Naturrecht, Geschichte und Vernunft

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Peter Paul Müller-Schmid
Naturrecht, Geschichte und Vernunft (I)
Naturrecht und Pluralismus bei Arthur F. Utz OP
Vor zehn Jahren, am 18. Oktober 2001, verstarb dreiundneunzigjährig einer der
großen katholischen Sozialphilosophen des 20. Jahrhunderts: Arthur F. Utz OP1
(geb. 15. 4. 1908), Schweizer Theologe und Philosoph, Naturrechtler und Interpret
der Geschichte der Naturrechtstheorien (insbesondere Thomas von Aquin), Interpret
der katholischen Soziallehre und Herausgeber grundlegender Texte zu ihrer Geschichte, Systemdenker2 und Verfasser einer die Prinzipien der Gesellschaftslehre,
die Rechtsphilosophie sowie die ordnungsethischen Grundfragen von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft umfassenden fünfbändigen Sozialethik. Neben den in Erinnerung zu rufenden Leistungen und den Rückblicken auf ein großes philosophischtheologisches Lebenswerk und dessen zeitgeschichtlichen Rang und grundsätzliche
Bedeutung dürfte es von Nutzen sein, das Augenmerk auch einer all seine Publikationen durchziehenden Grundidee zuzuwenden – der Frage des Naturrechts: nur
scheinbar eine Spezialfrage der Ethik, in Wirklichkeit jedoch die in Utz’ Sicht überhaupt zentrale Frage nach der Begründungsphilosophie einer freiheitlich-sozialen
Ordnungsethik. So seien im folgenden – auch im kritischen Dialog mit gegensätzlichen, für Utz’ Situierung seiner naturrechtlichen Sozialethik jedoch eine Rolle
spielenden Theorien – einige Überlegungen formuliert zu Grundfragen des Naturrechts als des Herzstücks einer in der Geistesgeschichte, auch im zeitgenössischen
Diskurs im Hinblick auf seine metaphysischen Voraussetzungen geschätzten, aber
auch umkämpften normativen Ordnungsphilosophie von Freiheit und Bindung des in
die Gesellschaft integrierten Menschen und seiner personalen Würde.
I. Die zwei prinzipiellen Systeme der Ethik
Ausgangspunkt der Utzschen Sozialethik ist der Sachverhalt, daß es im Grunde nur
zwei prinzipielle Systeme der Ethik gibt: eines, das seine Normen aus dem Sein bezieht, oder aber ein solches, welches Sein und Sollen trennt und einen eigenen Bereich des Sollens postuliert.3 Freilich ist, wie Utz betont, nicht zu übersehen, daß es
innerhalb der beiden Gruppen eine große Verschiedenheit der Theorien und Denkansätze gibt. Es erscheine daher oft als mißverständlich, sie unter einem gemeinsamen
Namen zu nennen. Zur ersten Gruppe zählt die aristotelisch-thomistische Naturrechtsethik, der eine bedeutende Rolle in der Geschichte der Moralphilosophie und
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Sozialethik bis heute zukommt. Ihr Charakteristikum ist eine auf einem erkenntnistheoretischen und metaphysischen Realismus aufbauende materiale Ethik. An materialer Ethik orientiert sind freilich auch andere Ethiken wie die phänomenologische
Wertethik, insbesondere aber auch die Hegelsche dialektische Ethik, um nur diese zu
nennen. Beide sind im Gegensatz zum Realismus der Naturrechtsphilosophie Vertreter eines – wenn auch sehr unterschiedlichen (zum einen wertethischen, zum anderen
geschichtsphilosophisch-immanentistischen) – Idealismus. Eine geistesgeschichtlich
besonders einflußreiche, den Beginn der Kopernikanischen Wende in der modernen
Philosophie bezeichnende Variante idealistischer Philosophie begegnet uns im
„transzendentalen Idealismus“ als der Begründungsphilosophie der Kantschen Ethik.
Deren Charakteristikum ist bei Ablehnung einer ontologischen Fundierung der Rekurs auf eine formal begründete absolute und allgemeingültige Ethik. Diese bis heute
die ethische Debatte beherrschende Auseinandersetzung zwischen den philosophischen Systemen sei im folgenden kurz skizziert in der Absicht, hiermit den systematischen Stellenwert einiger wesentlicher Elemente des auf der aristotelischthomistischen Tradition aufbauenden und diese weiterentwickelnden Naturrechtsdenkens, deren Herausarbeitung nicht zuletzt Utz4 sich zu einer zentralen Aufgabe
machte, im Zueinander und Gegeneinander der Argumente besser verstehen zu können.5
II. Die Fundierung der Sollensordnung im Sein
Die auf der aristotelisch-thomistischen6 Philosophie aufbauende klassische Naturrechtslehre zählt zu jenen Ethiken, die ontologisch, d.h. an einer Fundierung der
Sollensordnung im Sein orientiert sind. Dies gilt nicht nur für die Individual-, sondern auch für die Sozialethik.7 Eine solche Ethik muß uns sagen können, was gut und
was schlecht in unserem gesellschaftlichen Handeln ist und wie wir Normen gewinnen, um unsere rationalen Überlegungen zugleich sittlich verantworten zu können.
Wir erwarten von ihr echtes Wirklichkeitsverständnis, und zwar ein Wirklichkeitsverständnis nicht nur für unsere sittliche Integrität, sondern zugleich auch für unsere
gesellschaftliche Situation. Sittliche Integrität und gesellschaftliche Situation aber in
einem einzigen sittlichen Imperativ zusammenzubringen, macht eine Ethik erforderlich, welche einerseits über der Situation steht und das Absolute ergreift, andererseits
aber auch das Konkrete und Individuelle nicht vernachlässigt. Sozialethik im naturrechtlichen Sinne geht es um den Aufweis einer gesellschaftlichen Ganzheitsnorm,
die mehr ist als die Summe individueller Normen, denn aus keiner noch so adäquaten
Summierung der Einzelverantwortungen resultiert bereits die Norm für ein Ganzes.
Freilich muß in dieser Norm die Verantwortung der einzelnen mit enthalten sein.
Voraussetzung ist daher eine Offenheit für die Realität des Individuellen. Sozialethik
im naturrechtlichen Sinne bedarf ganzheitlicher Orientierung, muß aber zugleich in
der Lage sein, einen rationalen Ausgleich der individuellen Interessen innerhalb des
Gesellschaftsganzen zu ermöglichen.
1. Theoretische und praktische Vernunft – Seinserkenntnis und Seinsverwirklichung
Für die Ethik grundlegend ist die Unterscheidung von theoretischer und praktischer
Vernunft. In der in einem metaphysischen Realismus begründeten aristotelisch344
thomistischen Erkenntnistheorie spielt hierbei die sogenannte Abstraktionstheorie8
eine zentrale Rolle: unsere theoretische Vernunft gewinnt die Erkenntnis des Seins in
Form von aus der Wirklichkeit abstrahierten Wesenheiten. Dadurch, so die Voraussetzung, vermag sie der praktischen Vernunft allgemeingültige Inhalte zu geben.
Hiermit jedenfalls ist die Grundbedingung für ein echtes ethisches Soll erfüllt, nämlich die allgemeingültige und absolute Forderung. Zugleich ermöglicht der abstrahierte Inhalt die Hinwendung zur konkreten Wirklichkeit, die Meisterung der Aufgaben aus sittlicher Verantwortung.9 Aus dieser Konvergenz von Wesenheit und Gewissen folgt, daß sittlich gutes Verhalten Seinsverwirklichung besagt.
Seinsverwirklichung aber bedeutet Vervollkommnung und Glück.
2. Wertordnung: Allgemeingültige Erkenntnis und geschichtlich geprägte Kultur
Der aristotelisch-thomistischen Ethik geht es um das Objekt der Handlung, um dasjenige, was wesentlich und darum allgemeingültig ist. Nun weist Utz freilich darauf
hin, daß das, was in bezug auf die allgemeinen Erkenntnisse, die für die Handlungslehre von Bedeutung sind, oft übersehen wurde, die Tatsache ist, daß die Wesenserkenntnisse auf dem Gebiet der Werte nicht vollkommen theoretisch gewonnen werden. Innerhalb der thomistischen Philosophie ergeben sich von hier aus zwei Richtungen. Die einen nehmen an, die Objekte der Handlungen ließen sich mehr oder
weniger vollkommen auf theoretischem Wege definieren, so daß die praktische Vernunft keine andere Aufgabe hätte, als die theoretisch gewonnenen Definitionen in
Imperative umzuformen. Zu diesen zählt Utz die meisten Thomaskommentatoren
und Scholastiker, vor allem auch die Moraltheologen des 19. Jahrhunderts. Die anderen geben sich Rechenschaft darüber, daß alle Definitionen, welche das Handeln des
Menschen orientieren sollen, stark von der geschichtlich geprägten Kultur bedingt
sind und Zeit zur Ausreifung erfordern, um als Definitionen im eigentlichen Sinne
gelten zu können. Zu dieser zweiten, zahlenmäßig geringeren Gruppe zu zählen sind
vor allem Thomas von Aquin selbst, unter den Naturrechtsvertretern des 20. Jahrhunderts insbesondere der große Systematiker des Naturrechts Johannes Messner und
nicht zuletzt auch Utz selber (dieser freilich z.T. auch das Anliegen der Spätscholastiker anerkennend).
