Überraschungen vor der haustür

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Themen der Wissenschaft
Überraschungen
vor der Haustür
Ist die Physik innerhalb des Sonnensystems
wirklich verstanden?
VON OLIVER PREUSS, HANSJÖRG DITTUS UND CLAUS LÄMMERZAHL
26 Sterne und Weltraum April 2007
Eine Reihe von Beobachtungen deutet darauf hin, dass die grundlegende Dynamik im Sonnensystem vielleicht doch nicht so gut
verstanden ist, wie man bislang glaubte. Unerwartete Bahnabweichungen von Raumsonden beim Verlassen des Sonnensystems und
beim Vorbeiflug an der Erde, ein kürzlich festgestelltes, geringes
Anwachsen der Astronomischen Einheit, und Anomalien in der kosmischen Hintergrundstrahlung sorgen für Ratlosigkeit bei den Astrophysikern.
S
eit jeher werden Fortschritte in der
Physik durch Beobachtungen angeregt, welche sich nicht im Rahmen der jeweils gültigen Standardtheorien erklären lassen. Berühmte Beispiele
hierfür sind die Interferenzexperimente
von Michelson und Morley, deren Ergebnisse im Widerspruch zur damaligen
Ätherhypothese standen und erst mittels
der Speziellen Relativitätstheorie eine befriedigende Erklärung fanden, oder die
seit etwa 1850 bekannte, anomale Periheldrehung des Merkur, welche anfangs nur
als Messfehler angesehen wurde und heute eine wichtige experimentelle Stütze der
Allgemeinen Relativitätstheorie darstellt.
Auch heutzutage gibt es verschiedene
physikalische Phänomene, deren Interpretation die gegenwärtigen Theorien vor
große Probleme stellt, wofür die Dunkle
Materie und Dunkle Energie als die bekanntesten Beispiele dienen können.
Wir wollen im Folgenden vier weitere astrophysikalische Beobachtungen
vorstellen, für die auch nach teils mehrjährigen, intensiven Untersuchungen bislang noch keine allgemein anerkannten
Erklärungen gefunden werden konnten.
Das besondere an diesen Phänomenen
ist, dass sie, astronomisch gesehen, quasi vor unserer Haustür gemessen werden
und so auch ernsthafte Fragen hinsichtlich der Physik innerhalb des Sonnensystems aufwerfen.
Die Flyby-Anomalie
Etwas mehr als ein Jahr war seit ihrem
Start vergangen, als die Raumsonde Ga­
lileo am 8. Dezember 1990 zu ihrem
ersten von insgesamt zwei geplanten
Vorbeiflügen an der Erde zurückerwartet wurde. Da die Startgeschwindigkeit
für einen direkten Kurs zum Zielplaneten Jupiter zu gering war, wurde die
Sonde zunächst zu einem nahen Vorbeiflug an der Venus geleitet. Bei dieser
Begegnung wurde sie durch das Gravitationsfeld des Planeten beschleunigt und
zurück in Richtung Erde abgelenkt, wo
sie bei zwei aufeinander folgenden Vorbeiflügen ausreichend Schwung holen
sollte, um mit einer dann ausreichenden
Geschwindigkeit die Reise zum Jupiter
antreten zu können.
Solche nahen Vorbeiflüge, auch Flybys, Swingbys oder Gravity Assists genannt, sind in der heutigen Raumfahrt
ein unverzichtbares Hilfsmittel, durch
das viele Missionen überhaupt erst möglich werden [1]. Das zugrunde liegende
Prinzip ist denkbar einfach: Während
des nahen Vorbeiflugs einer Raumsonde
an einem Himmelskörper, zum Beispiel
einem Planeten, Mond oder Asteroiden,
findet eine gravitative Wechselwirkung
zwischen beiden Objekten statt.
Vom Bezugssystem des Planeten aus
betrachtet ändert sich durch die Begegnung nur die Flugrichtung der Sonde,
während deren Geschwindigkeit und somit die Bewegungsenergie vor und nach
dem Vorbeiflug gleich bleibt. Beobachtet
man diesen Vorgang jedoch vom Bezugssystem der Sonne aus, so muss nun auch
die Eigengeschwindigkeit des Planeten
mit berücksichtigt werden. Gemäß den
Newtonschen Bewegungsgesetzen bewirkt die Gravitation eine Änderung der
Bewegungsenergie sowohl des Planeten
als auch der Sonde, wobei aufgrund der
Energieerhaltung die Summe der Bewegungsenergien vor und nach dem Vorbeiflug die gleiche ist. Je nachdem, wie
die Flugbahn der Sonde zur Bahn des
Planeten orientiert ist, überträgt dabei
entweder der Planet einen Teil seiner
Energie auf die Sonde, welche dadurch
beschleunigt wird, oder die Sonde wird
abgebremst, indem sie umgekehrt Bewegungsenergie auf den Planeten überträgt.
Aufgrund des gewaltigen Massenunterschieds zwischen Planet und Sonde bleibt
in beiden Fällen die Bewegungsänderung
des Planeten unmessbar gering, während
die Sonde mittels eines solchen Manövers
ihre Geschwindigkeit beträchtlich verändern kann.
 Reine Himmelsmechanik? Flyby-Manöver sind somit nichts anderes als angewandte Himmelsmechanik, deren physikalische Grundlagen man seit Newton
als vollständig bekannt und verstanden
betrachtet. Aus diesem Grunde erwartete man auch keine Überraschung, als
die Sonde Galileo im Dezember 1990 zu
ihrem ersten Erdvorbeiflug zurückerwartet wurde. Zu den Routineaufgaben wähSterne und Weltraum April 2007 27
 Erdvorbeiflüge. Um nun während
eines Flybys mögliche Abweichungen
einer Sonde von ihrer geplanten Bahn
aufzufinden, bildet man die Differenzen
zwischen den gemessenen und den aus
dem voraussichtlichen Bahnverlauf theo­
retisch berechneten Doppler-Verschiebungen des Radiosignals. Setzt man nun
noch voraus, dass bei der Modellierung
der Flugbahn keine wesentlichen Fehler
unterlaufen sind und zudem der Einfluss
der Erdatmosphäre auf die Ausbreitung
des Signals korrekt in die Rechnungen
einbezogen wurde, sollten diese Differenzbeträge, auch Doppler-Residuen genannt, während des gesam­ten Vorbeiflugs maximal von der Größe der Messund Modellierungenauig­keit sein.
