Ineinander verschiedener Diskurse Literatur um 1900: 30.11.2010

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Literatur um 1900: 30.11.2010
30.10.1903 Uraufführung Elektra Kleines Theater Berlin
25.01.1909 Uraufführung der Oper in der Semperoper
Dresden (Musik Richard Strauss)
Zeitgenössische Rezeption der Elektra als Hysterica
• „ein Demonstrationsobjekt für ‚Psychopathia sexualis’“
(Zieler 1903)
• „ein grausiges Gemisch von Hysterie und Perversität“
(Kappstein 1904)
• Hofmannsthals Elektra mit einem Wort gedenken: „Dieses
eine Wort lautet: hysterisch.“ (Ferdinand von Saar)
• Hofmannsthal ist der „künstlerische Vollstrecker der
Psychoanalyse“ (Numa Praetorius im Jahrbuch für sexuelle
Zwischenstufen 1904)
Ineinander verschiedener Diskurse
Detken: Literatur um 1900
Zeitgenössische Rezeption:
Elektra als Hysterikerin
Spätere Rezeption:
(vor allem seit den 1980er Jahren)
Elektra als femme fatale
„Elektra als femme fatale ist mit Wildes Salome
und Wedekinds Lulu eine typische Frauengestalt
des Fin de siècle.“ (Worbs: Nervenkunst, 1983)
Detken: Literatur um 1900
Zur Handlung von Hofmannsthals Elektra:
„Worin ich dem Sophokles gefolgt bin, das ist das Scenarium,
der Aufbau, und daher ist auch mein Stück ebenso wenig wie
seines eigentlich ein Stück, sondern eine Katastrophe, nicht
ein Leib, sondern ein abgehauener Kopf auf einer Schüssel.
Aber ein Kopf, dessen Anblick ziemlich impressionieren
kann.“
(Hugo von Hofmannsthal)
Königspalast von Mykene
Elektra, Priesterin und Tochter von:
Agamemnon und Klytämnestra
Aegisth, der Geliebte Klytämnestras
Bruder Orest, Schwester Chrysothemis
Detken: Literatur um 1900
Veränderungen gegenüber Sophokles
- Einakter
- Prolog entfällt
- Chor entfällt
- Wegfall der Iphigenie-Geschichte und
damit Verzicht auf Rechtfertigung des
Gattenmords
- Der Bezug zum Mythos wird verkürzt
- Tod Elektras am Ende
- Tendenz zum Monodrama
Detken: Literatur um 1900
Es ist die Stunde, unsre Stunde ists,
die Stunde, wo sie dich geschlachtet haben,
dein Weib und der mit ihr in einem Bette,
in deinem königlichen Bette schläft.
Sie schlugen dich im Bade tot, dein Blut
rann über deine Augen, und das Bad
dampfte von deinem Blut. Dann nahm er dich,
der Feige, bei den Schultern, zerrte dich
hinaus aus dem Gemach, den Kopf voraus,
die Beine schleifend hinterher: dein Auge,
das starre, offne, sah herein ins Haus.
So kommst du wieder, setzest Fuß vor Fuß
und stehst auf einmal da, die beiden Augen
weit offen, und ein königlicher Reif
von Purpur ist um deine Stirn, der speist sich
aus des Hauptes offner Wunde.
Vater!
Ich will dich sehn, laß mich heute nicht allein!
Nur so wie gestern, wie ein Schatten dort
im Mauerwinkel zeig dich deinem Kind!
Vater! Agamemnon! dein Tag wird kommen! Von den Sternen
stürzt alle Zeit herab, so wird das Blut
aus hundert Kehlen stürzen auf dein Grab! (Elektra)
Detken: Literatur um 1900
Manfred Pfister: dialogisierter Monolog
Umschrift der Titelfigur im Vergleich mit Sophokles:
Treue und Rache statt Trauer
„[…] das Problem des Seins und Werdens. In Gestern, Tor
und Tod das Sein als Beharrendes dem Wechsel
entgegengestellt. Wendung des Problems in Elektra: Treue =
Hingabe.“
„Meine antiken Stücke haben es alle mit der Auflösung des
Individualbegriffs zu tun. In der ‚Elektra’ wird das Individuum
in der empirischen Weise aufgelöst, indem eben der Inhalt
seines Lebens es von innen her zersprengt.“
“meine Intention war […] etwas zu machen, das auf die
Menschen unserer Zeit wirken kann und zwar nicht auf die
Bildungsgefühle in ihrem Kopf, sondern auf die gewöhnlichen
menschlichen Gefühle“ (SW VIII)
Die Erinnerung hält Elektra am Leben.
Detken: Literatur um 1900
Abwertende Einschätzungen der Psychoanalyse:
„Nervenärzten, die uns das Genie
verpathologisieren, soll man mit dessen
gesammelten Werken die Schädeldecke
einschlagen.“
„Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für
deren Therapie sie sich hält.“
(Karl Kraus, in: Die Fackel 1908 und 1913)
Insgesamt korrespondiert die
Verwissenschaftlichung des literarisch modernen
Diskurses um 1900 mit einer Literarisierung der
Wissenschaft.