3. Die Frage der Wesensdefinition und absoluter Werturteile: zwei Richtungen des
Thomismus
Die aristotelisch-thomistische Ethik muß mithin die Frage reflektieren, ob die aus
dem Sein abgelesenen Definitionen wirkliche Definitionen sind, oder ob es sich nicht
vielmehr um Erkenntnisse handelt, die wir heute als vorläufig und hypothetisch bezeichnen würden. Auch der die Abstraktionslehre noch so wichtig findende Erkenntnistheoretiker muß zugestehen, daß die Scholastiker, auch Thomas von Aquin selber,
oft etwas rasch sich vor Definitionen wähnten. Aber dies dürfte kein Anlaß sein, nun
den Gedanken der Abstraktion völlig abzuweisen. Beim Lesen mancher mit großer
Selbstsicherheit vorgetragenen Theorien mancher Soziologen gewinnt man den
Eindruck, auch hier habe man es mit einem voreiligen Essentialismus zu tun. Die
Scholastiker hatten eben die damals verfügbare Erfahrung zugrundegelegt. Entsprechend wird es immer bleiben. Dennoch sucht der Mensch spontan nach Allgemeinerkenntnis, was die Tendenz der Soziologen nach Bildung einer Theorie zu erklären
vermag.
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Wann man von einer Wesensdefinition sprechen kann, ist bereits im theoretischen
Bereich schwierig zu bestimmen. Erst recht gilt dies auf dem Gebiet des ethischen
Handelns, das der praktischen Vernunft untersteht. Aus unserem Handeln gewinnen
wir die Einsicht, daß es nicht so leicht ist, aus dem geschichtlich geprägten Erfahrungswissen heraus Moralprinzipien im Rang von Definitionen und Wesenheiten zu
formulieren. Der Grund liegt in der Tatsache der Schwierigkeit, unsere Werturteile
zu transzendieren, d.h. sie einer absolut gültigen Kontrolle zu unterwerfen. Viele
glauben heute, daß der Güter Höchstes für die Gesellschaft in der größtmöglichen
Freiheit des möglichst autonomen Individuums liege. So war es aber nicht zu allen
Zeiten. Diese Wesensaussagen über die rechte Gesellschaftsordnung sind nichts als
Werturteile, die nicht nur theoretischer Natur, sondern vom Wertempfinden her bestimmt sind. Mag auf dem Gebiet der Theorie aufgrund der Abstraktionslehre die
Frage nach den Wesensaussagen noch verhältnismäßig einfach aussehen, so erscheint sie hier auf dem Gebiet der Ethik und Gesellschaftsordnung mit einer neuen
Nuance, nämlich in der Form, ob es möglich ist, Wesenswertungen vorzunehmen,
indem man das geschichtlich bedingte Wertempfinden transzendiert und zu einem
absoluten Werturteil gelangt. Der ersten Richtung der Thomisten ging es zu sehr um
die theoretische Analyse, ohne das Wertempfinden als grundlegendes Element des
Naturrechts miteinzubeziehen. Im Gegensatz dazu war Thomas von Aquin anderer
Auffassung. Als Naturrecht gilt ihm nur, was sowohl vom Objekt (also von der theoretischen Vernunft) her als auch vom Wertempfinden her spontan Geltung erlangt. J.
Messner10 hat das Verdienst, diesen Gesichtspunkt der thomasischen Naturrechtslehre herausgearbeitet zu haben.
Freilich scheint durch diese zweite Auffassung der Thomismus seinem erkenntnistheoretischen Realismus zu widersprechen. Man kann daher Verständnis für die
Spätscholastiker haben, warum sie sich von der praktischen in die theoretische Ordnung begaben, um das „an sich“ und das Apriori der sittlichen Normen durch Rückgriff auf die objektive Wahrheit der Wesenheiten zu bewahren. Dieses ihr Anliegen
hat allerdings dazu beigetragen, ihrer Auffassung von allgemeingültigen sittlichen
Normen eine allzu intellektualistische Note zu verleihen. Sie setzten andererseits
stillschweigend voraus, daß die praktische Vernunft an sich die Kraft besäße, in
Form evidenter Werteinsicht die theoretische Ordnung zu bejahen. In dieser Weise
hat sich A. F. Utz11 in seinem Thomaskommentar zu S. Theol. II-II 57,2 ausgesprochen: „Alles das hat als Naturrecht zu gelten, was objektiv rational, d.h. sachlich
analysierbar ist. Ob es nun immer möglich sein wird, auf rationalem Wege die an
sich rationale, genauer gesagt, rationable und intelligible, weil sachlich vorliegende,
Rechtslage zu analysieren, ist eine andere Frage.“ Was hier vom Naturrecht gesagt
wurde, gilt allgemein von den sittlichen Normen. Im Grunde muß aber auch die
Erklärung, die durchgängig durch J. Messner vertreten wird, zum gleichen Ergebnis
kommen. Wenn man annimmt, daß das immer allgemeingültige und oberste Prinzip
sittlicher Erkenntnis (das Gute ist zu tun, das Böse zu meiden) ein Werturteil und
nicht nur einen objektiven Sachverhalt beinhaltet, wie auch Utz in seiner Ethik ausdrücklich bejaht, dann muß man sich bewußt bleiben, daß gemäß diesem AprioriUrteil die sittliche Erkenntnis, d.h. die praktische Vernunft von Natur darauf
hingeordnet ist, den allgemeinen Begriff des „Guten“ im Hinblick auf das Sein, also
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auf objektive Sachverhalte zu konkretisieren, womit man wiederum auf einen Sachverhalt verwiesen ist, der „an sich“ gilt und darum tatsächlich auch allgemein anerkannt zu werden „verdient“. Diese Überlegungen beweisen, daß die beiden Richtungen im Thomismus im Grunde wieder übereinkommen.
4. Primäres und sekundäres Naturrecht – die Möglichkeit ethischer Bewertung gesellschaftlicher Entwicklung
Wenngleich ganz offenbar Thomas von Aquin eine Vielzahl von objektiv gültigen
Werturteilen annimmt, so teilt er trotzdem nur eines, nämlich das oberste, dem primären Naturrecht (eigentlich müßte man sagen „Naturgesetz“12), d.h. dem natürlichen Sittengesetz zu. Tatsächlich sind eben nicht alle an sich anerkennenswerten
praktischen Wahrheiten anerkannt. Die Gründe können unterschiedlicher Art sein:
Irrtum, Verzerrung des sittlichen Verhaltens, Erziehung, soziales und kulturelles
Milieu. Die Tatsache, daß sie nicht anerkannt sind, beweist, daß sie nicht natürlich
oder spontan Anerkennung finden. Dies genügt, um sie unter das sekundäre Naturrecht (d.h. sekundäre sittliche Naturgesetz) einzureihen.13 Für die gesellschaftliche
Ordnung ist diese Einreihung von besonderer Bedeutung, nämlich als Einsicht, daß
eine tatsächliche Nichtanerkennung von an sich, d.h. objektiv gültigem Werturteil
korrekturbedürftig ist, eben weil sie von der Seinsorientierung des obersten apriorisch gültigen Imperativs abgewichen ist. Da der oberste Imperativ immer bestehen
bleibt, eröffnet er die Möglichkeit der sittlichen Selbstkontrolle und damit der sachgerechten Vervollkommnung. Nach thomistischer Auffassung kann man nicht einfach von verschiedenen sittlichen Kulturen sprechen, da man sie nach objektiven
Kriterien sittlich zu beurteilen vermag. Es gibt somit einen rationalen Weg zur stets
besseren Gestaltung des sittlichen Lebens, eine Einsicht, die für die Gesellschaftsethik grundlegend ist. Das sittliche Apriori kann logischerweise und zwar auch unter
wertlogischem Gesichtspunkt nicht in jedweder Richtung in konkretere Handlungsprinzipien umgeformt werden. Es muß daher möglich sein, tatsächlich vertretene
sittliche Werturteile und Verhaltensweisen zu verifizieren und zu falsifizieren.
III. Apriori und Erfahrung in der Ethik
Als Grundmuster der Zuordnung von Apriori und Erfahrung in der Ethik gilt im
zeitgenössischen Philosophiediskurs weithin die Kantsche Lösung des Problems, die
als Begründung des modernen, „nachmetaphysischen“ Zeitalters erscheint. Der naturrechtlichen Sicht scheint es an Zeitgemäßheit zu fehlen. Doch führen Pauschalurteile in dieser Frage nicht weiter. Es gilt zu differenzieren.
