseits der Moral (oder Moralkritik) gewidmet. Und nicht nur verschwindet die Kultur als soche in dieser Weise aus dem Zentrum des Buches, das Wort ‘Kultur’ verschwindet auch aus dem Titel. Das parallele Hauptstück in Jenseits heißt: ‘Der freie Geist’. Der freie Geist, der inzwischen Nietzsches Ideal-Bild des Philosophen bestimmt hat, übernimmt hier also die Rolle der Kultur. Die Frage dringt sich auf: Was ist passiert zwischen Menschliches und Jenseits? Wie wurde der Philosoph der Cultur zum freien Geist, uns was können wir daraus lernen für die Beziehung zwischen Philosoph(ie) und Kultur? 2. Der Arzt der Kultur Ich möchte diese Frage noch auf eine andere Weise ergänzen. Die meisten Belege zum Wort ‘Kultur’ finden im ersten Hälfte von Nietzsches oeuvre, global zwischen GT und FW. Wenn wir genauer dem Vokabular zuschauen, in dem Nietzsche seine Gedanken über die Kultur formuliert, finden wir ein Paar kennzeichnende Patronen. Am häufigsten sind Wendungen die verweisen auf eine Geschichte der Kultur, mit viel Interesse für eine Entwicklungsgeschichte3, aber vor allem für die ‘Zukunft der Kultur’ (NL 19[59] 8.343). Neben dieser Entwicklungsgeschichte (die immer bewertend ist, und bestimmt von der Befürchtung einer drohenden ‘Ausrottung und Enthier nur auf Schopenhauer bezieht, ist keineswegs klar ob das Genitiv (‘der Kultur’) hier auch zum ‘Philosoph[en]’ gehört und nicht nur zum ‘Förderer’. 3 Vgl. bv.: ‘Geschichte der Cultur’ (MA I 238 2.200; NL 21[82] 8.378; M 23 3.35; M 113 3.102; NL 4[184] 9.147; NL 2[5] 10.44; NL 10[21 12.466; 19[10] 13.546); ‘Geschichte der Entwicklung der Cultur’ (UB IV 4 1.446; NL 11[22] 8.208); ‘Entwickelung der Cultur’ (MA I 11 2.30); ‘Zeitalter der Cultur’ (MA I 236 2.197) 2 wurzelung der Cultur’ (UB III 4 1.366), und von einer Sorge um ‘Aufgabe’, ‘Werth’, ‘Höhe(punkte)’, ‘Ziel’, oder ‘Zweck’ der Cultur), finden wir ein Paar andere typische Metaphern die Nietzsche gebraucht für sein Denken über Kultur. Ich meine Ausdrücke wie ‘Wetterzeichen der Cultur’ (MA II WS 182 2.630), ‘Fruchtfelder der Cultur’ (MA II WS 275 2.672), ‘Zonen der Cultur’ (MA I 236 2.197); aber auch: ‘Mauer der Kultur’ (NL 10[1] 7.333), ‘Gebäude’ und ‘Architektur der Cultur’ (MA I 276 2.227f), wozu vielleicht auch die Rede von ‘Fundamenten’ der Cultur gehört.4 Es dürfte sich lohnen, diese von Nietzsche erwählte Metaphern für sein Denken über Kultur genauer zu untersuchen, und dazu auch zu fragen was es bedeutet dass bestimmte Metaphern nur in bestimmte Phasen seines Denkens erscheinen.5 Ich möchte jetzt aber noch auf einen anderen Metapher hinweisen, dem m.E. eine besondere Bedeutung zukommt; ich meine die Metaphorik des Arztes. Die Philosophie soll nach Nietzsche ‘ein Bündniss der bindenden Kraft sein, als Arzt der Kultur’ (NL 30[8] 7.733). Dieser Metapher war wenigstens eine Zeit lang wichtig für Nietzsche, auch wenn er sie nicht sehr oft benutzt. In einem Notiz und auch in einem Brief an Erwin Rohde notiert er als Titel für eine geplante Unzeitgemässe Betrachtung: ‘Der Philosoph als Arzt der Cultur’ (NL 23[15] 7.545; Brief An E. Rohde 22.3.73 KSA 4.136). Vieles von dem was er sich zu dieser Betrachtung notiert ist wahrscheinlich in der 2. UB benutzt worden.6 Die historische Krankheit worüber er dort spricht ist wenigstens eine der Hintergründe für seine Reflexionen über ‘Die historische Krankheit als Feindin der Cultur’ (NL 27[81 7.611) wie auch über ‘Kraft und Gesundheit der Cultur’ (NL 37[4] 7.829), usw. Der Metapher des Philosophen als eines Arztes könnte auch wichtig sein für meine Fragestellung, nicht nur weil er ein Konstante bleibt in Nietzsches Denken, aber auch und vor Allem weil er in der Zeit in der auch Jenseits von Gut und Böse entsteht, in Verbindung tritt mit der Figur, der wir schon begegneten: d.h. mit dem freien Geist. ‘Freier Geist’ ist eine der wichtigsten Namen für den Philosophen wie Nietzsche ihn in dieser Zeit wünscht und erhofft. Wie gesagt: es hat sich einiges geändert in der Entwicklung des Philosophen von den frühen 70-er Jahren bis zum freien Geiste von 1886. Dass es aber noch immer um den Philosophen als Arzt der Kultur geht, ergiebt sich z.B. wenn Nietzsche auch hier spricht vom ‘philosophische[n] Arzt im ausnahmsweisen Sinne des Wortes – ein Solcher, der dem Problem der Gesamt-Gesundheit von Volk, Zeit, Rasse Menschheit nachzugehen hat’ (FW Vorr 2 3.348f). Dieses Zitat ist der neuen Vorrede zur FW entnommen, einem der Texten die in diesem Rahmen am wichtisten sind, nämlich die Vorreden die Nietzsche der neuen Ausgabe seiner früheren Schriften zufügt – nach seiner Zarathustra-Erfahrung und auf Grund einer Lektüre jener früheren Schriften im Lichte dieser Erfahrung. Aber bevor wir fragen wie der Artzt-Metapher in diesen neuen Vorreden zurückkehrt und wie sie helfen kann bei der Interpretation der Entwicklung von Nietzsches Denken über die Kultur, möchte ich zunächst die Thematik der Kultur einklammern, und an Hand 4 Vgl. z.B.: NL 29[221] 7.718 ‘Es ist ernsthaft zu erwägen, ob für eine werdende Kultur überhaupt noch Fundamente da sind. Ob die Philosophie als ein solches Fundament zu gebrauchen ist? – Aber das war sie nie.’ 5 So spricht er z.B. nur in späten Texten, und dann ziemlich oft, von einem ‘Wachsthum der Cultur’ (AC 43 6.218; NL 10[5] 12.456; NL 10[21] 12.466), und – ganz spät – von einem ‘Ökonomik der Cultur’ (NL 25[7] 13.641). 