Erziehungshelfer Ritalin

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Erziehungshelfer Ritalin®?
Zur Problematik einer Diagnose
Michael Götze-Ohlrich
1. Wir kennen sie alle, die Kinder, die stören,
weil sie rumzappeln, weil sie nicht richtig zuhören, weil sie immer wieder Streit anfangen. Vor
unserem geistigen Auge tauchen Gesichter auf
und Erinnerungen verzweifelter, auch ergebnisloser Versuche, dieser Störenfriede Herr zu
werden. Früher nannte man sie Flegel oder
Rüpel, dann nannte man sie verhaltensgestört,
psychisch labil, Problemschüler usw.
Ohne Zweifel, es gibt sie, die „schwierigen Kinder“. Kinder, bei denen häufig, besser gesagt,
immer häufiger die Diagnose ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) oder ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit – Hyperaktivität – Syndrom)
gestellt wird, Kinder, denen nach dieser Diagnose Ritalin®1 verordnet wird. Zurzeit sind es in
Deutschland etwa 400.000 Patienten, vor
allem Jungen. Das ist etwa die zehnfache
Anzahl im Vergleich zu vor zehn Jahren. Der
Verbrauch von Ritalin® ist allein zwischen 1997
und 2000 um 270 Prozent gestiegen. Schätzungen sprechen von einer Prävalenzrate
(Erkrankungshäufigkeit) von 2 bis 6 Prozent
der 6- bis 18-jährigen Kinder. Langzeitstudien
lassen Schlimmes befürchten: Kinder mit
hyperkinetischem Syndrom würden in ihrer
Entwicklung erheblich gefährdet sein, bei
einem Drittel käme es zum Schulabbruch, bei
fast der Hälfte zu antisozialen Aktivitäten, drei
Viertel zeigten als Erwachsene ungenügende
Leistungen am Arbeitsplatz.
Kinderpsychiater beklagen indes, dass die
Diagnose ADS bzw. ADHS vorschnell bei allen
möglichen kindlichen Schwierigkeiten im Vorund Grundschulalter gestellt wird. Schauen wir
uns die Diagnose etwas genauer an. Die ist
nämlich so einfach nicht zu stellen. Das liegt
zum einen daran, dass über die Ursachen
keine Klarheit besteht. Es gibt keinen „Erreger“,
wie zum Beispiel bei der Tuberkulose, der, im
Körper nachgewiesen, zu der eindeutigen
Diagnose führt. Und zum anderen liegt es
daran, dass es keine eindeutigen Kriterien gibt,
wann ein Verhalten normal, wann es auffällig,
wann es krankhaft ist. Das ist auch bei anderen
Krankheitsbildern so, denken wir an Bluthochdruck oder Adipositas (Fettsucht), auch hier
bestehen nur Konventionen, also Verabredungen zwischen den Fachleuten, die z.B. sagen,
bei einem Bodymaßindex (BMI) von über 25
handele es sich um Fettsucht. Genau genommen ist das ein willkürliches Kriterium. Und
zum dritten gibt es zwei unterschiedliche Kriterienkataloge, das ICD – 10 und DSM – IV.
In dem letztgenannten Kriterienkatalog2, der
1 Dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend wird von Ritalin® gesprochen, wohl wissend, dass eine Vielzahl
von Methylphenidat-Präparaten bei der Behandlung von ADHS eingesetzt wird.
2 Diagnostic and Statistical Manual of the American Psychiatric Association, 1994
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hier zitiert werden soll, gibt es sechs Diagnosebereiche. In den Bereichen A1 und A2 müssen
jeweils sechs (oder mehr) der aufgeführten
Symptome während der letzten sechs Monate
in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen sein.
A1
Kriterien Unaufmerksamkeit nach DSM - IV:
• beachtet häufig Einzelheiten nicht oder
macht Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten, bei der Arbeit oder bei anderen
Tätigkeiten
• hat oft Schwierigkeiten, längere Zeit die
Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim
Spielen aufrechtzuerhalten
• scheint häufig nicht zuzuhören, wenn
andere sie/ihn ansprechen
• führt häufig Anweisungen anderer nicht
vollständig durch und kann Schularbeiten,
andere Arbeiten oder Pflichten am Arbeitsplatz nicht zu Ende bringen (nicht aufgrund
oppositionellen Verhaltens oder Verständigungsschwierigkeiten)
• hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben und
Aktivitäten zu organisieren
• vermeidet häufig, hat eine Abneigung
gegen oder beschäftigt sich häufig nur
widerwillig mit Aufgaben, die länger dauernde geistige Anstrengungen erfordern
(wie Mitarbeit im Unterricht oder Hausaufgaben)
• verliert häufig Gegenstände, die für Aufgaben oder Aktivitäten benötigt werden (z.B.
