Vollständiger Artikel aus der Mai-Ausgabe des Magains als pdf

Werbung
70
Antibiotika:
Die Waffe
wird stumpf
Droht der Mensch
den Kampf gegen die
Bakterie zu verlieren?
VON JUDITH RAUCH
ie ältere dame, die in das
Leipziger Krankenhaus eingeliefert wird, hat hohes Fieber,
einen gefährlich niedrigen
Blutdruck und alle Zeichen
einer Blutvergiftung. Während die Patientin auf der Intensivstation um ihr
Leben kämpft, fahndet das Laborpersonal nach dem Erreger. Und tatsächlich:
Im Blut der Leipzigerin finden sich
D
ILLUSTRIERT VON MIKE LOOS
71
RD
I
MAI 2004
Bakterien. Gewöhnliche Darmbakterien, aber mit einer gefährlichen Eigenschaft: Keines der gängigen Antibiotika kann sie abtöten.
Mit knapper Not wird die Frau gerettet – dank Infusionen mit einem
hoch dosierten Mittel aus einer selten
verwendeten Antibiotika-Gruppe.
Ein Wundermittel
versagt
Antibiotika sind aus der modernen
Medizin nicht wegzudenken. Fast
schon unvorstellbar, dass noch bis ins
20. Jahrhundert von Bakterien ausgelöste Infektionskrankheiten wie Lungenentzündung und Tuberkulose die
häufigste Todesursache waren.
Doch 1928 machte der Mikrobiologe Alexander Fleming in seinem
Londoner Labor eine folgenreiche Entdeckung: Auf einer seiner Bakterienkulturen hatten sich Schimmelpilze
angesiedelt. Und genau an den Stellen, an denen der Schimmel wuchs,
waren die Bakterien eingegangen. Fleming schloss daraus, dass die Pilze
eine antibakterielle Substanz produzierten.
Aus diesem Naturstoff entwickelten zwölf Jahre später die Wissenschaftler Howard W. Florey und Ernst
B. Chain das erste Antibiotikum: Penicillin. Es wurde erfolgreich bei Wundinfektionen eingesetzt und rettete
noch während des Zweiten Weltkriegs
vielen Soldaten das Leben. Chloramphenicol, Tetracycline und weitere
Antibiotika folgten. Infektionskrankheiten verloren ihren Schrecken.
72
Heute sind über 400 Präparate auf
dem Markt; gegen die häufigsten Erreger gibt es gleich mehrere Mittel.
Doch die Wunderwaffe droht stumpf
zu werden. Der Grund: Immer mehr
Bakterien werden gegen immer mehr
Antibiotika resistent.
Wie Resistenzen
entstehen
Bakterien vermehren sich rasch.
Dabei verändert sich ihre Erbsubstanz
nach dem Zufallsprinzip; man spricht
von „spontanen Mutationen“. Unter
Milliarden Bakterien gibt es so immer
einige Mutanten mit neuen Eigenschaften und Schutzmechanismen.
Bakterien, die den Einsatz eines
Antibiotikums einmal überlebt haben,
vermehren sich besonders schnell.
Manche verändern zum Beispiel ihre
Zellwände so, dass das Antibiotikum
nicht mehr eindringen kann. Oder sie
finden einen Weg, es chemisch unwirksam zu machen.
„Bakterien sind lebendige Wesen,
sie wehren sich eben“, sagt Professor
Helga Rübsamen-Waigmann. Die Chemikerin leitet bei der Bayer AG in
Wuppertal die Antiinfektiva-Forschung. „Es kommt zu einem Wettlauf
zwischen Mensch und Mikrobe.“
Hat der mit krankheitserregenden
Bakterien infizierte Mensch Glück,
tötet sein Immunsystem die wenigen
resistenten Mutanten auch ohne die
Hilfe von Antibiotika ab. Hat er Pech,
vermehren sie sich. Folge: Die Infektion wird schlimmer oder kehrt nach
vorübergehender Besserung wieder.
A N T I B I O T I K A : D I E WA F F E W I R D S T U M P F
Besonders gute Wachstumsbedingungen haben resistente Bakterien,
wenn bei ständig wiederkehrenden
Infektionen immer wieder dasselbe
Antibiotikum verabreicht wird.
Dies zeigt ein Fall aus der Praxis
des Frankfurter Lungenspezialisten
Dr. Peter Kardos: Bei einem seiner Patienten hatte sich eine chronische
Bronchitis unter einem TetracyclinPräparat stets gut gebessert. Beim
vierten Ausbruch aber versagte das
Mittel, der Infekt breitete sich aus. Der
Erkrankte bekam hohes Fieber und
musste im Krankenhaus künstlich beatmet werden.