6 Wahrscheinlich hat Nietzsche zunächst noch ein anderes Titel versucht, nämlich: ‘Die Bedrängniss der Philosophie’ (NL 29[197] 7.709; vgl. auch NL 29[198] 7.710 und NL 30[15] 7.737). 3 einer anderen Frage die Entwicklung von Nietzsches Philosophieren zwischen 1872 und 1886 kennzeichnen. 3. Nietzsches Fragezeichen Um herauszufinden was passiert zwischen den frühen Reflexionen Nietzsches über den Philosophen als ‚Arzt der Cultur’ und dem späteren freien Geist, der einen ‘philosophische[n] Arzt im ausnahmsweisen Sinne des Wortes’ genannt wird, konzentriere ich mich jetzt auf einen Aspekt seines Denkens, und zwar auf einen, den gewöhnlich als wesentlich für die Philosophie im Allgemeinen, und für die Philosophie Nietzsches ins Besondere angesehen wird, nämlich das Fragen. Die Philosophie sei doch ganz besonders ein fragendes Denken, und das Fragen sei sogar ‘die Frömmigkeit des Denkens’ (Heidegger). Nietzsche wird ein radikaler Denker genannt weil er tiefer fräge als Anderen. Wo sie halt machen bliebe Nietzsche fragen, radikaler sogar als andere Erneuerer, wie z.B. Descartes, der nach Nietzsche ‚oberflächlich’ war (JGB 191): – An Stelle jener „unmittelbaren Gewissheit“, an welche das Volk im gegebenen Falle glauben mag, bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik in die Hand, recht eigentliche Gewissensfragen des Intellekts, welche heissen: „Woher nehme ich den Begriff Denken? Warum glaube ich an Ursache und Wirkung? Was giebt mir das Recht, von einem Ich, und gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als Gedanken-Ursache zu reden?“ Wer sich mit der Berufung auf eine Art Intuition der Erkenntniss getraut, jene metaphysischen Fragen sofort zu beantworten, wie es Der thut, welcher sagt: „ich denke, und weiss, dass dies wenigstens wahr, wirklich, gewiss ist“ – der wird bei einem Philosophen heute ein Lächeln und zwei Fragezeichen bereit finden. (JGB 16) Fragezeichen, statt vorausgesetzte angebliche Selbstverständlichkeiten, wären also kennzeichnend für die Philosophie, und a fortiori für die Philosophie Nietzsches. Ich möchte daher versuchen ein Merkmal der Entwicklung von Nietzsches Philosophieren zwischen 1872 und 1886 zu beschreiben an Hand der Entwicklung seines Fragens in diesem Zeitraum.7 Obwohl die Thematik der Kultur jetzt eingeklammert wird, ist sie 7 Hintergrund für diesen Paragraphen ist meine Arbeit für das NWB, für dem ich im Moment das Lemma ‚Frage/Fragezeichen/fragwürdig’ vorbereite. Das NWB wirkt zunächst semasiologisch, d.h. ausgehend von den signifiant. In diesem Fall bedeutet das, dass ich mich zunächst auf Nietzsches Gebrauch des Wortes ‘Frage’ und der Wörter in den wir dieses Wort zurückfinden richte, (Frager, fragen, abfragen, ausfragen, befragen, erfragen, hinterfragen, nachfragen, vorfragen, gefragtwerden, fraglich, fraglos, fragwürdig/Fragwürdigkeit, fragezeichenwürdig, fragenreich, Fragestellung, Frageform, Fragesatz, Fragestellung, Fragebogen, Fragezeichen, In-Frage-Stellung, Selbst-In-Fragestellung, Selbstbefragung, Anfrage, Nachfrage, Gegenfrage, Grundfrage, Hauptfrage, Cardinal-Frage, Streitfrage, Vorfrage, Vordergrunds-Frage, Anstandsfrage, Gewissensfrage, Existenzfrage, Lebensfrage, Lebensernstfrage, Moral-Frage, Rangfrage, Machtfrage, Nothdurftfrage, Lust- und Unlustfrage, Arbeiter-Frage, Rassenfrage, Werthfrage, Duellfrage, Frauenfrage, Homerfrage, Hesiodfrage, Echtheitsfrage, Kunstfrage, Kultur- und Geschmacksfrage, Erziehungs- und Bildungsfragen, Schul- und Erziehungsfragen, Frage- und Antwortspiel; zusammen mehr als 1.500 Belege). Zweitens werden dan die Fragwörter (Wo, wann, wer, warum, wie, was, womit) und die Fragezeichen (mehr als 8.200) studiert. Da das Material sehr ausgiebig ist, habe ich noch nicht alles ansehen können und bleibt das Folgende noch vorläufig. 4 nicht abwesend und mache ich diesen Umweg nur, um etwas zu lernen über was das heißt: ‚Philosoph der Kultur’ zu sein. 3.1 Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Wer einfach am Beginn der Kritischen Studienausgabe zu lesen anfängt, entdeckt schnell, dass es tatsächlich eine Entwicklung von Nietzsches Fragen gibt. Dem ersten publizierten Text, der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik aus 1872, geht die Vorrede, die Nietzsche 14 Jahre später, in 1886, der neuen Ausgabe zufügte voraus. Unmittelbar wird klar, dass vieles sich geändert hat in diesen 14 Jahren, auch m.B. auf das Fragen. Ich fange rein quantitativ an: im ursprünglichen Vorwort (von nur 2 Seiten) kommt das Wort Frage, oder verwandte Wörter nicht vor (abgesehen vielleicht von den ‘Bedenklichkeiten’ die Nietzsche ferne von sich halten, und vom ‘aesthetische[n] Problem’ das er ernst nehmen