Spielsachen, Hausaufgabenhefte, Stifte,
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Bücher oder Werkzeug)
• lässt sich oft durch äußere Reize leicht
ablenken
• ist bei Alltagstätigkeiten häufig vergesslich.
A2
Kriterien Hyperaktivität / Impulsivität nach
DSM-IV:
• zappelt häufig mit Händen oder Füßen
oder rutscht auf dem Stuhl herum
• steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet
wird, häufig auf
• läuft herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend
ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen
kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl
beschränkt bleiben)
• hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu
spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten
ruhig zu beschäftigen
• ist häufig auf „Achse” oder handelt
oftmals, als wäre sie/er “getrieben”
• redet häufig übermäßig viel
• platzt häufig mit den Antworten heraus,
bevor die Frage zu Ende gestellt ist
• kann nur schwer warten, bis sie/er
an der Reihe ist
• unterbricht und stört andere häufig (Dazwischen-Reden).
B
Einige Symptome der Hyperaktivität-Impulsivität oder Unaufmerksamkeit, die Beeinträchtigungen verursachen, treten bereits vor dem
Alter von sieben Jahren auf.
C
Beeinträchtigungen durch diese Symptome
zeigen sich in zwei oder mehr Bereichen (z.B.
in der Schule bzw. am Arbeitsplatz und zu
Hause).
D
Es müssen deutliche Hinweise auf klinisch
bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen,
schulischen oder beruflichen Funktionsbereichen vorhanden sein.
E
Die Symptome treten nicht ausschließlich im
Verlauf einer so genannten tief greifenden Entwicklungsstörung, einer Schizophrenie oder
einer anderen psychotischen Störung auf und
können auch nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden (z.B.
Affektive Störung, Angststörung, Dissoziative
Störung oder eine Persönlichkeitsstörung).
Für eine Diagnose ADS /ADHS nach DSM - IV
müssen entweder A1 und/oder A2 sowie B,C,D
und E zutreffen.
Schaut man sich die Diagnosekriterien an,
scheint das Hauptproblem der Kinder darin zu
bestehen, nicht in der Lage zu sein, Grundvoraussetzungen erfüllen zu können, um den
schulischen oder anderen institutionalisierten
Anforderungen zu genügen. Anders gesagt,
die Anforderungen der Institutionen (also von
Kita und Schule) definieren, wie ein „normales“
Kind zu sein hat, das sich durch optimale
Steuerung auszeichnet. Verändern wir unsere
Anforderungen als Gesellschaft, haben wir
plötzlich mehr gesunde oder mehr kranke Kinder. Diagnosen sind immer gesellschaftlich
determiniert und von unserem Menschenbild
geprägt.
Interessant ist in diesem Zusammenhang,
dass die Aufmerksamkeitsstörungen erst zu
dem Zeitpunkt in den Fokus der Forscher
geriet als mit dem Industriezeitalter fremdbestimmte Rhythmen das Leben normierten.
Nehmen wir doch statt der Pathologisierung
des Verhaltens die epidemische Zunahme
kindlicher Störungen als Signal kindlicher Nöte
in der modernen Gesellschaft ernst!
Drehen wir einmal als Gedankenexperiment
die Diagnosekriterien um: Ist ein Kind tatsächlich krank, wenn es Anweisungen anderer häufig nicht vollständig durchführt, wenn es sich oft
nur widerwillig mit Aufgaben beschäftigt, die
länger dauernde geistige Aktivitäten erfordern?
Beispielhaft sind weitere Kriterien der Gruppen
A1 und A2 umformuliert:
Ein Kind ist gesund, wenn es
• fast immer Einzelheiten beachtet und selten Flüchtigkeitsfehler bei den Schularbeiten macht
• fast immer zuhört, wenn andere es ansprechen
• sich selten durch äußere Reize ablenken
lässt
• leicht warten kann, bis es an der Reihe ist
• selten andere durch Dazwischenreden
unterbricht
• selten übermäßig viel redet.
Schlussfolgerung:
Wenn ein Kind mit sechs Jahren diese Kompetenzen hat, ist es normal. Stimmt das?
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Vielleicht kommt der Einwand: Das muss das
Kind doch erst alles lernen! Viele Erwachsene
können das auch nicht! Hoffentlich kommt dieser Einwand.