„Bakterien haben heute eine größere Chance denn je, resistent zu werden“, sagt Helga Rübsamen-Waigmann. Auch Professor Wolfgang Witte,
Mikrobiologe am Robert-Koch-Institut
in Wernigerode, warnt: „Wir stehen
am Anfang einer gefährlichen Entwicklung.“
Antibiotika werden
zu häufig verordnet
In Deutschland wurden im Jahr
2001 Antibiotika im Gesamtwert von
756 Millionen Euro verordnet. Im
Schnitt entfielen auf jeden Bundesbürger zwischen 20 und 40 Jahren fünf
Tagesdosen. Kinder unter zehn Jahren und alte Menschen über 90 Jahre
waren mit 6,6 beziehungsweise 6,1 Tagesdosen die Spitzenverbraucher.
„Die Ärzte verschreiben zu viele
Antibiotika“, kritisiert Professor Franz
Daschner, Hygienespezialist und
Umweltmediziner an der Universität
Freiburg. „Rund 30 bis 50 Prozent aller
Verordnungen in Klinik und Praxis sind
überflüssig.“ Aber auch die Patienten
macht er verantwortlich: „Sie haben
eine zu hohe Erwartungshaltung gegenüber ihren Ärzten und möchten, dass
der Doktor sofort etwas verschreibt.“
Tatsächlich haben Studien gezeigt,
dass Ärzte bei 80 Prozent der Erkältungen Antibiotika verordnen. Dabei
wissen die Mediziner, dass solche Infekte in vier von fünf Fällen durch
Viren verursacht sind, gegen die die
Bakterienkiller nichts ausrichten.
Zudem werden zu oft so genannte
Breitspektrum-Antibiotika genutzt, die
gegen verschiedene Bakterien wirken,
anstatt dass gezielt der tatsächliche
Erreger ermittelt und bekämpft wird.
Antibiotika werden
falsch eingenommen
Antibiotika-Therapie ist nichts für
medizinische Laien. Um Resistenzen
zu vermeiden, muss nicht nur das
Mittel stimmen; auch Dosis und Behandlungsdauer müssen genau abgestimmt sein und eingehalten werden.
Eine zu lange Einnahme kann genauso
problematisch sein wie eine zu kurze.
Einer der häufigsten Fehler, den Patienten machen: Sie hören mit der Einnahme zu früh auf, weil es ihnen schon
wieder besser geht. Als Folge davon
können sich die robusteren unter den
Erregern, die zwar angeschlagen, aber
noch nicht tot sind, wieder erholen
und vermehren – der Rückfall ist programmiert, die Resistenzentwicklung
wird begünstigt.
73
RD
I
MAI 2004
Mangelnde Hygiene
in Krankenhäusern
Im Sommer 1991 wurde ein verletzter Soldat aus dem ersten GolfKrieg ins Städtische Klinikum Wiesbaden eingeliefert. Er war mit schwerem Wundbrand infiziert. Schlimmer
noch: Sein Erreger, ein so genannter
Staphylococcus aureus, erwies sich als
resistent gegen die gängigen Antibiotika. Die Ärzte mussten daher auf Alternativpräparate ausweichen. Der
Soldat starb an der Infektion. Nicht
aber die Bakterien, die sie ausgelöst
hatten.
Der multi- oder Methicillin-resistente Staphylococcus aureus – oder
MRSA, so die Abkürzung für den
Superkeim, der den Soldaten befallen
hatte – ist der Schrecken aller Krankenhaushygieniker. Denn wenn Ärzte
und Pflegepersonal nicht höchste
Sorgfalt bei der Desinfektion medizinischer Geräte, aber auch ihrer Hände
walten lassen, verbreitet er sich von
Patient zu Patient – und lässt sich nur
schwer mit Antibiotika bekämpfen.
So kam es auch in Wiesbaden. Ein
Jahr nach Aufnahme des GolfkriegsSoldaten fand sich der Superkeim auf
fünf Stationen des Wiesbadener Klinikums und in der Rheumaklinik.
Und Wiesbaden ist beileibe nicht
der einzige Fall: Professor Wolfgang
Witte, der im Auftrag des RobertKoch-Instituts die StaphylokokkenInfektionen systematisch überwacht,
zählte im Jahr 2002 allein in Deutschland 333 Krankenhäuser, in denen
MRSA grassierten.
74
Schon der gewöhnliche Staphylococcus aureus ist gefährlich. Besonders
für immungeschwächte Patienten. Bei
ihnen kann er eine lebensbedrohende
Blutvergiftung auslösen, bei künstlich
beatmeten Kranken kann er zu Lungenentzündungen führen. Ziehen sich
solche Patienten gar die resistente
Form zu, sind sie in höchster Gefahr.
