Kulturelles Gedächtnis Oder: Wie steht es mit der Tradition? Michael Krämer Bildungswerk der Diözese Rottenburg-Stuttgart e.V. 1 Unfassbar ist das Leben. Und nur in der Erinnerung enthüllt es seine Züge, nur im Nichtvorhandensein... Adam Zagarjewski1 1. Vorbemerkung „Gedächtnis“ und „Erinnern“ sind seit mehr als drei Jahrzehnten immer stärker ins Zentrum wissenschaftlichen Nachdenkens gerückt. Auch die Medien nehmen sich aus unterschiedlichen Blickrichtungen inzwischen des Themas an. Walter Benjamins Denken war bestimmt von dem, was er „Eingedenken“ nannte und das vor allem jenen Teilen und Geschichten der Vergangenheit gewidmet war, die unabgegolten sind. Die „Kritische Theorie“, in Deutschland bekannt geworden im Umfeld der sogenannten 68er-Bewegung, insbesondere Horkheimer und Adorno, wandten sich immer wieder Fragen des Erinnerns zu. Und das konkret-utopische Denken Ernst Blochs war bestimmt vom Herausarbeiten latenter Utopien in der Vergangenheit. Aus diesen Denkrichtungen schöpfte auch die Theologie, auf katholischer Seite J. B: Metz mit seiner „Memoria-These“, auf evangelischer Seite J. Moltmann mit seiner „Theologie der Hoffnung“. Inzwischen gehen Medizin, Gehirn-Forschung, Psychologie, Soziologie, Philosophie, Kulturwissenschaften und ganz zentral die Geschichtswissenschaft mit dem Thema Gedächtnis/Erinnern auf ihre je eigene Art und mit unterschiedlichen Interessen um. Viele dieser Forschungen, insbesondere im biologisch-medizinischen Bereich, stehen noch am Anfang; dennoch werden gerade die naturwissenschaftlichen Theoriebildungen medial verbreitet2 (z.B. im „Spiegel“, in der „Zeit“ wie auch in einschlägigen Wissenschaftsmagazinen im Fernsehen), und es werden daraus bereits weitreichende Schlüsse über „das Wesen des Menschen“ gezogen – beispielsweise über die Fähigkeit bzw. eben Unfähigkeit des Menschen zu freiem Willen.3 Parallel zu derartigen wissenschaftlichen Untersuchungen werden politisch und gesellschaftliche Orte des Erinnerns geschaffen, wie beispielsweise das sogenannte Holocaust-Mahnmal in Berlin, wie etwa Landes- und Bundesmuseen zur deutschen Geschichte. Tage des (offenen) Denkmals werden initiiert, in Berlin gibt es eine auf PrivatInitiative zurückgehende „Topographie des Schreckens“, ehemalige Konzentrationslager sind längst zu „Denkmälern“ geworden, Reste der Berliner Mauer ebenfalls – die Reihe lässt sich noch fortsetzen. Die Rekonstruktion der Dresdener Frauenkirche, der immer wieder ins Gespräch gebrachte Wiederaufbau des Berliner Schlosses, all das sind jedenfalls Belege für ein starkes – auch gesellschaftliches – Interesse an der Vergangenheit, wobei auch hier – je nach Interesse der Initiatoren – der Focus jeweils sehr unterschiedlich ausgerichtet ist. Diese neuen Formen der Errichtung oder Installation von Erinnerungsorten reicht weit über Deutschland hinaus und scheint zu einem Phänomen der gesamten westlichen Kultur 1 Aus: Gedichte, übers. Karl Dedecius München 1989 Aus biologischen Erkenntnissen philosophische Resultate abzuleiten, ist medial gerade sehr verbreitet. 3 Insbesondere der Spiegel scheint hier ein neues Lieblingsthema gefunden zu haben und beschreibt in immer neuen Ansätzen die Unfähigkeit des Menschen zu freien Willensentscheidungen, und zwar deshalb, weil alle Gedächntis- und Planungsleistungen oftmals schon vor deren bewusster Ausübung Gehinraktivitäten auslösen. 2 2 geworden zu sein. In den USA etwa gibt es nicht nur ein „Holocaust-Memorial“; und der Neubau auf Ground Zero wird nicht nur architektonisch an die Twin-Towers erinnern, sondern einen ausdrücklichen Erinnerungs-Topos aufweisen. Über die Sozialwissenschaften kommen zudem immer neuen Formen des Gedächtnisses ins Spiel. Seit der von den Nazis ermordete Maurice Halbwachs Anfang der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts auf die Verankerung des individuellen Gedächtnisses in einem grundlegenden kollektiven Gedächtnis aufmerksam machte4, sind immer neue Formen des Gedächtnisses benannt worden: Das kommunikative, das soziale, das kulturelle, das historische, das universale Gedächtnis neben dem individuellen Gedächtnis des je einzelnen Menschen. Gleichzeitig gibt es – insbesondere aus der Philosophie – Gegenstimmen, die vehement die Existenz eines „kollektiven Gedächtnisses“ bestreiten5 und darauf verweisen, dass weder ein Staat noch eine Gesellschaft noch eine Kultur ein Gedächtnis haben, sondern ausschließlich das Individuum über die Fähigkeit des Erinnerns verfüge und zu jeder Zeit seine Vergangenheit neu und anders interpretieren könne. Die folgenden Überlegungen gehen der Frage nach, worin der Grund für ein solcherart intensiviertes Nachdenken über Erinnern und Gedächtnis liege. Sie fragen zugleich nach der Bedeutung von Erinnern und Gedenken für den Menschen6 und sein Menschsein. Sie beleuchten Hintergründe von Erinnern und Selbst-Verstehen von Gemeinschaften und einzelnen Menschen und werden dabei auch auf den Begriff der Globalisierung zu sprechen kommen. Dabei wird es notwendig sein, einige Begriffsklärungen vorzunehmen, die einen Diskurs zu diesem Thema erleichtern mögen. 4 Deutsche Ausgabe:Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis Frankfurt 1966 z.B.: Rudolf Burger, Geschichte als Therapie? Zur Konjunktur des hitorischen bewusstseins, in Merkur 2004, 375-394 „Entgegen dem, was heutige Mystagogen behaupten, gibt es keine „kollektive Erinnerung“...“ (378) 6 vgl. hierzu auch meine Anmerkungen zur Zeit in Informationen des Diözesanrates Rottenburg-Stuttgart, 6, 1999 5 3 2. Was von den Vätern du erer bt... Tradition, Gedächtnis, Erinnern „Tradition“ – das war einmal ein ehrwürdiger Begriff. Er beschreibt einen GenerationenZusammenhang und meint gleichermaßen das Überlieferte wie den Vorgang der Überlieferung. In dem Begriff steckt die Vorstellung, dass die jeweils aktuelle Generation der folgenden etwas mitzugeben hat. Er besteht darauf, dass das, was alt und bewährt ist ein Recht auf Fortdauer hat. Die folgende Generation wird sozusagen in die Pflicht genommen, das, was die Eltern-/Großeltern-Generation geschaffen hat, fortzuführen. Tradition richtet sich aus jeder Vergangenheit an die Gegenwart und aus jeder Gegenwart an die Zukunft. Weitergabe – das konnte (handwerkliche) Fähigkeiten betreffen, Wissen um die Welt, Kultur und Werte, Normen und Weltanschauungen, vor allem aber betraf es Religion und Lebensgestaltung. Lange Zeit galt, dass das, was nicht durch die Tradition abgesichert war, keine Geltung beanspruchen dürfe. Dichter bezogen sich auf „alte maeren“ (Nibelungen-Lied), auf das, was sie „erzählen gehört“ hatten (Hildebrandslied) und gaben ihrem Werk damit Gültigkeit und Würde. Tradition stand gleichermaßen im Zentrum kirchlichen/religiösen Lehrens und Handelns in der Kette bäuerlichen Lebens (Hofübergabe etc.) oder vor allem auch adliger Generationenfolge. Noch für die Rottenburger Diözesansynode stand im Mittelpunkt aller Überlegungen die „Weitergabe des Glaubens an die künftige Generation“. Und es ist auch in unserer Gesellschaft noch nicht so lang her, dass Eltern im Sinne des Traditionserhaltes das Leben ihrer Kinder, einschließlich deren Ehe, planten und bestimmten. Hinter dem Denken von Tradition und dem Wunsch nach ihrer Erhaltung steht das individuelle wie vor allem gesellschaftliche Bewusstsein einer Konnektivität von Vergangenheit und Gegenwart in dem Sinne, dass die jeweils vergehende Generation oder Zeit für die werdende verantwortlich ist. Es spiegelt sich darin das Bedürfnis nach dauerhafter Stabilität, und es zeigt sich eine Gemeinschaft, die durch die Zeit hindurchreicht und die sich, ihre Normen, Vorstellungen und ihr Wissen durch die Zeit hindurch reicht. Und überall dort, wo Lehren, Normen, Rezepte, Lebensweisen etc. quasi zu einem Paket geschnürt und weitergereicht werden sollen, ist dieser Begriff von Tradition auch heute noch so gedacht. Neben dem Bedürfnis nach Stabilität spiegelt der Traditionsbegriff das Bedürfnis jeder Vergangenheit – und damit natürlich der dort lebenden Menschen – sich in jede neue Gegenwart und Zukunft hinein zu perpetuieren und damit die eigene Vergänglichkeit wenigstens in Teilen zu überwinden. „Was von den Vätern du ererbt, erwirb es, um es zu besitzen.“ In diesem Satz kommt im besten Sinne das zur Sprache, was Tradition meinen kann. Der Wechsel vom Denken der Tradition zu einem Denken der Erinnerung vollzog sich in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung im Umfeld der späten 60er bis weit in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein, wohingegen die frühe Nachkriegszeit („Adenauerzeit“) vielfach den Versuch unternommen hatte, unmittelbar an Traditionen der Vorkriegszeit bzw. der Zeit vor dem Nationalsozialismus anzuknüpfen. Im Vordergrund dieses Wechsels steht der Bruch der in den letzten Kriegsjahren oder kurz nach dem Krieg geborenen Generation mit der Generation der Kriegseltern, der es 4 weitgehend offensichtlich nicht gelungen war, in authentischer Weise die Erfahrungen während der Zeit des Krieges und des Nationalsozialismus an die Kindergeneration zu vermitteln, die sich vielfach in Schweigen hüllte oder mit der immer gleichen Aussage „Wir haben von nichts gewusst!