Was jedoch zum allergrößten Erstaunen der beteiligten Wissenschaftler bei
Vorbeiflug von Galileo im Dezember
1990 gemessen wurde, ist in Abb. 1 dargestellt. Der plötzliche Anstieg der Doppler-Residuen von etwa 66 Millihertz entspricht einer anomalen Geschwindigkeitszunahme der Sonde von 3.92 ± 0.08
mm/s. Zwar mag diese Abweichung

Abb. 1: Doppler-Residuen bei Galileo während seines ersten Flybys im Dezember 1990. Die Ano­
malie zeigt sich im deutlichen
Sprung der Messwerte zum Zeitpunkt der größten Annäherung.
28 Sterne und Weltraum April 2007
lächerlich gering erscheinen, aber verglichen mit der Präzision, mit welcher
solche Messungen üblicherweise durchgeführt werden, handelt es sich um einen
durchaus signifikanten und somit erklärungsbedürftigen Wert. Auch muss beachtet werden, dass hier ein Geschwindigkeitsanstieg im Bezugssystem der
Erde gemessen wurde, in welchem, wie
oben beschrieben, gemäß der klassischen
Dynamik die gesamte Energie der Sonde
während des Flybys konstant bleiben sollte. Die gemessene Abweichung würde bei
einem auf der Erde senkrecht nach oben
geworfenen Stein dem Befund entsprechen, dass dieser mit einer Geschwindigkeit zurückfällt, die größer als seine Abwurfgeschwindigkeit ist und somit den
Energieerhaltungssatz klar verletzt.
Unmittelbar nach dem Flyby von Ga­
lileo wurde die anomale Geschwindigkeitszunahme sowohl am Jet Propulsion
Laboratory (JPL) als auch am Goddard
Space Flight Center und an der University of Texas eingehend untersucht, wobei
jedoch keine befriedigende Erklärung gefunden werden konnte. Mit gespannter
Aufmerksamkeit verfolgte man daher
zwei Jahre später Galileos zweiten Vorbeiflug an der Erde. Während allerdings
die Sonde bei ihrer ersten Passage noch in
einer Höhe von 959.9 Kilometern an der
Erde vorbei flog, näherte sich Galileo im
Dezember 1992 bis auf 303.1 Kilometer.
Dieses Eintauchen in die obere Ionosphäre der Erde wirkte sich leider nachteilig
auf die präzise Geschwindigkeitsmessung aus, weil die Wechselwirkung mit
der oberen Atmosphäre zu einer nur relativ ungenau modellierbaren Abbremsung der Sonde führte. Dies resultierte in
einer Unsicherheit bei der Geschwindigkeitsmessung, welche jeweils un­gefähr
der Größenordnung der anomalen Geschwindigkeitszunahme beim ersten Flyby entsprach, sodass eine mögliche Anomalie beim zweiten Vorbeiflug nicht eindeutig feststellbar war.
Der rätselhafte Energiegewinn bei Ga­
erstem Vorbeiflug blieb somit eine
zwar kuriose, aber dennoch isolierte Einzelmessung, bis am 23. Januar 1998 die
Sonde »Near Earth Asteroid Rendezvous«
(Near) ebenfalls ein Flyby-Manöver an
der Erde durchführte. Bei einer maximalen Annäherung bis auf 538.8 km zeigte
sich auch hier wie schon bei Galileo ein
unerwarteter, aber deutlicher Sprung in
den Doppler-Residuen. Er betrug nun
730 Millihertz, entsprechend einem Geschwindigkeitszuwachs von 13.46 ± 0.13
mm/s. Auch für diese Abweichung konnte nach einer sorgfältigen Analyse keine
Erklärung gefunden werden, weshalb danach für dieses Phänomen die Bezeichnung »Flyby-Anomalie« geprägt wurde.
lileos
 Weitere Versuche. Mit einer fortan
stetig wachsenden Zahl unbemannter
Raumfahrtmissionen stieg im Folgenden
auch die Anzahl der Versuche, die Flyby-Anomalie bei Erdvorbeiflügen anderer Raumsonden zu messen. Bei den
Passagen von Cassini im August 1999 sowie von Stardust im Januar 2001 ergab
sich jedoch das Problem, dass die Dopplerdaten durch das Zünden der Manövriertriebwerke während der Vorbeiflüge
stark beeinflusst wurden, weshalb verlässliche Aussagen hinsichtlich des Auftretens der Anomalie nicht möglich waren. Beim Flyby von Rosetta am 4. März
2005 wurde hingegen ein anomaler Geschwindigkeitszuwachs von 1.82 ± 0.05
mm/s gemessen, als die Kometensonde
in einer Entfernung von 1954 km an der
Erde vorbei flog. Eine Voruntersuchung
der Passage der Merkursonde Messen­
ger im August 2005 ergab bislang keinen
Hinweis auf eine Anomalie. Die Daten
der Japanischen Mission Hayabusa werden gegenwärtig noch analysiert.
Obwohl trotz umfangreicher Untersuchungen bislang noch keine Erklärung
für die Flyby-Anomalie gefunden werden
konnte, bleibt die Frage offen, ob es sich
0.12
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0.10
doppler-residuen[mHz]
rend eines solchen Vorbeiflugs gehört die
Messung von Position und Geschwindigkeit der Raumsonde, um eventuelle Abweichungen von der vorherberechneten
Bahn möglichst schnell zu erfassen. Hierzu werden von einer zum Deep Space
Network (DSN) der Nasa gehörenden Bodenstation aus Radiosignale mit einer festen Frequenz zur Raumsonde geschickt,
welche diese mittels eines Transponders
zur Erde zurückfunkt.