Einwand Nummer 1:
Wenn Kinder etwas noch nicht können, sind sie
nicht krank, sondern sie benötigen einen
begleiteten Lernprozess, der von dem sozialen
Umfeld jahrelange Geduld und Verantwortungsübernahme verlangt.
2. Der Diagnose ADS/ADHS liegt der Gedanke zugrunde, abweichendes Sozialverhalten sei durch hirnorganische oder neurophysiologische Abweichungen verursacht. Diese Idee
ist nicht so neu, im Grunde wurde nur das Etikett für ein altbekanntes Phänomen gewechselt. In den achtziger Jahren wurde sehr gern
von „minimaler cerebraler Dysfunktion“ (MCD)
gesprochen. In der DDR gab es das „hirnorganisch – psychische Achsensyndrom“ (GÖLLNITZ). Später sprach man vom „frühkindlichen
psychoorganischem Syndrom“, von „Teilleistungsstörungen“ bzw. Teilleistungsschwächen.
Die Diagnosen verloren jeweils nach ein paar
Jahren an Bedeutung, zum einen weil der
Nachweis einheitlicher Ursachen für die zu
Syndromen zusammengefassten Symptome
misslang und zum anderen weil empirische
Belege zu biologischen Auffälligkeiten nicht
erbracht werden konnten. Zwar haben sich die
Bezeichnungen für die Krankheit „abweichendes Sozialverhalten“ immer wieder geändert,
geblieben ist aber die Sehnsucht, biologische
Ursachen für problematisches soziales Denken, Handeln und Fühlen zu finden. Es ist wirk74
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lich frappierend, wie sich bis in einzelne Formulierungen die Diagnosekriterien gehalten
haben, auch wenn heute nicht mehr vom Achsensyndrom, sondern von ADHS gesprochen
wird.
Andererseits wird in der Fachliteratur immer
wieder auf die biografischen und kulturellen
Besonderheiten verwiesen und somit die Multikausalität menschlichen Verhaltens anerkannt,
wohl auch deswegen, weil es bislang kein wissenschaftliches Verfahren gibt, mit dem ADHS
verursachende
Hirnstoffwechselstörungen
zweifelsfrei erkannt, geschweige denn diese
organischen Störungen spezifischen Verhaltensabweichungen zugeordnet werden können.
„Aufmerksamkeitsdefizite“ und „Hyperaktivität“
sind für sich genommen keine Krankheiten,
sondern Symptome, wobei die Grenze, wie
bereits gesagt, sehr fließend ist zwischen normaler und gestörter Aktivität bzw. Aufmerksamkeit. Auch Kinder, denen eine Störung der Aufmerksamkeit attestiert wird, können sich sehr
wohl konzentrieren, zum Beispiel bei einem
Fußballspiel oder beim Budenbauen. Die konzentrative Aufmerksamkeit ist generell von der
Attraktivität der jeweiligen Situation, von den
eigenen Befindlichkeiten, z.B. Müdigkeit, oder
anderen Rahmenbedingungen (z. B. Sorgen)
abhängig.
Die Kinder laufen Gefahr, ein Etikett verpasst
zu bekommen, mit dem unzulässig komplexe
psychische und soziale Probleme vereinfacht
werden. Während in den letzten Jahrzehnten in
fast allen medizinischen Fachrichtungen beim
Verständnis von Krankheitsentstehung und entwicklung ein biopsychosoziales Erklärungs-
modell angewendet wird, wird bei Kindern mit
Aufmerksamkeits- und Aktivitätsbesonderheiten ein im Grunde biologistischer Ansatz verfolgt. Natürlich ist es denkbar, dass die Symptome des ADHS mit durch Psychopharmaka
auszugleichenden hirnorganischen Störungen
zusammenhängen, wir müssen jedoch immer
auch die familiären und sozialen Ressourcen
und kritischen Bereiche betrachten.
Die meisten Forscher des biologischen Erklärungsmodells nehmen an, dass es den betroffenen Kindern in bestimmten Hirnregionen an
Dopamin mangele, einem Botenstoff im Nervengewebe, der an der Steuerung von Motivation, Aufmerksamkeit und Bewegung beteiligt
ist. Weiterhin wird vermutet, dass Ritalin® die
Dopamin-Konzentration im Raum zwischen
den Nervenzellen, also den Synapsen erhöht
und damit die Signalübertragung verbessert.