“ jegliche Teilhabe an dieser Zeit bestritt. Hintergrund dieses Wechsels dürften jedoch fortschreitende Individualisierung – und damit einhergehender Vereinzelung – sowie Fragmentierung westlicher Gesellschaften sein. Schließlich betraf dieser Wandel – in unterschiedlichem Umfang – auch andere Gesellschaften als die deutsche. Frankreich und die USA mögen dafür als Beispiele gelten. Die Revolte junger Erwachsener in den späten sechziger und beginnenden siebziger Jahren mag zunächst selbst noch so etwas wie die Stiftung nun neuer und im aufgeklärten Sinne emanzipatorischer Tradition im Sinn gehabt haben. Allerdings bedürfen Traditionen zu ihrer Erhaltung der Institutionalisierung wie der notwendigen Institutionen. Doch war diese Revolte zentral anti-institutionell und in der Selbstorganisation eher Feier als Institut. Der denkerische Rückgriff der Revolte auf die „Kritische Theorie“ und die Hoffnungsphilosophie Ernst Blochs – beides wesentlich gespeist aus jüdischem Denken – zeigt jedenfalls, dass mit dieser Revolte ein Richtungswechsel intendiert war, der gerade jenes Denken auf die Bühne hob, das zuvor desavouiert worden war. Der Begriff der Feier als Beschreibung der Handlungsformen dieser Revolte – von der Demonstration über die „Sit-ins“ bis zur Gerichtsprovokation der Kommunarden der Kommune 1 – macht deutlich, dass es hier – trotz sozialistischer Klassenbeschwörung – um das im Miteinander gefeierte Recht des Individuums auf Selbstausdruck und Selbstfindung ging. Insofern ist die Psychobewegung der 80er Jahre die legitime Erbin der Revolte. Der Bruch mit der Tradition – von Gemeinschaftswerten, Gemeinschaft und Nation – erfolgte an dieser Stelle, und zwar nicht einfach als Traditionsbruch, solche Brüche gab es häufig genug in der Geschichte, sondern als Bruch mit dem Denken von Tradition insgesamt. Es zeigt sich so, dass der Wechsel vom Denken der Tradition zum Denken von Erinnerung vielfache Ursachen hatte: Einerseits die jüngere Geschichte mit ihrer Katastrophe der Menschlichkeit, dann aber zentral die fortschreitende Individualisierung und Pluralisierung von Gesellschaft, und schließlich spiegelt sich darin ein emanzipatorischer Akt im Gefolge der Aufklärung. Nicht zufällig bezog sich diese Revolte immer wieder ausdrücklich auf die Intentionen der französischen Revolution und verstand sich bis weit in die 70er Jahre hinein als deren proletarische Fortschreibung.7 Wer beginnt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, wer versucht, sich herauszuschälen aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“, dem wachsen gleichermaßen Selbständigkeit und Selbstverantwortung zu, der stellt auf neue Weise Traditionen mit ihren Normen und Moralvorstellungen auf den Prüfstand, der vereinzelt sich aber auch zunehmend. Und im dialektischen Gegenzug wird er verführbar und verfügbar für Werbung, Wirtschaft und Ideologie.8 7 Eindrücklich zeigen das Liedermacher und Poeten wie Wolf Biermann, Degenard oder auch Hannes Wader mit seiner Revolutionsromantik. 8 Nicht zufällig war seit den 80er Jahren bis heute hin eine zentrale Forderung von Wirtschaft und Industrie an die Arbeitnehmer die Mobilitätsforderung. Heute geht es dann weiter: Die Auflösung des sog. Generationen-Vertrags, die Selbstverantwortlichkeit für Alterssicherung etc. 5 Exk urs: Die Kontamina tion der T radition durch die Shoa Die Eltern- bzw. Großeltern-Generation der gegenwärtig lebenden Erwachsenen wäre nach bisherigem Verständnis jene Generation, die für die Tradition gültiger Normen, Werte, Verhaltensmuster etc. zuständig wäre. Nun fällt aber in den Lebensraum und die Lebenszeit dieser Generation ein Geschehen, das jenseits gegenwärtiger gesellschaftlicher oder weltpolitischer Entwicklungen und jenseits des andauernden Prozesses der Aufklärung in doppelter Weise Tradition stört und in ihrer Substanz zerstört hat. Es ist dies der industriell geplante und durchgeführte Massenmord an Millionen von Juden während der Zeit des Nationalsozialismus, der in der Sprache des getroffenen Volkes bzw. des jüdischen Bevölkerungsanteils Shoa heißt. Diese Vernichtungsaktion, die gegen ein ganzes Volk gerichtet war, liest sich als Verrat einer Kultur und ihrer Einwohner an allen impliziten humanen Traditionen, an dem was abendländisch über den Menschen gedacht und gesagt war, und zeigt deren Versagen. Weder die christliche, kirchliche, religiöse, noch die Tradition der Aufklärung und der Vernunft – wenn man denn diese beiden als zwei Pole verstehen will – haben es vermocht, das große Verbrechen aufzuhalten oder gar zu verhindern. Es geht an dieser Stelle nicht um die Frage von Schuld oder gar Kollektiv-Schuld. Es geht überhaupt nicht um eine ethische Fragestellung, sondern es geht schlicht um die Frage der Nachgeborenen9, ob die Generation der Täter, schuldig oder nicht, in irgendeiner Weise glaubwürdigen Anspruch darauf erheben kann, ihre Interessen, Vorstellungen, Normen und Lebensformen in die Zukunft hinein zu verlängern, das heißt: in ihrem Sinne zu wirken. Insofern ist die Shoa nicht allein die Katastrophe des jüdischen Volkes, sie ist gleichzeitig auch die große Katastrophe abendländischer Kultur. Der wirkliche Raub von Zukunft an den Ermordeten hat auch der Tätergeneration die Zukunft durchgestrichen. Die Shoa ist und bewirkt nicht einfach einen Traditionsbruch, wie es diesen in wohl allen Kulturen gibt, sie wirkt vielmehr als Traditionsabbruch. Es ist umso erschreckender, dass wichtige Traditionsträger wie etwa die Kirchen, aber auch Literaten und Künstler nach Kriegsende versucht haben formal wie inhaltlich an vorgängige Traditionen anzuschließen, ohne Reflexion und unmittelbar, und weiter zu lehren und weiter zu sprechen, als sei allenfalls ein Unfall geschehen, über den man nach Beseitigung der Unfallspuren zur Tagesordnung übergehen könne. Tatsächlich gab es durchaus – in den Kirchen wie im kulturellen Kontext – Menschen und Tendenzen, die begannen, sich dem Traditionsverlust zu stellen und ihn öffentlich zu machen. Doch wurden die Träger dieser Tendenzen häufig genug angefeindet, als vaterlandslose Gesellen beschimpft, als „Pinscher“ (FJS), und in ihrer Redlichkeit desavouiert. Nicht zuletzt deswegen ist alles, was im Geruch abendländischer Traditionen steht – das Christentum eingeschlossen – verdächtig und Tradition insgesamt obsolet geworden.10 9 vgl dazu auch Bert Brechts großes Gedicht „An die Nachgeborenen“, das diesen Gedanken bereits in Ansätzen in sich trägt mit der Bitte: „Gedenket unserer mit Nachsicht.“ 10 Tradition ist nicht nur Wirken vorausgegangener Generationen in deren Zukunft, sie gibt als vorfindbare auch der je aktuellen Generation gewisse Sicherheiten. Vielleicht ist vor diesem Hintergrund der in unserer Gesellschaft fortschreitende Prozess zu verstehen, an andere, ferne und anscheinend unbelastete Tradionen anzuschließen. vgl in diesem Zusammenhang das New-Age-Denken der 80er Jahre des 20. Jh. sowie die vermehrte Zuwendung zu anderen Religionen, dem Buddhismus etwa, auch dem Islam oder zu japanischer, afrikanischer tec. Kultur und/oder Religion. 6 Die erste Weise der Kontamination der Tradition durch die Shoa besteht also darin, dass unsere Traditionen sich selbst verraten haben und dadurch als Tra-Ditio unmöglich geworden sind Die zweite Weise der Kontamination zeigt sich darin, dass selbst da, wo anscheinend unbelastete europäisch-abendländische Tradition vermittelt werden soll, oftmals unbemerkt immer der Schatten der Shoa mit tradiert wird. Worte und Handlungen, die aus der Vergangenheit zu uns kommen, sind vergiftet durch Zyklon B und den Gestank verbrannter Leichen aus den Schornsteinen der Verbrennungsöfen und von den Scheiterhaufen der Konzentrationslager. An ein paar Beispielen – vornehmlich aus dem Umfeld kirchlichen Handelns und Sprechens – mag das gezeigt werden: Wer heute das Wort „Heil“ als Substantiv benutzt – und es findet sich in kirchlichen Verlautbarungen, Gebeten und Liedern zuhauf11 - der muss wissen, dass in jeder Aktualisierung, in jedem Aussprechen dieses Wortes das Heil-Geschrei der Täter von damals und ihrer Sympathisanten mitklingt. Wir sind definitiv der Nutzung dieses alten und sogar ehrwürdigen Wortes beraubt, und wo es heute dennoch genutzt wird, ist es ein Zynismus. Es gibt und gab dazu im kirchlichen Kontext Reflexionen, im Blick auf die öffentliche und Verlautbarungs-Sprache der Kirchen ist das aber unwirksam geblieben, so dass die Kirche und ihre Sprecher mit jedem neuen Einsatz dieses Wortes sich selbst wieder und die Ermordeten dazu verraten. Und so mag es nicht weiter verwundern, dass einer solchen Sprache Vorsicht entgegengebracht wird. Wer heute noch das Wort „Asche“ oder „Staub“ symbolisch aufzuladen versucht wie es etwa im Namen des „Aschermittwoch“ oder im dann gesprochenen Memento „Staub bist du...“ geschieht, der muss wissen, dass beide Worte nicht mehr einfach die Vergänglichkeit des Menschen repräsentieren, dass sie vielmehr seit damals nichts anderes sind als die Beschreibung des realen Ergebnisses der totalen Vernichtung von Menschen, jüdischen Menschen zumal. Selbst anscheinend unverfängliche Handlungen wie etwa das Entzünden des Osterfeuers sind von dieser Auflösung betroffen, wenn ihnen Symbolcharakter zugesprochen wird, weil sich vor den symbolischen Gehalt der Brand und Rauch jener Feuer schiebt, in dem zum Teil noch lebende Menschen zu Tausenden und systematisch der Unkenntlichkeit zugeführt wurden. Das Christentum ist von der Shoa noch auf viel tiefere Weise getroffen, und zwar nicht weil es christliche Grundlagen für den Antisemitismus gegeben hat, die gab es ohne Zweifel, auch, nicht weil Kirche als Institution und in ihren Mitgliedern vielfach versagt hat angesichts des Schreckens und der Vernichtung, die jüdische Menschen erleiden mussten. Getroffen ist das Christentum vielmehr in seiner Tiefendimension, der memoria passionis Jesu Christi. Nun aber schiebt sich vor und in die memoria passionis des einen Juden Jesus die memoria passionis Judaeorum, die Erinnerung an die Leidensgeschichte der Judenheit. Und plötzlich ist die eine Memoria ohne die andere nicht mehr zu haben. Von hohem Aufschluss in diesem Zusammenhang ist Paul Celans Gedicht „Tenebrae“, das die Erinnerung an die Leidensgeschichte Jesu schon vom Wort her aufnimmt, vor dem 11 „Allen Menschen wird zuteil Gottes Heil“ (Gotteslob) 7 Hintergrund der Leidensgeschichte der Juden jedoch alle Gebete, Gedichte, alles Sprechen im Zusammenhang des Leidens Jesu, alles Rettende wie auch die Nähe Gottes verwandelt und aufnimmt in die Leidensgeschichte der toten Juden, des sprechenden Wir des Gedichts und daraus eine Identifizierung jener Juden mit dem einen Juden Jesus im Tod vornimmt. Was für religiöses Sprechen gilt, hat natürlich gleichermaßen Gültigkeit für die Alltagssprache, für die Sprache der Justiz, die zum Teil noch den gleichen Jargon spricht, wie zu Zeiten des Nationalsozialismus. Es gibt dazu genügend Untersuchungen, deren Darstellung den Rahmen dieser Überlegungen sprengen würde12. 