Die Idee hinter diesem zunächst vielleicht etwas kompliziert anmutenden
Verfahren besteht darin, dass auf diese
Weise die Geschwindigkeit der Sonden
direkt über die Doppler-Verschiebung
des zurückgesandten Signals, bestimmt
werden kann. Ähnlich wie sich die Tonhöhe eines vorbeifahrenden Autos ändert, je nachdem ob sich das Fahrzeug auf
den Beobachter zu oder von ihm fort bewegt, verschiebt sich die Frequenz eines
elektromagnetischen Signals wenn sich
Sender und Empfänger relativ zueinander bewegen. Die Größe einer solchen
Frequenzverschiebung stellt ein Maß für
die Geschwindigkeit zwischen dem Sender und der Quelle dar: So erlaubt dieser
so genannte Doppler-Effekt die Bestimmung der Relativgeschwindigkeit zwischen einem Satelliten und der Erde.
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0.08
0.06
Größteannäherung
8.dez.1990,20:34:34utC
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0.04
0.02
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0 ●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●●
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–0.02 7.12.1990,12h
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8.12.1990,12h
Zeit[utC]
9.12.1990,12h
10.12.1990,12h
Die Pioneer-Anomalie
Während die Flyby-Anomalie bislang
selbst in Fachkreisen noch weitestgehend
unbekannt ist, genießt die Pioneer-Anomalie bereits seit mehreren Jahren eine
große Aufmerksamkeit (vgl. auch [2]).
Hierbei handelt es sich um eine nicht verstandene, anomale Beschleunigung der
Raumsonden Pioneer 10 und 11 in Richtung zur Sonne, welche zur Folge hat,
dass die Sonden nach nunmehr 16 Jahren
um etwa eine Million Kilometer von den
vorhergesagten Positionen abweichen.
P ioneer 10 und 11 wurden am 2. März
1972 beziehungsweise am 5. April 1973
als Teil des P ioneer-Programms zur Erforschung des erdfernen Weltraums gestartet (Abb. 3). Als erstes Raumfahrzeug überhaupt durchquerte P ioneer 10
im Juli 1972 den Asteroidengürtel und
erreichte am 4. Dezember 1973 den Jupiter. Bei dieser Begegnung beförderte der
Planet sie im Rahmen eines Flyby-Manövers auf eine hyperbolische Bahn, auf der
die Sonde schließlich das Sonnensystem
verließ. Die letzten Messdaten von P io ­
neer 10 wurden am 27. April 2002 aus
einer Entfernung von 80.22 AE (Astronomischen Einheiten) empfangen, das
letzte Signal erreichte die Empfangssta­
tionen auf der Erde am 23. Januar 2003.
Sehr viel früher stellte hingegen Pio­
neer 11 ihren Dienst ein. Ein Jahr nach
ihrer Schwestersonde gestartet, wurde
Pio­neer 11 beim Vorbeiflug am Jupiter in
Richtung Saturn abgelenkt, den sie am
1. September 1979 erreichte. Dieser beschleunigte die Sonde auf einen neuen
Kurs in Richtung des Sternbilds Adler, wo
Pioneer 11 in etwa vier Millionen Jahren
auf den nächsten Stern treffen wird. Weil
ihre Energieversorgung zur Neige ging,
wurde ihr letztes Signal bereits im September 1995 auf der Erde empfangen, als
sie 44.7 AE von uns entfernt war.
 Hochpräzise Bahnverfolgung. Zu den
wissenschaftlichen Zielen von Pioneer 10
und 11 gehörte neben der erstmaligen Erkundung von Jupiter und Saturn auch die
Suche nach kleinen Körpern im äußeren
Sonnensystem. Da sich solche Objekte in
erster Linie durch die Wirkung ihrer Gravitation auf die Raumsonden und somit

bei diesem Phänomen tatsächlich um ein
Anzeichen neuer Physik handelt oder ob
eine konventionelle Ursache bis heute
übersehen wurde. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich daher auf eine präzise
Vermessung der anstehenden RosettaFlybys. Am 25. Februar 2007 flog die EsaSonde in einem Abstand von etwa 250
Kilometern am Mars vorbei (Abb. 2 und
S. 16). Im November 2007 und 2009 wird
sie den zweiten und dritten Flyby an der
Erde durchführen. Insbesondere der Vorbeiflug am Mars ist von großem Interesse,
da die Anomalie aufgrund des sehr präzise vermessenen Gravitationsfelds der
Erde bislang nur bei Flybys an unserem
Planeten gemessen werden konnte. Ein
Auftreten der Anomalie während des
Marsvorbeiflugs könnte als Indiz dafür
gelten, dass der Effekt nicht durch spezifische Eigenschaften der Erde verursacht
wird. Die entsprechenden Daten werden
gegenwärtig noch analysiert.
Abb. 2: Künstlerische Darstellung der Raumsonde Rosetta während ihres Flybys am Mars am 25.
Februar 2007. (Bild: Esa)
durch kleinste Störungen der Flugbahn
bemerkbar machen, wurden die baugleichen Pioneer-Sonden so konstruiert, dass
sich ihre Bahnen mit hoher Präzision verfolgen ließen. Diese extrem genaue Navigation ermöglichte schließlich auch die
Entdeckung der anomalen Beschleunigung dieser Sonden.
Das Kernstück sowohl für die Kommunikation wie auch für die Naviga­tion
der Pioneer-Sonden bildete das Deep
Space Network (DSN) der Nasa. Ähnlich
wie bei den oben beschriebenen Erdvorbeiflügen wurden auch die Geschwindigkeiten von Pioneer 10 und 11 über das
DSN mittels der Zwei-Wege-DopplerVerschiebung gemessen. Hierbei wurden
von einer der drei Bodenstationen Radiowellen mit einer festen Frequenz zu den
Sonden gesandt, welche das empfangene
Signal anschließend wiederum mittels
einer Acht-Watt-Sendeanlage und eines
Transponders mit einer um den Faktor
240/221 konvertierten Frequenz an die
Bodenstationen zurückschickten. Die
Geschwindigkeit ließ sich so über die
Frequenzdifferenz zwischen gesendetem
und empfangenem Signal bestimmen.