Andere Forscher wiederum behaupten, dass
nicht ein Dopaminmangel, sondern genau im
Gegenteil ein Überangebot die Übererregbarkeit bei Kindern verursacht. HÜTHER z.B.
meint, dass eine zu gut funktionierende Signalübertragung mittels Dopamin die Übererregbarkeit der Kinder verursache. Die Störung
des Dopamin-Haushalts wird durch die Wirksamkeit der verabreichten Medikamente
begründet. Diese Argumentation ist an
Schlichtheit kaum zu überbieten. Sagen wir
auch, dass ein Patient mit Schlafstörungen
einen Valiummangel habe, weil dieses Medikament helfe? Bei einer Diabetikerbehandlung
sagt man, die Insulingaben helfen, einen Man-
gel auszugleichen. Ähnlich sei es bei ADHSKindern, die Ritalin® benötigen. Allerdings hinkt
der Vergleich, denn beim Diabetiker können wir
labortechnisch Insulin- und Zuckerwerte
bestimmen, während bei ADHS Hirnstoffwechselstörungen lediglich vermutet, aber objektiv
nicht nachgewiesen werden können.
Bei den Ursachen wird sowohl auf den genetischen Einfluss (60 bis 80 %) verwiesen als
auch auf erworbene biologische Faktoren
(durch Alkohol, Nikotin oder Schwangerschaftskomplikationen). Allerdings wird der
genetische Einfluss ausschließlich durch familiäre Häufungen und durch den hohen Anteil
hyperkinetischer Jungen begründet.3 Vielleicht
werden Jungen lediglich häufiger einem Arzt
vorgestellt, weil sie auffälliger stören und Mädchen auf Stress möglicherweise eher mit Aktivitätseinschränkungen reagieren („braves Mädchen“)?
Genetisch bedingte Erkrankungen sind in ihrer
Häufigkeit relativ stabil. Bei geringeren Geburtenraten müsste also die absolute Häufigkeit
sinken. Fakt ist aber, dass die Ritalin® - Gaben
explosionsartig steigen, was bedeutet, dass
entweder eine genetische Disposition nicht
infrage kommt oder in großem Umfang Kinder
symptombezogen, ohne gesicherte Diagnose
medikamentiert werden, um erwünschtes Verhalten herzustellen.
Wenn in einer menschheitsgeschichtlich
außerordentlich kurzen Zeitspanne Störungen
plötzlich massenweise auftreten, die vorher
3 Familiäre Häufungen sind auch bei Vorlieben für Fernsehsendungen festzustellen oder bei der Intensität der
Zahnpflege, d.h., in Familien werden immer auch Verhaltensstrukturen und Problemlösungsstrategien tradiert, die nicht genetisch begründet werden können.
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selten waren, spricht das vor allem für eine Veränderung der Umweltbedingungen. ADHS ist
in einer Zeitspanne von nur 10 bis 15 Jahren
um ein oder zwei Zehnerpotenzen häufiger
diagnostiziert worden. Das kann nur als Hinweis auf den Einfluss von Umweltbedingungen
auf die Entwicklung von Kindern oder als Indiz
für massenhafte Fehldiagnosen gewertet werden.
Ohne über mögliche Folgeerkrankungen zu
spekulieren4, müssen wir uns dem Problem
stellen, dass wir nichts bzw. sehr wenig darüber wissen, wie sich ein kindliches Gehirn, das
durch Umweltreize und Erfahrungen in besonderer Weise formbar ist, entwickeln kann und
welche Auswirkungen die Langzeitgabe von
Psychopharmaka hat.
Halten wir fest:
1. Es gibt keine wissenschaftlichen Belege
für eine genetische Verursachung der
Symptomatik.
2. Es gibt keine mit naturwissenschaftlichen
Methoden erbrachte objektive Unterscheidung zwischen einem hirnstoffwechselgestörten und einem nicht hirnstoffwechselgestörten Kind. Eine biochemische Störung konnte bisher nicht nachgewiesen
werden.
Einwand Nummer 2:
Das biologistische Krankheitsverständnis der
Verhaltensbesonderheit ADHS ist wissenschaftshistorisch ein Rückschritt, weil Verhalten und damit menschliches Fühlen, Denken
und Handeln auf eine hirnorganische Funktion
reduziert werden. Das „Hauptvergehen“ der
betroffenen Kinder scheint darin zu bestehen,
nicht in der Lage zu sein, die Grundbedingungen zur adäquaten Aneignung institutionell
geforderten Lehrstoffs zu erfüllen.