1. Apriori und Erfahrung – Kant und das Naturrecht gegen Deduktion des ethischen
Solls aus empiristischem Naturbegriff
Bei aller Gegensätzlichkeit der Ethikkonzeptionen gibt es eine bedeutende Übereinstimmung der naturrechtlichen und der Kantschen Auffassung zur Ethik: diese findet
sich im Kontext von Apriorismus und Empirismus. In beiden Konzeptionen handelt
es sich um die Grundlegung einer den Empirismus transzendierenden absoluten
Ethik und die Ablehnung einer Auffassung, die das ethische Sollen aus einem empiristisch gefaßten Naturbegriff deduziert. In dieser Hinsicht sind sowohl das Naturrecht als auch die Kantsche Ethik „metaphysische“ Auffassungen14, die dem Men347
schen als geistbegabtem, mit personaler Würde ausgezeichneten Wesen gerecht zu
werden versuchen. Bezogen auf den genannten Kontext, hat der Hinweis auf die
Formalität des kategorischen Imperativs zunächst wenig zu tun mit dem traditionellerweise von naturrechtlicher Seite gegen Kant geäußerten Formalismus-Vorwurf:
Formalität meint bei Kant nicht mangelnde, sondern im Gegensatz zum Empirismus
eine aus Vernunftgründen stammende Bestimmtheit.
2. Kants kategorischer Imperativ als formales Vernunftgesetz und der naturrechtliche Sollbegriff
Hier trennen sich nun freilich die Wege der Kantschen und der klassischnaturrechtlichen Ethikauffassung: während Kant den kategorischen Imperativ als
formales Vernunftgesetz im Sinne der Autonomie der praktischen Vernunft versteht,
ist bei Thomas von Aquin der ethische Imperativ ein Soll, das von einer ontologisch,
d.h. an Vorgegebenheiten des Seins orientierten Vernunft ausgesprochen wird. Somit
führt die thomasische Ethik trotz ihrer rigorosen Eingrenzung des primären Naturrechts gleichwohl nicht zu einem nur formalen obersten Imperativ. Man kann Thomas von Aquin nicht im Sinne des modernen Idealismus interpretieren. Sosehr, wie
dies manche Interpreten meinen, die thomasische Lehre von der Synderesis dem
transzendentalen Idealismus Kants ähnlich zu sein scheint, sosehr ist sie doch letztlich von dieser Philosophie unterschieden durch die Annahme einer wesentlichen
Hinordnung der Synderesis auf den rational analysierbaren Objektbereich der ethischen Imperative. In der thomasischen Ethik geht es um die innere Zuordnung von
Sein und Sollen, in Kants Ethik demgegenüber um die nicht in der Seinsordnung
begründbare, daher formale Apriorität des Moralprinzips.
3. Die Idee der Autonomie und die Frage der Theonomie in der Kantschen Ethik
Sosehr Kant auf dem Gebiet der theoretischen Vernunft eine metaphysische Erkenntnis ablehnt, sosehr geht es ihm jedoch auf dem Gebiet der praktischen Vernunft
um den Erweis einer absoluten Wirklichkeit. Kants Ablehnung der Abstraktion, d.h.
der metaphysischen Wesenserkenntnis, ist freilich der Grund, daß das Absolute der
praktischen Vernunft, d.h. der kategorische Imperativ, in keiner Weise ontologisch,
sondern einzig im Sinne der „Autonomie“ bestimmbar ist.
„Autonomie“ der praktischen Vernunft im Kantschen Sinne besagt freilich nicht, daß
überhaupt jede Idee einer Theonomie ausgeschlossen wäre, führt doch nach Ansicht
Kants das moralische Gesetz durch den „Begriff des höchsten Guts“ zur „Erkenntnis
aller Pflichten als göttlicher Gebote“, wobei Kant betont, daß diese nicht zu verstehen
seien als „zufällige Verordnungen eines fremden Willens“, sondern daß es um ein
Verständnis der Gebote gehe als „wesentlicher Gesetze eines jeden freien Willens für
sich selbst, die aber dennoch als Gebote eines höchsten Wesens angesehen werden
müssen.“15 Mit dieser in gewisser Hinsicht transzendenten Verankerung des moralisches Gesetzes gehört Kant ebenso wie Thomas von Aquin zu jenen Ethikern, die mit
dem Verweis auf die innere Notwendigkeit einer absoluten Begründung der Ethik
grundsätzlich jedem Empirismus und Relativismus in der Ethik die Basis zu entziehen suchen.
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4. Relativierend-individualistische Tendenz im vertragstheoretischen Begründungsansatz der Kantschen Rechts- und Staatslehre: grundsätzliche Trennung von Recht
und Ethik statt im moralischen Naturgesetz verankerter Rechtspflicht
Daß eine solche von Kant in der allgemeinen Ethik durchaus gesuchte absolute Verankerung allerdings in der Kantschen, insbesondere neukantianischen Rechts- und
Staatslehre nicht vorhanden ist, vielmehr ein ins Soziologische führender, ja gewissermaßen relativierender Individualismus tendenziell bestimmend wird, liegt an der
der Kantschen Philosophie gemäßen Trennung von Recht und Ethik und letztlich
nicht vorhandenen Gemeinwohlnorm: die rechtliche Pflicht ist, anders als im Naturrecht, nicht verankert in dem mit Sanktionsmacht verbundenen moralischen Naturgesetz. Sicherlich könnte mit manchen Interpreten eine gewisse Einschränkung dieser Relativierung in dem Sachverhalt gesehen werden, daß bei Kant die Verpflichtungsfundamente des Rechts in seinem Begriff der transzendentalen Freiheit verankert sind und diese somit immerhin einen gewissen indirekt-ethischen Verpflichtungscharakter haben. Für Thomas von Aquin hingegen ist die ganze Freiheit der
natura humana eingeordnet, die ihrerseits in der Schöpfungsordnung begründete
Norm des sowohl rechtlichen als auch sittlichen Handelns ist. Rechtspflichten sind
daher bei Thomas von Aquin konsequenterweise nicht nur indirekt-ethische, sondern
direkt-ethische Pflichten. Bei aller Freiheitsorientierung der Kantschen Rechtslehre
ist dennoch nicht zu übersehen, daß sie aufgrund der Trennung von Ethik und Recht
zu einer Autonomie des Staates führt, die den vertragstheoretischen Begründungsansatz der Kantschen Rechts- und Staatslehre sehr deutlich werden läßt.
5. Das Anliegen einer materialen Ethik im Idealismus der phänomenologischen
Wertethik: das Gute als Grund des Gesolltseins – Ähnlichkeit und Unterschied zum
Naturrecht
Bevor die vergleichenden Überlegungen zur Systematik des Naturrechts im Hinblick
auf die Sozialethik weiterverfolgt werden sollen, seien mit der phänomenologischen
Wertethik und der Hegelschen Dialektik kurz zwei wichtige Richtungen einer nicht
formalen, sondern materialen nicht-empiristischen Ethik erwähnt, die neben dem
kantianischen formalen Ansatz des kategorischen Imperativs für die Situierung des
Utzschen Naturrechtsverständnisses unerläßlich sind und im übrigen es erleichtern,
ein differenzierteres Verständnis dessen zu gewinnen, worin das Anliegen einer
materialen Ethik in der Naturrechtslehre seine spezifische Begründung findet.
Kant hat mit seiner formalistischen Ethik, die im Sinne des transzendentalen Subjektivismus das Absolute als allgemeine Gesetzlichkeit der Vernunft bestimmt, konsequent eine der Möglichkeiten einer zugleich nicht-empiristischen und nichtontologischen Ethik formuliert. Man wird hinsichtlich dieser Ethik (jedenfalls bzgl.
der allgemeinen Ethik) sicherlich anerkennen müssen, daß sie der Idee des absoluten
Solls wie auch der Idee der Personalität des Menschen gerecht zu werden sucht.
Andererseits bleibt freilich ein wichtiges Phänomen der Ethik, das Wertbewußtsein
des Menschen im Sinne materialer Werte, in Kants Ethik unberücksichtigt, worauf
von Seiten der phänomenologisch orientierten Wertethik mit Recht hingewiesen
wird.
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Die phänomenologische Wertethik versucht, sowohl den Empirismus als auch den
Kantschen Formalismus im Sinne einer materialen Wertethik zu überwinden. Sie
definiert freilich die Werte als apriorische Gegebenheiten einer idealen Ordnung.16
Dies bedeutet einerseits ohne Zweifel eine Überwindung des Kantschen Formalismus. Andererseits jedoch kommt die Wertethik – aus der Sicht des Naturrechtsdenkens – insofern über Kant nicht hinaus, als sie das Problem einer ontologisch fundierten Wert- und Sollensordnung unberücksichtigt läßt. Hierin dürfte der wichtigste
Grund für nicht zu übersehende Schwierigkeiten dieser Ethik liegen.