will) und jedenfalls gibt es hier kein einziges Fragezeichen. In der neuen Vorrede (von 12 Seiten) finden wir 18 Mal ein Wort mit dem Stamm ‚Frag’, 10 Mal ein Wort mit ‚Problem’, und 74 Fragezeichen. Natürlich: das erste Vorwort war eine Widmung an Wagner, während die neue Vorrede ein ‘Versuch einer Selbstkritik’ war. Aber die Vermutung, dass Nietzsche im Laufe seiner Entwicklung allmählich mehr Fragen stellt und mehr Frag-Wörter benutzt, wird bestätigt werden – wenigstens bis 1886 als diese Entwicklung ein Höhepunkt zu erreichen scheint. Wenn wir (nicht nur das Vorwort, sondern) das Buch GT mit der Vorrede vergleichen, finden wir noch einen anderen – ebenfalls äußerlichen, aber dennoch interessanten – Unterschied, und zwar m.B. auf das Fragen-Vokabular. In der Geburt GT finden wir eigentlich nur das Wort ‘fragen’, ein paar Mal ‘sich fragen’ und ‘befragen’, aber keine Spur aller jenen Zusammensetzungen und Adjektiven mit denen er später seine Fragen spezifiziert, und die zeigen, dass er auf das Fragen selbst aufmerksam geworden ist. Die einzige Ausnahme bildet das Wort ‘fragwürdig’, das aber in der Geburt ganz einfach ‘problematisch’ bedeutet; es wird gesagt von etwas was Fragen hervorruft welche vom Autor diskutiert werden. In GT werden drei ‚Sachen’ fragwürdig genannt: Euripides’ Behandlung des Mythos, Sokrates und unsere Kultur. In alle drei Fälle ist klar, dass Nietzsche dazu kaum Fragen stellt, abgesehen von solchen in denen er seine Thesen zur Sache einpackt. Es scheint mir fraglich ob es in der Geburt überhaupt echte Fragen gibt. Klar ist jedenfalls, dass die meisten angeblichen Fragen einfach literarische Instrumenten sind zur Strukturierung der Darlegung. In der späteren Vorrede aber, nennt Nietzsches unmittelbar in der ersten Zeile sein eigenes Buch ‘fragwürdig’; also nicht etwas worüber er schreibt, sondern seine eigene Schrift. Und diese Bezeichnung ‘fragwürdig’ wird nachher ausgelegt in Fragen: Nietzsche fragt sich welchen Fragen diesem Buch zu Grunde geliegen haben; er vermutet, dass es jedenfalls ‚eine Frage ersten Ranges’ und dazu ‚eine tief persönliche Frage’ sein muss. Dann werden die Fragen differenziert: es gibt persönliche, psychologische, physiologische, Irrenärztliche Fragen, Fragen unterschiedlichen Ranges, Grundfragen, schwere Fragen und die schwerste Frage. Auch das führt zu eine Vermutung die bestätigt werden wird: Nietzsches Fragen-Vokabular wird immer differenzierter. Das Wichtigste ist aber, dass jetzt die Fragen betont werden und dass Nietzsche erklärt, jetzt erst den Ernst des Problems, das er schon 14 Jahre früher gestellt hat, zu sehen. Dieses Problem wird auf vier unterschiedliche Manieren angedeutet: einmal als ‘das Problem, dass hier [m.B. auf das Dionysische als Merkmal der Griechischen Kultur] ein Problem vorliegt’ (GT Vorr 3), d.h. dass das Dionysische ein ‘grosse[s] […] Fragezeichen’ ist GT Vorr 6), dann als: ‘das Problem der Wissenschaft’ oder 5 ‘Wissenschaft als problematisch, als fragwürdig gefasst’ (GT Vorr 2); drittens als eine In-Frage-Stellung der Moral (GT Vorr 5); und schließlich aber eigentlich an erster Stelle, als ‘das grosse Fragezeichen vom Werth des Daseins’ (GT Vorr 1). Dies sind allerdings vier Manieren um das Problem – und zwar das Problem der Kultur – an zu deuten. Wir werden noch sehen dass die vier Fragezeichen eng zusammenhängen. In diesem Moment reicht der Schluss, dass der Autor in dieser Vorrede erklärt, dass er damals viel mehr Fragen hatte als er sich vergegenwärtigte. Kehren wir also zurück zur chronologischen Reihenfolge. 3.2 Die Unzeitgemäße Betrachtungen In den frühen kulturkritischen Versuchen, den Unzeitgemäße Betrachtungen finden wir wiederum Nietzsches Verwendung der Frage als eines Instrument. Die Darlegung wird erbaut mittels Fragen die zu ihr einführen, ihr strukturieren und regelmässig die Aufmerksamkeit des Lesers wieder an sich ziehen. Ein Beispiel: in der ersten UB, stellt Nietzsche, am Ende der einführenden Bemerkungen drei Fragen, die dann nachher im Aufsatz beantwortet werden: ‘Erstens: wie denkt sich der Neugläubige seinen Himmel? Zweitens: wie weit reicht der Muth, den ihm der neue Glaube verleiht? und drittens: wie schreibt er seine Bücher?’ (UB I 4 1.177). Aber jetzt wird noch deutlicher als vorher, dass diese Fragen nicht anzeigen worum es sich im Text eigentlich handelt. Sie sind nur Instrument zur Strukturierung einer Darlegung in welchen es um andere Fragen dreht. Gegen den Bildungsphilister die blöde Fragen stellen (UB I 1 1.167), gegen Strauss die von Lebensfragen redet ohne ‚wirkliche[.] Erfahrung’ (UB I 8 1.204), gegen den Leuten die ‚den wichtigsten Fragen [...] entfliehen’ und sogar ‚die allernächste Frage[n]’ nicht stellen (UB I 8 1.203), gegen den Geist der Zeit in der ‚fast Niemand [sich] die Frage [stellt]’ wie es mit der Kultur steht (UB I 8 1.202), will Nietzsche diese Fragen doch vorbringen. Was ich hier sagte mit Zitaten aus der 1. Unzeitgemäßen, sehen wir auch in den anderen Betrachtungen. Sie wollen alle die eigentliche Fragen zur Sprache bringen, die ‚Fragen und Sorgen in Betreff der Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur’ (UB II 1 1.257), vor allem aber die ganz individuelle Frage ‘wie und wozu gelebt werde’ (UB II 1 1.255), oder: „was ist das Leben überhaupt werth?