Detken: Literatur um 1900
Sigmund Freud (1856-1939), Josef Breuer (1842-1925)
1892 Freud / Breuer: Über den psychischen Mechanismus
hysterischer Phänomene
mutiple Persönlichkeit, Bewusstseinsspaltung, Absencen
1895 Freud / Breuer: Studien über Hysterie
1900 Sigmund Freud: Die Traumdeutung
Einfluss Charcots auf Freud: Freuds Studienaufenthalt
1895/96 bei dem Neurologen Jean Martin Charcot (18251893), dessen Schriften der übersetzte
Detken: Literatur um 1900
„Hofmannsthals Tragödie ‚Elektra’ ist eines der bekanntesten Werke, das
definitiv eine Hysterikerin in den Mittelpunkt des Geschehens stellt. Nach
allgemeiner Ansicht ist Anna O. das Vorbild der Heldin.“
(Silvia Kronberger: Die unerhörten Töchter. Innsbruck 2002, S. 195)
Aber: Elektra ist keine prototypische Hysterikerin
Rede
Gedächtnis und Erinnerung
Tanz
gedächtnislose Augenblicke
Elektra
Chrysothemis
Klytämnestra
Erinnerung
Vergessen
Verdrängen
„Chrysothemis: Nein, ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal.“
„Klytämestra:
– und da war‘s geschehen:
dazwischen ist kein Raum! Erst war‘s vorher,
dann war‘s vorbei – dazwischen hab‘ ich nichts getan.“
Detken: Literatur um 1900
Gertrud Eysoldt
Dänische Gossenlieder
Mlle Y. in Strindbergs Die Stärkere
Henriette in Strindbergs Rausch
Salome in Wildes Salome
Lulu in Wedekinds Erdgeist
Nastja in Gorkis Nachtasyl
Salome in Wildes Salome
Elektra in Hofmannsthals Elektra
„Schall und Rauch“ Berlin 4.12.1901
„Schall und Rauch“ Berlin 11.3.1902
Kleines Theater Berlin 13.10.1902
Kleines Theater Berlin 15.11.1902
Kleines Theater Berlin 17.12.1902
Kleines Theater Berlin 23.01.1903
Neues Theater Berlin 29.09.1903
Kleines Theater Berlin 30.10.1903
Detken: Literatur um 1900
Ist Hofmannsthals Elektra eine Femme fatale?
Elektras Grausamkeit resultiert nicht aus ihrer weiblichen Sexualität oder ihrer sinnlichen
Verführungsgewalt.
„Elektra: Ich bin kein Vieh. I c h k a n n
n i c h t v e r g e s s e n.“
Bei Sophokles ist Elektras Sinnlichkeit noch angelegt.
Bei Hofmannsthal ist Elektra eine Kontrastfigur zur Femme fatale ohne sexuelle
Leidenschaften.
Die sexuell Aktive ist hier allein Klytämnestra.
„Sie ist … der Ausdruck einer Idee, ein Sinnbild für die urewige
Zerstörungskraft der Natur, eine Inkarnation aller dirnenhaften Triebe im
Weibe, kurz der Erdgeist, wie ihn Wedekind einmal versteht.“
„Die Eysoldt ist ein eigener Typ, den wir nicht mehr loswerden können.“
Eysoldt reproduziert für die Jahrhundertwende typische
Weiblichkeitsklischees bzw. wird so wahrgenommen
Die Rezeption der Elektra ist nicht von der Bühne zu trennen
Detken: Literatur um 1900
Vgl. Elektras Monolog
„Elektra: dann tanzen wir, dein Blut, rings um dein Grab:
[…] und glücklich ist,
wer Kinder hat, die um sein hohes Grab
so königliche Siegestänze tanzen!“
Und die Schlusssequenz
„Elektra hat sich erhoben. Sie schreitet von der Schwelle
herunter. Sie hat den Kopf zurückgeworfen wie eine Mänade.
Sie wirft die Knie, sie reckt die Arme aus, es ist ein namenloser
Tanz, in welchem sie nach vorwärts schreitet.
Chrysothemis erscheint wieder an der Tür, hinter ihr Fackeln,
Gedräng Gesichter von Männern und Frauen
Elektra!
Elektra bleibt stehen, sieht starr auf sie hin
Schweig, und tanze. Alle müssen
herbei! hier schließt euch an! Ich trage die Last
des Glückes, und ich tanze vor euch her.
Wer glücklich ist wie wir, dem ziemt nur eins:
schweigen und tanzen!
Sie tut noch einige Schritte des angespanntesten Triumphes und
stürzt zusammen.
Chrysothemis zu ihr. Elektra liegt starr. Chrysothemis läuft an
die Tür des Hauses, schlägt daran
Orest! Orest!
Stille. Vorhang“
Detken: Literatur um 1900
Reigen:
Siegestanz
in Gemeinschaft
Mänade:
ekstatischer
Einzeltanz
Der Tanz bei Hofmannsthal
ist eine der Antike
unbekannte Synthese.
Vgl. Schlötterer: Elektras Tanz, in:
Hofmannsthal-Blätter 33 (1986), S.
47-58.
Detken: Literatur um 1900
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