Die Bedeutung der Wertethik kommt in einem wichtigen, auch von Thomas von
Aquin geteilten Grundsatz zur Geltung. Im Gegensatz zum Formalismus der Kantschen Ethik weist sie auf die Einsicht hin, daß, wie z.B. M. Scheler betont, das Sollen
im Wert begründet ist17, daß also das Gute der Grund für das Gesolltsein, nicht umgekehrt das Gesolltsein der Grund des Guten ist. Insofern nun freilich die Wertethik
vom Problem einer ontologisch fundierten Wert- und Sollensordnung absieht, ist sie
aus Sicht des Naturrechtsdenkens allerdings weder in der Lage, den im Sein begründeten Zweckcharakter der Werte aufzuweisen18 noch auch (wenn man von Ausnahmen wie etwa in Johannes Hessens Grundlegung der Ethik absieht19) den Grund des
seinshaften Wertcharakters selbst, die Teilhabe an Gott als dem absoluten Seinswert,
zu erklären. Die Orientierung der Wertethik einzig an der idealen Ordnung bringt aus
naturrechtlicher Sicht schließlich auch ein Realitätsmanko in der Bestimmung des
Pflichtcharakters mit sich: das Absehen von der Frage nach dem absoluten realen
Grund des Pflichtcharakters, seiner Begründung in einer transzendenten absoluten
Autorität.
Die Wertphilosophie repräsentiert somit in der Interpretation von Utz20 eine eigenartige, zwischen der ontologischen und der formalen Auffassung der Ethik befindliche
Richtung. Die Welt der ideale Wesenheiten bedeutenden apriorischen Werte ist in
der Wertethik nur durch das Wertempfinden erfaßbar. Wertempfinden und
Seinserkenntnis befinden sich somit in keiner wesentlichen Zuordnung. Für das Handeln des Menschen ist das Wertempfinden grundlegend. Eigentlich wird also, so die
Interpretation aus naturrechtlicher metaphysisch-realistischer Sicht nicht Geschichte
gestaltet, sondern der innere Mensch in der Geschichte, einerseits das Anliegen der
Ethik, das Absolute im Menschen zur Geltung zu bringen, erreicht, andererseits aber
ein gestalterischer Geschichtsbeitrag direkt nicht geleistet. Die rationale Bewältigung
der geschichtlichen Aufgaben bleibt vom Wertempfinden gesondert. Mit einer gewissen Logik ergibt sich in Weiterentwicklung dieser Philosophie jene im ethischen
Diskurs der Gesellschaft oft angeführte Aufteilung der Ethik in Gesinnungs- und in
eine Art pragmatistischer Verantwortungsethik, wie sie von M. Weber21 aufgrund
seiner Theorie, die ebenfalls wie die Wertethik Sein und Sollen in keine rationale
Zuordnung zu bringen vermag, formuliert wurde (nicht zu verwechseln mit der von
Hans Jonas vertretenen, ontologisch begründeten Ethik der Verantwortung22).
6. Anthropologie: Verbindung von phänomenologischem Ansatz und metaphysischem Realismus
Eine entscheidende Realitätswendung der Anthropologie und Ethik im 20. Jahrhundert23 liegt vor in den Versuchen einer Verbindung von phänomenologischem Erfahrungsansatz und metaphysischem Realismus. Hier wäre in erster Linie auf die Philo350
sophie des Personalismus24 zu verweisen, wie sie Karol Wojtyla als Philosoph formuliert und im Rückgriff auf die christliche Lehre vom Menschen in seiner päpstlichen Sozialverkündigung vertreten hat: Johannes Paul II. geht es um das christliche
Bild des Menschen als Person, d.h. um die Würde jedes Menschen als mit Freiheit
ausgestattetem, dem Nächsten und dem Gemeinwohl verpflichteten personalen Wesen, das Subjekt, Zweck an sich ist und niemals zum Objekt gemacht werden darf.
Auf dieses Prinzip hin orientiert Johannes Paul II. im Sinne einer christlich fundierten Sozialethik die Wirtschafts- und Arbeitswelt in seiner Enzyklika „Laborem
exercens“25, darüber hinaus aber auch die christliche Gesellschaftsorientierung überhaupt.26
In diesem Kontext sei wiederum insbesondere auch verwiesen auf den phänomenologisch-metaphysischen Realismus, wie man ihn unter Rekurs auf ein Konzept der
verstehenden Erfahrung in der auch heute noch (bis in den außereuropäischen Raum)
vielbeachteten Naturrechtslehre J. Messners (man konsultiere hierzu die interessante
Interpretation von A. F. Utz27) vorfindet.
Von großem Einfluß in der Gegenwartsphilosophie ist der nicht zuletzt seiner Evidenz und seiner ethischen Folgerungen im Hinblick auf eine konsequente Ethik und
Politik des Lebensschutzes wegen viel Beachtung findende personale Argumentationsansatz28 des Philosophen R. Spaemann, der verschiedene (sprachanalytische,
interaktionistische, nicht zuletzt auch phänomenlogische) Zugangsweisen der Erkenntnis mit einem metaphysischen Realismus verbindet29, um in Auseinandersetzung mit reduktionistischen Erfahrungs- und Realitätsbegriffen (Descartes, u.a.) den
grundlegenden Unterschied zwischen „etwas“ und „jemand“, d.h. das Wesen des
Menschen als Person, als nicht zum „etwas“ der Objektwelt zu degradierendem,
sondern mit unbedingt zu achtender Würde ausgestattetem Subjekt herauszuarbeiten.30 Es leuchtet ein, daß sich aus dem Aufweis der unbedingten Würde des Menschen und der in seinem Personsein begründeten unbedingten Anerkennung wesentliche Konsequenzen für die heute so umstrittenen Fragen der Biopolitik und des
Lebensschutzes ergeben: Personen besitzen Fähigkeiten. Personen können sich entwickeln. „Aber es kann sich nicht etwas zur Person entwickeln. Aus etwas wird nicht
jemand. Wenn Personalität ein Zustand wäre, könnte sie allmählich entstehen. Wenn
aber Person jemand ist, der sich in Zuständen befindet, dann geht sie diesen Zuständen immer schon voraus. Sie ist nicht Resultat einer Veränderung, sondern einer
Entstehung, wie die Substanz nach Aristoteles. Sie ist Substanz, weil sie die Weise
ist, wie ein Mensch ist.“31 „Personalität ist nicht das Ergebnis einer Entwicklung,
sondern immer schon die charakteristische Struktur einer Entwicklung. Da Personen
nicht in ihre jeweils aktuellen Zustände versenkt sind, können sie ihre eigene Entwicklung als Entwicklung und sich selbst als deren zeitübergreifende Einheit verstehen. Diese Einheit ist die Person.“32
7. Hegels materiale Ethik als Ursprung eines modernen geschichtsimmanentistisch
begründeten Universalismus und sein Gegensatz zur Kantschen Autonomie wie auch
zum metaphysisch-ontologischen Naturrecht
Eine nicht nur formale oder wertethische Überwindung des Empirismus setzt eine
wirklichkeitsorientierte und zugleich absolute Ganzheitsphilosophie voraus. In den
Konzeptionen sowohl von Hegel als auch von Thomas von Aquin wird diesem Sach351
verhalt Rechnung getragen, freilich aufgrund einer diametral entgegengesetzten
Erklärung des Absoluten: während Thomas von Aquin das Absolute von der Transzendenz her begreift, erklärt es Hegel rationalistisch (trotz religionsphilosophischer
Entstehungsgründe seines Denksystems) im Sinne der Immanenz der geschichtlichen
Entwicklung. Entsprechend befindet sich Hegels Ethik und Sozialphilosophie im
Gegensatz nicht nur zur „Abstraktheit“ der Kantschen formalen Subjektivität, sondern auch zur ontologisch-naturrechtlichen Auffassung des Ganzheitsbegriffs. Aus
der Idee, daß das Allgemeine als absolute geschichtliche Wirklichkeit verstanden
wird, welche die Menschheit umgreift und deren Sinn bestimmt, folgt Hegels berühmte Auffassung, derzufolge nicht nur das Vernünftige als wirklich, sondern auch
umgekehrt das Wirkliche als vernünftig zu bezeichnen ist.33 Es ist daher folgerichtig,
wenn Hegel seine geschichtsdialektische Universalphilosophie in institutioneller
Hinsicht verwirklicht sieht im Staat, der für Hegel als Wirklichkeit des substantiellen
Willens das an und für sich Vernünftige ist34 und insofern von Hegel verstanden wird
als die Wirklichkeit der sittlichen Idee.35
Gewiß gibt es auch in Kants Sozialphilosophie die Idee einer sowohl dem Begriff der
Freiheit als auch dem Begriff des Staats (bei Kant als notwendiger Institution der
gesellschaftlichen Koordination) zukommenden „Autonomie“. Dieser Kantsche
Rekurs auf „Autonomie“ im Sinne formaler Selbstbestimmung resultiert allerdings
einzig aus der Trennung von Seins- und Sollensordnung einerseits, von Recht und
Ethik andererseits. Er hat somit nichts zu tun mit einer im Sinne des Hegelschen
Begriffs des Selbstbewußtseins verstandenen Autonomie, die – anders als bei Kant –
ihre Bestimmung einzig von der Idee der geschichtsdialektischen Einheit von Sein
und Sollen erhält, nämlich als „konkrete Freiheit“ im Sinne der Partizipation an der
„konkreten Totalität“ des Staats. Ethik wird im Hegelschen Ansatz interpretiert aus
dem Prinzip einer „Dialektik der Sittlichkeit“ (eine auch verschiedene „realistische“
Umformungen des Hegelschen Idealismus – K. Marx, Kritische Theorie, Habermas’
Diskursethik – bestimmende Grundidee).36 Für Kant und auch für das Naturrechtsdenken käme eine solche Geschichtsdialektik einer Variante des empiristischen Denkens bzw. einem nicht akzeptierbaren geschichtsimmanentistischen Universalismus
gleich, da die Geschichtsdialektik im Grunde die Personalität des Menschen verkennt und – was das Naturrechtsdenken angeht – zusätzlich eine metaphysischontologisch begründete Objektivität sozialethischer Normen negiert.
