Netzwerke brauchen Vertrauen stiftende Verständigungen

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IFF Wien | Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbilung | Abteilung Palliative Care und OrganisationsEthik
Andreas Heller
Netzwerke brauchen Vertrauen stiftende Verständigungen
Organisationsethische Perspektiven
S. Sebastiano (B. Gozzoli – 1464) SAN GIMIGNANO – Chiesa di S. Agostino
Diskussionspapier zum hospizlich-palliativen Netzwerktag
in Stuttgart, Breuninger-Stiftung am Montag, den 18. Oktober 2010
A. Hospizarbeit und Palliative Care - worum geht es?
Palliative Care ist eine Praxis und Theorie, die aus der Hospizarbeit und Hospizbewegung kommt.
Sie muss heute mehr sein als ein „Versorgungskonzept“. In Hospizarbeit und Palliative Care geht
es um eine neue zivil-gesellschaftliche Sorgekultur mit und für Menschen und ihre
Bezugspersonen am Lebensende und darüber hinaus.
Es geht darum, mit Menschen am Lebensende sozial und fachlich kompetent umzugehen, so dass
ihr Sterben weder beschleunigt noch verzögert wird (WHO-Definition). Interventionen in die
Lebensprozesse bis zuletzt, haben sich ethisch in dieser anspruchsvollen zweiwertigen
Balancierungsarbeit zu orientieren.
Die Etymologie von „palliativ“ wird in der Regel vom Lateinischen pallium = Mantel, dem „Mantel
der Umsorge “, um das Wort Fürsorge zu vermeiden, das in unsere deutsche Gesichte eine
deutlich maternalistisch-paternalistisch, staatliche Übergriffskultur signalisiert, abgeleitet.
Die angelsächsische Tradition verbindet den Begriff „palliativ“ mit dem keltischen Terminus „pelte“
= Schutz und Schild in der kriegerischen Auseinandersetzung. Dann geht es in einer hospizlichpalliativen Sorgekultur auch um die Abwehr von etwas, also um die „Balance von Zuviel und zu
Wenig“, Intervention und Begleitung und Behandlung haben sich auch in dieser Balancierung zu
orientieren (vgl. A. Heller, S. Pleschberger, Hospizkultur und Palliative Care im Alter, 2010 b).
Aber: Es scheint so zu sein, dass durch bestimmte Praxen (palliative terminale Sedierung) in der
deutschen Palliativmedizin und durch entsprechende Veröffentlichungen der letzten Monate dieser
zweipolige Boden aufgeweicht wird. Deutsche Palliativmediziner überschreiten derzeit bewusst
den Pol Beschleunigung des Sterbens durch die Forderung nach Straffreiheit des ärztlich
assistierten Suizids.
Palliative Care ist in den letzten Jahren zu einem differenziert gewordenen Markt geworden auf
dem „perimortale Dienstleistungsangebote“ gemacht werden. Die Verbetriebswirtschaftlichung des
Sterbens ist im vollen Gang. Kennzeichnend dafür ist, dass Sterbende zum Mittel der
Ertragsteigerung gemacht werden, was die PatientInnen im Kontext DRG-orientierter
Krankenhäuser schon länger sind. Die SAPV-Diskussionen haben diese Dimension schmerzhaft
sichtbar gemacht. Es gibt beispielsweise einen Wettbewerb um die Sterbenden, es gibt
Konkurrenz zwischen Einrichtungen und Berufsgruppen, es gibt eine schleichende Demotivation
der
Ehrenamtlichen,
vielleicht
auch
durch
eine
Professionalisierungsund
Medikalisierungsdynamik.
Und: Der „Sterbemarkt“ hat europäische Dimensionen. Deshalb wird im Zeichen der Autonomie
und des neuen moralischen Imperativs: „Du musst dein Leben und Sterben planen und darüber
verfügen!“ das Ende des Lebens zum individuellen Projekt (Reimer Gronemeyer). Die Zumutung
an die Bürgerinnen: Man muss es planen und man muss sich auf dem Markt der SterbeMöglichkeiten orientieren. Diese Autonomiezuschreibung ist eine Autonomiezumutung, weil sie
den sozialen Charakter, der u.a. darin besteht, dass wir als Menschen radikal angewiesen und
verwiesen sind auf andere; die Fragmentierung menschlichen Lebens und seine Nicht-Planbarkeit
verleugnet.