12 vgl z.B. Dolf Sternbergers bereits 1945 erschienenes Buch „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ 8 Nun können Menschen schlechterdings nicht anders, als sich auf die Vergangenheit zu beziehen. Sie haben Vergangenheit und wissen darum. Dieses Wissen speist sich aus einer besonderen Form der Wahrnehmung, dem Sich-Erinnern.13 Während wir Wahrnehmung im allgemeinen horizontal gerichtet verstehen als den Blick auf die uns umgebende Welt und auf uns selbst gerichtet, ist Erinnerung eine zeitlich gerichtete, der Vergangenheit zugewandte Form der Wahrnehmung. Dabei richtet Erinnerung als Wahrnehmung sich tatsächlich nicht auf eine vergangene Zeit, sondern auf die Gegenwart der inneren Bilder und damit auf die innere Gegenwart des sich Erinnernden. Wie im individuellen Wahrnehmungsprozess Gefühl – als Beziehungsaufnahme – und Interpretation – als Integration in vorhandene Erfahrungen, Wissen etc. – eine zentrale Rolle spielen, so auch im Prozess des Sich-Erinnerns. Erinnerung kann willkürlich oder unwillkürlich ausgelöst werden: Ich kann bewusst an meine verstorbenen Großeltern denken und sie vor mein inneres Auge rufen; es kann aber auch sein, dass Gerüche, Bilder, Gegenstände der mich umgebenden Welt, Lektüre etc. bei mir Erinnerungen auslösen. Tradieren und Sich-Erinnern beziehen sich auf das gleiche VergangenheitsGegenwarts-Kontinuum. Während jedoch Tradition von der Vergangenheit her gedacht wird, als etwas, das verpflichtenden Bewahrungscharakter hat, betrachtet Erinnerung die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart. Sich Erinnern bedeutet also Vergangenheit unter dem Akzent der Gegenwart wahrzunehmen, mit dem Blick auf mögliche zukünftige Entwicklungen. Jegliche Gegenwart ruht, seit der Mensch Mensch ward und also über Erinnerung verfügt14, auf den Schultern der Vergangenheit. Die bisherigen Überlegungen zeigen, dass lediglich das Beziehungsgefüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart sich unterschiedlich gestaltet. Auch Tradition unterliegt dem Erinnern, weil es keinen anderen Zugang gibt zu dem, was war. Allerdings steht unter dem Vorzeichen von Tradition der Erinnerungsakt und der Erinnerungsinhalt jeweils nicht im Belieben des sich erinnernden Menschen. Es gibt außerindividuelle Vorgaben, so dass ich mir z.B. den Vorwurf zuziehen kann, falsch oder unvollständig oder unpassend mich zu erinnern.15 Wenn aber nun diese Form der Initiierung und Strukturierung von Erinnerung obsolet geworden ist, dann schafft sich die Erinnerung eigene Strukturen, die allerdings Anker oder Anhaltpunkte brauchen und zugleich unter ununterbrochener Überprüfung auf ihre Gegenwartshaltigkeit hin stehen. Solche Anker oder Kristallisationspunkte des Erinnerns werden in den Kulturwissenschaften „Gedächtnis“ genannt. Gedächtnis meint also zweierlei: Zum einen die Fähigkeit des Menschen, sich zu erinnern, und zum andern den Rahmen des Erinnerns. Wie bereits oben angedeutet (vgl Anm. 4), wird vielfach bestritten, dass eine Kultur oder ein Kollektiv über ein Gedächtnis verfüge. Soweit ich darunter die Fähigkeit, sich zu erinnern, verstehe, trifft dieser Einwand zu. Soweit ich darunter den Rahmen oder die Kristallisationspunkte der Erinnerung verstehe, trifft das nicht zu. Im Blick auf das, was Halbwachs (Kollektives Gedächtnis) oder Assmann, im Anschluss an Lotman, (Kulturelles Gedächtnis) darunter verstehen, trifft es nicht zu. Der Vorwurf, eine Kultur oder ein Kollektiv könne sich nicht erinnern, trifft unzweifelhaft zu, nur ist das mit dem Begriff des Kollektiven oder Kulturellen Gedächtnisses nicht gemeint. 13 Das deutsche Wort Mensch ist etymologisch (nach Kluge, Etym. Wb) verwandt mit dem lateinischen memento und dem griechischen Mnemosyne. Der Mensch ist nach diesem befund jenes Wesen, das sih erinnern kann. 14 vgl dazu die Etymologie des Wortes Mensch in Kluge, Etymologisches Wörterbuch 15 vgl. z.B. die Vorstellung eines an der Lehre der Kirche ausgerichteten Gewissens im Römischen Katechismus oder auch den einseitig verstandenen Begriff des Orientierungswissens. 9 Vergleichbar sind Erinnerung und Gedächtnis am ehesten mit dem Sprechen: Kein Volk spricht, weder Frankreich, Deutschland noch England sprechen. Nicht einmal ein Liebespaar spricht. Es sind immer die einzelnen Menschen die sprechen. Und doch gibt es unbezweifelbar die griechische, die deutsche, die englische Sprache und es gibt auch die Paar-, Gruppen- und Sondersprachen, obgleich auch die Medizin oder die Philosophie nicht sprechen. Immer ist es das Individuum, das spricht. Und das baut sich mit Hilfe der Sprache, die von ihm verstandene Welt. Nur greift es dabei auf eine bestimmte Sprache zurück. In der Linguistik haben sich dafür unterschiedliche Begriffe etabliert. Im Blick auf das Verhältnis „Erinnerung-Gedächtnis“ lässt sich diese Begrifflichkeit so vergleichen: Parole – als das aktuelle Sprechen – entspricht dem Sich-Erinnern Langue – als spezifische Sprache – entspricht dem, was Halbwachs und Assmann unter „Gedächtnis“ verstehen. Language – als grundsätzliche Fähigkeit zu sprechen – entspricht dem, was in der Philosophie als Gedächtnis verstanden wird: die Fähigkeit des Menschen sich zu erinnern. Es ist in der Definition also genau darauf zu achten, ob das Wort Gedächtnis absolut steht, dann meint es die Fähigkeit, sich erinnern zu können, oder ob es mit Attribut steht, dann meint es den Rahmen, in dem Menschen sich erinnern. Noch in einem anderen Zusammenhang gibt es eine Vergleichbarkeit zwischen Sprache und Sprechen auf der einen und Gedächtnis und Erinnerung auf der anderen Seite. Denn wie die Sprache in jeder Gegenwart durch das Sprechen Veränderungen erfährt, wie sie wächst oder schmaler wird in ihrem Bedeutungshorizont, wie sie sich wandelt, Neues integriert, Altes ausscheidet und manchmal zu noch Älterem wieder zurückkehrt, so ist es auch mit dem Gedächtnis und der Erinnerung: Auch das individuelle, soziale, kollektive etc. Gedächtnis verändert sich mit jedem sich erinnernden Individuum, mit den Gegebenheiten, Notwendigkeiten und Möglichkeiten jeder Gegenwart. So ist auch das kollektive und kulturelle Gedächtnis unserer Zeit und unserer Kultur eingefärbt vom Schatten der Shoa. Diese Einfärbung hat sich erschreckender Weise jedoch nicht um der Ermordeten willen eingetragen, sondern um der Gegenwart willen, dass nämlich diese Gegenwart nicht aufs Neue gezeichnet werde durch solche Untat. Dieser Rahmen des Erinnerns macht deutlich, dass das, was Vergangenheit ist, dass Menschen, die vergangen sind, durch keine Gegenwart und keine Zukunft menschlich zu retten sind. Und trotzdem haftet dem SichErinnern hier die Wahrnehmung von Unabgegoltenem an und – aber das überschreitet das Denken – die Hoffnung auf Aufhebung dessen. Jedenfalls ist es Sache jeder Gegenwart und der darin lebenden Menschen derartige Einfärbungen und Verschattungen wahrzunehmen. Das funktioniert jedoch nur, wenn sozial und kulturell der entsprechende Rahmen gestaltet wird. 10 3. Ind ividue lle s Gedä chtnis, kollek ti ves G edä chtnis, ku lture lles Gedä chtnis a) Individuelles Gedächtnis Kennzeichen des Menschen Menschen sind keine Augenblickswesen. Es unterscheidet sie von allen anderen Lebewesen, dass sie – jedenfalls sobald sie sich ihrer bewusst werden – von ihren Anfängen ebenso wissen wie vom unvermeidlichen Ende.16 Verschwinden und Bewahren, Bewahren und Verschwinden – zwischen diesen Polen spielt menschliches Leben. Tod ist die Grundtatsache, die Zeit fühlbar werden lässt. Das Wissen ums Verschwinden-Können fordert im Gegenzug das bewahrende Sich Erinnern ein. Menschen sammeln in sich Bilder von dem, was geschehen ist. Das Wort „Bild“ ist dabei nur eine Chiffre für Worte, Klänge, Situationen, Gerüche, Lektüren etc. Dabei ist Sich Erinnern alles andere als der Vorgang Vergangenes schlicht zu repetieren, wieder zu holen. Denn wie die Wahrnehmung aus unterschiedlichen Gründen selektiv verfährt, so auch die Erinnerung. Es wird also nicht einfach alles, was mir im Laufe meines Lebens begegnet abgespeichert und steht zur beliebigen Wiederholung zur Verfügung. Wie bereits oben angedeutet gibt es Wahrnehmungsfilter, die u.a. mit Gefühl und Interpretation zu tun haben. In ähnlicher Weise gibt es auch Erinnerungsfilter. Das bedeutet: neben dem Sich Erinnern gibt es auch ein Vergessen. Während das Wort „Wahrnehmung“ im Deutschen ein transitives Verb ist und damit den Eindruck vermittelt, es gebe ein Etwas, auf das sich Wahrnehmen bezieht, das sein Objekt ist und so Wahrnehmung „objektiv“ mache, ist das Wort „Sich Erinnern“ ein reflexives Verb und zeigt an – wie übrigens auch im Griechischen und Lateinischen – dass Erinnerung ein Akt ist, der sich auf die sich erinnernde Person richtet bzw. in den die Person mit ihren Erfahrungen involviert ist. Insofern führt der aus dem Englischen abgeleitete (I remember something) aktive Gebrauch von Erinnern, wie er immer häufiger im Deutschen vorfindbar ist, in die Irre. Die Erinnerung bedient sich innerer Bilder zur Evokation dessen, was gewesen ist, allerdings mit den eben genannten selektiven Einschränkungen und Transformationen. Zudem entspricht nicht aller Erinnerung eine Gegebenheit in irgendeiner Außenwelt. Nicht nur gibt es beispielsweise auch eine Erinnerung an Träume, vielmehr kann die Erinnerung Dinge auftauchen lassen, die keinen Bezug zu irgendeiner äußerlichen Gegebenheit haben – außer zur Sprache, in die hinein sie sich vermitteln. Es gibt also im Erinnern durchaus Dinge, die auf nichts verweisen als auf sich selbst und trotzdem für den sich Erinnernden durchaus Realitätsgehalt haben und bedeutsam sein können. Zu wissen, wer ich war, ist für jeden einzelnen Menschen immer wieder notwendig, um zu erfahren, wer ich bin und wer ich sein kann. Es sind die alten philosophischen Fragen „Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich? die sich im Kontext der Erinnerung bemerkbar machen und denen das Sich Erinnern zu antworten versucht. Das individuelle Gedächtnis eines Menschen als Rahmen seines Sich Erinnerns ist also überaus bedeutsam für die Gewinnung von Identität. Doch handelt es sich bei diesem Zusammenhang von Identität und individuellem Gedächtnis durchaus um einen dialektischen Prozess. Während ich zum einen den Eindruck gewinne, dass das, was mir widerfahren ist und woran ich mich erinnere, mich prägt, bisweilen sogar davon überzeugt sein kann, es müsse etwas 16 vgl. Erich Frieds Gedicht: Ein Hund/der stirbt/ und der weiß dass er strirbt.../ist ein/Mensch. 