“ (UB III 3 1.363 ), oder: ‘die Frage: wozu lebst du?’ (UB III 4 1.374), oder: ‘die Frage […]: wie erhält dein, des Einzelnen Leben den höchsten Werth, die tiefste Bedeutung? Wie ist es am wenigsten verschwendet?’ (UB III.6 1.384), oder – zum Schluss: ‚wozu du Einzelner da bist, das frage dich’ (UB II 9 1.319). Merkwürdigerweise werden diese Fragen aber präsentiert in einer Darlegung die von anderen Fragen strukturiert wird. Nietzsche predigt also andere Fragen als diejenige, welche er praktiziert.8 Der Ziespalt in welchem Nietzsche damals lebte – er war ja Professor für Philologie in Basel, während er eigentlich ein philosophischer Erzieher sein wollte – drückt sich offenbar auch in seinem FragenVokabular aus. Ich vermute, dass Nietzsches Fragen seine eigene Form erst findet in den apho8 Vielleicht ist UB IV eine – interessante – Ausnahme. Hier finden wir kaum oder gar keine Fragen von Nietzsche selber, sondern nur Fragen die er Wagner zuschreibt. Fast ohne Ausnahme wird die Abhandlung strukturiert von Wagners Fragen. Nur ‘seine Frage’ wird ‘rastlos’ (1.472) und ‘schmerzlich einschneidend’ (1.477) genannt. Vielleicht kann man auch auf diesem Grund argumentieren dass dieser Text nicht im gleichen Sinne als die andere UB ein Text Nietzsches ist. Vielleicht zeigt sich hier auch dass Nietzsche sich nicht wirklich mit Wagners Unternehmen identifiziert. Ausgenommen ganz am Ende, wo er schreibt ‘Wer so sich fragt und sorgt, hat an Wagner's Sorge Antheil genommen’ (UB IV 10 1.496), und dann: ‘Und nun fragt euch selber, ihr Geschlechter jetzt lebender Menschen!’ (UB IV 11 1.509). 6 ristischen Büchern die nun folgen. Die Unterschiede zwischen den Schriften von Menschliches, Allzumenschliches bis zum ersten Ausgabe der Fröhliche Wissenschaft sind nur klein. Was ich je für diese Bücher erwähne, gilt mehr oder weniger für die ganze Periode. 3.3 Menschliches, Allzumenschliches In Menschliches, Allzumenschliches, Erster Band ist auffällig, dass das Fragen zwingender wird als vorher. Bis jetzt war es der Autor, der Fragen stellte und Fragen vorbracht; von jetzt ab wird er immer mehr zu einer der gehorcht. Er gehorcht einem Fragen das sich herandringt oder etwas in ihm das ihm Fragen aufzwingt. Er spürt einen ‘Hang’ in sichselbst zu Fragen die die Menschheit gerne vergisst (einen Hang, zu dem man daher ‘fast entmenscht sein’ ‘muss’ MA I 1 2.24); ‘der Geist fragt’ (MA I 13 2.34); ‘unsere Sinnen’ stellen Fragen (MA I 217); die ‘Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfindungen fragt’ gebietet uns (MA I 37 2.59); usw. Wenn es schon der Autor selber ist, der Fragen stellt, dann sind es nicht länger bloß rhetorische Fragen, oder solche die nur dazu dienen dem Autor Gelegenheit zu seinen Antworten zu bieten. Ganz im Gegenteil: ab jetzt finden wir öfters die Formel ‘Zuletzt darf man fragen’, mit deren Nietzsche eine Frage einführt die er nicht beantwortet. Manchmal scheint es alsob er die Frage die sich ihm aufzwingt, kaum aussprechen kann: ‘Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben könne? (MA I 34 2.53f ). Sehr oft sehen wir ab jetzt, dass ein Aphorismus endet in Fragen, machmal keine rhetorische. Bemerkenswert ist auch, dass Nietzsche wenn er seine Fragen durch ein Zitat introduziert, nicht mehr wie früher auf fiktiven Figuren verweist (ein König, ein Spartaner, Tristan, Tannhäuser, Isolde, usw.), sondern auf echte Autoritäten: Plato (MA I 212), Pascal (M 549), Novalis (MA I 142). Weil die Fragen sich aufdrängen, können sie auch leicht unheimlich oder bedrohlich werden. Nietzsche spricht von einer ‘schauderhafte[n] Frage’ (MA I 55 2.74), und von der ‘grausame[n] Anblick’ (MA I 37 2.59) die sie bietet. Weil es nicht länger der Fragender selber ist, der sein Fragen führt und beherrscht, wird es durchaus möglich, dass es seinem Wohlsein und Vorteil schädet: ‘wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich?’ (MA I 34 2.53f) Der Denker ist nicht länger der Regisseur seines Fragen, sondern er gehorcht einem Fragen das er in sich spürt. Die vielen Dialog-Texte die wir vor Allem ab dem 2. Band von Menschliches, Allzumenschliches finden, sind ein Symptom dieser Entwicklung. Im Prolog zum zweiten Buch, sagt der Wanderer zu seinen Schatten: ‘Ein paar hundert Fragen drücken auf meine Seele, und die Zeit, da du auf sie antworten kannst, ist vielleicht nur kurz.’ (2.538). Der Denker stellt sich selber seine Fragen die nicht rhetorisch sind, und die er oft nicht beantworten kann; er wird so zu eine Frage für sich selber. Und immer mehr bezieht sich dieses Fragen auf sein Fragen selbst. Ein gutes Beispiel liefert MA II WS 43 (2.572f): ‘Der Denker hält aber Alles für geworden und alles Gewordene für discutirbar, ist also der Mann ohne Pflicht, – solange er eben nur Denker ist. Als solcher würde er also auch die Pflicht, die Wahrheit zu sehen und zu sagen, nicht anerkennen und diess Gefühl nicht fühlen; er fragt: woher kommt sie? wohin will sie?, aber diess Fragen selber wird von ihm als fragwürdig angesehen. […] Insofern scheint hier zur Heizung das selbe Element nöthig zu sein, das vermittelst der Machine untersucht werden soll.’ 3.4 Morgenröthe Das letzte Zitat zeigt etwas, was sich ab der Morgenröthe noch verstärken wird. Das 7 leidenschaftliche Befragen des eigenen Denkens bringt ein inneres Konflikt hervor. Ein gutes Beispiel giebt M 44: ‘— Warum kommt mir dieser Gedanke immer wieder und leuchtet mir in immer bunteren Farben? –‘ Nietzsche fragt sich also wo dieser immer wiederkehrende Gedanke herkommt. Dann sagt er um welchen Gedanken es geht: ‘dass ehemals […] man stets voraussetzte, von der Einsicht in der Ursprung der Dinge müsse des Menschen Heil abhängen: dass wir jetzt hingegen, je weiter wir dem Ursprunge nachgehen, um so weniger mit unseren Interessen betheiligt sind;’ Mit anderen Worten: Nietzsche fragt warum er so interessiert ist an der Hypothese dass die Antwort zu seiner Frage ihm nicht interessiert... Die später zugefügte Vorrede zur Morgenröthe sagt, dass dieses Buch das Vertrauen zur Moral zu untergraben begann. Allerdings war Nietzsche damit schon früher begonnen; aber in diesem Buch wird diese Untergrabung verbunden mit der SelbstBefragung und wird sie so existentieller als sie vorher war. Es wird ja immer deutlicher, dass seine Selbstprüfung, seine ‘Leidenschaft der Erkenntnis’ (M 429 3.265), diese ‘persönlichsten Fragen der Wahrheit. – „Was ist Das eigentlich, was ich thue? Und was will gerade ich damit?“ (M 196 3.170), dieses misstrauische Hinterfragen des eigenen Fragens (vgl. M 523 3.301) selber moralisch geboten ist; es ist eine Form der ‚Redlichkeit’ (M 482 3.286) und fordert Tapferkeit.9 Nun: gerade diese moralische Merkmale der Selbstprüfung werden in zunehmender Maaße problematisch werden, wie wir an Hand der fröhlichen Wissenschaft sehen werden. 3.5 Die fröhliche Wissenschaft Denn jetzt wird klar, dass die ‘Leidenschaft der Erkenntniss’ (FW 3, 107 und 123), einerseits eine moralische Qualität darstellt, andererseits aber eine Bedrohung fürs eigenen Leben: wer leidenschaftlich fragt und Erkenntnis sucht wird alle Lügen bestreiten, auch die, welche angenehm oder sogar lebensnotwendig sind. Der Denker wird zu einem Kampfplatz, wo der Trieb zum Leben und der Trieb zur Erkenntnis mit einander kämpfen. Dass dieser Kampf unumgänglich ist, und nicht einfach durch eine Wahl für den einen oder den anderen Partei gelöst werden kann, wird klar wenn Nietzsche zeigt wie die beiden Parteien ineinander verschlungen sind: Es ist ein ‚Gewissen hinter deinem „Gewissen“’, das die ,„Festigkeit“ deines sogenannten moralischen Urtheils’ untergräbt (FW 335 3.561f ). Auch ‚der Trieb zur Wahrheit [erweist] sich als eine lebenerhaltende Macht’ (FW 110 3.471): Der Denker: das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrthümer ihren ersten Kampf kämpfen [...]. Im Verhältniss zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles Andere gleichgültig: die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment. (FW 110 3.471) Mit einem Blick auf unsere Frage nach der Bedeutung des Philosophen, der in den frühen Schriften ein Arzt der Kultur sein wollte, ist es wohl wichtig zu sehen, dass Nietzsche jetzt die Gesundheit des Philosophen selbst thematisiert, und dass er ‚die grosse Frage’ hervorruft, ob gerade für einen der von der ‚Durst nach Erkenntniss und Selbsterkenntniss’ gezeichnet ist, d.h. für einen Philosophen, Krankheit nicht ein notwendiger Bestandteil der Gesundheit sei: ‚ob wir der Erkrankung entbehren könnten’ 9 Vgl. M 18 3.31: ‚Die heldenhaftesten Seelen mögen sich darüber mit sich befragen.’ 8 (FW 120 3.477) In den letzten Zitaten hörten wir von einer ‚letzte[n] Frage’, und von einer ‚grosse[n] Frage’. Diese werden von Nietzsche letztendlich übersetzt werden in der Frage des ‚gröste[n] Schwergewicht’: ‘die Frage bei Allem und Jedem „willst du diess noch einmal und noch unzählige Male?“’ (FW 341). Der mit dieser Frage angezeigte Gedanke der ewigen Wiederkehr steht zentral im Also sprach Zarathustra. Ganz gegen meiner Erwartung hat dieses Buch die meisten Frag-Wörter und sogar bei weitem die meisten Fragezeichen. 10 Nur die neue Vorreden von 1886 und das ebenfalls in 1886 zugefügte V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft, d.h. die Schriften die Nietzsche unmittelbar nach der Zarathustra-Erfahrung schrieb, haben je vor sich relativ mehr Fragezeichen. Die Vermutung liegt nahe, dass wir hier ein sehr wichtiger Punkt erreichen in der Entwicklung des Fragens in Nietzsches Philosophieren. Aus mehreren Gründen lasse ich den Zarathustra hier außer Betracht, und behandle nur noch kurz das V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft und die neuen Vorreden. 