Psychisches Geschehen (Aufmerksamkeit,
Hyperaktivität) lässt sich nicht durch physikalisch-chemische
Funktionsabläufe
beschreiben. Die einseitige somatische Sichtund Erklärungsweise verdrängen andere wissenschaftliche Erklärungsansätze (entwicklungspsychologische, bindungstheoretische,
psychodynamische). Wenn wir von einer komplexen sich entwickelnden emotionalen Innenwelt des Kindes ausgehen, wissen wir, dass
daraus nicht zwangsläufig linear ein genormtes
Verhalten entstehen muss. Kinder haben
sowohl ein Anrecht darauf, Fehler in der Entwicklung zu machen, als auch ein Anrecht auf
ein emotional fürsorgliches, Rahmen setzendes Umfeld, das Korrekturen ermöglicht.
3. Möglicherweise hängt dieser Wunsch, biologische Ursachen zu finden, mit dem Wunsch
zusammen, so genannte schwierige Kinder
schnell, effizient und kostengünstig an die
Erfordernisse unserer Gesellschaft anzupassen. Das ist ein problematisches Anliegen. Als
Psychopharmaka vor 50 Jahren die Psychiatrie
revolutionierten, sprach man von „chemischen
Zwangsjacken“; nicht völlig zu Unrecht, werden
doch Verhaltensimpulse ausgebremst und wird
das Verhaltensrepertoire der Kranken reduziert. Immer, wenn Dritte, in dem Fall der Kin-
4 Sollte Ritalin® hemmende Effekte auf das Dopaminsystem haben, begünstigt es möglicherweise die Entstehung von Parkinson.
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der sind das normalerweise die Eltern, darüber
entscheiden, ob jemand mit Medikamenten
behandelt wird, wird Macht ausgeübt. Bei
ADHS wird Ritalin® als Instrument genutzt, Verhalten zu verändern. Ich nehme an, dass wir
bald darüber diskutieren werden, wie Kinder
vor
psychopharmakologischer
Gewalt
geschützt werden können.
Die Wirkung der eingesetzten Psychopharmaka sind für das Kindesalter ungenügend
untersucht. Da die meisten Stimulanzien nicht
die Psychiater, sondern Haus- und Kinderärzte
verschreiben, besteht die Sorge, dass die
Diagnostik nicht mit der gebotenen Sorgfalt
und Fachkenntnis ausgeführt wird. Manchmal
entsteht der Eindruck, als würde die Diagnose
ADHS zum Synonym für alle kindlichen Störungen im Vorschul- und Grundschulalter.
Die Wirksamkeitsstudien wurden zum großen
Teil durch die Industrie gesponsert. Ob
dadurch die Darstellung der Ergebnisse und
damit letztlich die Verschreibepraxis beeinflusst
wurden, sei dahingestellt.
Die Rahmenbedingungen für Kinder haben
sich in den letzten zwanzig, dreißig Jahren
enorm verändert, erinnert sei an die steigende
Anzahl der Familien, in denen die reale Erziehungsverantwortung von den leiblichen Eltern
an andere Personen abgetreten wird, an die
steigende Anzahl der Einzelkinder, auf denen
dann die ungeteilten Erwartungen der Familien
lasten, an sinkende Möglichkeiten, durch
Gleichaltrige Erfahrungen vermittelt zu bekommen (Pädagogen weisen jedoch immer wieder
auf die Bedeutung von Peergroups in den
Lernbiografien hin.) Wir müssen an die veränderte Bedeutung der Erwerbsarbeit in den
Familien erinnern, an die höhere Mobilität, die
immer wieder zu sozialen Brüchen führt, an die
Einflüsse von Werbung und Medien, daran,
dass die Schule nach wie vor ein Entwicklungsrisiko darstellt, da sie schulgerechte Kinder fordert, statt eine kindgerechte Schule anzubieten, oder wir müssen an Migration und Reizüberflutung erinnern. Kurzum, Kinder leben in
einer Welt, in der ihre Entwicklung von mehr
und stärkeren Risiken bedroht ist als vor wenigen Jahrzehnten. Gleichzeitig ist die Toleranz
der Gesellschaft gesunken, Reaktionen auf
diese Risiken auszubalancieren. Die Toleranz
der Gesellschaft bei abweichendem Verhalten
sinkt allein schon dadurch, dass die strukturierten Angebote der Umwelt zunehmend uniformer werden. Welches Kind im Vorschulalter
hat noch die Möglichkeit, ohne Kontrolle der
Erwachsenen Erfahrungen zu sammeln. Die
Lebensbereiche haben sich auf Kita, Wohnung
und Spielplatz reduziert, wo eben auch immer
Einordnung und Rücksicht erwartet werden.