11 Verschüttetes in meiner Erinnerung geben, von dem ich (noch) nicht oder nicht mehr weiß, das mich zu bestimmten Handlungs-, Lebens- oder Denkweisen bringt, sorgt umgekehrt meine Identität, die ich im Laufe meines Lebens gewonnen zu haben glaube, dafür, das mein individuelles Gedächtnis eben jene Dinge rahmt, bewahrt oder enthält, die diese Identität stützen. Erfahrungen, Situationen, Bilder usw., die im Gegensatz zu meiner Identität stehen, mit dieser nicht kompatibel sind oder sie gar stören, werden leicht ausgeblendet und stehen mir in meinem Mich Erinnern nicht ohne Weiteres zur Verfügung. Das bedeutet, dass das individuelle Gedächtnis, das meine Erinnerung aktiviert, in hohem Maße Konstrukt ist. Im Erinnern gelingt es uns aus Unsinn Sinn zu machen und Kontingenzen zu bewältigen, indem wir ihnen nachträglich Zusammenhang geben. So wird dann beispielsweise in der späten Erinnerung aus dem autoritären Patriarchen-Vater ein liebevoller Ernährer und Schützer der Familie oder umgekehrt erscheinen nach dem Scheitern einer Beziehung auf einmal schon sehr früh im gemeinsamen Leben Anzeichen des späteren Bruchs. Auch in anderer Weise ist das individuelle Gedächtnis in seiner Substanz selektiv, weil es seine Inhalte häufig an bestimmte Situationen oder Umgebungen bindet, Zeitliches also räumlich verknüpft. Beispielsweise kann es sein, dass mir ein Mensch, der mir im beruflichen Umfeld begegnet und dessen Name und Aufgabenumfeld mir dort durchaus geläufig sind, wenn ich ihn im privaten Umfeld treffe, zwar irgendwie bekannt vorkommt, es mir aber nicht gelingt ihn richtig einzuordnen.17 Das individuelle Gedächtnis ist gebunden an die Person. Mit dem Tod eines Menschen erlischt auch dieses Gedächtnis unmittelbar und vollends. Und so geht tatsächlich mit jedem Menschen auch eine, seine Welt unter, die eben die einzige Welt ist, in der er zuhause war.18 Da, wie bereits eingangs angemerkt, Sich Erinnern eine bestimmte Form der Wahrnehmung ist – auf Vergangenes gerichtet, aber in der Gegenwart angesiedelt – zeigt sich in den Gedächtniswelten der Einzelnen bzw. in ihrer aktualisierenden Erinnerung Ähnliches, wie wir es auch aus den Wahrnehmungsprozessen kennen: So wie die Einen ihre Wahrnehmung aufs Detail richten, die Anderen eher ein Gesamtbild erzeugen in ihrer Wahrnehmung, so ist es auch beim Sich Erinnern: Die einen verfügen im Sich Erinnern, also in ihrem individuellen Gedächtnis über eine Fülle an Einzelheiten, Daten und Fakten. Sie können sie abrufen, indem sie auf bestimmte Verknüpfungen zurückgreifen (Das war im Jahr als mein erstes Kind geboren wurde, also 1963, und zwar zwei Tage vor meinem Geburtstag, also am 17. August...) und dann mit einem anscheinend exakten Datum aufwarten, das dann als definitiver Beleg für die „Richtigkeit“ dieser Erinnerung angeführt wird. Die Anderen hingegen, wenn sie von ihren Erinnerungen sprechen, beginnen häufig eine Geschichte zu erzählen, die einen ganzen Sinnzusammenhang vorgibt und darin vermittelt einzelne Ereignisse. Auf die Frage, wann denn das gewesen sei, werden sie vermutlich antworten, dass das Ereignis so etwa vierzig Jahre her sein müsse. Beide leisten sich eine Konstruktion: Die Konstruktion der einen besteht im Anschein kalendermäßiger Realität. Ob das Datum allerdings wirklich das reale Datum war, bleibt offen. Es ist kaum beweisbar, wenn es sich um ein individuelles Ereignis handelt, es zeigt lediglich, dass etwas für diesen Menschen Erinnernswertes damals geschehen ist. Ein übrig 17 18 vgl. Csaky, Gedächtnis S. 4 vgl. Wittgenstein, Tractatus 12 gebliebener Kalender könnte Aufschluss darüber geben, dass tatsächlich das Erinnerungsdatum dem Datum einer äußeren Realität entspricht. Wichtiger ist jedoch, dass über den erzeugten Anschein von Wirklichkeit die Wichtigkeit des Ereignisses sich darstellt. Die Geschichte der Anderen dagegen macht deutlich, dass das Ereignis in einen Sinnzusammenhang eingebettet ist, dass es nicht kontingent war, selbst dann wenn es als fragmentarisch erzählt wird. Je nach gesellschaftlichem Hintergrund oder je nach Situation wird im einen Zusammenhang dieses und im andern jenes als gültig(er) angesehen.19 Hier wird bereits deutlich, dass sich individuelles Gedächtnis, will es kommunikabel sein, sich den Strukturen eines allgemeineren, also gemeinschaftlichen oder gesellschaftlichen, Verstehens anzubequemen hat. 19 Wer beispielsweise als Erzähler ausschließlich Daten bennnt, wird vermutlich kaum ein Publikum finden, und wer im Fach Geschichte bloß Ungefähres, aber schön Zusammenhängendes angibt, wird vermutlich ebenso wenig auf Resonanz stoßen. 13 a) Kollektives Gedächtnis Konstruktion der Identität einer Gemeinschaft Das individuelle Gedächtnis bedarf, um überhaupt kommunikabel zu sein, eines Koordinatensystems bzw. einer Form das bzw. die von anderen Menschen geteilt wird. Die inneren Gedächtnisbilder können sich in einem anderen als dem Wachzustand durchaus auch anders organisieren20, sie sind dann jedoch nicht mehr verständlich für andere. Das bedeutet, dass die Organisation des individuellen Gedächtnisses in einer kollektiven Kommunikationsstruktur wurzelt. Wo sich das individuelle Gedächtnis abweichend von dieser Struktur äußert, löst es in der Gemeinschaft zumindest Befremden aus. Darüber wird im Kontext des Kulturellen Gedächtnisses noch zu sprechen sein. Schließlich ist es auch die Sprache einer Gemeinschaft, die eine Vorgabe für die Organisation des individuellen Gedächtnisses liefert und so den inneren Dialog und damit auch Bewusstsein strukturiert und organisiert. Die Sprache schafft im individuellen Gedächtnis beispielsweise die Notwendigkeit, zeitliche Abfolgen, Reihenfolgen, Zwecke, Gründe. Zeiteinteilungen, Rangfolgen herzustellen – oder, je nach Sprache, das eben nicht zu tun. In jeder Gemeinschaft gibt es immer schon eine Sprache und ein Sprechen der Einzelnen. Und es treten in dieser Sprache unentwegt Alltagsgeschichten, Erinnerungen, Wünsche, Normen, Planungen, Lehren etc. zu Tage. Im Blick auf das Gedächtnis: Die individuellen Gedächtnisse beginnen erinnernd und sprechend sich miteinander zu verweben. Da aber immer schon Menschen da sind, die älter sind als ich, werde ich mich mit meinem Erinnerungssprechen auf das Alltags- und Erinnerungssprechen der Älteren, der Eltern also vor allem oder auch der Großeltern beziehen, wenn wir an dieser Stelle im familialen Kontext bleiben. Gleichzeitig wird sich mein individuelles Gedächtnis erweitern. Zwar übernehme ich nicht einfach die Erinnerungen bzw. Gedächtnisse der Anderen, Älteren, aber es lagern sich in meinem Gedächtnis die Geschichten ab, in die andere ihre Erinnerungssubstanz, ihr Gedächtnis „verpacken“. So entsteht ein Gedächtniskontext über den in dieser Weise einzig diese eine Gemeinschaft (z.B. die Familie) verfügt. Im Umkehrschluss lässt sich sagen, dass alle, die über diesen Gedächtniskontext verfügen, zu dieser Gemeinschaft (z.B. Familie) gehören. Wir haben es hier mit der Grundform dessen zu tun, was Maurice Halbwachs „kollektives Gedächtnis“ nennt. Dieses kollektive Gedächtnis grenzt auf der einen Seite eine Gemeinschaft ein, es grenzt zugleich Fremde aus. So schafft kollektives Gedächtnis eine Gemeinschaftsidentität. Auch hier gilt das Prinzip der Dialektik. Das kollektive Gedächtnis schafft Identität, gleichzeitig sorgt es dafür, dass nur bestimmte „passende“ Dinge der Vergangenheit erinnert werden, andere hingegen dem kollektiven Vergessensein verfallen, dass dauerhaft bestimmte Gedächtnisinhalte sogar getilgt, zumindest aber ausgeblendet werden. Das sind jene Inhalte, die das kollektive Identitätsverständnis stören oder verstören könnten. Ein Beispiel dafür ist der Umgang mit der Zeit des Nationalsozialismus in vielen deutschen Familien – zum Teil bis heute. Obgleich im individuellen Gedächtnis durchaus Erinnerungen dazu da sind – im Traum oder angesichts von Lektüren melden sie sich bisweilen zu Wort – flossen diese Erinnerungen kaum in den individuellen 20 Maurice Halbwachs (46) zeigt das am Beispiel von „Irren“, die ihr Gedächtnis beispielsweise nach Reim oder Klang organisieren. 14 Gedächtnishaushalt der Familien ein. An anderen Orten und zu anderen Gelegenheiten konnten sich derartige Elemente des individuellen Gedächtnisses durchaus zu Wort melden (z.B. vor Gericht). Dieses Ausblenden und Vergessen im kollektiven Gedächtnis von Familien ist nicht erst nach dem Krieg feststellbar. Es handelt sich um ein allgemeines Phänomen. Die „schwarzen Schafe“, die nicht-ehelichen Kinder, behinderte Familienmitglieder, Ausländer, die in die Familie vor Generationen gekommen waren, all das, was die positive Identität einer Familie bedrohen konnte, wurde immer schon gern vergessen oder weg geblendet. Im übrigen ist das kollektive Gedächtnis einer Familie in stetem Wandel begriffen, weil es immer nur etwa drei Generationen umfasst (Großeltern, Eltern, Kinder) und also auf persönlicher Anschauung und persönlichem Erleben der Einzelnen beruht. Es fließen dem kollektiven Gedächtnis immer neue individuelle Erinnerungen zu. Wo immer individuelle Gedächtnisinhalte in den kommunikativen Prozess eingebracht werden, wo also Erinnerungen zur Sprache kommen, sind sie zugleich auch in jener dialektischen Weise mit dem kollektiven Gedächtnis verbunden. Wenn der Versuch des Verstehens einsetzt („Sein, das verstanden werden will, ist Sprache.