IV. Metaphysik des Sozialen
Utz hat in seiner erkenntnistheoretisch-normativen Grundlegung der Ethik – vorrangig durch kommentierenden Rekurs auf das thomasische Naturrecht – herausgearbeitet, daß es die innere Struktur der das Gewissen des Handelnden bestimmenden
Sollordnung ist, auf eine verpflichtende Gesamtordnung zu verweisen. Der
Naturrechtler spricht hierbei von „Metaphysik“ und „Gemeinwohl“. Wie sieht nun
diese Metaphysik des Sozialen aus, und welches ist die von dieser abstrakten Ebene
aus zur konkreten Gesellschaftsethik führende Naturrechtslogik?
1. Menschenbild und verpflichtende Gesamtordnung: Naturrecht und dialektische
Geschichtsphilosophie als konkurrierende Weltanschauungen
352
Die im Sinne naturrechtlicher Normenlogik gefaßte Gemeinwohlnorm umfaßt den
Menschen in seiner individuellen und sozialen Natur und ist als solche Grund der
Normativität und Integrationsleistung einer ihr adäquaten Gesellschaftsordnung. Das
in dieser Metaphysik des Sozialen supponierte Menschenbild ist das des Menschen
als personalen Wesens, d.h. – im Gegensatz zu jeder Vorstellung einer hegelianischgeschichtsdialektisch „geschuldeten“ Verantwortung – des in persönlich verantworteter Freiheit handelnden Menschen, der keiner geschichtsdialektischen Normativität
unterliegt, der vielmehr die abstrakt vorgegebenen (auch dem Staat und der Gesellschaft vorgegebenen und daher der staatlichen und gesellschaftlichen Verfügung
entzogenen) Wesensnormen der menschlichen Natur zu konkretisieren hat37.
Wie sieht diese Zuordnung von „Allgemeinem“ und „Konkretem“ aus? Sie ist nicht
zu verwechseln mit der nur scheinbar ähnlichen Auffassung der dialektischen Geschichtsphilosophie, wie dies in der Naturrechtskritik des Kritischen Rationalismus
aufgrund einer fälschlichen Gleichsetzung von dialektischer und naturrechtlicher
Philosophie als „Essentialismus“ bzw. „Historizismus“ geschieht. Wie A. F. Utz in
seinen Schriften herausgearbeitet hat, ist – im Gegensatz zur geschichtsdialektischen
Auffassung der Natur des Menschen als der in der Geschichte sich nach einem dialektischen Prozeß entwickelnden Menschheit (Hegel, Marx) – in der Sicht des Naturrechts die Natur „jenes Allgemeine in den konkreten Menschen, das diese in der
Geschichte mit der ihnen verliehenen (und darum gebundenen) Freiheit konkretisieren sollen. Die Aufgabe, die Gesellschaft in Selbstverantwortung zu gestalten, ist
darum nicht deutbar aus der Einsicht in den universalhistorischen Entwicklungsprozeß der Freiheit als solcher, sondern ist vielmehr begründet in der universalen Natur
des Menschen als einer abstrakten, durch personale Freiheit zu konkretisierenden
Norm.“38
2. Vernunft, Gewissen und personale Würde des Menschen
Aus der Sicht des metaphysisch-ontologischen Naturrechts sind die Menschenrechte
und die Handlungsprinzipien ohne die Vorstellung eines ewigen Schöpfers nicht
erklärbar.39 Utz entfaltet in dieser Frage die in seinen verschiedenen Veröffentlichungen dargestellte Naturrechtsdoktrin des Thomas von Aquin.
Freiheit ist aus der Sicht des Metaphysikers nicht voraussetzungsfrei – ein nicht
zuletzt auch von Papst Benedikt XVI. in seinen theologischen Schriften immer wieder
herausgearbeiteter Sachverhalt.40 Die von Gott geschaffene Freiheit und aufgetragene
geschichtliche Aufgabe des Menschen weist auf dessen personale Würde, die ihm
durch die Gottebenbildlichkeit verliehen wurde. Thomas von Aquin erörtert ausführlich in der Summa theologica die Gottebenbildlichkeit des Menschen.41 Er betont,
daß diese den Intellekt, den freien Willen und (in der Sprache von J. Messner) die
Kreativität des Menschen in seinem Werk bedeutet. Thomas von Aquin spricht jedoch an anderer Stelle der Summa theologica in geradezu moderner Weise auch vom
Begriff der in Freiheit und Selbstzwecklichkeit gründenden Menschenwürde.42 Von
Freiheit und Selbstzwecklichkeit spricht auch die moderne Philosophie in ihren unterschiedlichen, sei es transzendent, sei es nicht-transzendent verankerten Ausprägungen. Thomas kommt in der „Summe gegen die Heiden“ darauf zu sprechen, daß
gegenüber denen, die an keinen Gott glauben, nur das Vernunftargument bleibe, dem
sie sich beugen müssen.43 Jeder Mensch ist ausgezeichnet durch die Begabung mit
353
Vernunft und Gewissen44 und damit mit Pflichten und Rechten, die unverlierbar und
unverzichtbar sind.45 J. Messner hat die Naturrechtsauffassung im Hinblick auf die
Pflichten (denen natürlich auf der anderen Seite Rechte46 entsprechen) in markanter
Weise in die Form des sozialethischen Kernsatzes gebracht: „Daß jeder Mensch so
gegenüber allen und alle ihm gegenüber verpflichtet sind, macht die Menschenwürde
aller aus.“47 Sah Kant die Voraussetzung des Gewissens in der sich von der traditionellen Metaphysik trennenden Autonomie der Vernunft begründet, ist aus Sicht der
Metaphysik und ihres personalen Menschenbildes der Teilhabegedanke Grund des
dem Gewissen des Menschen zukommenden normativen Sonderrangs.
3. Das Gewissen als Teilhabe am Ewigen Gesetz und seine freiheitlich-soziale Relevanz: Naturrechtsgrundsatz der katholischen Soziallehre
Das Gewissen ist gemäß der durch Augustinus und Thomas von Aquin systematisierten Lehre Teilhabe am Ewigen Gesetz: ein in der Geschichte des Rechtsdenkens von
augustinischer und thomasischer Naturrechtsbegründung bis in die moderne und die
zeitgenössische Naturrechtsphilosophie immer wieder systematisierter klassischer
Naturrechtsgedanke.48 Aufgabe des Menschen ist die Erfüllung einer gesamthaften
Sinnordnung, somit die Einordnung seiner einzelnen Handlungen in einen allgemeinen Sinn. Der religiöse Mensch anerkennt diesen Sinn in der göttlichen Schöpfungsordnung und im Auftrag Gottes an den Menschen, entsprechend seiner Natur die
Gesellschaft zu gestalten. Die Instanz dieser Verantwortung ist das Gewissen, womit,
wie A. F. Utz dies systematisierte, die Natur des Menschen die Normgrundlage einer
überindividuellen, gesellschaftlichen Ordnung ist – eine Grundlage, deren Normativität vorstaatlichen Charakters ist.49
Die Lehre vom Gewissen als Teilhabe am Ewigen Gesetz erweist sich als alles andere denn nur Theorie, sie hat sozialethische Konsequenzen, wie sie Christoph Schefold
in einer grundlegenden rechtsphilosophisch-philosophiegeschichtlichen Arbeit über
„Souveränität als Naturrechtsproblem“ herausgearbeitet hat50: diese Konsequenzen –
da begründet in einer vorstaatlichen Normativität – sind von freiheitlich-sozialer
Relevanz. Dies ist ein von allen in der Tradition der katholischen Soziallehre51 und
des Katholizismus52 argumentierenden (s. insbesondere O. von Nell-Breuning53, G.
Gundlach54, J. Messner55, J. Höffner56) wie überhaupt metaphysisch-ontologisch
orientierten zeitgenössischen „Naturrechtsschulen“ – seien es eher deduktiv (A. F.