Staphylokokken sind für einen großen Teil der schätzungsweise 800 000
Krankenhausinfektionen verantwortlich, die in Deutschland jährlich auftreten. Wie viele davon tödlich enden,
ist ungewiss. „Oft ist nicht unterscheidbar, ob der Patient an der Krankenhausinfektion oder an seiner
Grunderkrankung gestorben ist“, erklärt Witte.
Wir werden
immer älter
Der medizinische Fortschritt begünstigt noch auf andere Art die Verbreitung von Resistenzen. Er sorgt
dafür, dass wir immer älter werden.
Schwerkranke, die früher gestorben
wären, werden heute durch Organtransplantationen gerettet.
Der Preis: Es gibt immer mehr infektionsanfällige Personen. Bei Greisen ist das Immunsystem geschwächt,
bei Transplantierten wird es künstlich
unterdrückt, um eine Organabstoßung
zu vermeiden. Solche Patienten brauchen Unmengen Antibiotika.
„Besonders beunruhigend ist das
Auftreten von MRSA in Alten- und
Pflegeheimen“, sagt Dr. Michael Kresken, Mikrobiologe und Sprecher der
A N T I B I O T I K A : D I E WA F F E W I R D S T U M P F
Initiative „Zündstoff Antibiotika-Resistenz“ in Bonn, in der sich mehrere
medizinische Fachgesellschaften zusammengeschlossen haben. Eine überregionale Studie in 31 deutschen Heimen ergab, dass bereits 2,4 Prozent
der Bewohner den resistenten Superkeim in ihrer Nasen- oder Rachenschleimhaut tragen, ohne Anzeichen
einer Infektion.
Harmlos? Nicht, wenn man bedenkt,
zu welcher Gefahr der Erreger für den
Träger selbst oder seine Mitbewohner werden kann. Falls diese an offenen Wunden, beispielsweise einem
Dekubitus, leiden, durch eine Krankheit geschwächt sind oder künstlich
ernährt werden, kann eine MRSA-Infektion schnell den Tod bedeuten.
Wir reisen mehr
denn je
Doch nicht nur Alte und Schwache
sind bedroht. Auch wer jung ist, kann
sich mit resistenten Keimen infizieren, etwa auf Reisen.
„Resistente Bakterien, zum Beispiel
resistente Pneumokokken, sind in einigen beliebten Reisezielen wie Spanien, Italien oder Frankreich viel weiter verbreitet als in Deutschland“,
warnt die Initiative „Zündstoff Anti-
biotika-Resistenz“. Gerade die Franzosen prassen mit Antibiotika: Sie
nehmen dreimal so viele ein wie die
Deutschen. In Spanien sind Antibiotika sogar rezeptfrei in der Apotheke
erhältlich, entsprechend unbesonnen
ist der Umgang damit.
Professor Witte vom Robert-KochInstitut blickt zudem besorgt Richtung Osten, nach Russland und in die
anderen GUS-Staaten: „In diesen Ländern wurde mit billigen Antibiotika
besonders leichtfertig umgegangen“,
klagt er. „Wir müssen aufpassen, dass
von dort nicht resistente TuberkuloseErreger eingeschleppt werden.“
Nicht umsonst warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auch
in den Industrieländern vor einem
Wiedererstarken klassischer Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und
Lungenentzündung – denn in beiden
Fällen spielen Antibiotika-Resistenzen eine Rolle.
Auch Tiere erhalten
Antibiotika
Zwar sind Antibiotika für die Tiermast inzwischen weitgehend verboten (siehe „Guten Appetit!“, RD Januar 2004). Ein Problem bleiben aber
die Medikamente, die Kalb, Schwein,
RD
I
MAI 2004
Drei goldene Regeln
für Patienten
Wege aus dem
Dilemma
Auch als Patient können Sie zur
Eindämmung von Resistenzen
beitragen:
Kein Wunder, dass Experten Alarm
schlagen. „Seit Mitte der 80er-Jahre
beobachten wir eine Zunahme der Resistenzen bei zahlreichen Keimen“, erklärt Michael Kresken von der Initiative „Zündstoff Antibiotika-Resistenz“.
Und Professor Daschner berichtet: „In
den letzten Jahren stand ich mehrmals
vor Patienten, bei denen kein einziges
Antibiotikum mehr wirkte. Das ist ein
Zeichen für höchste Gefahr!“ Für etwa
die Hälfte dieser Patienten gab es
keine Rettung mehr.
Aber es gibt Mittel, um die Resistenzbildung einzudämmen. Einige dieser Wege werden schon beschritten:
Überwachung: Neben der WHO hat
auch die Europäische Union ein Programm gestartet, um die Ausbreitung
resistenter Bakterienstämme zu beobachten und einzudämmen. Diese
Programme helfen zum Beispiel Ärzten, bei ihren Antibiotika-Verordnungen bestehende Resistenzen zu berücksichtigen.