“ H.G. Gadamaer), nimmt das individuelle Gedächtnis Bezug auf das kollektive und dieses wird bereichert um neue Elemente. Ob dann diese Elemente dauerhaft Teil des kollektiven Gedächtnisses bleiben, hängt von deren Kompatibilität mit der Kollektiv-Identität und ihrer Bedeutung für die Handlungsfähigkeit des Kollektivs ab. Eine Besonderheit literarischer bzw. künstlerischer Erinnerungsarbeit ist es beispielsweise, auf befremdliche Weise Erinnerung ins kollektive Gedächtnis einer Sprachgemeinschaft zu vermitteln. Auch daraus speist sich der häufig vorgebrachte Vorwurf des Unverständnisses, der Dunkelheit und schließlich auch die Abwehr solcher künstlerischen Hervorbringungen. Das kollektive Gedächtnis ist der ursprüngliche Ort der Traditionsvermittlung, der Überlieferung. Dabei erhob die Überlieferung, wie oben dargestellt, über Jahrhunderte den Anspruch von Gültigkeit, das heißt: Sie wurde für die jeweils aktive Generation zur Verpflichtung. Aufgrund der beschriebenen Momente21 hat Tradition diesen Gültigkeitscharakter weitgehend eingebüßt. Die Erinnerung der Menschen einer Gemeinschaft ist autonomer geworden. Sie sucht auch jenseits des unmittelbaren kollektiven Gedächtnisses der Familie, der Herkunftsgemeinschaft oder sogar der eigenen Gesellschaft noch Spuren, die nicht hätten tradiert werden sollen und sie empfindet jene Elemente mit Traditionscharakter weitgehend nicht mehr als Verpflichtung. Im Blick auf den erinnernden Wahrnehmungsprozess bezogen heißt das: Die gefühls- und damit werthaltige Bindung an diese Elemente wird aufgegeben zugunsten eines autonomen interpretatorischen Geschehens, das wiederum neue gefühlsmäßige Bindungen – diesmal aber ausschließlich aus der Perspektive des Einzelnen, also ohne Verpflichtungscharakter – aufbaut. Davon ausgehend, dass dieser Traditionsverlust alle menschlichen Gemeinschaftsformen unserer Gesellschaften betrifft, haben auch religiöse Gemeinschaften, soziale 21 vgl. oben Kap. 2 15 Bewegungen, Parteien, Gewerkschaften etc. und schließlich auch der Staat selbst bzw. die National- und Sprachgemeinschaft darunter in ihrer Gültigkeit zu leiden. Für Deutschland trifft dies aus den im Exkurs beschriebenen Gründen in besonderer Weise zu. Das kollektive Gedächtnis Deutschlands steht so sehr im Schatten der Shoa, das „Deutschsein“ für viele Menschen in diesem Land kein sinnvolles Identitätsmerkmal mehr ist. Gleichzeitig handelt es sich bei dieser Form des Traditionsverlustes um eine Destabilisierung von Vergemeinschaftungsprozessen. Da Gemeinschaften aber Stabilität brauchen, um handlungs- und überlebensfähig zu sein, sucht das Sich Erinnern nach neuen und anderen Inhalten, die eine solche Stabilität gewährleisten sollen. In den letzten Jahren wurde in politischen Diskussionen immer wieder gefordert, dass Europa eine Wertegemeinschaft werden oder sein solle. Der ursprüngliche Ort von Werten und Normen ist jedoch, wie wir gesehen haben, das kollektive Gedächtnis. Nun ist Europa als Gemeinschaft allenfalls eineinhalb Generationen alt. Damit ist das kollektive Gedächtnis Europas noch nicht vollends ausgebildet. Hinzu kommt, dass für viele europäische Länder das kollektive Gedächtnis der eigenen Sprachgemeinschaft viel bedeutender ist als das einer allenfalls als Interessensgemeinschaft wahrgenommenen europäischen Gemeinschaft. Insofern kann Europa als Gemeinschaft weder auf die individuellen Gedächtnisse seiner Bewohner noch auf die kollektiven Gedächtnisse seiner Gemeinschaften zurück greifen und (noch) keine prägende Kraft entwickeln und identitätsstiftenden Charakter haben. Wir werden jedoch weiter unter feststellen, dass in anderer Weise hier Identitätsstiftung geschieht. Denn das kollektive Gedächtnis ist eingebunden in eine umfassendere, vor allem zeitlich weiter gestreckte Form des Gedächtnisses, das, da es sich unabhängig machen muss vom bloßen Generationen-Verbund, stärker noch als das individuelle oder kollektive Gedächtnis andere Deutungs- oder Gedächtnisträger bzw. Kristallisationspunkte braucht. (Hier wurde bewusst – in der Darstellung des individuellen bzw. kollektiven Gedächtnisses – die Bedeutung der Medien ausgespart, weil das ein eigenes Thema darstellen und den Rahmen dieser Überlegungen sprengen würde. Die Medien stellen jedenfalls ein breiteres Maß an Gedächtnisinhalten zur Verfügung, als dies für frühere Generationen in dieser Breite vorfindbar war. Das führt in der individuellen Aneignung zu verstärkter Selektion und damit auch zur Partikulisation. Gleichzeitig besteht dabei auch die Gefahr der Lenkung des individuellen bzw. kollektiven Gedächtnisses, vor allem bei unreflektiertem Mediengebrauch – und das trifft dann vor allem auf die Unterhaltungsmedien zu, die ja gerade deswegen Unterhaltungsmedien sind, weil sie den Absprung aus dem Reflexionszusammenhang ermöglichen und verlangen.22 22 vgl in diesem Zusammenhang z.B. die Wirkung der Holocaust-Filme in den USA und Deutschland oder auch von „Schindlers Liste“. 16 c) Kulturelles Gedächtnis Zeitanker, Suche nach Ursprung 1) Zum Interesse an dem Phänomen Kulturelles Gedächtnis Der Begriff „Kulturelles Gedächtnis“ wurde vor allem von dem Ägyptologen Jan Assmann – auf der Basis von Überlegungen des russischen Kulturwissenschaftler J. Lotman – erneut in die kulturwissenschaftliche Diskussion eingebracht. Vieles von dem, was im Folgenden dargestellt wird, geht auf die Thesen Jan Assmanns zurück. Andererseits gehen die vorliegenden Überlegung eigene Wege und zwar aus einem zweifachen Grund: (a) Assmann belegt seine Theorie des kulturellen Gedächtnisses mit Kulturelementen aus aller Welt. Er findet seine Beweise bei der indigenen Bevölkerung Nord- und Südamerikas genauso wie bei den Aborigines in Australien, er findet sie in Ägypten, dem alten Griechenland und bei den Nomadenstämmen Afrikas wie auch bei den Bewohnern abgelegener Pazifik-Inseln. Entwickelt wurde diese Theorie jedoch am Beispiel antiker mittlmeerischer bzw. vorderasiatischer Kulturen mit den Mitteln eines durch die Aufklärung gegangenen Denkens. Das kulturelle Gedächtnis wird bei Assmann auf diese Weise zu einer Art anthropologischen Grundkonstante. Und eben dies ist auch die Absicht seiner Darstellungen. Assmann arbeitet auf der Grundlage eines konstruktivistischen Ansatzes. Deswegen hätte ihm klar sein können, dass seine Überlegungen so zu einer eurozentrischen Konstruktion dessen führen, was er kulturelles Gedächtnis nennt. Dabei sind Assmanns Thesen im Blick auf den europäischen Kontext durchaus einleuchtend. Ich beschränke mich deshalb in meiner Darstellung auf diesen europäischen Kontext. Selbst hier muss dabei mit gedacht werden, dass z.B. Schriften, Erzählungen etc. aus der Zeit vor Aufklärung und Historismus mit großer Vorsicht als Belege herangezogen werden und mythische Zusammenhänge sich beispielsweise vollkommen anders gestalten als kausale oder von der Reflexion hergestellte. Ziel dieser Überlegungen ist auch nicht, Belege für eine allgemeine Theorie des kulturellen Gedächtnisses darzustellen, sondern einen kleine Beitrag zur Reflexion eines kulturellen Selbstverständnisses Europas zu leisten und damit europäische Identität in reflektierter Weise zu fördern. (b) Bei vielen Kulturwissenschaftlern – nicht nur bei Assmann – wird immer wieder auf die Bedeutung der Sprache23 für kulturelle Prozesse verwiesen. Dies betrifft jedoch eher die Schriftlichkeit und die „Kanonbildung“ von Schrift-Kulturen. Die Bedeutung von Sprache in oralen Kulturen wird hingegen fast ausschließlich auf das kollektive Gedächtnis beschränkt, das bei Assmann übrigens „kommunikatives Gedächtnis“ heißt. Der Hintergrund für diese Zurückhaltung ist ein doppelter: Zum einen scheint vielen Kulturwissenschaftlern die Bedeutung von Reim, Rhythmus oder gar Gesang als Mnemotechnik und dadurch das in dieser Weise Vorgetragene als Element des kulturellen Gedächtnisses nicht zugänglich zu sein. Doch sind offensichtlich gerade diese formalen Aspekte der Oralität typisch vorschriftliche „zeitdehnende“ Elemente 23 Das entspricht dem sogenannten „linguistic turn“ in den Geistes- bzw. Sozialwissenschaften, der oft in Verbindung mit dem Konstruktivismus gebracht wird. 17 oder Techniken: Wenn sich beispielsweise in der Ilias oder der Odyssee eindeutige mnemotechnische Motive finden lassen24, wenn weiterhin davon auszugehen ist, dass mythische Geschichten aus der Götter- oder Heroenwelt ebenso wie viele „Märchen“ und „Sagen“ die sich in der Odyssee finden, bekannt waren und lediglich je der Aktualisierung und eventuellen Akzentuierung bedurften, dann haben wir es hier mit einem Überlieferungssystem zu tun, das leicht zweihundert bis dreihundert Jahre überspannte und damit das, was wir eben als kollektives Gedächtnis beschrieben haben, weit über steigt. Kulturwissenschaftlich wird hier oft die Zuverlässigkeit der Überlieferung bezweifelt und tatsächlich finden sich in nachträglicher Verschriftlichung immer auch Spuren der Redaktion. Doch sind selbst diese noch einmal Teil dessen, was mit „kulturellem Gedächtnis“ gemeint ist. Ein zweiter Grund liegt wohl in der eurozentrischen Perspektive, aus der auch gegenwärtige orale Kulturen angeschaut werden, das heißt auch in dem Interesse, abendländische Herkunftskultur besser zu verstehen. Da wir die Sprache vieler archaischer Kulturen gar nicht kennen, da wir von Menschen aus dem Neolithikum und der frühen Bronzezeit vor allem materielle Spuren im Sinne von Waffenfunden, Scherben und Architektur bzw. zum Teil Bildern und Skulpturen haben, können wir eigentlich von diesen Kulturen nur ein sehr begrenztes Verständnis gewinnen. Die gegenwärtige Kulturwissenschaft zeigt sich mit diesen begrenzten Erkenntnissen eher unzufrieden, und um nicht auf pure Spekulationen angewiesen zu sein, nutzt sie die Beobachtung gegenwärtiger oraler Kulturen überall auf der Welt, um daraus Schlüsse für die Hintergründe unserer Kultur zu ziehen. Entscheidend dabei ist oftmals der Zusammenhang von Ritualen und Kultgegenständen, so dass oftmals eher Rituale in den Blickwinkel des Gedächtnisträgers geraten als eben Sprache. Auch wenn im alltäglichen, also umgangssprachlichen Sprechen keineswegs mit „Repräsentationen“ gearbeitet wird25, so ist doch kulturelles Gedächtnis als ein an eine Sache oder z.B. auch Topographie gebundene Erinnerung nicht ohne sprachliche Deutung zu haben. Rituale und Gegenstände, Handlungen und Gebäude sind Kristallisationspunkte für deutendes Erzählen in jeder Gegenwart, wobei die Menschen sich schon früh bewusst waren, dass es sich dabei um Deutungen handelt26. Kein Kult findet einfach aus sich heraus und um seiner selbst willen statt. Selbst dort, wo Kulte sich an viel älteren natürlichen oder menschlich geschaffenen topographischen Besonderheiten festmachten, bedurften sie der sprachlichen Interpretation, um für die Menschen verständlich zu sein. Aus den genannten Gründen und vor dem Hintergrund eines deutlich geäußerten Interesses an einem begründeten Selbstverständnis des Okzidents stammen die Beispiele der vorliegenden Überlegungen aus dem Kontext abendländischer Geschichte. Alles andere würde meine Kompetenz auch bei weitem überschreiten. In einem weiteren Schritt werden diese Überlegungen versuchen zu zeigen, welche Bedeutung der Sprache und später dann der alphabethischen Schrift für die Gestaltung des kulturellen Gedächtnisses im Kulturraum Europa zukommt. 