Wenn erst einmal der europäische „Sterbemarkt“ etabliert ist, dann müssen die Einrichtungen
(wahrscheinlich auch) alle „perimortale Dienstleitungen“ zur Verfügung stellen. Kaum eine Hospizund Palliativeinheit wird allein aus ökonomischen und aus fachlichen Gründen der Zugehörigkeit
zur community, zur state-of-the-art-Kultur dann „aus der Reihe tanzen“ (zu diesem Muster
menschlichen Verhaltens: Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen: die Intelligenz des
Unbewussten und die Macht der Intuition, München 2008).
B. Ein Netzwerk zur Hospizarbeit und Palliative Care braucht qualitative Verständigungen
über seine hospizlich-palliative Philosophie, seine Ziele und sein Leitbild.
Es ist eben nicht mehr ausreichend zu behaupten: wir sind eine Hospiz- oder Palliativeinrichtung.
Die „hospizlich-palliative Gretchenfrage“ des 3. Jahrtausends lautet: Wie hältst du es mit dem
Sterben und den Sterbenden ganz konkret?
Ohne einen Prozess der vergewissernden Verständigung über diese grundlegenden Fragen der
Umsorge, lässt sich kein kooperationsfähiges Netzwerk in diesem Feld knüpfen. Ein Netzwerk wird
bekanntlich deshalb etabliert, um etwas zu erreichen, das man aus eigener Kraft nicht schaffen
würde. Deshalb gibt es ein Interesse, bestehende Ressourcen in unterschiedlichen Organisationen
zu verbinden.
Deshalb sind Ziele und Strategien von Netzwerkpartnern immer zweiwertig und an einem
doppelten Nutzen orientiert: sie sollen einen Nutzen für die eigene Herkunftsorganisation und
einen für die Netzwerkorganisation stiften. In dieser Spannung liegt die große Herausforderung,
die Unberechenbarkeit, aber auch der Erfolg jedes Netzwerkes.
Ohne Vertrauen kann kein Netzwerk auf Dauer sinnvoll kooperieren. Vertrauen entsteht nicht
durch predigerhafte Appelle. „Vertrauen ist das Ergebnis von Handlungen, die Vertrauen stiften.
Für Kooperationen und Netzwerke stellt Vertrauen die Grundlage einer wirksamen Arbeitsbasis
dar. Dies aufzubauen ist ein Prozess, der eine Reihe von Besonderheiten zu berücksichtigen hat.
Beispielsweise ist die Verlässlichkeit der Vertrauensbasis davon abhängig, auf welche Weise es
gelingt, eine vertrauensstiftende Kommunikation zu einem Kulturmerkmal der Arbeitsorganisation
des Netzwerks zu machen. Also nicht, wie häufig praktiziert, „zwischen persönlich vertrauensvollen
Gesprächen im informellen Bereich und einer eher formalen wenig durchlässigen Kommunikation
in den größeren Gruppen und Meetings zu trennen.“ (Ralph Grossmann, Kooperation macht nur
Sinn, wenn man einander wirklich braucht, in: Praxis Palliative Care 4/2009, 18.).
Ein Netzwerk ist die komplexeste Organisationsform in modernen Gesellschaften. In ihm muss
Vertrauen zwischen Personen und Organisationen im Prozess organisiert werden. Mit solchen
Fragen befassen sich Prozess- und Organisationsethik.
C. Organisationsethische Verständigungen oder vom Was zum Wie?
1. Moderation und Prozess
Solche Prozesse brauchen eine allparteiliche Moderation, die den Prozess mit den Akteuren und
gesellschaftlichen Partnern moderiert und für den Prozesscharakter der Verständigung
entsprechende
„kommunikative
Arrangements“,
oder
„Reflexionsarenen“
oder
„Verständigungssysteme“ oder „Aufwachorte“ (Otto F. Scharmer) und die Spielregeln dafür
aushandelt und etabliert. Es muss anerkannt und ausgehandelt sein und werden, dass es im
Prozess, in der Prozeduralisierung zur Antwort auf die Fragen kommt, die in und zwischen den
Organisationen des Netzwerks aufgeworfen werden. Ganz allgemein ist etwa die Frage: „Wollen
wir all das so, wie wir es uns eingerichtet haben?“ (L. Krainer, P. Heintel, Prozessethik, Zur
Organisation ethischer Entscheidungsprozesse, Wiesbaden 2010, 63), zu Beginn einer ethischvertrauensstiftenden
organisationalen
Netzwerkkultur.
Folgende
organisationsethische
Beobachtungen, „Spielregeln “ können Orientierung stiften und Vertrauen ermöglichen.