Utz) oder eher induktiv orientierte Naturrechtsansätze (J. Messner) – herausgearbeiteter Sachverhalt. Mit Recht sieht A. Rauscher57 diese im transzendent begründeten
personalen Menschenbild zum Ausdruck kommende freiheitlich-soziale Ordnungsrelevanz als einen der Angelpunkte der katholischen Soziallehre.
4. Naturrechtlich verstandene Freiheit des Gewissens
Es sei im folgenden eine zentrale Passage der Arbeit von Schefold zitiert. Sie ist nicht
nur eine klar formulierte Erklärung, warum das metaphysisch begründete Naturrecht
der Menschenwürde und der Freiheit entspricht und wie aus dieser Sicht Freiheit zu
definieren ist, sondern kann zugleich (wenigstens implizit) auch als eine in wenigen
Sätzen resümeehaft ausgesprochene Widerlegung sowohl der hegelianischen geschichtsimmanent bzw. der Habermas’schen diskursethisch begründeten Universal-
354
ethik als auch des kritisch-rationalen individualistischen Dezisionismus wie auch als
Widerlegung postmoderner Kritik an Metaphysik und Naturrecht gesehen werden.
Schefold schreibt58: „Wenn der Mensch durch jene Teilhabe am Ewigen Gesetz
immer schon im Prinzip selbständig ist, dann braucht er nicht mehr erst von der
Integration in eine politische Gemeinschaft und von der Partizipation an ihrer Sittlichkeit seine Selbständigkeit zu erhoffen. Er verdankt diese dann letztlich einer der
Gemeinschaft absolut übergeordneten, denkbar unabhängigen Instanz. Also kann
auch er sogar der Gemeinschaft gegenüber radikal unabhängig sein, statt total auf sie
angewiesen zu bleiben. Ist ihm allein schon mit dem ‚natürlichen’ Sitten- und
Rechtsgesetz seines Gewissens59 die prinzipielle Möglichkeit selbständigen Urteilens
gegeben, so hat er die Freiheit, einerseits die Gemeinschaft und deren Gesetze auch
mit kritischen Augen zu sehen – und andererseits sich ihr aus seiner GewissensAutonomie heraus um so intensiver zuzuwenden. Frei ist er aber dann vor allem auch
schon im Sinne jenes Gesetzes selbst. Von seiner ‚natürlich’-vernünftigen Freiheit
her kann die „Souveränität“ eines dezisionistisch gedachten oder gearteten Willens
nur noch als widersinnig erscheinen. Ist es der ‚Sinn’ solcher Freiheit, das Gute und
Gerechte wirklich zu tun, so brauchen die menschlichen Gesetze nicht (wie bei Hobbes und seinen Nachfolgern) als Einschränkung der natürlichen Freiheit des Menschen zu gelten.“ Ein Freiheitsgesetz, das als ‚natürliche’ Partizipation an einem ganz
unbedingten ‚Gesetz’ menschlicher Beliebigkeit entzogen sei, zeige erst dem das
Gesicht der Macht, der sich in Widerspruch zu ihm begebe. Es (das Freiheitsgesetz)
erlaube die Konzeption menschlicher Gesetze, die Freiheitsregeln für freie Bürger
geben und nur gegenüber Unvollkommenen und Schlechten unter gewissen Bedingungen auch als Erziehungs- oder Zwangsgesetze wirken. Ein Gedanke, wie ihn
ähnlich auch J. Schwartländer als Herausgeber einer beeindruckenden, interkulturell
und interreligiös konzipierten Reihe menschenrechtlicher Publikationen vertritt.60
5. Die metaphysisch-religiöse Gewissensdimension als geschichtliche Wirkkraft
gegen Diktatur und Tyrannis
Freiheitliches, verantwortungsbewußtes gesellschaftliches Denken und Handeln
haben seit jeher aus der metaphysisch-religiösen Dimension ihre vielleicht stärkste
Motivation erhalten – der Widerstand gegen Hitler auf der einen, der moralische
Impetus beim Wiederaufbau61 des nicht zuletzt auch moralisch zerstörten Staatswesens nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland könnten als jüngere Beispiele der
Geschichte genannt werden –, wie umgekehrt gerade die jüngste Geschichte totalitärer Staatssysteme des 20. Jahrhunderts darauf hindeutet, wie sehr diese Totalitarismen aus dem Fehlen authentischer, statt dessen zu ideologischen Zwecken aus der
Instrumentalisierung und immanentistischen Umdeutung metaphysisch-religiöser
Sinn- und Glaubenswelten entstanden sind, jedenfalls, wie Evelyn Völkel dies in ihrer
gründlichen, aufschlußreichen Dissertation dargestellt hat, die Frage aufwerfen, ob
sie nicht als „das Produkt einer säkularen Religion“ zu verstehen seien.62 Es besteht
somit Anlaß, die Dimensionen der Metaphysik und der Religion nicht zu unterschätzen, ihnen genügend Beachtung zu schenken und sie nicht aus vermeintlich realpolitischer Sicht als zu vernachlässigende Elemente zu betrachten.63
Anmerkungen
355
1) Ein Lebensbild zeichnet W. Ockenfels: Arthur F. Utz (1908-2001). In: J. Aretz – R. Morsey
– A. Rauscher – Hrsg.: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Aus dem deutschen Katholizismus des
19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 12. Münster 2007, 142-154; s. auch W. H. Spindler: Art. Utz,
Arthur. In: Thomistenlexikon (2006), Sp. 677-684; B. Kettern: Utz, Arthur Fridolin, O.P. In:
Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XXII (2003), Sp. 1396-1412.
2) Das Systemdenken ist das die Utzsche Rechts- und Sozialphilosophie kennzeichnende
Grundelement seines wissenschaftlichen Werkes.
3) Vgl. dazu A. F. Utz: Ethik. Heidelberg 1970, 37.
4) Vgl. vor allem seine großen Thomas-Kommentare, mit denen Utz zusammen mit seinem
Lehrer Santiago Ramírez zu den bedeutendsten Interpreten der Naturrechtslehre des Aquinaten
zählt. Hier sei verwiesen auf den Naturrechtsband innerhalb der Deutschen Thomas-Ausgabe:
Recht und Gerechtigkeit. Bd. 18 der Deutschen Thomasausgabe, Heidelberg 1953, sowie die
Nachfolgefassung dieses Bandes: Recht und Gerechtigkeit. Thomas von Aquin: Summe II-II,
Fragen 57-79. Bonn 1987 (neue Übersetzung von J. F. Groner sowie Anmerkungen und gänzlich überarbeiteter und ergänzter Kommentar von A. F. Utz). – Vgl. auch den Kommentarband
zum Gesetzestraktat: Thomas von Aquin: Naturgesetz und Naturrecht. Theologische Summe,
Fragen 90-97. Lateinischer Text mit Übersetzung, Anmerkungen und Kommentar. Übersetzung von J. F. Groner, Anmerkungen und Kommentar von A. F. Utz. Bonn 1996.
5) Instruktiv H-G. Nissing (Hrsg.): Vernunft und Glaube. Perspektiven gegenwärtiger Philosophie. München 2008.
6) Zur aristotelisch-thomasischen Philosophie vgl. H. Seidl: Über den „naiven“ Realismus der
traditionellen Metaphysik. Zur Diskussion um die Wiedergewinnung der Ersten Philosophie.
In: H-G. Nissing (Hrsg.): Vernunft und Glaube, a.a.O., 23-36.
7) Vgl. P. P. Müller-Schmid: Der rationale Weg zur politischen Ethik. Stuttgart 1972, 81 ff.
8) Zur Bedeutung der abstraktiven Realerkenntnis vgl. B. Kettern: Sozialethik und Gemeinwohl. Die Begründung einer realistischen Sozialethik bei Arthur F. Utz. Berlin 1992, 53 ff.
9) Vgl. dazu A. F. Utz: Ethik, a.a.O., 42 ff.
10) J. Messner: Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. 5., neubearb., erw. Aufl. Innsbruck 1966, 327 ff.
11) A. F. Utz: Recht und Gerechtigkeit, Kommentar zu Bd. 18 der Deutschen Thomasausgabe,
a.a.O., 433.
12) Vgl. dazu A. F. Utz: A.a.O.
13) Begriffsgeschichtlich ist die Bedeutung von primärem und sekundärem Naturrecht uneinheitlich. Zur dreifachen Konzeption von primärem und sekundärem Naturrecht vgl. A. F. Utz:
Sozialethik. II: Rechtsphilosophie. Heidelberg 1963, 94ff.
14) Zum Begriff, zur Geschichte und zur Systematik der klassischen und der neuzeitlichen
Metaphysik vgl. Heinrich Schmidinger: Metaphysik. Ein Grundkurs. Stuttgart – Berlin – Köln
2000, 62 ff., 164 ff.
15) Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft A 233.
16) Vgl. J. Hessen: Lehrbuch der Philosophie, Bd. II: Wertlehre. München 1948, 133.