24 z.B. feststehende Formulierungen, die in einer Schriftsprache langweilig wirken wie „rosenfingerige Eos“ „vielgewandter Odysseus“ etc. oder auch bestimmte Rhythmus- und Motiv-Abfolgen 25 vgl. Willaschek, Realismus – die vermittelte Unmittelbarkeit 767 26 vgl.: Synoikie-Geschichten aus dem antiken Griechenland als Hinweis auf mögliche Bündnisse 18 2) Kulturelles Gedächtnis: Was und Wozu? Gesellschaften verlangen zur Sicherung ihrer Stabilität und das heißt auch: zur dauerhaften Einbindung ihrer Mitglieder nicht nur nach je augenblicklicher Nützlichkeit und Sicherheit sondern nach einer Zeit einbindenden oder überwindenden Begründung ihrer selbst. Diese Stabilität bildet sich ab in haltbaren Strukturen, die jedem Mitglied der Gesellschaft einen festen Platz zuweisen und sichern. Dabei stellte diese Sicherheit ehemals auch eine das eigene Leben überschreitende Sicherheit dar, insofern auch Geburt und vor allem Tod erzählend erklärt und gesichert waren. Was wir hier heute Begründung nennen war ehemals nicht bloße Kausalität: Die Richtigkeit, Gültigkeit und Würde der Strukturen und gesellschaftlichen Handlungs- und Verhaltensweisen bedarf einer Herleitung, die die Zeit des kollektiven Gedächtnisses übersteigt, die zudem auch längst vorfindbare Phänomene, ob bedrohlich oder hilfreich, in ihre Begründung mit einbezieht. In alten Zeiten gab es für die Herleitung solcher Gültigkeit vor allem zwei Möglichkeiten: a) die Herleitung von einer Gottheit und b) die Anciennität. Rückblickend gibt es für beide Herleitungssysteme im abendländischen Kontext – bis weit in schriftliche Zeit hinein – eine Gleichzeitigkeit. Während beispielsweise viele nach-augustäischen Caesaren sich durch göttliche Abstammung mit dem Nimbus der Sakralität und damit der Gültigkeit versahen – ihre bekannte Ahnenreihe gab meistens nicht viel her – findet sich beispielsweise im Neuen Testament als Beleg der Gültigkeit und zur Zentrierung der Aussage der Stammbaum Jesu, der entweder bis Adam zurückreicht und damit Jesus als den neuen Menschen qualifiziert, oder bis auf David und damit die Messiasschaft Jesu verdeutlicht. Gleiches gilt übrigens auch für die Wahrheit und Gültigkeit von Worten oder später Texten: Viele griechische Gesänge und Texte schaffen sich eine mythisch abgeleitete Gültigkeit, indem sie deutlich machen, dass aus dem Mund des Sängers die Göttin oder die Muse singt. Frühmittelalterlich und mittelalterlich überlieferte Epen berufen sich dagegen auf „alte maere“, also auf weit zurückliegende Kunde. Und auch den alten Griechen galt Mnemosyne, die Muse der Erinnerung, als Mutter aller Musen.27 Die Grundfrage solchen Erinnerns liegt immer in der jeweiligen Gegenwart: Was dürfen wir nicht vergessen, um Bestand zu haben?28 Manchmal geht es auch nur um die Begründung eigener Überlegenheit, Bedeutsamkeit, der Begründung von Ansprüchen in der Gegenwart etc. Dabei muss diese Grundfrage „Was dürfen wir nicht vergessen...“ als Frage jeder Gegenwart zunächst unerschlossen bleiben. Gleichgültig, ob ich in die Religion, die Literatur oder die Philosophie vergangener Zeiten hineindenke: Wessen ich mich da erinnere, das kommt zunächst in Form einer Tatsachenaussage daher und verbirgt seine Zwecke. „Heraklit war ein dunkler Philosoph, Hölderlin war ein großer Dichter, der dreißigjährige Krieg war ein schrecklicher Religionskrieg“ – die Richtigkeit solcher Aussagen erweist sich lediglich dadurch, dass sie von vielen anderen meiner (Sprach-) Gemeinschaft geteilt wird, zumindest synchron, evtl. auch diachron. Die Aussage solcher Sätze ist alltagsgegenwärtig und legitimiert sich im geteilten Dass des Aussprechens. Und das Teilen dieser Aussage schafft Gemeinschaft. Die Wahrnehmung einer griechischen Skulptur oder eines römischen Mosaik kann mich unmittelbar freuen, in ihrer Präsenz in unserer Kultur, wobei ich weiß, dass diese Objekte alt 27 vgl. in diesem Zusammenhang M.Krämer, Eine Heimat in der Sprache auf der Website der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart 28 Die grundsätzliche Unterscheidung Assmanns zwischen einer ars memorativa, die ins Räumliche gewendet, und einer Erinnerung (skultur), die ins Zeitliche gewendet sei, scheint mir wenig ergiebig zu sein, weil Erinnern jeglicher Art sich häufig räumlicher Mittel als Kristallisationspunkt oder Stütze zur eigenen Versicherung bedient. Das gilt so auch für die Erinnerungskultur einer Gemeinschaft/Gesellschaft. 19 sind. All diese Sätze und Wahrnehmungen bringen zugleich auch Elemente des kulturellen Gedächtnisses zur Sprache. Damit aber kulturelles Gedächtnis als solches sich aktiviert, bedarf es der jeweils zeitgenössischen Deutung oder Interpretation.29 Das Gleiche gilt heute für über unsere Orte und Landschaft verstreute Kirchen und Klöster: Ich muss sie nicht als Zeichen wahrnehmen, sondern ich kann sie auch einfach in ihrer Materialität zur Kenntnis nehmen, und vermutlich wird es immer mehr Menschen genau so gehen. Es bedarf zunehmend mehr der Deutung solcher wahrnehmbarer Materialität. Diese Deutung geschieht zunächst nicht unter dem Akzent der Grundfrage „Was dürfen wir nicht vergessen?“, sie steht vielmehr unter dem Akzent des Verstehens: Was ist das, was mir da gegenübersteht, mich anspricht etc. Und das Bedürfnis nach solcher Verstehen erzeugender Deutung ist gesellschaftlich offenbar im Wachsen begriffen. Früher hat die normale Tradition diese Verstehensmomente in sich getragen. Und die Kristallisationspunkte eines potentiellen kulturellen Gedächtnisses waren zwar nicht als solche, aber doch Bedeutungsträger jeder neuen Gegenwart geläufig. Sie wurden geachtet und häufig ohne Wissen um eine stabilisierende, identitätsstiftende Bedeutung etc. weitergegeben. Die Bilder einer Biblia pauperum, die mythologischen Gemälde des 18. Jahrhunderts – all das erschloss sich den Menschen als etwas Alltägliches, weil es zum Alltag gehörte. Es war Tradition. Dass die Inhalte dieser Tradition nicht zufällig oder gar beliebig waren, war nicht unbedingt Bestandteil dieses Wissens. Die Tradition als solche hatte ihre eigene Würde. (vgl. oben). Sie gestaltete dabei unbefragt das, was wir heute kulturelles Gedächtnis nennen. Und es gab in diesem Zusammenhang den Kanon des Wissens wie den Kanon heiliger Schriften, der jeder Gegenwart, also jedem kollektiven Gedächtnis und jedem Einzelnen, also jedem individuellen Gedächtnis zur Verfügung stellte, was an Erinnerung nottat. So sorgte ehemals diese Form kulturellen Gedächtnisses unbefragt für Stabilität und Fortdauer. Seit jedoch diese Form der Tradition aus den bekannten Gründen abgebrochen ist, gibt es eine neue Notwendigkeit, sich mit dem was vergangen ist und doch materiell in die Gegenwart reicht, zu beschäftigen und es zu adaptieren. Das ist zunächst einmal kein einmaliger Vorgang in der Geschichte Europas. In Mecklenburg beispielsweise wurden bronzezeitliche Hügelgräber gefunden (ca. 900 vor Chr.), die im späten achten Jahrhundert nach Chr. von den eingewanderten Slawen erneut zum Teil als Grabstätten und zum Teil als Tempel-Anlagen genutzt wurden. Was sich archäologisch belegt zeigt, ist, dass offensichtlich die späten Einwanderer sich als Nachfolger und Erben jener alten Bevölkerung verstanden und damit ihren Herrschaftsanspruch über die indigenen Germanen verdeutlichen wollten, zugleich auch eine Differenz zum christlich eingefärbten bedrohlich erscheinenden Frankenreich offenbarten.30 Hier wurde offensichtlich eine Tradition konstruiert mit dem Ziel der Legitimierung und der Identitätsstiftung. Nur handelt es hier offensichtlich um eine Gemeinschaftsdeutung mit gemeinschaftsstiftenden Charakter.31 Hier haben wir es also mit einer aktiven Deutung von topographischen und menschlich geschaffenen Gegebenheiten zu tun. Tendenziell wohnt nun allem kulturellen Gedächtnis dieser Zug von Deutung inne. Das gilt gleichermaßen für orale wie für schriftlich orientierte abendländische Kulturen. 29 Das gilt so auch für den Klosterkeller in Öffingen. vgl. Der Ursprung der Geschichte, Frankfurt 2005 31 vergleichbar etwa mit der Herleitung eines göttlichen Stammbaumes der Cäsaren etc. vgl. oben S. 17 f 30 20 Die kulturellen Hervorbringungen jeder Zeit sind in vielfacher Weise und herausgehoben Träger des kulturellen Gedächtnisses. Ob es sich dabei um Vasenmalerei oder Skulpturen, um Bilder oder Texte oder auch Lieder handelt, ist zunächst gleichgültig. All diese Hervorbringungen brauchen in jeder späteren Zeit ein kulturelles Gedächtnis, dass sie zu deuten weiß und sie ins kollektive Gedächtnis hinein wieder nahe rückt. Von Bedeutung blieben und bleiben solche Hervorbringungen nur, wenn sie einen Beitrag zur Identitätsstiftung leisten. 