Demgegenüber hat die Diskussion in der
Pädagogik der letzten zwanzig Jahre dazu
geführt, Selbstbildungsprozesse zu stärken,
allerdings um den Preis, dass Kinder, die
Strukturen benötigen, tendenziell benachteiligt
werden.
Unsere gesellschaftlichen Verhaltensnormen
sind nicht mehr so sehr auf Schuld und Disziplin gegründet wie zwei Generationen zuvor,
sondern auf Verantwortung und Initiative. Das
Leitbild bzw. der Anspruch auf Selbstverwirklichung begünstigt robustes Durchsetzungsvermögen. Störungen der kindlichen Entwicklung,
das sehen wir an dieser kurzen Aufzählung,
müssen nicht mit besonderen individuellen bioERZIEHUNGSHELFER RITALIN®?
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grafischen Entwicklungsbedingungen zusammenhängen, denn bereits die „normalen“
Lebensbedingungen können schon so ungünstig sein, dass Störungen entstehen.
Wird also mithilfe von Tabletten ein soziales
Problem der Gesellschaft entsorgt? Werden
die Kinder, die besonders sensibel wie Seismografen auf Mängel unserer Gesellschaft hinweisen, pathologisiert? Sollen Erziehungsmaßnahmen partiell durch Pillen ersetzt werden?
Wir müssen uns bei der Medikamentierung
auch mit möglichen Risiken auseinandersetzen. Die Reizaufnahme durch Medikamente
wird über Monate und Jahre gefiltert. Wie wirken sich diese Eingriffe auf die Entwicklungsprozesse insgesamt aus? Werden möglicherweise zwar Lernbedingungen durch Ritalin®
verbessert, aber wird der Erwerb individueller
Bewältigungsstrategien für belastende Situationen behindert?
Darüber hinaus müssen wir mit einem schleichenden Einstellungswandel rechnen. Als erster Schritt ist jetzt schon zu beobachten, dass
die Hemmschwelle, Kindern Psychopharmaka
zu geben, fast völlig gefallen ist. Es wird bereits
als Behandlungsfehler angesehen, ADHS-Kindern Ritalin® zu verweigern, als wären Psychopharmaka notwendig für eine gelingende
soziale Anpassung. Wird demnächst die Haltung „Erst wenn du Drogen nimmst, bist du normal“ gesellschaftsfähig? Motor jeglicher Bildungs- und Bindungsbemühungen bleibt aber
der Abgleich emotionaler Befindlichkeiten zwischen Pädagogen und Kind, das kann kein
Medikament ersetzen.
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Pharmakotherapie dient der Behandlung von
Krankheiten, nicht der Erzeugung von Wohlbefinden und Glück. Aber auch „normale“ Kinder
haben unter Ritalin® Leistungssteigerungen,
was Aufmerksamkeit und Konzentration
angeht. Die Verführung ist folglich groß, dem
steigenden Anspruch der Gesellschaft auf
Ausdauer und Konzentration durch die Gabe
von Psychostimulanzien zu entsprechen. Das
wäre Doping auf Rezept.
Und wir müssen uns mit einem weiteren gesellschaftlichen Phänomen auseinandersetzen:
• Kinder haben aus drei Gründen Anspruch
auf gesellschaftliche Unterstützung, nämlich:
• Es besteht eine erzieherische Mangelsituation (§ 27 SGB VIII).
• Es liegt eine seelische Behinderung vor,
durch die die Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 35 a SGB
VIII).
• Das Kind ist krank.
Eine Diagnose sichert also Behandlung und
Kostenerstattung. Es wäre unklug von den
Erziehungsverantwortlichen,
Aufmerksamkeitsbesonderheiten nicht als Krankheit oder
Mangelsituation einschätzen zu lassen, weil
dadurch Hilfsangebote nur eingeschränkt zur
Verfügung stehen. Eine Diagnose, die organische Ursachen feststellt, führt regelmäßig zu
einer Entlastung der Bezugspersonen („Ich
habe nicht Schuld, es ist ein Dopaminmangel.
Das ist immer noch schlimm, aber ich habe
nichts falsch gemacht.“). Andererseits ist eine
Diagnose für den Diagnostizierten immer auch
kränkend, also krank machend, im ursprüngli-
chen Sinne („Du bist nicht so, wie es normal
wäre, du bist krank.“)
Einwand Nummer 3:
Medikamentöse Behandlung trägt als Haupttherapieansatz der Ursachenvielfalt nicht
Rechnung. Sie ist nur dann angezeigt, wenn
mit anderen Methoden keine ausreichende
Verbesserung erzielt werden kann und eine
soziale Desintegration die Folge wäre. Das
gesellschaftliche Modell der Selbstverantwortung und Leistungsorientierung darf institutionalisierte Hilfsbereitschaft nicht auf Kranke
reduzieren. Die Risiken von Fehlmedikation
und Dauergaben von Psychostimulanzien
müssen untersucht und öffentlich diskutiert
werden.
