Das Pflegekind im Spannungsfeld zwischen leiblichen Eltern und Pflegeltern Karl Heinz Brisch Kinderklinik und Poliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München Übersicht • • • • • • • Bindung, Trauma und Bindungsstörungen Inobhutnahme Pflegefamilie Umgangskontakte Rückführung Therapie Prävention © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. John Bowlby "Bindung ist das gefühlsgetragene Band, das eine Person zu einer anderen spezifischen Person anknüpft und das sie über Raum und Zeit miteinander verbindet." © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindung zum Überleben • Bindung ist für das Leben so grundlegend wie Luft zum Atmen und Ernährung • Die emotionale Bindung sichert das Überleben und die Entwicklung des Säuglings © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindungstheorie John Bowlby • Ein Säugling entwickelt im Laufe des ersten Lebensjahres eine spezifische emotionale Bindung an eine Hauptbindungsperson und nachgeordnete Bindungspersonen • Das Arbeitsmodell der Bindung ist dynamisch und kann sich verändern. • Neue Bindungserfahrungen können positiv oder negativ verändern • Die Bindungsperson ist der „sichere emotionale Hafen“ für den Säugling © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindungstheorie I • Durch Angst und Trennung wird das Bindungsbedürfnis aktiviert • Durch körperliche Nähe zur Bindungsperson wird das Bindungsbedürfnis wieder beruhigt © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindungstheorie II • Die primäre Bindungsperson muss nicht die leibliche Mutter/Vater sein • Emotionale Bindung des Kindes an die Bindungsperson entsteht NICHT durch genetische Verwandtschaft • In der wiss. fundierten Bindungstheorie gibt es keine Bindung durch "Blutsbande" © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Feinfühligkeit der Pflegeperson I • Die Pflegeperson mit der größten Feinfühligkeit in der Interaktion wird die Hauptbindungsperson für den Säugling • große Feinfühligkeit fördert eine sichere Bindungsentwicklung © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Persönlichkeit von Pflegepersonen • hilfreiche Eigenschaften für die sichere Bindungsentwicklung von Kindern – Feinfühligkeit – Emotionale Verfügbarkeit – Verarbeitung von eigenen Traumata vor Pflege von Kindern – Bereitschaft, eigene Traumata durch Psychotherapie zu verarbeiten – Ressourcen © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindungsqualitäten des Säuglings ab dem Alter von 12 Monaten • Sicher (ca. 60-65%) • Unsicher – vermeidend – ambivalent (ca. 20-25%) (ca. 5-10%) • Desorganisiert (ca.10% plus, je nach Risikogruppen) • Bindungsstörungen (ca. 5% und mehr) © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Primat des Kindeswohls • Gesunde Entwicklung des Kindes – – – – – Körperlich Psychisch Emotional Sozial Ökologisch © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Gefährdung des Kindeswohls • • • • Eltern haben unverarbeitete Traumata Verhalten des Kindes triggert Eltern Hilfen für Eltern – nicht ausreichend Inhobhutnahme manchmal erst nach Jahren der Traumatisierung • Emotionale Gewalt und Deprivation erst zu spät erkannt bzw. gehandelt © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Ursachen von Bindungsstörungen Bindungstraumatisierung • Viele unverarbeitete Traumatisierungen von Kindern über einen längeren Zeitraum durch Bindungspersonen – – – – – Massive Vernachlässigung Emotionale, verbale, körperliche, sexuelle Gewalt Häufig wechselnde Bezugssysteme Multiple Verluste von Bezugspersonen Mit-Erleben von Gewalt durch Bindungspersonen © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Pathologische Bindung des Kindes an einen Täter • • • • • • • • • • • • Bedrohung durch Täter Angst und Panik Abhängigkeit Kein Kampf und keine Flucht möglich Extreme Suche nach Bindungsperson Einzige verfügbare Bindungsperson ist Täter Täter wird zur angstbesetzten "Bindungsperson" Verspricht "Sicherheit" für Unterwerfung Besondere Schwierigkeit, wenn Täter Pflegeperson ist Erstarrung und Dissoziation von Gefühlen Unterwerfung Kooperation und "Liebe" © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Warum Deprivationssymptome? • Frühe emotionale und soziale Mangelversorgung ist ein großer Stress für die Gehirnentwicklung (sequentielle Traumatisierung) • Stress durch "Bindungs-Mangel" • Großer Stress hemmt neuronale Wachstumshormone • Stresshormon Cortisol zerstört Nervenzellen • Studien – Frühdeprivation © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Symptome bei Deprivation • • • • • • • Entwicklungsverzögerung in allen Bereichen Kleinwuchs Kleiner Kopfumfang Stereotypien und Selbststimulation Autismus ähnliche Symptome Bindungsstörungen Fremd- und Selbstaggressivität © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Auslöser („Trigger“) für Trauma-Erinnerung • Bindungspersonen werden durch Verhalten der Kinder an eigenes Trauma erinnert • Trigger im Verhalten des Säuglings, Kindes, Jugendlichen – Bindungswünsche, Nähe – Weinen, Kummer, Schmerz, Bedürftigkeit – Ablösung, Abgrenzung • Trigger für große affektive Erregung • unbewusste Vorgänge!!! © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Re-Inszenierung des Traumas • In der Interaktion mit dem Kind – – – – Zurückweisung der Nähewünsche -Vermeidung Gewalt Abrupte Handlungsabbrüche Überstimulation (sexuell-sensorisch) • In der affektiven Kommunikation – Übertragung der Trauma-Affekte • Wut, Scham, Erregung © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Folgen von Bindungsstörungen I • Zerstörung der sicheren emotionalen Basis • Verlust von emotionaler Sicherheit und Vertrauen • Schwere Störung der Beziehungsfähigkeit • Hochgradige Verhaltensstörung in bindungsrelevanten Situationen © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Folgen von Bindungsstörungen II • • • • • • psychosomatische Störungen aggressives Verhalten im Konflikt Defizite in den kognitiven Möglichkeiten Störung in der Entwicklung des Gehirns Persönlichkeitsstörungen im Erwachsenalter Weitergabe an die nächste Generation © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Schwere der Schädigung • Je vertrauter der Ort und je eindeutiger das Trauma durch die Bindungsperson verübt wird, desto größer ist die Erschütterung und Zerstörung des „sicheren emotionalen Hafens“ • Schutzfaktor: wenigstens eine sichere frühe stabile Bindungsbeziehung © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Fazit zu Folgen von Bindungsstörungen III • Diagnose Bindungsstörung bedeutet immer – Kind hat über lange Zeit traumatische Erfahrungen gemacht – eine schwerwiegende Gefährdung des Kindeswohls!!! © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Pflegeltern • Bereitschaftspflege-Eltern – Äußere und emotionale Sicherheit für das Kind notwendig! – Feinfühligste Pflege – Oft Abbruch der Beziehung nach langer Pflegezeit und Wechsel zu Dauerpflege-Eltern • Dauerpflege-Eltern – Entwicklung von sicherer Bindung • Rückführung? © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindung und Pflege I • RASCHE und FRÜHZEITIGE Trennung von den leiblichen Eltern zum Schutz des Kindes nach traumatischen Erfahrungen durch Eltern • Bindungsstörung • Beruhigung des kindlichen Bindungsbedürfnisses • Chance für neue Erfahrung der Bindungssicherheit mit Pflegeeltern – – – – Räumlich Körperlich Emotional Sozial © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindung und Pflege II • Heilung von Bindungsstörungen – Neuerfahrung von Sicherheit in Pflegebeziehungen – Kontinuität und Dauer – Pflegeeltern werden neue Bindungspersonen – Schutzfaktor für spätere Lebensbelastungen – Eigene Psychotherapie für Kind – Supervision und „Sicherheit“ für Pflegeeltern © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindung und Pflege III • Störung der Bindungsentwicklung durch Angst des Kindes vor – Rückführungsdrohung – Erzwungene Besuchskontakte – Umgangsrecht der leiblichen Täter-Eltern • Täterkontakt zum Kind verhindert Heilung der Traumatisierung durch Psychotherapie • Mindestens Aussetzung des Umgangs für die Dauer der Therapie © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindung und Pflege IV • Störung des Heilungsprozesses – Fehlende rechtliche Sicherheit für Pflegeltern – Keine emotionale Sicherheit durch fehlende Ausbildung und Supervision – Fehlende Abklärung und Hilfe für die Pflegeltern bei unverarbeiteten eigenen Traumatisierungen – Abrupte Trennung/Rückführung von Pflegekind aktiviert Bindungssystem der Pflegeltern • Emotionale Distanzierung • Emotionale Verstrickung/Kampf ums Pflegekind © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindung und Besuchskontakt • Besuchskontakt und Umgang mit leiblichen Eltern nach Trauma-Erfahrung mit diesen Täter-Eltern – Angst beim Kind – Aktivierung von pathologischen Bindungsmustern als Bindungsstörungen – Re-Traumatisierung – Begleitung des Umgangs durch fremde Fachfrau/-mann gibt dem Kind keine emotionale Sicherheit – Sicherheit nur durch Kontaktsperre mit Tätern © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindung und Verbleib des Kindes bei den