Umgekehrt kann man jedoch auch
ohne Verwendung von Doppler-Messungen die Geschwindigkeit der PioneerSonden aus den bekannten Gravitationsfeldern der Sonne, der Planeten und Asteroiden sowie durch Berücksichtigung
Sterne und Weltraum April 2007 29
 Verfälschte Messungen? Nachdem zu
Beginn der 80er Jahre Hinweise auf eine
anomale Beschleunigung der Pioneer-
Sonden von Wissenschaftlern des Jet Propulsion Laboratory (JPL) entdeckt wurden, lag zunächst die Vermutung nahe,
als mögliche Ursache einen bis dahin
übersehenen Fehler in der Datenanalyse
anzunehmen. Aus diesem Grund wurden daraufhin die Pioneer-Daten mit drei
voneinander unabhängigen Programmpaketen nochmals sorgfältig analysiert.
Hierbei wurde jedoch stets das gleiche
anomale Signal reproduziert, sodass eine
programmtechnische Ursache mittlerweile als recht unwahrscheinlich gelten
kann. Die Untersuchungen der PioneerAnomalie konzentrierten sich daher in
den vergangenen Jahren darauf, die Größenordnungen jener Effekte abzuschätzen, welche die Bahnen der Raumsonden
beeinflussen und somit die Messungen
verfälschen können. So wurde beispielsweise spekuliert, dass zusätzliche interplanetare Materie in Form von Staub zu
den gemessenen Abbremsungen der Pio­
neer-Sonden führen könnten. Ebenso
wären bislang unbekannte Objekte im
Kuipergürtel mit maximal einem Drittel der Erdmasse durchaus in der Lage,
das beobachtete Signal zu produzieren.
Inzwischen kann man diese und ähnliche Hypothesen jedoch ausschließen,
da beispielsweise eine Masse, die eine Beschleunigung in der Größenordnung der
Anomalie erzeugt, ebenso die Planetenbahnen in beobachtbarer Weise beeinflussen würde. Genauso bräuchte man
eine etwa 300 000-mal größere Dichte an
interplanetarem Staub, als von der Sonde
Ulysses tatsächlich gemessen.
Intensiv wurden auch satelliteninterne
Einflüsse auf die Beobachtung diskutiert.
Aufgrund der Vielzahl der dabei zu be-
Pluto
neptun
PiOneer 10
92
VOYaGer 2
90
88
86
Uranus
84
82
80
78
76
Jupiter
saturn
74
73
77
mars
79
79
78
79 erde
sonne
86
85
81 84 83
82
83
80 81 81
90
88 87
86
87
82
85 80
78
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90
89
88
86
91
PiOneer 11
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VOYaGer 1
85
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88
86
84
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rücksichtigenden Faktoren können viele
Effekte nur indirekt abgeschätzt werden.
Eine sorgfältige Fehleranalyse der Arbeitsgruppe um J. D. Anderson vom JPL
zeigte jedoch, dass bislang kein satelliteninternes Phänomen eine hinreichende
Erklärung für alle Aspekte der Pione­
er-Anomalie liefern kann. Ein wichtiges
Beispiel hierfür ist die durch die Wärmeabstrahlung der thermoelektrischen Energiequellen der Raumsonden (RTGs) induzierte Beschleunigung der Raumsonden. Zwar würde bereits eine gerichtete
Abstrahlung von nur 63 Watt ausreichen,
um die Anomalie zu erklären. Allerdings
ist in einem Zeitraum von 20 Jahren die
zur Verfügung stehende Energie auf 80
Prozent abgefallen, was eine Änderung
der Beschleunigung um mehr als 30 Prozent der Anomalie ausmachen würde.
Dies ist jedoch nicht beobachtet worden.
 Die Pioneer-Anomalie wird mittlerweile zu den wichtigsten ungelösten Fragen
der Physik gezählt. Trotz umfangreicher
Untersuchungen und Fehleranalysen, in
die wir hier nur einen winzigen Einblick
geben können, ist es bislang nicht gelungen, eine systematische Ursache zu identifizieren. Dies liegt in erster Linie an einer expliziten Zeitabhängigkeit der meisten in Frage kommenden Effekte, was der
Konstanz der Anomalie widerspricht.
Somit bleiben die Alternativen, dass die
Pioneer-Anomalie entweder gravierende
Lücken in unserem Wissen bezüglich der
Standardphysik unseres Sonnensystems
offenbart, oder aber wir haben es hier
mit einem Hinweis auf eine vollkommen
neue Physik zu tun. Man muss jedoch
dazu sagen, dass die Ansätze zu letzterem oft sehr spekulativ und meist auch
nicht besonders überzeugend sind. Viel
diskutiert wurden beispielsweise phänomenologische Modifikationen des Newtonschen Gravitationsgesetzes bei geringen Beschleunigungen (Mond), Quintessenzmodelle sowie höherdimensionale
Brane-Theorien. Interessant ist auch ein
möglicher Zusammenhang zwischen der
Pioneer-Anomalie und den Problemen
der Dunklen Materie und Dunklen Energie. Die erstaunlich gute Übereinstimmung zwischen der anomalen PioneerBeschleunigung und der kosmischen
Beschleunigung c 3 H, wobei c die Lichtgeschwindigkeit und H die Hubble-Konstante ist, führte zur Hypothese, dass die
anomale Beschleunigung auf die Expansion des Universums zurückgeführt wer
des Einflusses des Sonnenwinds, des interplanetaren Staubs etc. berechnen und
diese mit der gemessenen Geschwindigkeit vergleichen.
Genau hier zeigte sich nun seit 1979
eine stetig wachsende Differenz zwischen theoretischer und gemessener Geschwindigkeit in Form einer anomalen
Verschiebung des Doppler-Signals in den
kurzwelligeren Bereich des Spektrums.
Eine solche Doppler-Verschiebung lässt
sich als eine konstante Abbremsung in
Richtung der Sonne interpretieren. Die
so gemessene, gegenwärtig unverstandene Abbremsung mit einem Wert von 8.74
± 1.33 3 10–10 m/s2 bezeichnet man als
die Pio­neer-Anomalie. Ihr Wert ist zwar
recht klein, sie führte aber im Laufe der
letzten 16 Jahre dazu, dass beide Sonden
heute etwa eine Million Kilometer von
ihren vorhergesagten Positionen entfernt
sind. Die anomale Abbremsung wurde
für beide Sonden unabhängig voneinander bestimmt, wobei die jeweiligen Werte
nur um maximal drei Prozent auseinander liegen.