17) Vgl. M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. Bern 41954, 221.
18) Im Gegensatz dazu vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologiae, I 5,4 sowie I 5,1.
19) Hier sei insbesondere verwiesen auf die von J. Hessen vertretene Wertethik, in der über die
sonstige wertethische Begrenzung der Fragestellung hinaus die Bedeutung einer metaphysischen Begründung der Werte in Gott als dem Seinswert überhaupt betont wird.
20) Vgl. dazu auch A. F. Utz: Ethik, a.a.O., 74 ff.
21) Zur Auseinandersetzung mit der Aufteilung der Ethik in Gesinnungs- und Verantwortungsethik vgl. P. P. Müller-Schmid: Der rationale Weg zur politischen Ethik, a.a.O., 104.
356
22) Die M. Webersche Aufteilung der Ethik in Gesinnungs- und in eine Art pragmatistischer
Verantwortungsethik ist nicht zu verwechseln mit der Ethik der „Verantwortung“ bei Hans
Jonas. Hierin dem Naturrecht vergleichbar, begegnet uns in letzterer eine ontologisch orientierte, der objektiven Wesensorientierung verpflichtete personalistische Lehre. Statt von Naturrecht
spricht Jonas von „Verantwortung“. Es ist nach H. Jonas offensichtlich, daß das Individuum in
seiner Natur objektive Gründe für seine Pflicht findet, d.h. daß der Mensch erkennt, was er aus
Freiheit tun soll. Es handelt sich um eine ontologisch fundierte Ethik. Die Verantwortung ist
die Grundlage für das soziale Verhalten wie auch für den Umgang mit der Umwelt. Auch bei
H. Jonas wird ähnlich dem Naturrecht ein Menschenbild vertreten, dessen Natur dem biologistischen Naturalismus entgegengesetzt ist. Vgl. die Interpretation von A. Rauscher: Hans Jonas
und seine Botschaft für unternehmerische Verantwortung. In: Die Neue Ordnung 58,2 (2004)
98-107.
23) Zu den anthropologischen Ansätzen vgl. A. Zimmermann: Der Mensch in der modernen
Philosophie. Essen 1975.
24) Vgl. Ch. Böhr: Ethik als Anthropologie. Der Personalismus von Karol Wojtyla. In: Die
Neue Ordnung 62 (2008) 419-426; K. Jüsten: Ethik und Ethos der Demokratie. Paderborn
1999, 173 ff.
25) Vgl. A. F. Utz: Kommentar zur Enzyklika Laborem exercens des Papstes Johannes Paul II.
In: A. F. Utz: Ethische und soziale Existenz, Ges. Aufsätze aus Ethik und Sozialphilosophie
1970-1983 (hrsg. von H. B. Streithofen). Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg
1983, 349-364.
26) Vgl. Lothar Roos: Es geht um die Würde des Menschen. Zum sozialethischen Vermächtnis
von Johannes Paul II. Köln 2005.
27) Johannes Messners Konzeption der Sozialphilosophie. Die Definition der Sozialnatur und
der Gesellschaft. In: Das Neue Naturrecht. Die Erneuerung der Naturrechtslehre durch Johannes Messner. Gedächtnisschrift für Johannes Messner. Berlin 1985, 21-62. (in dieser Abhandlung von Utz ist zugleich der Unterschied der Utzschen, eher an Thomas von Aquins deduktiver Logik orientierten Begründungsweise des Naturrechts zu der von J. Messner vertretenen,
eher induktiven Logik zu erkennen).
28) Vgl. R. Spaemann: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwas’ und ‚jemand’. Stuttgart 1996.
29) Vgl. hierzu auch die interessante Interpretation von K.-H. Nusser: Metaphysischer Realismus oder interaktionistische Anerkennung? Zu Ursprung und Begründung des Begriffs der
Person. In: H-G. Nissing (Hrsg.): Vernunft und Glaube, a.a.O., 67-82.
30) Es geht um den „Begriff der Person als eines ‚Jemand’ eigenen Rechts“ (a.a.O., 256).
31) A.a.O., 261.
32) A.a.O.
33) G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von J. Hoffmeister, Berlin
4
1956, 14.
34) Ebenda, 208.
35) Ebenda, 207.
36) Zur Logik dieser Debatte vgl. P. P. Müller-Schmid, Emanzipatorische Sozialphilosophie
und pluralistisches Ordnungsdenken. Stuttgart 1976, 157 ff., 193 ff.
37) Zum Begriff der menschlichen Person vgl. A. F. Utz: Ethik, a.a.O., 85.
38) A. F. Utz: Ethische und soziale Existenz, Ges. Aufsätze aus Ethik und Sozialphilosophie
1970-1983, (hrsg. von H. B. Streithofen), Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg
1983, 398.
39) Zur transzendenten Begründung der Menschenrechte und der Handlungsprinzipien vgl. P.
P. Müller-Schmid: Zur sozialethischen Relevanz naturrechtlicher Begründung der Menschen-
357
rechte. In: C. Böttigheimer, N. Fischer, M. Gerwing (Hrsg.): Sein und Sollen des Menschen.
Zum göttlich-freien Konzept vom Menschen. Münster 2009, 177-181. – Am Beispiel der
katholischen Soziallehre vgl. J. Punt: Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung. Paderborn
1987; A. Saberschinsky: Die Begründung universeller Menschenrechte. Zum Ansatz der Katholischen Soziallehre. Paderborn 2002, 479 ff.
40) Vgl. J. Ratzinger: Glaube – Wahrheit – Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen.
Freiburg – Basel – Wien 2003, 32004, 187 ff. – Vgl. zu dem Gesagten auch E. Schockenhoff:
Wie gewiß ist das Gewissen? Eine ethische Orientierung, a.a.O., 185 ff.
41) Vgl. hierzu und zum folgenden J. Messner: Was ist Menschenwürde? In: Internationale
Katholische Zeitschrift 6(1977) 233-240, hier 235 f.
42) Vgl. hierzu J. Messner: Die Idee der Menschenwürde im Rechtsstaat der pluralistischen
Gesellschaft. In: Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung. Festschrift für Willi Geiger
zum 65. Geburtstag. Tübingen 1974, 221-241, hier 229 f.
43) Zum thomasischen Begriff des Naturgesetzes und der Vernunft vgl. den Kommentar von
A. F. Utz zum Gesetzestraktat des Aquinaten: Thomas von Aquin. Naturgesetz und Naturrecht,
a.a.O., 215 ff. – E. Schockenhoff: Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer
geschichtlichen Welt. Mainz 1996, 154 ff. – A. Saberschinsky: Die Begründung universeller
Menschenrechte, a.a.O., 2002, 80 ff.
44) Unter den neueren Veröffentlichungen zum thomasischen Gewissensbegriff vgl. auch E.
Schockenhoff: Wie gewiß ist das Gewissen? Eine ethische Orientierung. Freiburg 2003, 102 ff.
45) Vgl. L. J. Elders: St.Thomas Aquinas' Doctrine of Conscience. In: L. J. Elders SVD and K.
Hedwig, Lex et libertas. Freedom and Law According to St.Thomas Aquinas. Città del Vaticano 1987, 125-134.
46) Ein zentrales und vieldiskutiertes, auch von Utz (allerdings streng zwischen theologischer
und sozialphilosophischer Argumentation differenzierend, worauf aufgrund der Begrenzung
dieses vorrangig der philosophischen Systematik gewidmeten Artikels hier nur hingewiesen
sei) debattiertes Rechtsgebiet bilden vor allem die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Nach Georg Jellineks Auffassung befand sich die Religionsfreiheit historisch am Ursprung der Menschenrechtserklärungen des 18. Jahrhunderts. Doch ist dies eine den Historiker
angehende Frage. Einen guten Überblick über die rechts- und staatsphilosophische Systematik
und Debatte bietet der Beitrag von S. Mückl: Die Gewissens-, Glaubens- und Religionsfreiheit
als zentrales Menschenrecht. In: Handbuch der Katholischen Soziallehre. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft und der Katholischen Sozialwissenschaftlichen
Zentralstelle hrsg. von A. Rauscher in Verbindung mit J. Althammer, W. Bergsdorf, O.
Depenheuer. Berlin 2008, 77-90.
47) J. Messner: Was ist Menschenwürde? In: Internationale Katholische Zeitschrift 6 (1977)
233-240, hier 237. – Man vergleiche, wie dies mit einer etwas anderen Formel – und einer
allerdings sehr unterschiedlichen, jede ontologische Fundierung der Ethik vermeidenden Philosophie – auch Emmanuel Levinas mit seinem Apriori der Anerkennung des „Anderen“ ähnlich
bzw. auf seine Weise formuliert hat.
48) Zum Begriff des Ewigen Gesetzes vgl. Thomas von Aquin: S.Th. I-II 91,1; I-II 93; s.
hierzu den Kommentar von A. F. Utz zum Gesetzestraktat des Aquinaten: Thomas von Aquin.