3.6 Die Schriften von 1886 (FW V und die neue Vorreden) Die erste 4 Paragraphen des V. Buches der Fröhlichen Wissenschaft zeigen klar diesen wichtigen Punkt den wir erreicht haben. Ich zitiere den Titel: FW 343, ‘Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat’ bespricht die Durchwirkung des Todes Gottes , FW 344, ‘Inwiefern auch wir noch fromm sind’ thematisiert die Wissenschaft und das Suchen nach Wahrheit, FW 345, ‘Moral als Problem’ bespricht die Moral, und die reiche wird abgescholossen mit einer Zusammenfassung unter dem Titel: ‘Unser Fragezeichen’ (FW 346). Es ist fast eine Parodie zur Kants berühmte Zusammenfassung der Philosophie in 3+1 Fragen: ‘was kann ich wissen?’, ‘was soll ich tun?’, und ‘was darf ich hoffen?’11, zusammengefasst als: ‘was ist der Mensch?’12. Der Denker hat jeden Glauben, jedes Handeln und jede Erkenntnis gruundlich hinterfragt, konfrontiert sich jetzt mit dem eigenen Fragen, und entdeckt, dass Glaube, Moral und Wahrheitssuche darin weiterexistieren: ‘auch zu uns noch redet ein “du sollst”’ (M Vorr 4 3.3.16 ). Auch diese Philosophie ist Symptom eines Leibes und seine Gesundheit oder Krankheit. (FW Vorr). Die Selbstbewusste Ton dieser Vorreden kann leicht irreführen. Der Autor spricht zwar von einer Überwindung, aber es betrifft ‘ein räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg’ (MA I Vorr. 3 2.16). Er hat das Problem mit dieser Überwindung nicht hinter sich gelassen, sondern er kann es jetzt erst völlig zulassen: ‘Man fürchtet, mit diesem Willen in der Brust, nicht das Furchtbare und Fragwürdige, das allem Dasein eignet; man sucht es selbst auf.’ (MA II Vorr. 7 2.376f). Wer diesen Sieg bekämpft hat, hat seine Fragen nicht endgültig beantwortet, sondern er hat ‘einen Fragezeichen mehr, vor allem mit dem Willen, fürderhin mehr, 10 De telling is niet exact, en de vergelijking van boeken is problematisch. Als we de twee banden van Menschliches (met hun nieuwe voorwoorden) samen als één boek rekenen, of de uiteindelijke versie van de fröhliche Wissenschaft) dus inclusief de nieuwe Vorrede en boek V), dan hebben die (een beetje) meer vraagwoorden (MA I heeft er 56, MA II 38, FW 88, Z 81). Bovendien hebben niet alle boeken even veel pagina’s. Maar hoe we ook tellen of vergelijken, het aantal vraagtekens is in de Zarathustra zowel absoluut als relatief verreweg het grootste; ik telde er 838, wat overigens nog weinig is vergeleken met het nog veel grotere aantal uitroeptekens in dat boek: meer dan 2.200; vele daarvan staan overigens weer voor vraagtekens! 11 KrV A 805/B 833. 12 Logik (Leipzig, Phil. Bibl. 1904) p. 27. 9 tiefer, strenger, härter, böser, stiller zu fragen als man bis dahin gefragt hatte’, wie Nietzsche schreibt in der Vorrede zur FW (§ 3).13 3.7 Fazit Nietzsches Fragen entwickelt sich, ausgehend von einer Technik womit er Thesen vorbringt in einer rhetorisch strukturierten Darlegung, über eine rhetorische Technik um den Leser auf bestimmte Fragen aufmerksam zu machen, und über ein dann immer bedenklicher und misstrauischer werdendes Fragen, in dem zudem immer mehr das eigene Fragen Gegenstand der Untersuchung wird, bis es letztendlich Ausdruck wird einer existentiellen Haltung des freien Geistes der nicht länger selber die Fragen stellt, sondern sich als ein ‚Stelldichein von Fragen und Fragezeichen’ erfährt, wo es unklar ist ‚wer von uns [...] hier Oedipus [ist], Wer Sphinx? (JGB 1) Hier erreicht Nietzsche seine eigentliche und endgültige Frage. Ab jetzt werden wir auch weniger rhetorische Fragen finden in seinen Schriften, und öfter Fragen die er auch selber nicht beantworten kann. In der Vorrede zu MA II spricht er von ‘den Weg zu “mir” selbst, zu meiner Aufgabe. Jenes verborgene und herrische Etwas, für das wir lange keine namen haben, bis es sich endlich als unsre Aufgabe erweist’ (MA II Vorr 4 2.373). Wenn man (mit Nietzsche) sagen kann, dass jede Philosophie in einer Frage zusammengefasst werden kann, dann ist das für Nietzsche die Aufgabe ‘auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen’ (MA I Vorr. 4), die Aufgabe mit der ‘das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird’ (FW 382 3.637), oder wie er es in de FW formuliert: ‘die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment.’ (FW 110 3.471) Und weil er hier seine eigentliche Frage entdeckt, kann er jetzt auch die Einheit sehen in alles was er bis jetzt gemacht habe: ‘das es etwas Gemeinsames […] an allen meinen Schriften gäbe’ (MA I Vorr. 1). Die Hermeneutik sagt, dass man einen Autor oder einen Text erst versteht, wenn man die Frage versteht zu der es die Antwort ist. Die Frage zu dem Nietzsches Denken eine Antwort darstellt (und wahrscheinlich gilt das Gleiche für jeder Philosophie) wird aber auch vom Autor selber erst im Laufe seines Denkens entdeckt. Der ,Fall Nietzsche’ zeigt wie das vor sich geht: nämlich nur dadurch, dass der Autor seine Fragen auf das eigene Fragen richtet, dass er sein Denken auf sichselbst bezieht und existentiell macht, damit ‘das eigentliche Fragezeichen […] gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie beginnt…’ (FW 382 3. 