Sowohl bei Pioneer 10 als auch bei Pi­
oneer 11 variiert das anomale Signal zudem nur um etwa 3.5 Prozent über die
Beobachtungszeit (Abb. 4). Insgesamt
erfahren die Sonden somit eine sowohl
hinsichtlich der Richtung als auch des
Betrags konstante Beschleunigung in
Richtung der Sonne, wobei allerdings die
Richtung der Abbremsung mit einer Auflösung von drei Grad nur relativ ungenau
bestimmt werden konnte.
Abb. 3: Die Bahnen der Sonden
Pioneer 10 und 11 (sowie von
Voyager 1 und 2), die Anfang der
1990er Jahre das Sonnensystem
verlassen haben.
zusätzlicheBeschleunigung
[10–13km/s2]
10
8
6
4
2
0

0
PIOneer10
PIOneer11
5
10
15
20
25
30
35
40
abstandzurSonne[ae]
Abb. 4: Die nicht modellierten
Beschleunigungen von Pio­neer
10 und 11. Auffallend ist die
Gleichheit der Beschleunigungen
bei beiden Sonden, obwohl diese
das Sonnensystem in entgegengesetzten Richtungen verlassen.

den kann. Dies erwies sich allerdings als
nicht haltbar.
Mehr als 30 Jahre nach dem Beginn
der Pioneer-Mission stellt die Interpretation der anomalen Signale eines der
aktuellsten Gebiete physikalischer Forschung dar. So arbeiten wir gegenwärtig
am Zarm in Bremen (dem als Außeneinrichtung der Esa betriebenen »Center of
Applied Space Technology and Microgravity«, wo auch der bekannte Fallturm
für Experimente in der Schwerelosigkeit
betrieben wird) in enger Kooperation
mit dem JPL daran, die gesamte Flugbahn
der Pioneer-Sonden digital im Rechner
zu rekonstruieren, um so eventuell weitere Hinweise auf den Ursprung der Ano­
malie zu finden. Zusätzlich wird mit der
Deep Space Gravity Probe (Abb. 5) eine
neue Mission angestrebt, welche durch
ihre spezielle Konstruktion in der Lage
sein soll, genauere Messdaten zu liefern,
um so eine anomale Beschleunigung aufzuspüren und zu verifizieren.
45
50
55
60
Abb. 5: Vorschlag für eine neue
Mission. Die Sonde sollte möglichst symmetrisch gebaut sein.
Eine Testmasse, deren Position
relativ zur Sonde mit Lasern genau vermessen werden kann, gibt
zusätzliche Informationen.
Vergrößert sich die
Astronomische Einheit?
Die Astronomische Einheit (AE) ist neben dem Lichtjahr und dem Parsec eine
der wichtigsten Einheiten zur Messung
von Längen und Abständen in der Astronomie. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung wird sie heute jedoch nicht
als mittlerer Abstand zwischen Erde und
Sonne definiert. Tatsächlich ist sie laut
Beschluss der Internationalen Astronomischen Union festgelegt als der Radius
einer kreisförmigen Umlaufbahn, welche
ein hypothetisches, masseloses Teilchen
beschreiben würde, das einen Zentralkörper mit einer Sonnenmasse ungestört
in exakt einem siderischen Jahr, das heißt
in 365.2568983… Tagen umkreist. Beide Größen, Bahnradius und Umlaufzeit,
sind über das 3. Keplersche Gesetz miteinander verbunden, welches besagt, dass
für alle Körper eines Planetensystems das
Verhältnis der Quadrate der Umlaufzeiten zu den Kuben der großen Halbachsen ihrer jeweiligen Bahnellipsen eine gemeinsame Konstante ist. Diese Konstante
und somit auch die Astronomische Einheit hängt in ihrem Wert folglich nur von
der Gravitationskonstanten G sowie von
der Masse des Zentralkörpers ab.
Die Frage der genauen Messung der
Astronomischen Einheit sowie generell
die Messung von Entfernungen in unserem Sonnensystem gehört zu den ältesten Problemen der Astronomie. Eine
unverzichtbare, praktische Bedeutung
kommt hierbei dem 3. Keplerschen Gesetz zu: Hat man aus astronomischen
Beobachtungen das Verhältnis der Umlaufzeiten zweier Planeten bestimmt, so
erhält man aufgrund des oben beschrie-
benen Zusammenhangs zwischen Bahnradius und Umlaufzeit automatisch auch
das Verhältnis ihrer Abstände zur Sonne.
Auf diese Weise ist es möglich, die Entfernungsverhältnisse sämtlicher Planeten
im Sonnensystem recht genau zu bestimmen. Da es sich nur um relative Angaben
handelt, fehlt jedoch noch ein absoluter
Maßstab, welcher die Angabe der Abstände in Kilometern erlaubt. Ein solcher
Maßstab kann die gegenseitige Entfernung zweier Planeten sein, oder natürlich
auch der Abstand der Erde zur Sonne,
welcher im 18. Jahrhundert noch im Rahmen aufwendiger Expeditionen während
eines Venustransits gemessen werden
musste (siehe SuW 6/2004, S. 22 ff). Hingegen ist es heute im Raumfahrtzeitalter
möglich, Distanzen im Sonnensystem auf
vielfältige Arten direkt zu bestimmen. So
wurden erstmals in den 1960er Jahren die
Entfernungen der Erde zu Venus, Merkur
und Mars mittels Radarechomessungen
bestimmt.