4. Unaufmerksames Verhalten ist ein Symptom, das ähnlich wie Kopfschmerzen viele
Ursachen haben kann. Hinter dieser Symptomatik können Entwicklungsdefizite stecken,
Erziehungs- und schulbedingte Probleme oder
hirnfunktionell (mit)bedingte Störungen. So
unterschiedlich wie die Ursachen sein können,
so unterschiedlich muss auf dieses Verhalten
reagiert werden.
Neben den bisher erwähnten Kritiken an dem
biologischen Erklärungs- und Behandlungsmodell der Aufmerksamkeitsstörung kommt eine
weitere:
Pädagogische Fachkräfte wissen, dass die
Hirnentwicklung durch Umweltreize und Erfah-
rungen beeinflusst wird. In dem in Pädagogik
und Psychologie modernsten Modell, wie die
Welt, wie das Wissen, wie die Erfahrungen in
den Kopf eines Menschen kommen, dem
Modell, dass Kinder sich die Welt in ihrem Kopf
konstruieren und durch den Dialog mit anderen
ko-konstruieren, wird betont, dass die Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen nicht
nur reine Datenerfassung und -speicherung
sind, sondern durch Vorerfahrungen, durch
Interessen und Vorlieben von Beginn an eigenaktiv gestaltet werden. Das Gehirn ist ein sich
selbst regulierendes Organ. Das bedeutet ja
auch, dass Desinteresse möglich ist, dass
ebenso verstärkte Aktivitäten oder besondere
motorische Reaktionen möglich sind. Werden
Kindern diese Möglichkeiten der Lebensäußerungen und des Wissenserwerbs genommen,
rauben wir ihnen auch Entwicklungspotenziale.
Das ungesteuerte, „Unsinn“ produzierende
Kind muss nicht, ja, darf nicht durch Tabletten
„normalisiert“ werden. Bevor ich gesteinigt
werde, weise ich noch einmal darauf hin, dass
Kindern bei nachgewiesener Hirnfunktionsstörung, die Häufigkeit dürfte aber nur im Promillebereich liegen, eine medikamentöse Behandlung ebenso nicht verweigert werden sollte wie
bei anderen Stoffwechselstörungen5.
Präventionsstudien in Hamburg und Frankfurt/
Main legen nahe, dass bei der Entstehung von
ADHS die Toleranz der primären Bezugspersonen für Affektstürme des Babys und die Fähigkeit, diese zu beruhigen, eine große Rolle
5 Da Symptome der Aufmerksamkeits – und Aktivitätsstörung auch durch Magnesiummangel verursacht werden können, geht es nicht nur um Methylphenidat-, sondern auch um Magnesiumgaben.
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spielt. Das entspricht völlig den Erkenntnissen
der Bindungstheorie. Danach ist die Feinfühligkeit der Bezugspersonen die wichtigste Kategorie bei der Entwicklung angemessenen Sozialverhaltens. Diese Feinfühligkeit umfasst
– Wahrnehmung der Verhaltensweisen
des Säuglings,
– zutreffende Interpretation seiner
Äußerung,
– prompte Reaktion darauf,
– Angemessenheit der Reaktion.
Kinder brauchen gerade in den ersten Lebensjahren zuverlässige und kontinuierliche Unterstützung, wobei sowohl Unter- als auch Überstimulationen ungünstige Auswirkungen
haben.
Die Bedeutung der Beziehungen zu den ersten
Bezugspersonen in den Fokus zu rücken heißt
zu verstehen, dass in der Kindertagesstätte
oder Schule das offen sichtbar wird, was als
Entwicklung viel früher begann. Wenn ein Kind
kein sicheres Bindungsverhalten aufgebaut
hat, muss in der Kita zunächst das Vertrauen
des Kindes in seine Selbststeuerung, in seine
Affektkontrolle und seine soziale Beziehungsfähigkeit aufgebaut werden.