Pflegeltern • Keine Rückführung, wenn Kind bei Pflegeltern bindungssichere körperliche, kognitive, soziale, emotionale Entwicklung macht • Entscheidung über dauerhaften Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie nach angemessener Zeit von 1-2 Jahren • Oftmals Scheitern von Rückführungen! zum Schaden des Kindes! © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindung und Rückführung I • Rückführung könnte – wenn überhaupt! - überlegt werden – Wenn leibliche Eltern an einer langfristigen Psychotherapie teilgenommen hätten – Wenn bei leiblichen Eltern psychische Heilung nachweisbar wäre – Wenn leibliche Eltern keine Täter-Psychopathologie mehr zeigten • Diese Bedingungen sind nur in Ausnahmefällen erfüllt und müssen durch Begutachtung überprüft werden © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Bindung und Rückführung II • Rückführung planbar – Wenn langfristige Vorbereitung der Trennung und des Wechsels – Wenn räumliche, körperliche, emotionale und soziale Sicherheit für Kind bei leiblichen Eltern gegeben ist – Wenn sich eine sichere Bindung zu leiblichen Eltern zu entwickeln beginnt – Wenn Kontakt zu leiblichen Eltern keine Bindungsstörung beim Kind aktiviert • Begleitung und Überprüfung der kindlichen Entwicklung • Kontakt zu Pflegeeltern als Bindungspersonen bleibt als sichere emotionale Basis erhalten © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Voraussetzungen für Bindungsaufbau mit bindungsgestörten Kindern • Äußere und innere Sicherheit für Pflegeeltern – – – – – – – – – Pädagogische Schulung/Ausbildung? Selbsterfahrung, Selbsterfahrung, Selbsterfahrung Ausreichend Gehalt Sichere Räume Wenige Kinder Pflege-Eltern-Team Gruppen- und Einzel-Supervision Ressourcen, Ressourcen, Ressourcen Gesellschaftliche Anerkennung © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. MOSES-Therapie-Konzept • Behandlung von sehr früh und sehr schwerwiegend bindungstraumatisierten Kindern • Stationäre Intensiv-Psychotherapie © Copyright Karl Heinz Brisch München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Prävention von Bindungsstörungen • Förderung der elterlichen Feinfühligkeit • Schulung über Bedeutung der sicheren Bindung • Verhinderung von unvorbereiteten Trennungen • Vermeidung von Traumatisierung • Behandlung nach Traumaerfahrung © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. © SAFE SICHERE AUSBILDUNG FÜR ELTERN Modellprojekt zur Prävention von Bindungsstörungen Karl Heinz Brisch Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München SAFE © SICHERE AUSBILDUNG FÜR PFLEGEELTERN Modellprojekt zur Prävention von Bindungsstörungen Karl Heinz Brisch Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie Ludwig-Maximilians-Universität München SAFE - Mentor Multiplikatoren - • Weiterbildung in SAFE für Menschen, die mit Schwangeren, Eltern und Säuglingen arbeiten – – – – – – – – – Schwangerschaftsberaterinnen Hebammen und Stillberaterinnen Krankenschwestern Geburtshelfer Psychologen Kinderärzte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten Pädagogen Sprachheilpädagogen und Sprachtherapeuten © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Int. Bindungskonferenz 7. - 9. Oktober 2016 in München Bindung und emotionale Gewalt John Bowlby (1980) „Emotionale Bindungen an andere Menschen sind der Dreh- und Angelpunkt im Leben eines Menschen, nicht nur in der Säuglingszeit oder im Kindergartenalter, sondern auch in der Schulzeit und Jugend sowie im Erwachsenleben bis ins hohe Alter. Aus diesen emotionalen Bindungen schöpft ein Mensch Kraft und Lebenszufriedenheit, und er kann hieraus auch wieder anderen Menschen Kraft und Lebensfreude schenken. Dies sind Themen, in denen sich die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft und traditionaler Weisheit treffen und übereinstimmen….“ „Wir hoffen daher, dass unser gegenwärtiges Wissen – trotz aller Unzulänglichkeiten – schon umfassend genug sein möge, um uns in unseren Anstrengungen zu leiten, denjenigen zu helfen, die bereits große psychische Schwierigkeiten haben und noch mehr andere Menschen davor zu bewahren, solche Schwierigkeiten erst gar nicht zu bekommen.“ • In J. Bowlby (1980) Attachment and loss. Vol. III: Loss: Sadness and depression (pp. 442). New York: Basic Books. © Copyright Karl Heinz Brisch LMU München 2016. Alle Rechte vorbehalten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! www.khbrisch.de www.safe-programm.de www.base-babywatching.de www.bindungskonferenz-muenchen.de © Copyright K.H. Brisch München 2016. Alle Rechte vorbehalten.