Die Genauigkeit der Entfernungsmessung zum Mars konnte seit den 1970er
Jahren in Folge der stetig wachsenden
Anzahl von Marsmissionen kontinuierlich verbessert werden. Mittlerweile liegt
die Unsicherheit im Abstand Erde–Mars,
welche sich aus der Analyse von Radiomessungen der verschiedenen Sonden
und Lander ergibt, nur noch zwischen
fünf Metern (Viking 1 und 2, Pathfinder)
und zwei bis drei Metern (Mars Global
Surveyor, Mars Odyssey). Diese Messungen stellen nicht nur eine gewaltige
Datensammlung dar, welche eine sehr
präzise Vermessung der Astronomischen
Einheit gestattet. Vielmehr – und das ist
genau der springende Punkt – liefert
dieses immense Datenmaterial die einmalige Möglichkeit, durch den Vergleich
der Messwerte aus verschiedenen JahrSterne und Weltraum April 2007 31
zehnten unter Berücksichtigung der jeweiligen Messgenauigkeit die Frage zu
untersuchen, ob die Astronomische Einheit über einen langen Zeitraum hinweg
konstant geblieben ist, oder ob sich ihr
Wert in den letzten Jahrzehnten verändert hat.
Genau diese Frage untersuchten die
russischen Astrophysiker George Kra­
sinsky und Victor Brumberg in einer im
Juni 2004 veröffentlichten, international
viel beachteten Arbeit [5]. Nach sorgfältiger Auswertung aller vorliegenden Daten kamen sie zu dem überraschenden
Ergebnis, dass die Astronomische Einheit offenbar nicht konstant ist, sondern
sich mit einer Änderungsrate von zehn
Metern pro Jahrhundert vergrößert, was
später in einer Arbeit von E. V. Pitjeva bestätigt wurde.
Ein solches Resultat bringt die theo­
retische Physik nun allerdings in arge
Erklärungsnot. Gemäß dem oben erklärten Zusammenhang zwischen der
Astronomischen Einheit und dem 3. Kep­

Abb. 6: Mit Wmap gemessene Temperaturfluktuationen der Hintergrundstrahlung. Hierbei wurden
die Daten auf eine Himmelskugel
projiziert, in deren Mittelpunkt
sich der Beobachter befindet. In
den blauen und roten Bereichen
liegt die Temperatur der Strahlung geringfügig unter bzw. über
dem Mittelwert. (Bild: Nasa/Goddard Space Flight Center)
32 Sterne und Weltraum April 2007
lerschen Gesetz gibt es zunächst einmal
zwei Effekte, welche ein Anwachsen der
Astronomischen Einheit bewirken können: Eine zeitliche Variabilität der Newtonschen Gravitationskonstante G sowie eine hinreichende Verringerung der
Sonnenmasse aufgrund der Materieverluste durch den Sonnenwind. Leider lassen sich beide Möglichkeiten mit großer
Sicherheit ausschließen. So ist die Änderungsrate der Gravitationskonstante, welche notwendig wäre, um das beobachtete Anwachsen zu erklären, etwa 100-mal
so groß wie jener maximale Wert, welcher für eine mögliche Variabilität von G
aufgrund verschiedener anderer Experimente (z. B. Laserdistanzmessungen des
Mondes) noch erlaubt wäre.
Abgesehen davon gibt es bislang noch
keine konsistente Theorie, welche zufriedenstellend erklären würde, warum überhaupt die Gravitationskonstante zeitlich
variabel sein sollte. Ebenso bietet auch
eine Verringerung der Sonnenmasse keinen Ausweg aus dem Dilemma. Der Massenverlust der Sonne aufgrund von elektromagnetischer Strahlung und Sonnenwind ist so gering, dass er ein Anwachsen
der Astronomischen Einheit von lediglich 0.3 Metern pro Jahrhundert zur Folge hat, was somit signifikant unter dem
von Krasinsky und Brumberg ermittelten
Wert liegt.
Welche Erklärungsversuche gibt es
noch? Die kosmische Expansion kann
als Ursache ausgeschlossen werden, da
man zeigen kann, dass diese definitiv kei-
nen messbaren Einfluss auf physikalische
Vorgänge innerhalb des Sonnensystems
hat. Exotischere Ansätze, wie beispielsweise multidimensionale Szenarien für
die gravitative Wechselwirkung im Rahmen der String-Theorie, sind hoch spekulativ und haben zudem den Nachteil,
dass sie den Beobachtungen bislang stets
einen Schritt hinterherhinken.
Wie kosmisch ist die
Hintergrundstrahlung?
Während die oben besprochenen Probleme einen natürlichen Bezug zum Sonnensystem aufweisen, ist dies bei den
kürzlich entdeckten Anomalien in der
kosmischen Hintergrundstrahlung doch
vergleichsweise überraschend und nicht
sofort offensichtlich.
Die kosmische Hintergrundstrahlung
ist neben der von Edwin Hubble entdeckten Expansion des Universums einer der
fundamentalen experimentellen Belege
für das Standardmodell der Kosmologie.
Entdeckt wurde sie 1964 eher zufällig, als
die Nachrichtentechniker Arno Penzias
und Robert Wilson bei Messungen des
Rauschhintergrundes einer hochempfindlichen Hornantenne eine unerwartete Strahlung feststellten, welche gleichmäßig aus allen Himmelsrichtungen (isotrop) zu kommen schien. Das Spektrum
dieser Strahlung entspricht exakt dem
eines Schwarzen Körpers mit einer Temperatur von 2.73 Kelvin. Da die Intensität
im Mikrowellenbereich maximal ist und
kein Himmelsobjekt als Quelle identifiziert werden kann, etablierte sich hierfür
rasch die Bezeichnung »Mikrowellenhintergrundstrahlung«.
Bereits George Gamow im Jahre 1946
sowie Ralph Alpher und Robert Herman um 1950 hatten die Existenz einer isotropen Hintergrundstrahlung als
Konsequenz des damals noch jungen
Urknallmo­dells postuliert. Demzufolge
bestand das Universum kurz nach dem
Urknall im Wesentlichen aus Strahlung,
freien Elektronen sowie einem heißen
Plasma aus Protonen und Neutronen.