Naturgesetz und Naturrecht, a.a.O., 186 ff., 197 ff. – Zu den Begriffen von „lex aeterna“, „lex
naturalis“ und „lex humana“ bei Thomas von Aquin vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. Tübingen 2002, 225 ff.
49) Vgl. A. F. Utz: Das Grundanliegen der Pluralismusidee in der freiheitlichen Gesellschaftskonzeption und der Dritte Weg. In: Neomarxismus und pluralistische Wirtschaftsordnung.
Hrsg. von der Internationalen Stiftung Humanum (durch A. F. Utz), Bonn 1979, 77-104 (hier
86); vgl. auch die prägnante Zusammenfassung „Der systematische Aufbau der Naturrechtsleh-
358
re“ im Kommentar von A. F. Utz zum Gesetzestraktat des Aquinaten: Thomas von Aquin.
Naturgesetz und Naturrecht, a.a.O., 215-225.
50) C. Schefold: Souveränität als Naturrechtsproblem. „Naturrechtliche“ Lehren bei Aristoteles
und Thomas von Aquin – und einige Konsequenzen für ein ‚rechtlich’ orientiertes Souveränitätsdenken. In: Das Naturrechtsdenken heute und morgen. Gedächtnisschrift für René Marcic.
Hrsg. von Dorothea Mayer-Maly und Peter M. Simons. Berlin 1983, 137-194.
51) Vgl. die hierzu erschienenen Beiträge in dem von A. Rauscher herausgegebenen Handbuch
der Katholischen Soziallehre, Berlin 2008: L. Roos: Entstehung und Entfaltung der modernen
Katholischen Soziallehre, 103-124; ders.: Die Sozialenzykliken der Päpste, a.a.O., 125-142.
52) Vgl. hierzu A. Rauscher (Hrsg.): Der soziale und politische Katholizismus in Deutschland
1803-1963. 2 Bde. München 1981/1982; W. Becker: Der politische und soziale Katholizismus.
In: Handbuch der Katholischen Soziallehre, a.a.O., 175-192.
53) Zur Tradition der katholischen Soziallehre und des Katholizismus im Denken von NellBreunings vgl. A. Rauscher: Oswald von Nell-Breuning SJ (1890-1991), in: J. Aretz, R.
Morsey, A. Rauscher – Hrsg.: Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 7. Mainz 1994, 277-292.
54) Vgl. G. Gundlach: Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft. Hrsg. von der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach. 2 Bde. Köln 1964; A. Rauscher – Hrsg.: Gustav Gundlach 1892-1963. Hrsg. und erl. von A. Rauscher. Beiträge zur
Katholizismusforschung, Reihe A: Quellentexte zur Geschichte des Katholizismus, Bd. 2.
Paderborn 1988. Vgl. die Utzsche Interpretation der im Solidarismus gründenden Gemeinwohlkonzeption von G. Gundlach: A.F. Utz: Der Gemeinwohlbegriff der katholischen Soziallehre und seine Anwendung auf die Bestimmung der Wohlfahrt. In: Wohlfahrtsökonomik und
Gemeinwohl. Hrsg. von J. Heinz Müller. Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N.F., H. 51. Paderborn 1987, S. 83-117, hier 107 ff.
55) Zur Interpretation der in der Tradition Taparellis von einem zunächst empirischen Ansatz
des in der Gesellschaft situierten Individuums her eine naturrechtliche Sozialethik aufbauenden
Konzeption J. Messners vgl. die Abhandlung von A. F. Utz: Johannes Messners Konzeption
der Sozialphilosophie, a.a.O. – Zur Struktur seiner Naturrechtslehre und zu ihrer interkulturellen Bedeutung, etwa im Hinblick auf die Rezeption dieser Lehre in Japan: H. Yamada – J. M.
Schnarrer: Zur Naturrechtslehre von Johannes Messner und ihrer Rezeption in Japan. Beiträge
zum Naturrecht, Studien, hrsg. von der Johannes-Messner-Gesellschaft, Wien. Wien 1996.
56) Hierzu s. Joseph Kardinal Höffner: Christliche Gesellschaftslehre. Hrsg., bearb. und ergänzt von Lothar Roos. Neuausg. Kevelaer 1997.
57) A. Rauscher: Die soziale Natur des Menschen. In: Handbuch der Katholischen Soziallehre,
a.a.O., 25-40; ders.: Das christliche Menschenbild. In: A.a.O., 3-23.
58) C. Schefold: Souveränität als Naturrechtsproblem, a.a.O., 181.
59) Es geht Schefold hier also um die Zuordnung von Recht und Moral.
60) Vgl. etwa J. Schwartländer (Hrsg.): Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube.
Beiträge zur Bestimmung der Menschenrechte. Mainz – München 1981.
61) Vgl. nicht zuletzt die aus naturrechtlichen Quellen schöpfende Verfassungsordnung der
Bundesrepublik Deutschland. Vgl. A. Langner: Der Gedanke des Naturrechts seit Weimar und
in der Rechtsprechung der Bundesrepublik. Bonn 1959; C. Enders: Die Menschenwürde in der
Verfassungsordnung. Zur Dogmatik des Art. 1 GG. Tübingen 1997, 25 ff. – K. Jüsten: Ethik
und Ethos der Demokratie. Paderborn 1999, 156 ff.; A. Rauscher: Die Wertorientierung des
Grundgesetzes. In: Handbuch der Katholischen Soziallehre, a.a.O., 845-858.
62)
Vgl. Evelyn Völkel: Nationalsozialismus und Kommunismus als politische Religionen?. In:
Freiheit und Recht. Vierteljahresschrift für streitbare Demokratie und Widerstand gegen Diktatur, August 2008/ 1+2, S. 20-22; vgl. insbesondere die in unserem Text erwähnte Dissertation
von E. Völkel: Der totalitäre Staat – das Produkt einer säkularen Religion? Baden-Baden 2009.
359
63) Vgl. Tine Stein: Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des
freiheitlichen Verfassungsstaates. Frankfurt a.M. 2007.
Dr. habil. Peter Paul Müller-Schmid ist Sozialphilosoph und war Mitarbeiter an
der „Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach“.
Hans-Peter Raddatz
Antisemitisch und antichristlich
Zur Renaissance eines totalitären Projektes für Europa
In der vorangegangenen Analyse der politreligiösen Gegenwart wurde der Rahmen
des aktuellen Mainstream beschrieben, der sich im Zuge der Globalisierung und
EU-Reichsbildung islamisiert und damit auch totalisiert. Wie dort erläutert, haben
wir es bei den kommunikativen Differenztheorien (Dewey, Habermas, Luhmann)
und ihrer sozialtechnischen Praxis mit einer systembedingten Dehumanisierung zu
tun, die eine Mechanisierung des Denkens und eine Radikalisierung der Machtform nach sich zieht. Sie besteht in einem ebenso konsequenten Trend zum Systemfaschismus, der unter den geldgetriebenen Normen der Arbeitseffizienz und
Kulturtoleranz die Institutionen gleichschaltet und hier Kader von Systemparasiten
produziert, eine zeitgemäße Hierarchie angepaßter Eliten. Sie bilden sich unter
medialer Führung den Mustern der modernen Gewaltsysteme nach und konnten
ihren Totalitarismus bislang noch mit der dämpfenden Wirkung technokonsumistischer Kodierungen kaschieren. Je stärker sich dagegen die Kombination
der eurotraditionellen mit islamozentrischer Radikalität durchsetzt, desto weniger
gelingt die Maskerade, ist dabei auch immer weniger erforderlich. Denn sie verbindet sich auf Volksseite mit einer Sinnverarmung und Verdummung, die die
politische und finanzielle Enteignung verschleiert, solange die Medienrituale mit
Sport, Musik und – Islam hinreichen.
Da die Systemparasiten die Spaßgesellschaft in einen zunehmend harten Griff der
Regulierung und Überwachung nehmen, aus dem sie langsam aber sicher erwachen wird, geht es in diesem Teil unserer Untersuchung um eine weitere Konkretisierung des Systemfaschismus, der in seiner nicht ganz einfachen Genese verstanden sein muß, wenn man sich mit den kommenden Verhältnissen arrangieren will.
Denn seine parasitären Vorteilsnehmer legitimieren sich nicht nur im Dressurdialog mit dem „Frieden des Islam“ und dessen anti-jüdisch-christlichen Wurzeln,
sondern speisen sich auch aus dem eigenen Totalitarismus, der aus einer so antisemitischen wie antichristlichen Tradition kommt. Es geht um den aufklärerischen
Machtwandel, der mit den Stufen jakobinisch-marxistisch-nazistischer Gewalt eine
neue „Form“ der Zerstörung alles Alten – mit Ausnahme der anti-jüdischchristlichen Tradition – „aufbaute“. Aufgrund ihrer damit legitimierten Totalität
geben unter Führung von Wirtschaft, Politik und Medien alle Institutionen die
demokratischen Rechte auf und rechtfertigen die Beseitigung von Strukturen und
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