21 4. Kulturel le s Ge däc htnis zwische n T radit ion und Ane ignu ng a) Die Notwendigkeit von Deutung (Der Eunuch der Königin von Äthiopien) saß in seinem Wagen und las den Propheten Jesaja....Philippus lief hinzu und hörte, wie er den Propheten Jesaja las. Er sprach zu ihm: Verstehst du, was du da liest? Er antwortete: Wie sollte ich das wohl können, wenn mir niemand den Weg weist? Apg 8, 28 ff f Der Prozess individuellen Sich Erinnerns, gerichtet auf die Hervorbringungen alter Zeiten, ist zunächst lediglich ein Wahrnehmungsprozess. Die kleine Episode aus der Apostelgeschichte ist in vielfacher Weise spannend: Philippus sieht nicht, dass der Eunuch, ein hoher Würdenträger der äthiopischen Königin, etwas liest, sondern er hört es. Das genau war lange Zeit die normale Form des Lesens: Man las sich selbst laut vor, weil die Wahrnehmung von Sprache zentral über das Ohr erfolgte. Nun liest dieser Mann einen alten Text und hört ihn zugleich – nimmt ihn also über zwei Sinneskanäle wahr. Und trotzdem findet er die Frage, ob er denn verstehe, was er da lese, eher unangemessen. Er bleibt im Prozess der unmittelbaren Wahrnehmung. Emotion (also Aufbau von Beziehung zum Gelesenen) und Interpretation (also Integration in Vorgewusstes, Weltbild, etc.) bleiben aus. Als Grund wird das Fehlen eines „Hodegeten“, eines Wegweisers genannt. Der Hodeget ist jener, der die Wege des Gedenkens mitgeht und mir Zusammenhänge aufweist, der deutet und Bedeutungen sichtbar macht, er ist derjenige, der mir zeigt, dass es sich keineswegs beim Gelesenen um pure Tatsachenaussagen handelt sondern um Repräsentationen von Vergangenem zum Verständnis von Gegenwart. Alle europäischen Kulturen kannten und kennen solche „Hodegeten“: Die Griechen hatten zuerst ihre Dichter, Homer beispielsweise und Hesiod, später dann die Philosophen, die Hebräer hatten ihre Propheten, Priester, Richter oder Könige und Schriftgelehrten, die Römer ihre Priester und Dichter, ihre Geschichtsschreiber und Rhetoren, die Kelten ihre Druiden und so weiter. Bei den Hodegeten handelte es sich zum Teil um Institutionen, zum Teil um charismatische Erscheinungen. Am geringsten institutionalisiert war die Hodegesie, die Deutung und Wegweisung bei den Griechen. Sie vertrauten am stärksten auf den Ereignis- oder EvidenzCharakter von Deutung, wiewohl – das Beispiel der Hinrichtung des Sokrates zeigt das – durchaus Deutungen gesellschaftlich inakzeptabel sein konnten. Dann trat zumindest in Athen der Areopag als Institut des sensus communis auf. Es gab fast immer einen der Tradition verpflichteten sensus communis, einen gemeinsamen Sinnhorizont, aus dem heraus Deutung zu geschehen hatte. Erst durch Deutung traten erinnerte Ereignisse wie Überlieferung ins kulturelle Gedächtnis ein. Kulturelles Gedächtnis hat damit in der Tat Konstruktionscharakter. Es ist auch verführbar und es kann gesteuert werden. Andererseits ist es der jeweiligen sich erinnernden Gegenwart in so hohem Maße verpflichtet, dass es in ihrem Sinne Vergangenes versteht. In diesem Zusammenhang sei auf zwei Beispiele aus dem jüdisch-christlichen Kontext verwiesen: Oben wurde gezeigt, dass kollektives wie kulturelles Gedächtnis zunächst einmal der Identität und Stabilität einer Gemeinschaft/Gesellschaft verpflichtet sind. Das heißt: Kulturelles Gedächtnis nutzt häufig zunächst den Herrschenden, den Siegern und diese 22 werden es in ihrem Sinne konstruieren. Am Beispiel der Anti-Sklaverei-Bewegung in den Vereinigten Staaten lässt sich zugleich zeigen, dass plötzlich ein stabilitätssicherndes kulturelles Gedächtnis in ein revolutionäres umschlagen kann: Das „Let my people go“, in dem die schwarzen Sklaven Amerikas sich identifizierten mit dem geknechteten Volk Israel in Ägypten, muss den christlichen Herren bedrohlich in den Ohren geklungen haben. Für die Sklaven selbst war es ein Mut-mach-Lied und das Beharren auf einer eigenen Interpretation von Botschaften und Texten, die sich im kulturellen Gedächtnis als Kristallisationspunkte vorfanden. Heute würde man sagen: Sie haben die Deutungshoheit für sich beansprucht. Das zweite Beispiel – in ähnlicher Weise – zeigt sich in der Befreiungstheologie Lateinamerikas, die sich zum großen Teil gegen die institutionalisierte Hodegesie etablierte. An diesem Beispiel wird aber auch deutlich, in welcher Weise amtliche Deutung revolutionäre oder Neues ermöglichende Deutung vergessen machen oder zumindest zum Schweigen bringen kann. In beiden Fällen entfaltete das kulturelle Gedächtnis aus der Überlieferung heraus etwas Neues. Dabei handelt es sich um einen Aneignungsvorgang. Wie bereits oben (Kap 2) dargelegt wurde, ist diese Aneignung in jedem Falle für ein lebendiges kulturelles Gedächtnis notwendig – und lebendig heißt hier: ein kulturelles Gedächtnis, das mit dem kollektiven und individuellen Gedächtnis in diffundierender Beziehung steht. Nach dem Verlust von Tradition bzw. deren Aufgabe braucht es zum einen eine neue Form der Hodegesie, zum andern eine neue Form der Aneignung. Auch hier mag ein Beispiel hilfreich sein: Am Strand einer griechischen Insel stehend fallen mir Tonscherben ohne Zahl auf. Oft sind sie glatt geschliffen und eignen sich hervorragend zum „SteinchenWerfen“. Ein griechischer Archäologe beobachtet mich dabei und erzählt mir dann, dass es sich bei der Mehrzahl der Tonscherben um Überreste antiker Amphoren handle, die vor 2000 Jahren als Behälter in der Schifffahrt eingesetzt wurden – zu Hunderttausenden. Unzählige von ihnen versanken bei Schiffbrüchen, wurden im Laufe der Jahrhunderte zerschlagen, kommen nun wieder zurück an Land. Diese bloße Information ermöglicht es mir, zu diesen simplen Tonscherben eine Beziehung zu entwickeln. Und mit diesem Interesse gehe ich nun – vor allem lesend – dem Denken und Leben der griechischen Antike nach. Auf einmal erschließen sich mir Zusammenhänge und es erscheint ein Mehr an Verstehen meiner eigenen Zeit. In diesem Zusammenhang brauchte es viererlei: Erstens die Scherbe selbst, zweitens den Interpreten oder Deuter der Scherbe, drittens mein dadurch ausgelöstes Fühlen (Beziehung) und schließlich die lernende und deutende Auseinandersetzung mit antiken Texten und deren Deutungen etc. An der Stelle, wo ich die Geschichte von der Scherbe öffentlich mache, also ins kollektive Gedächtnis einbringe, wird sie befragt werden auf ihre Wahrscheinlichkeit und so weiter. Und schließlich werden vielleicht für viele diese Scherben zu Kristallisationszentren eines kulturellen Gedächtnisses. Vielen Menschen mag es heute so ähnlich gehen mit alten Kirchen und der darin vorfindbaren Malerei, mit Klöstern und ihren unterschiedlichen Refektorien, Kapitelsälen, Skriptorien etc., mit Wegkreuzen, auch mit alten Denkmälern profaner Art. Oftmals ist die Initiationszündung hier die empfundene Atmosphäre. Häufig aber geschieht gar nichts, weil die Kirchen wahrgenommen werden, wie ich ohne Information die Scherben am Strand wahrgenommen habe: Als totes Stück Materie. Allenfalls wenn sie 23 durch Größe, Architektur oder Standort hervorgehoben sind, werden sie Fragen nach ihrer Bedeutung aufwerfen. In einer von Tradition geprägten Gesellschaft tritt eine solche Situation gar nicht erst ein, weil ein grundsätzliches Wissen um Funktion und Bedeutung dieser Gebäude, Gemälde etc. gegeben ist. Das individuelle Gedächtnis ist hier in ganz anderem Maße in ein kollektives und kulturelles eingebunden. In einer Gesellschaft, die Tradition in solcher Weise nicht mehr kennt, bleiben solche Dinge bestenfalls befremdlich. Aber sie verlieren leicht ihren AnkerCharakter für ein kulturelles Gedächtnis. Natürlich ist auch in unserer Gesellschaft das individuelle Gedächtnis nicht vollkommen individuell. Allein die Sprache, in der es zum Ausdruck kommt, bindet es kommunikativ und damit kollektiv ein. Die meisten Elemente des kulturellen Gedächtnisses bedürfen jedoch in unserer Gesellschaft einer bewussten Aneignung. Über Bildung, Bücher und Medien werden Elemente des kulturellen Gedächtnisses ohne Zahl angeboten. Da aber das Sich-Erinnern wie alle Wahrnehmung hoch selektiv ist, da es für die Selektion andererseits jedoch keinen Kanon von verpflichtend Notwendigem mehr gibt, ist das, was dem Sich-Erinnern des Einzelnen zufließt, recht beliebig. Es kommt überhaupt erst dann zum Sich-Erinnern, wenn dem einzelnen Menschen etwas „wichtig“ wird, wenn er ein Gefühl dafür bekommt. Und so steht dann doch wieder die Frage an, ob es im kollektiven Gedächtnis so etwas wie eine gemeinsame Werthaltung gibt. Hier geraten wir in eine Art Teufelskreis: Der Begriff der Pluralität unserer Gesellschaft, der ja unter anderem eine Konsequenz aus der Aufklärung ist, beschreibt, dass es eben viele unterschiedliche Werthaltungen gibt, die dann wieder dafür sorgen, dass der Blick auf das Kulturelle Gedächtnis unterschiedliche Perspektiven hat. Und diese unterschiedlichen Perspektiven verschärfen in dem oben beschriebenen dialektischen Prozess wiederum die Pluralität. Eine grundsätzliche gesellschaftliche Aufgabe – und damit eine Aufgabe des Staates – muss es deswegen sein, ein möglichst umfassendes Angebot an kulturellem Wissen bereit zu stellen. Dieses Wissen kann dann der erinnernden Wahrnehmung zur Verfügung stehen, wenn aus den unterschiedlichen Wertegemeinschaften der Blick darauf fällt. Und schließlich bleibt es – Gott sei Dank – eine Aufgabe des je Einzelnen, sein eigenes Sich-Erinnern diesem Wissen zuzuwenden und es fruchtbar zu machen für die eigene Existenz, für die eigene Identität. Das historische oder geschichtliche Wissen, das da bereit zu stellen ist, entspricht in gewissem Maße einem wiederum umfassenderen Gedächtnis, das in der Wissenschaft universales oder auch historisches Gedächtnis genannt. wird.32 Allerdings beschreibt dieser Begriff wohl etwas, das es allenfalls in einer Annäherung geben kann, das jedoch niemals Sache eines Einzelnen oder auch nur einer einzigen Kultur ist. 32 Csaky S. 16 24 b) Die Entwicklung des kulturellen Gedächtnisses »Wenn der Baal-schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgend ein geheimes Werk zumNutzen der Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Walde, zündete ein Feuer an und sprach, in mystische Meditationen versunken, Gebete - und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte. Wenn eine Generation später der Maggid von Meseritz dasselbe zu tun hatte, ging er an jene Stelle im Walde und sagte: ›Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen‹ - und alles ging nach seinem Willen. Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Leib aus Sassow jene Tat vollbringen. Auch er ging in den Wald und sagte: ›Wir können kein Feuer mehr anzünden, und wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben; aber wir kennen den Ort im Walde, wo all das hingehört, und das muß genügen.‹ - Und es genügte. Als aber wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rischin jene Tat zu vollbringen hatte, setzte er sich in seinem Schloß auf seinen goldenen Stuhl und sagte: ›Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.‹ Und - so fügt der Erzähler hinzu - seine Erzählung allein hatte dieselbe Wirkung wie die Taten der drei andern.