Was bedeutet das? – Sozial auffällige Kinder
haben in ihren Familien oft zu wenig emotional
tragfähige Beziehungen erlebt. Sie wirken
misstrauisch, erwarten unberechenbares Verhalten auch bei anderen Erwachsenen. Daher
ist ein warmherziger, für die Kinder absehbarer
Umgang der ErzieherInnen, der dem Kind ein
grundlegendes Gefühl von Sicherheit und
Geborgenheit vermittelt, von kaum zu unter80
ERZIEHUNGSHELFER RITALIN®?
schätzender Bedeutung. Diese Grundhaltung,
sie wird auch Haltefunktion genannt, kann die
Nachentwicklung innerer Regulationssysteme
ermöglichen.
Der zweite Teil pädagogischer Grundhaltung
besteht im schrittweisen Entwickeln sozialer
Regelsysteme. Regeln dürfen nicht autoritär
von den Erwachsenen festgesetzt werden,
sondern sie müssen in einem emotional tragfähigen, sicheren Beziehungsgefüge zusammen
mit dem Kind ausgehandelt und dem Entwicklungsalter entsprechend gelernt und reflektiert
werden. Werden Regeln nicht ausgehandelt,
sondern festgelegt, trainieren Kinder nicht
Autonomie und Selbstbewusstheit, sondern
Unterwerfung und wollen ausbrechen.
Die persönliche Zuwendung zum Kind wird
ergänzt durch eine Reihe pädagogischer Maßnahmen. Dazu zählen
– Rhythmisierung des Tagesablaufs,
– musikalische Früherziehung,
– Förderung der Körperkontrolle durch sportliche Aktivitäten,
– Elternberatung,
– Förderung gewaltfreier Kommunikation
unter Kindern.
An dieser Stelle wird auf das Projekt FAUSTLOS des Heidelberger Präventionszentrums
verwiesen. In drei Einheiten werden Empathie,
Problemlösung und Impulskontrolle sowie der
Umgang mit Ärger und Wut trainiert. Dieses
Programm ist in besonderer Weise als Curriculum für Kinder mit der Diagnose ADHS geeignet. Die Ergebnisse der Präventionsstudien
von Hamburg und Frankfurt und das Heidel-
berger Projekt zeigen, dass mit psychotherapeutischen und pädagogischen Maßnahmen
Ausmaß und Häufigkeit von Aufmerksamkeitsund Aktivitätsbesonderheiten bei Kindern reduziert werden können.
Resümee
Abweichungen vom Durchschnitt sind nicht
unbedingt behandlungsbedürftige Krankheiten.
Kinder haben das Recht auf individuelle Entwicklungen und auf Normabstufungen. Statt
mit Medikamenten gegensteuern zu wollen,
sollten wir versuchen, die Bedingungen für Kinder freundlicher zu gestalten. In einem verlässlichen, klaren und warmherzigen Klima können
Kinder angemessenes Sozialverhalten lernen.
ErzieherInnen haben eine besondere Verantwortung, Eltern nicht nur entsprechendes Wissen zu vermitteln, sondern diese Grundhaltungen vorzuleben.
Literatur:
Ahnert, L. (Hrsg. 2004): Frühe Bindung. Entstehung und Entwicklung. Ernst Reinhardt
München
Cierpka, M. (2002): Kinder mit aggressivem
Verhalten. Ein Praxismanual für Schulen, Kindergärten und Beratungsstellen, Hogrefe 2.
Auflage
BRANDL,Y.; HÜTHER, G. (Hg.) ADHS – Frühprävention statt Medikalisierung, Vandenhoeck
& Ruprecht 2006
HÜTHER, G.: Neues vom Zappelphilipp, Walter Verlag 2002
LEUZINGER – BOHLEBER, M.; BRANDL,Y.;
HAU, S. et al. (2005): Psychische und psychosoziale Integration von verhaltensauffälligen
Kindern (insbesondere ADHS) im Kindergartenalter. Zwei psychoanalytische Studien. Analytische Kinder- und Jugendlichen - Psychotherapie 36, Nr. 125: 91-125
LIEBSCHER, H.-D.; LIEBSCHER, D.-E. (2000)
Magnesiummangel – Tetanie – die übersehene
Krankheit, 20. Arbeitstagung Mengen- und
Spurenelemente, 1.-2. Dezember 2000, Jena
Internet: www.faustlos.de
Kontakt:
Dipl.-Psych. M. Götze-Ohlrich
Regionalbeauftragter im Jugend- und
Sozialwerk gGmbH
Regionalbüro Brandenburg
Mühlenfeld 12, 16515 Oranienburg
Tel.: 03301/ 53 54 40
HENKE, B.: Die Hamburger Frühpräventionsstudie zur psychischen und psychosozialen
Integration von Kindern im Alter von 0 bis 3
Jahren in LEUZINGER – BOHLEBER, M.;
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