Aufklärung: Ärzte in Kliniken und
Praxen, aber auch Patienten sollten
umfassender über den richtigen Antibiotika-Einsatz aufgeklärt werden. „In
der ärztlichen Aus- und Weiterbildung
wird nicht genug Wissen über Infektionskrankheiten und deren Behandlung und Vorbeugung vermittelt“, kritisiert Professor Bernhard Ruf vom
Klinikum St. Georg in Leipzig.
Klinikhygiene: „Hygiene ist ein
häufig unterschätzter Faktor bei
der Zunahme resistenter Bakterien
1. Bestehen Sie nicht auf einer
Verschreibung. Fragen Sie
lieber Ihren Arzt, ob es auch
ohne Antibiotika geht.
2. Nehmen Sie Antibiotika
genau in der Menge und genauso lange ein, wie es Ihnen
Ihr Arzt empfohlen hat.
3. Greifen Sie nicht ohne Verschreibung zu den Mitteln,
auch wenn Sie sie in manchen Urlaubsländern rezeptRD
frei erwerben können.
Huhn und Pute bekommen, wenn sie
krank sind. Oft wird dabei der ganze
Stall oder Hühnerhof behandelt, weil
die individuelle Gabe allein an das erkrankte Tier zu aufwändig wäre. Auch
dadurch entstehen Resistenzen.
Zurzeit wird die Hälfte aller in
Nordamerika und Europa hergestellten Antibiotika in der Tiermedizin eingesetzt, nach Ansicht von Experten
viel zu viele. Besonders problematisch:
Darunter sind auch Fluorchinolone,
moderne Antibiotika, die in der Intensivmedizin gegen multiresistente
Erreger verabreicht werden.
Damit wächst die Gefahr, dass diese
Gruppe für den Menschen zunehmend
untauglich wird.
76
A N T I B I O T I K A : D I E WA F F E W I R D S T U M P F
in Deutschland“, so Professor Georg
Peters vom Institut für Medizinische
Mikrobiologie der Universität Münster.
Dabei könnten durch Maßnahmen
wie Desinfektion und Sterilisation von
Geräten und durch gründliches Waschen und Desinfizieren der Hände
viele Krankenhausinfektionen vermieden werden. Selbst die Verbreitung schon vorhandener resistenter
Keime lässt sich durch perfekte Hygiene stoppen.
Impfungen: Zu Antibiotika gibt es
wenig Alternativen. Eine davon ist die
Schutzimpfung. Zu den durch Bakterien verursachten Infektionen, vor
denen man sich durch Impfung schützen kann, gehören Tetanus, Diphtherie und Lungenentzündung. Erwachsene aller Altersgruppen sollten daran
denken, die Tetanus- und Diphtherie-
Impfungen alle zehn Jahre auffrischen
zu lassen. Die Immunisierung gegen
Lungenentzündung empfiehlt die
„Ständige Impfkommission“ der
Bundesregierung allen Personen über
60 Jahre. Diese Impfung sollte alle
sechs Jahre aufgefrischt werden.
Neue Medikamente: „Die Welt
braucht neue Antibiotika“, sagt Helga
Rübsamen-Waigmann. Sie ist überzeugt, dass die Pharma-Industrie ihr
Pulver noch nicht verschossen hat.
„Bakterien haben viele Gene, an denen
wir angreifen können, und die neuen
gentechnischen Methoden helfen
uns dabei.“
Der Wettlauf zwischen Mensch und
Bakterie wird also weitergehen. Allerdings wird sich der Mensch beeilen
müssen, damit die resistente Mikrobe
ihn nicht überholt.
ERDKUNDE: MANGELHAFT
Mein Sohn John wusste eigentlich, dass man sich als Anhalter in
Deutschland nicht auf den Standstreifen der Autobahn stellen darf.
Trotzdem tat er genau das, nachdem er einige Stunden lang vergeblich an einer wenig frequentierten Straße gewartet hatte.
Als er aber mit einem Schild mit der Aufschrift „Dänemark“ an der
Autobahn stand, hielt eine Polizeistreife. Einer der beiden Beamten
darin stieg aus, grinste breit und sagte: „Zwei Dinge: Erstens ist es
verboten, an der Autobahn zu trampen. Und zweitens liegt Dänemark
in der anderen Richtung.“
FRANCIS X. EDWARDS, Kanada
R E C H N E N : S C H WA C H A U S R E I C H E N D
Zu einem meiner Geburtstage bekam ich das schönste Geschenk
überhaupt: ein Enkelchen. Seitdem feiern wir unseren Ehrentag
immer zusammen. Als Drake sieben Jahre alt wurde, beging ich meinen Siebzigsten. Ich wies ihn darauf hin – und er entgegnete: „Ist ja
prima, Oma. Wenn ich acht werde, wirst du dann auch achtzig?“ V. C.
77
Herunterladen