«33 Die hier von Scholem zitierte chassidische Geschichte wird bisweilen als eine Geschichte des Vergessens dargestellt, macht aber deutlich, wie kulturelles Gedächtnis funktioniert: Hier steht am Anfang eine durch mystisches Gebet gedeutete Handlung, am Ende bleibt die Geschichte davon übrig. Hier wird klar, dass dem erzählenden Sich-Erinnern die gleiche Macht zugeschrieben wird wie dem Ursprungsereignis. Tatsächlich gibt es viele solche Geschichten in Mythen, Sagen und Märchen. Sie machen sich oftmals an einem bestimmten und hervorgehobenen Ort fest und versuchen die Wirkung dieses Ortes deutend zu überliefern. Gleiches trifft auch für historische Ereignisse oder Personen zu – wobei es für die zuhörende Generation zunächst einmal nicht entscheidend ist, ob Ereignis oder Person real oder fingiert sind. Irgendwann ist jedenfalls – meist nach 100 bis 200 Jahren – der Übersprung ins kulturelle Gedächtnis geschafft oder etwas ist vergessen. Noch in einem zweiten Sinn macht die Geschichte deutlich, wann und wie kulturelles Gedächtnis entsteht: Es bedarf eines hervorgehobenen Ortes oder Menschen (oder beide miteinander verknüpft, wie hier oder in den Theseus- oder Herakles-Sagen der griechischen Antike). Und der Ort oder die Zeit des Erzählens sind ebenfalls Sonderzeiten: Rabbi Israel setzt sich auf einen goldenen Stuhl – heißt es in der Geschichte, oder es kamen fahrende Sänger, eine Theater-Truppe an den Hof, es war eine Fest-Zeit, eine Hoch-Zeit, die der Rezitation oder dem Erzählen vorbehalten war. In jedem Fall braucht die Aktualisierung des kulturellen Gedächtnisses das Besondere. So entsteht allmählich kulturelle Identität, Zusammengehörigkeitsgefühl von (Sprach-) Gemeinschaften, selbst wenn diese wie zum Beispiel in Griechenland oder auch in 33 Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt 1967., 384 Diese Geschichte beschließt das Werk. 25 Deutschland staatlich sehr zersplittert waren. Die Feier und damit die wiederkehrende Bestätigung dieser Identität wurzelte im kulturellen Gedächtnis. Und das kulturelle Gedächtnis bedurfte in jenen nicht schriftlichen, also oralen Kulturen der wiederkehrenden, häufig ritualisierten gemeinsamen Erinnerung. Mit der Findung der alphabetischen und damit für jeden lern- und lesbaren Schrift wurde das kulturelle Gedächtnis zum einen stärker fixiert, wie etwa der Prozess der Kanonbildung in vielen Schriftkulturen zeigt, zum andern wurde das kulturelle Gedächtnis unabhängig von Vermittlungsorten oder -personen für jeden Menschen zu jeder Zeit verfügbar – jedenfalls als zu wissendes, nicht schon als angeeignetes. Die Rolle der Verkünder oder Sänger des kulturellen Gedächtnisses verwandelte sich in die Rolle des Interpreten oder Hodegeten. Gleichzeitig verbreiterte sich die Basis des kulturellen Gedächtnisses, weil die Schrift natürlich auch genutzt wurde, zeitgenössische Ereignisse niederzulegen (Herodot beispielsweise, oder der Athener Geschichtsschreiber Thukydides). Der Fluss des kulturellen Gedächtnisses vertiefte und verbreiterte sich also durch das Aufkommen der Schrift immens. Auch die Deutung des Geschriebenen ging wiederum in die Schrift ein und bedurfte neuer Deutungen. Manche dieser Deutungen wurden ebenso wie die Ursprungsschriften wiederum kanonisiert, Deuter z.B. mit dem Titel „Kirchenlehrer“ versehen. Bis heute ist es eine der großen Aufgaben von Philosophie, Theologie, Philologie etc solche Deutungen vorzulegen. Das Erinnern ist diese Form des Deutens, die Frage, die sich hier stellt, ist allerdings, ob aus dem Erinnern ein Sich-Erinnern wird, ob also, wie es in dem Bericht aus der Apostelgeschichte heißt, aus dem Lesen Verstehen wird. Die professionelle Deutung von Texten oder von Kunstwerken besteht unter anderem darin, Bezüge sichtbar zu machen34. Die Entdeckung solcher Bezüge macht für den einzelnen das kulturelle Gedächtnis überhaupt erst bewohnbar. So kann eine Vertrautheit entstehen, die ja ein Gefühlswert ist, und darüber dann individuelles Sich-Erinnern stattfinden, indem alte Ereignisse mit Gegenwärtigem verknüpft und deutend aufeinander bezogen werden. Bei Sten Nadolny35 heißt es, dass auf diese Weise ein Garten entstehe, in dem Menschen mehr zuhause seien als im eigenen Garten. So dient das kulturelle Gedächtnis nach wie vor der Beheimatung des Menschen in seiner Welt. Anders als noch vor 60 Jahren ist, dass die Selbstverständlichkeit von Tradition, der stete Fluss dieses Gedächtnisses nicht mehr gegeben ist. Und so ist jeder einzelne Mensch darauf angewiesen, sich nicht bloß um Aneignung, sondern schon um das notwendige Wissen selbst zu mühen und die immer notwendige Auswahl zu treffen. Jede Zeit nimmt neue Einträge ins kulturelle Gedächtnis vor. Oftmals scheinen diese Einträge lange Zeit in Vergessenheit geraten zu sein, bis sie plötzlich wieder auftauchen. Die Musik eine Johann Sebastian Bach war 100 Jahre lang kaum geachtet, bevor sie zu wirklichem Ruhm kam. Hölderlin war ein vergessener Dichter; erst die Lyrik des 20. Jahrhunderts hat ihn als ihren Ahnen zu verstehen begonnen. Und auch die kulturellen 34 Beispielsweise gibt es in einem Gedicht von Walle Sayer die Sätze: „Der Rest vom Brot ist hart geworden....der Inselumriss eines Rotweinflecks“. Die Interpretation hat hier z.B. den Hinweis zu liefern, dass ein 10 Jahre frühreres gedicht von Werner Söllner ebenfalls auf Brot und Wein verweist, dass es eine große Hymne von Hölderlin mit eben dem Titel gibt, dass zudem das christliche Abendmahl hier mit genannt ist und noch dahinter zurückliegend Demeter und Dionysos. 35 Selim oder die Gabe der Rede, 1989 26 Hervorbringungen der griechischen Antike waren beinahe in Vergessenheit geraten, bevor sie dann mit der Renaissance zu neuer Geltung kamen.36 36 Vielleicht ist es auch dem Öffinger Kloster so gegangen: Manche wussten aus Erzählungen davon, aber es hatte keine Bedeutung. Und dann kam plötzlich eine neue Form von Sich Erinnern ins Spiel, festgemacht am Klosterkeller und hinterlegt mit Gegenständen aus der klösterlichen Zeit. 27 5. Zum Schluss: Bildung Chancen der Ane ignung Ein Großteil der (Geistes-)Wissenschaften hat die Aufgabe geschichtliches Wissen bereitzustellen und für die Aneignung verfügbar zu machen. Der Wissenschaftsbetrieb selbst ist jedoch kein Ort, an dem es zuerst um Aneignung geht. Orte der Aneignung sind die unterschiedlichen Bildungsinstitutionen oder –gegebenheiten. Da Traditionen, wie wir gesehen haben, heute aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr als verbindliche vorhanden sind, kommt den Bildungseinrichtungen eine immer größere Bedeutung zu. Ein Verlust des kulturellen Gedächtnisses schädigt auf die Dauer jede Gemeinschaft, weil mit ihm auch deren kulturelle Identität verloren geht. Die Unbehaustheit, die viele Menschen in unserer Gesellschaft erleben, die Augenblicksfixierung, die teilweise fast zwanghafte Inszenierung im Alltag sind jedenfalls Anzeichen dafür, dass gesellschaftlich zu wenig an kulturellem Gedächtnis aktiv ist. Die Aufgabe von Bildung ist es, Menschen zu ermöglichen, auf vorhandenes kulturelles Wissen zuzugreifen, Bezüge zu ihm zu entwickeln und es für das Verstehen der eigenen Identität nutzbar zu machen. Das geht, wie wir gesehen haben, nicht ohne Werte. Werte sind ja das, was mir zum Leben wichtig ist. Werte sind immer gefühlsbesetzt, deswegen ist über Werte ja auch so schwer zu streiten, weil immer Menschen in ihrer Identität mit angefragt sind. Insofern ist es wichtig, Bildung im Zusammenhang einer Wertegemeinschaft anzubieten. Die Wertegemeinschaft macht transparent, das bestimmte Werte für die Auswahl von Gedächtniselementen zuständig sind. Wo Bildung im angeblich wertfreien Raum angeboten wird, kommen trotzdem Werte ins Spiel, nur wird oftmals nicht klar, welche Werte das sind. Wo Werte transparent sind, stehen sie auch der Reflexion offen. Wo sie nicht offensichtlich sind, bleiben sie grundsätzlich unbefragbar, umso mehr entfalten sie eine ebenso unreflektierte Wirkung. Aufgabe des Staates ist es in diesem Zusammenhang, die Möglichkeiten bereitzustellen, dass kulturelles Wissen erhalten bleibt und dass es Möglichkeiten und Orte der Bildung gibt. Bildung in diesem Sinne ist ein Kind der Aufklärung. Sie bietet dem einzelnen die Chance zum Aufbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, ist deswegen „Educatio“. Der Mut, meinen eigenen Verstand zu gebrauchen, bringt mich als Einzelnen immer wieder auch in die Situation der Vereinzelung. Bildung aber, die kollektives und kulturelles Gedächtnis in ihr Zentrum stellt, bietet die Möglichkeit, diese Vereinzelung und den immer wieder drohenden Verlust der eigenen Identität zu überwinden. Bildung ist damit ein wesentlicher Ort der Menschwerdung. Im kollektiven Gedächtnis wurzelt das individuelle Gedächtnis. Ohne dieses gäbe es kein Sich Erinnern, allenfalls als diffuse Ahnung ist ein nicht-sprachliches Erinnern vorstellbar. Das kollektive Gedächtnis aber braucht das kulturelle Gedächtnis, damit wir als Menschen nicht in der Zeit verloren gehen. Und nur eine Gesellschaft, die die Möglichkeiten des kulturellen Gedächtnisses zu nutzen weiß, wird für ihre Mitglieder eine lebenswerte und damit schützenswerte Gesellschaft sein. 28 Wenn Bildung nun der Ort ist, an dem sich zum einen kollektives Gedächtnis artikuliert und zum andern kulturelles Gedächtnis mit dem kollektiven verwoben der Aneignung des Einzelnen zur Verfügung gestellt wird, dann kann eine Gesellschaft gar nichts Besseres tun, als in Bildung möglichst umfassend zu investieren. Und jede Gemeinschaft, die ja immer im kollektiven Gedächtnis gemeinsame Werte schon artikuliert hat, tut gut daran transparent und öffentlich Orte der Aneignung kulturellen Gedächtnisses zur Verfügung zu stellen. Künstler, Musiker, Schriftsteller und Dichter heute sind diejenigen die das Gedächtnis unserer Zeit formulieren und zum Ausdruck bringen. Auch sie greifen dabei auf Inhalte des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses unserer Zeit zurück und verweben Gegenwärtiges mit Vergangenem. In diesem Sinne wohl hat Hölderlins oftmals zitierter Satz recht: „Was aber bleibet, stiften die Dichter.“