2. Unsicher sein dürfen
Der Philosoph Hans Jonas, hat einmal gemeint, die einzige Hoffnung für eine menschlichere
Zukunft besteh darin. neue „Verständigungssysteme“ zu entwickeln, die sich dadurch auszeichnen,
nicht allein am eigenen Nutzen interessiert zu sein.
Darin steckt die Zuversicht, dass sich Betroffene in den nicht einfachen und leicht entscheidbaren
Fragen und Irritationen zusammensetzen, um sich auseinanderzusetzen, eben sich zu
verständigen. Und dass sie dies nicht zufällig tun, sondern systematisch und systemisch, also im
Bewusstsein und mit dem Auftrag, hier Zeit, Raum und Ressourcen des gesamten Systems
beanspruchen zu dürfen und zu müssen, um zu besseren, weniger schlechten Entscheidungen zu
kommen.
3. Kompetenz geteilter Inkompetenz
Vertrauen und ethische Kommunikation entstehen aus der „Sicherheit geteilter Unsicherheit“.
Wenn klar und eindeutig ist, worum es geht, braucht man sich nicht zusammenzusetzen. Wenn
niemand den Anderen braucht, warum Zeit verschwenden? Das Wissen um eine „strukturelle
Komplementarität“, eine gemeinsame geteilte Unsicherheit (wie soll es weitergehen), Vertrauen in
solchen immer auch ethischen Kommunikationen braucht die „Kompetenz geteilter
Inkompetenz“. Niemand hat alleine den Blick auf das Gesamte. Jede Perspektive hat eigene
Interessen und möglicherweise auch altruistische, bedarf aber der Ergänzung, weil wir die Augen
und die Einsichten anderer brauchen, um selber mehr zu hören und zu sehen, um uns selbst und
unsere Organisationen zu entwickeln.
4. Mehrsprachig erzählen
Verständigungen beginnen immer erzählend. Im Erzählen werden Menschen, Probleme, Aufgaben
wieder anschaulich, werden Erfahrungen begreifbarer. Die Vielschichtigkeit einer Sorgesituation
etwa kommt nicht nur in den Informationen der Labordaten, Diagnosekriterien und Messwerten
allein zum Ausdruck. Also: Es braucht eine Aufmerksamkeit für die Befunde und das Befinden.
Realität ist eben nicht allein in Daten, Zahlen und Gesetzen fassbar. Es braucht neben der
Sprache der Medizin und Pflege, der Ökonomie und des Rechts etc. auch die Sprache der
Geschichten, die Fähigkeit, die betroffenen Menschen zu Wort kommen zu lassen. Falls diese
selbst dazu nicht in der Lage sind, müssen andere stellvertretend versuchen, in Geschichten und
Anekdoten (Was ist ihr wichtig? Was ist ihre Geschichte? Woran hängt sie? Was, welche Werte
bedeuten ihr was?) ein Bild zu vermitteln. Erzählt werden Situationen, Begebenheiten, Irritationen,
die Fragen aufwerfen: Was sollen wir tun oder lassen? Wie geht es weiter? Was ist das Gute für
wen?
5. Betroffene beteiligen
Vertrauensstiftende Kommunikation gestaltet sich in Beziehungen, im Bewusstsein,
ergänzungsbedürftig zu sein und ist grundsätzlich partizipativ. Die Betroffenen sollten beteiligt
werden. Das ist alles andere als leicht und manchmal auch nicht möglich. Es braucht einfache und
zugleich empathisch-intelligente Formen, dies zu ermöglichen und es braucht Partizipation auf den
Ebenen, die für die Bearbeitung der Fragen notwendig sind. Das sind eben nicht immer die
PatientInnen, BewohnerInnen, Gäste …
6. Gefühle denken und Gedanken fühlen
Vertrauensstiftende organisationsethische Kommunikation berücksichtigt die Einsicht, dass
Gefühle eine Quelle der Erkenntnis sind (Bauchentscheidungen). Betroffensein und Betroffenheit
auszudrücken, ist keine Schwäche, sondern bildet eine zu reflektierende Basis für gute
Entscheidungen.
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Neuere Publikationen:
T. Krobath., A. Heller, Ethik organisieren, Handbuch der Organisationsethik, Freiburg 2010a. A. Heller, F.
Kittelberger, Hospizkompetenz und Palliative Care im Alter. Eine Einführung, Freiburg 2010 b,
Fortlaufend werden mit der Zeitschrift Praxis Palliative Care Themen einer hospizlich palliativen Sorgekultur
aufgegriffen und gesetzt..
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