Nach etwa 400 000 Jahren (bei der kosmologischen Rotverschiebung z = 1088)
hatte sich das Universum aufgrund der
Expansion so weit abgekühlt, dass Elektronen und Protonen sich zu leichten Elementen wie Wasserstoff und Helium verbinden konnten. Standen Strahlung und
Materie bis zu diesem Zeitpunkt noch
im thermodynamischen Gleichgewicht,
so bewirkte nun das weitgehende Fehlen
freier Elektronen, dass der Energieaustausch zwischen Strahlung und Materie
praktisch zum Erliegen kam. Aufgrund
dieser Entkopplung kühlte sich die Strahlung von da an unabhängig von der Materie ab und zurück blieb eine in allen Him-
a
–0.019
0.019 [Mikrokelvin]
–0.034
0.034 [Mikrokelvin]
–0.051
0.051 [Mikrokelvin]
b
c
Welchen Einfluss hat nun das Sonnensystem auf die Hintergrundstrahlung? Keinen, sollte man meinen, da diese ja, wie oben beschrieben, kosmischen
Ursprungs ist und somit von speziellen
Eigenschaften des Sonnensystems unabhängig sein sollte. Eine große Überraschung erlebten die Kosmologen jedoch
weltweit, als 2004 Dominik Schwarz von
der Universität Bielefeld und Greg Starkman, Armington Professor an der Case
Western Reserve University, ihre Analyse der Wmap-Daten in der Fachzeitschrift
Physical Review Letters veröffentlichten
[6, 7]. Hierbei bedienten sie sich einer Methode, die allgemein als Multipolanalyse
bekannt ist: Ebenso wie jeder Klang in eine

melsrichtungen extrem gleichmäßige,
3000 Kelvin heiße Hintergrundstrahlung,
welche sich bis heute auf 2.73 Kelvin abkühlte.
Die Entdeckung einer solchen überraschend isotropen Strahlung wurde somit
als wichtige Bestätigung des Urknallmodells gesehen und bescherte Penzias und
Wilson 1978 den Nobelpreis für Physik.
Eine wichtige Frage blieb jedoch auch
weiterhin offen: Wenn die Interpretation
der Hintergrundstrahlung richtig ist und
das Universum aus einem absolut homogenen, das heißt gleichmäßigen Zustand
hervorgegangen ist, so sollte sich nach
den Gesetzen der Thermodynamik dieser homogene Zustand bis heute bewahrt
haben. Tatsächlich ist unser Kosmos jedoch alles andere als homogen. Materie
organisiert sich in Galaxien, welche sich
wiederum zu Galaxienhaufen und sogar
zu gigantischen Superhaufen gruppieren,
sodass von einer homogenen Verteilung
der Materie nicht die Rede sein kann.
Will man daher am Urknallmodell
festhalten, so sollten die Kondensationskeime der späteren Galaxien bereits in
einer sehr frühen Phase des noch jungen
Universums in Form von quantenmechanisch induzierten Fluktuationen der
Ener­giedichte vorgelegen haben. Aufgrund der Gravitation verdichteten sich
diese Schwankungen dann im Laufe der
Expansion des Kosmos zu großräumigen
Strukturen, wobei diese Entwicklung von
verschiedenen kosmologischen Parametern wie etwa dem Anteil an Dunkler
Materie, Dunkler Energie sowie der Geometrie des Universums entscheidend
mitbestimmt wurde. Zum Glück für die
heutigen Kosmologen prägten sich jene
Fluktuationen allerdings auch in die kosmische Hintergrundstrahlung ein, sodass
man heute aus einer genauen Analyse der
nur sehr geringen richtungsabhängigen
Temperaturschwankungen des Mikrowellenhintergrunds wertvolle Informationen über die Physik des jungen Universums gewinnen kann.
Tatsächlich gelang es 1992 mit Hilfe
des Cosmic Background Explorer (Cobe)
erstmals, die so vorhergesagten, geringen Schwankungen (Anisotropien) der
Hintergrundstrahlung zu messen, was
schließlich 2006 mit der Verleihung des
Nobelpreises für Physik honoriert wurde
(siehe SuW 12/2006, S. 19). Eine wesentliche Verbesserung in der Auflösung wurde 2004 mit dem Satelliten Wmap (Wilkinson Microwave Anisotropy Probe)
erreicht (Abb. 6). Die gemessene Amplitude der Temperaturschwankungen ist
äußerst gering und beträgt nur etwa 30
Mikrokelvin, was einer maximalen Abweichung von einem Hundertstel Promille vom Mittelwert entspricht.
Abb. 7: Multipol-Anteile der
kosmischen Hintergrundstrahlung, dargestellt im Koordinatensystem der Ekliptik, d. h. der
Äquator wird durch die Ebene
des Sonnensystems festgelegt.
Die Maxima und Minima verlaufen nahezu senkrecht zur Ekliptik. (a) Quadrupol-Anteil, (b)
Oktopol-Anteil, (c) kombinierte
Quadrupol- und Oktopol-Darstellung. Auffällig ist die deutliche
und bislang unverstandene NordSüd-Asymmetrie in der Quadrupol-Oktopol-Kombination.
Sterne und Weltraum April 2007 33
Literaturhinweise
[1]Donald Wiss: Swing-by-Manöver –
Was steckt dahinter? SuW 12/2003,
S. 22 ff.
[2]Rudolf Kippenhahn: Die Schwerkraft
in der Krise. SuW 6/2006, S. 42 f.
[3]Claus Lämmerzahl, Oliver Preuss,
Hansjörg Dittus: Eprint arXiv: grqc/0604052
[4]J. D. Anderson et al.: Physical Review D 65, 082004, (2002)
Summe bestehend aus Grund- und Obertönen zerlegt werden kann, wird bei der
Multipolzerlegung die gemessene Himmelskarte des Mikrowellenhintergrunds
in eine Reihe von Schwingungsmoden
beziehungsweise Multipolen aufgeteilt.
Beginnend mit dem Multipol niedrigster
Ordnung, dem Monopol, gefolgt vom Dipol, dem Quadrupol und dem Oktopol,
erfassen die Multipole mit steigender Ordnung fortlaufend klein­skaligere Details,
wobei die vollständige Karte sich schließlich als Summe der einzelnen Multipole
ergibt. Prinzipiell lassen sich mit dieser
Methode die Oberflächendetails einer jeden Kugel als Summe von Multipolen
darstellen, egal ob es sich dabei um den
auf die Himmelskugel projizierten Mikrowellenhintergrund oder um eine Karte der Erdoberfläche handelt. Im letzteren
Falle würden die Multipole der kleinsten
Ordnung Informationen über großflächige Objekte wie Kontinente und Ozeane erfassen, während jene höherer Ordnung Gebirgszüge oder kleinere Landstriche beschreiben würden.