4. ‚Nietzsche – Philosoph ....’ Was hat nun diese Entwicklung mit dem Thema unsrer Tagung zu tun? Die Entwicklung hat gezeigt wie der Philologe, der Philosoph sein wollte, zum freien Geiste wurde. Der Philolog/Philosoph vom Beginn präsentierte sich als ‚Arzt der Cultur’. Was ist aus diesem Metapher geworden bei dem freien Geiste? Die Vorreden von 1886 sind alle – mehr oder weniger – ein Protokoll von Nietzsches Genesungsprozesses, oder ‘[s]einer Kur und Selbst-Wiederherstellung’ 13 Die Fortsetzung des textes verbindet diese Überwindung des Frages (im Sinne einer Überwindung durch der Frage) mit der ‘ewigen Wiederkehr’ und das ‚amor fati’: ‘Das Vertrauen zum Leben ist dahin: das Leben selbst wurde zum Problem. Möge man ja nicht glauben, daß einer damit notwendig zum Düsterling geworden sei! Selbst die Liebe zum Leben ist noch möglich, -- nur liebt man anders. Es ist die Liebe zu einem Weibe, das uns Zweifel macht… […] Wir kennen ein neues Glück…’ 10 (MA I Vorr 1). Aber die Texten umfassen mehr als nur den persönlichen Bericht in dem der Philosoph Nietzsche darüber erzählt wie er krank war und genesen wurde. Zum Ersten ergiebt sich, dass dieses Prozess der Genesung damit anfängt dass der Kranke entdeckt und anerkennt dass er krank ist. Und in unserem Rahmen ist es besonders wichtig, dass Nietzsche gerade seine eigene erste explizit kulturkritische Veröffentlichungen als Symptome der Krankheit entdeckt, oder vielleicht sogar als Symptome einer Verkennung der Krankheit: eine ‘Falschheit’, ein ‘Selbst-Betrug’ die als ‘List der Selbst-Erhaltung’ fungierten (MA I Vorr 1). In diesem Sinne finden wir alle Figuren und Themen von Nietzsches frühen Kultur-kritische Schriften in diesen Texten zurück: Strauss, Schopenhauer und Wagner, die Griechen, die Deutschen und Europa, ‘Deutschtümelei’, ‘Bildung und Bildungsphilisterei’, ‘historische Krankheit’, Pessimismus, und Romantik, aber auch die grossen Domäne der Nietzscheschen Kulturkritik wie man sie das ganze Oeuvre hindurch sieht: Erkenntniss (oder Philosophie und Wissenschaft), Handeln (oder Moral und Politik) und Glauben (oder die Religion und namentlich das Christentum) erscheinen hier im Rahmen seiner Krankheitsgeschichte. Dies bedeutet zum Zweiten, dass der Arzt der Kultur entdeckt, dass er selber der zu genesende Patient ist, dass er – wie er in der Vorrede zu MA II (§ 5) schreibt – ‘Arzt und Kranker in einer Person’ ist. Jetzt erst entdeckt er dadurch wirklich, was er in gewissem Sinne auch in den frühen 70-er Jahre schon wusste, nämlich dass ein Arzt nur den Kranken helfen kann, wenn er sich selber helfen kann. Wie er es mit den Worten des Evangeliums (Lk 4:23) sagt: ‘Arzt, hilf dir selber, so hilfst du auch deinem Kranken noch’ (Z I Tugend 2 4.100).14 Nietzsche wusste das auch schon in den 70-ger Jahren. In eine Aufzeichnung aus der zweiten Hälfte von 1873 lesen wir: Der Philosoph hat zwei Seiten: eine kehrt er den Menschen zu, die andere bekommen wir nicht zu sehen, da ist er Philosoph für sich. Wir betrachten zuerst das Verhältniss des Philosohen zu den anderen Menschen. Resultat für unsere Zeit: es kommt bei diesem Verhältniss nichts heraus. Warum wohl? Sie sind nicht Philosophen für sich selbst. / “Arzt hilf dir selber!” Müssen wir ihnen zurufen. (NL 29[213] 7.714f) Nietzsche hat selber mehr als 10 Jahren gebraucht um gerade dies auch für sich selber zu entdecken. In seinen frühen Arbeiten war er wie ein solcher Philosoph der kein Philosoph und kein Arzt für sich selber war. Er hat selber versucht eine kranke Kultur zu genesen durch seine Diagnose zu geben und seine Therapeutik vor zu schreiben. In den Vorreden von 1886 beschreibt er wie er seitdem entdeckt hat, dass die Krankheit auch in ihm selber war. Dadurch hat er – drittens – aber allmählich auch noch etwas anderes entdeckt, nämlich, dass Genesung nicht vor sich geht durch ein Medikament, und dass Gesundheit nicht ein anderer Zustand ist der von dem der Krankheit ganz geschieden ist15, sondern dass Gesundheit, oder besser: Genesung, gerade darin besteht, dass man sich zu seiner Krankheit in der rechten Weise zu verhalten lernt, oder wie Thomas Long Nietzsches Begriff der Gesundheit umschreibt: ‚a transformative capacity to respond in an assertive way to apainful stimulus’.16 Die neue Gesundheit, ‘die grosse Gesundheit’ (FW 382), die er so entdeckt hat, ist deshalb eine, ‘welche der 14 Vgl. das Lemma ‚Arzt’ im NWB I, hier bes. S. 147. Vgl. die sogenannte ‚ontologische’ Interpretation von Gesundheit und Krankheit wie sie sich seit dem 16 Jh, entwickelte. Vgl. Dict. Hist. Ideas und: Thomas A. Long, ‚Nietzsche’s Philosophy of Medecine’ in: Nietzsche-Studien 19 (1990) 112-128, hier bes. S. 115. 16 Long, o.c. S. 117. 15 11 Krankheit selbst nicht entraten mag’ (MA I Vorr 4); ‘ – eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss!...’ (FW 382 3.636). Ein solcher Genesender – Arzt und Kranker in einer Person’ – entwickelt seine Philosophie aus dem Schmerz seiner Krankheit heraus. Diese grosse Gesundheit existirt gerade in dem was wir am Ende der Entwicklung von Nietzsches’ Fragen schon sahen: ‘auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen’ (MA I Vorr 4). Für ihn heisst Leben und Philosophieren das Gleiche, nämlich ‘alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln, auch alles, was uns trifft’ – ‘diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie.’ (FW Vorr 3) 5. ‚... der Kultur(en)?’ Aber sind wir jetzt nicht die Kultur aus dem Auge verloren? Was hat dies Alles mit einer Philosophie der Kultur zu tun? Ich möchte die Vermutung aussprechen, dass sich in dieser Entwicklung auch die Bedeutung der Kultur geändert hat. Aus einem Philosophen der die Kultur, im Sinne des Ganzen der höheren und niederen Ausdrücke der Sitten und des Geschmacks eines Volkes, betrachtet und kritisirt, hat Nietzsche sich entwickelt bis zu einem, der so-zu-sagen selber die philosophische Praxis wird in der die Kultur sich zu sichselber verhält. Da, wo er zum Fragezeichen wird, oder zum ‘Stelldichein von Fragen und Fragezeichen’, da wird der frühere Arzt der Kultur mit seiner äusserlichen Beziehung zu der von ihm kritisirten Kultur, zu einer Gestalt in der die Kultur sich selbst in einer problematisierende und experimentelle Weise auf sich selber bezieht. Während er früher vor allem interessiert war an dem Verhältniss zwischen dem Philosophen und der Kultur (an den ‚Wirkungen des Philosophen auf die Nichtphilosophen’, oder auf ‚den Culturwirkungen der Philosophie überhaupt’ NL 29[205] 7.712f), wird er jetzt selber als Philosoph zum Laboratorium der Kultur. Die grosse Aufgabe von damals, nämlich ‘ein Bündniss der bindenden Kraft [zu] sein, als Arzt der Kultur’ (NL 30[8] 7.733), wird daher jetzt zur Aufgabe ‚unsrer Leidenschaften und Begierden [...] großen Stil zu geben’ (NL 2[21] 12.75); oder wie Nietzsche es in der Fröhlichen Wissenschaft (290 3.530) schrieb: ‚Eins ist Noth. – Seinem Charakter „Stil geben“’.17 Aber genau wie früher, ist auch diese neue Bündelung, Bindung, Stilisierung oder ‚Mässigung’ kein Argument gegen der wesentlichen Pluralität der Kulturen. Nach der Vorrede zu Menschliches I. Band ist der Perspektivismus und das damit gegebene ‚Problem der Rangordnung’ den wichtigsten Ertrag der beschriebenen Loslösung (MA I Vorr 6f), und die ‚Kunst der Transfiguration’ die wir schon sahen, ist wesentlich eine Kunst der Vielheit, und deshalb vorbehalten am Philosophen, ‚der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht’ (FW Vorr 3). Der Philosoph wird selber das Laboratorium in dem die Kultur sich selbst untersucht und mit sich experimentiert. Dieses Experiment ist keine einmalige Sache, sondern prägt eine Lebensweise. Die skizzierte Entwicklung von Nietzsches Denken zeigt, wie dieses Denken letztendlich mündet in einer praktischen Frage (‚Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung? – das ist die Frage, das ist das Experiment.’ FW 110 3.471), d.h. eine Frage die von keinem theoretischen Antwort weggenommen, aber nur in einer Praxis vollzogen werden kann. 17 Vgl. auch das was Nietzsche zur Thematik des Maaßes schreibt; vgl. meine Veröffentlichungen dazu ***. 12 Diese praktische Natur der Frage, bestimmt sie auch zu einer individuellen, die nie für jemandem Anderen beantwortet werden kann. Wir werden erinnert an der auffälligen Singularität des Zarathustras (‚Das – ist nun mein Weg, - wo ist der eure? [...] Den Weg nämlich – den giebt es nicht! Z III Schwere 2 4.245) und an der Singularität der Vorreden von 1886, wo es immer um ‚meine’ oder eventuell ‚unsre’ Entwicklung geht. In der Vorrede zur Morgenröthe unterstreicht er nochmals wie sehr es um ‘eigene Wegen’ geht, auf denen man mit alles ‘allein fertig werden’ muss und wo man ‘niemandem’ ‘begegnet’ (M Vorr 1). Und dies bringt mir zu einer letzten Vermutung. Man könnte nämlich entgegenbringen, dass ich mit Unrecht Nietzsches Entwicklung nur bis zum Jahre 1886 verfolgt bin, und dass er nachher (und eigentlich unmittelbar ab dem auch schon 1886 erschienen Jenseits von Gut und Böse) wiederum über die deutsche und die europäische Kultur und allgemeiner über die Kultur in grösseren Sinne spricht und seine eigene ‚grosse Politik’ (EH Schicksal 1) dazu entwirft. Das stimmt, und die Forschung muss bestimmt weiter geführt werden. Aber meine Vermutung wäre, dass diese spätere Schriften alle im Lichte der hier erreichten Singularität gelesen werden müssen; einer Singularität, die in den letzten Schriften (Der Antichrist und Ecce Homo) bis ins Extreme gesteigert werden wird, und die die Konsequenz ist dessen was Nietzsche schon in einer frühen Aufzeichnung zur ‚Frage nach der Culturwirkungen der Philosophie überhaupt’ notiert: ‚Das Product des Philosophen ist sein Leben (zuerst, vor seinen Werken). Das ist sein Kunstwerk.’ (NL 29[205] 7.712). Eine Philosophie die die Kunst der Transfiguration versteht, wird unvermeidlich eine singuliere Philosophie sein – was etwas ganz anderes ist als eine partiküliere, denn ‚was geht es uns an, dass Herr Nietzsche wieder gesund wurde?...’ (FW Vorr. 2) 13