Abb. 7 a und 7 b zeigen nun den Quadrupol- und den Oktopol-Anteil der kosmischen Hintergrundstrahlung, welche
mittels der frei erhältlichen Healpix-Software des JPL aus den originalen WmapDaten berechnet wurden. Beide Multipole
sind im Koordinatensystem der Ekliptik
dargestellt, das heißt der Äquator wird
durch die Ebene des Sonnensystems festgelegt. Da nun Multipole niedriger Ordnung großräumige Details erfassen, war
es zunächst nicht verwunderlich und sogar durchaus erwartet, dass das Erscheinungsbild sowohl des Quadrupols wie
auch des Oktopols von wenigen ausgeprägten Maxima und Minima dominiert
wird. Was jedoch bezüglich des oben beschriebenen Standardmodells der Kosmologie keinesfalls zu erwarten war und
bei den Forschern seitdem für große Verwunderung sorgt, ist in den Bildern deutlich zu sehen: Anstelle einer zufälligen
Verteilung findet man eine unerwartet
geradlinige Abfolge der Minima und Maxima, die sich wie auf einer Perlenschnur
34 Sterne und Weltraum April 2007
[5]G. A. Krasinsky, V. A. Brumberg: Celestial Mechanics and Dynamical Astronomy, 90, 267 (2004)
[6]Glenn D. Starkman und Dominik J.
Schwarz: Missklänge im Universum.
Spektrum der Wissenschaft, 12/2005,
S. 30 ff.
[7]Dominik J. Schwarz et al.: Physical
Review Letters 93, 221301 (2004)
über den Himmel aneinanderreihen. Interessanterweise verlaufen die Extremwerte zudem fast senkrecht zur Ekliptik
und zeigen in der Quadrupol-OktopolKombination (Abb. 7 c) eine deutliche
Nord-Süd-Asymmetrie in der Intensität.
Was ist nun der Grund für diese Ano­
malien? Geht man von einem Kopernikanischen Weltsystem aus, wonach unser
Sonnensystem keine bevorzugte Stellung
im Universum einnimmt, so lassen sich
die wahrscheinlichsten und meist diskutierten Erklärungsansätze hierfür gegenwärtig in zwei Gruppen einteilen:
Zum einen wäre es denkbar, dass die
beobachteten Anomalien auf eine systematische Ursache, das heißt auf bislang
unentdeckte Fehler entweder in der Datenanalyse oder in der Konstruktion der
Messinstrumente zurückzuführen sind.
So sind beispielsweise die thermische
Stabilität aufgrund variabler Sonneneinstrahlung und thermischer Abstrahlungen der Instrumente wie auch das verwendete Scanmuster der Wmap-Sonde
verhältnismäßig anfällig für das Auftreten systematischer Fehler.
Andererseits ist es jedoch schwierig
einzusehen, wie hierdurch eine Korrelation der Messungen mit der Ekliptik zustande kommen kann. Deshalb tendieren
viele der beteiligten Wissenschaftler mehr
zur zweiten, nahe liegenden Alternative,
wonach die Ursache der Quadrupol-Oktopol-Anomalie möglicherweise in der
Physik des Sonnensystems selbst zu finden sein könnte. Demnach müsste es innerhalb der Heliosphäre einen bislang
übersehenen Prozess geben, der eine 2.73Kelvin-Mikrowellenstrahlung erzeugt, die
aufgrund einer Überlagerung mit der kosmischen Hintergrundstrahlung die beobachteten, charakteristischen Muster hervorruft. Dabei muss man dann natürlich
auch erklären, warum eine solche Vordergrundstrahlung bei allen bisherigen
Messungen unentdeckt bleiben konnte.
So wird gegenwärtig in einem Projekt am
Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung untersucht, ob Mikrowellen­
emissionen von interplanetarem Staub
im Bereich des Kuipergürtels ein möglicher Kandidat hierfür sein könnte.
Bliebe noch die Frage, ob es sich bei
den beobachteten Anomalien nicht vielleicht um zufällige Konstellationen handeln könnte. Diese Frage wurde auch von
Dominik Schwarz und Greg Starkman
in ihrer oben genannten Publikation anhand von Computersimulationen untersucht. Die Wahrscheinlichkeit für ein
zufälliges Auftreten dieser Muster ist danach kleiner als 1:10000, was somit die
Suche nach Alternativen durchaus sinnvoll erscheinen lässt.
Fazit
Für keine der hier beschriebenen Ano­
malien konnte bislang eine konsistente Erklärung im Rahmen der physikalischen Standardtheorien gefunden
werden. Durch die prinzipielle Reproduzierbarkeit der Flyby-Anomalie erscheint
es deshalb höchst wünschenswert, die
Erdvorbeiflüge von Rosetta im November 2007 und 2009 sehr präzise zu vermessen. Ebenso könnte die vorgeschlagene Deep Space Gravity P robe dazu beitragen, das Rätsel der P io­neer-Anomalie
zu lösen, und damit einen wichtigen Beitrag zu einem tieferen Verständnis der
Physik unseres Sonnensystems liefern.
M
Oliver Preuss arbeitet
am Max-Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Katlenburg-Lindau, wo er sich
mit Tests der Speziellen und Allgemeinen
Relativitätstheorie beschäftigt.
Hansjörg Dittus leitet die Abteilung für
Gravitationsphysik und
Raumfahrttechnologie
am Zentrum für Angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation (Zarm) in
Bremen, wo er Experimente zu Gravitations- und
Quantenphysik auf orbitalen Plattformen und Satelliten plant und durchführt.
Claus Lämmerzahl leitet die Arbeitsgruppe
Gravitationsphysik am
Zarm, wo er Satellitenprojekte und Tests der
Speziellen und Allgemeinen Relativitätstheorie durchführt.
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