Prof. Dr. Richard Huisinga Modul 1 Studientext Institutionenanalyse

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Prof. Dr. Richard Huisinga
Modul 1
Studientext Institutionenanalyse
Bevor ausgeführt werden kann, was eine Institutionenanalyse ist und wie diese methodisch
anzufertigen ist, muß das mit Institution gemeinte geklärt sein.
A. Institutionsbegriff
Institutionen umschreiben Formen, die den Zusammenhalt von Menschen, Gesellschaft und
Kultur ermöglichen; sie geben an, wie soziales Dasein insgesamt besteht, Gebildecharakter
gewinnt und sich entfaltet.
1. Institution und Gesellschaft
Gesellschaft ist nicht lediglich als Anhäufung homogener, nebenher gereihter Handlungselemente verstanden werden; sondern sie gliedert sich in verschiedene, gegeneinander abgesetzte Komplexe, die das Verhalten bündeln, ausrichten und besonderen Aufgaben zuordnen.
Diese Komplexe - Institutionen oder Untereinheiten einer Sozietät - regeln Vollzüge von
offensichtlich strategischer sozialer Relevanz:
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die generative Reproduktion (Familie, Verwandtschaftsverband),
die Vermittlung spezifischer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse (Einrichtungen
der Erziehung),
die Nahrungsvorsorge und Versorgung mit Gütern (Wirtschaft),
die Behauptung gemeinsamer Ziele (Herrschaft, Politik),
die Wechselverpflichtung des Handelns im Rahmen von Wertbeziehungen (Kultur).
Zu den genannten, i. e. S. sozialen Institutionen treten Artefakte: Werkzeuge und überhaupt
gegenständliche, technisch hergestellte Objekte, die soziales Verhalten, das an sie anknüpft,
typisch mitstrukturieren.
Institutionen dieser Art sind in Gesellschaft allgemein gegeben. Da sie das Dasein, bezogen
auf das je erreichte kulturelle Niveau, im Kern gewährleisten, ziehen institutionelle Unzulänglichkeiten, etwa des Verwaltungswesens in Metropolen, schwerwiegende Ablaufstörungen nach sich. Institutionen, halten zuweilen an ihren Einrichtungen, dem Ensemble tradierter Verhaltensformen, rigide fest, bestätigen diesen Umstand mit Nachdruck.
Institutionen üben normative Wirkung aus. Indem sie gegebenem, von sich aus ablaufendem
Verhalten imperativisch gegenüberstehen, heben sie sich von Sozialgebilden wie Gruppen,
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Verbänden, kurz: Assoziationen deutlich ab, die auf Bedürfnissen, Gewohnheit oder Nutzenerwägung, Interessen und Kompromissen beruhen. Institutionen können weder kausal als
durch Antrieb (Vergemeinschaftung [Max Weber]) noch final als durch Zweck (Vergesellschaftung [Max Weber]) bedingt, begriffen werden. Es wäre auch falsch, sie bloß von Umweltgrößen, klimatischer, geo- oder demographischer Art bestimmt zu sehen. [Max Weber]liegen den Verhältnissen, die sie normieren, vielmehr voraus. Ihre Ableitung aus Motiven, Zwecken und insgesamt Faktoren, die in ihrem Wirkfeld liegen, ist erst a posteriori
plausibel.
2. Institution als Rechtsfigur
Von hier aus wird es verständlich, Institutionen zunächst auf Rechtssysteme zu beziehen,
deren Grundfiguren sie darstellen. Sie bezeichnen Regulative, die die Elemente eines
Rechtsgebiets einheitlich gliedern, sie als Einheit axiomatisch aber auch begründen. Nicht
nur für Soziologen, sondern auch für Rechtswissenschaftler hat sich freilich die Frage gestellt, inwiefern Institutionen, begriffen als Rechtsfiguren, empirisch gelten. Namentlich angesichts individualistisch konzipierten, „positiven“ Rechts wurde deutlich, daß gesatztes
Recht in übergreifende, das Handeln erst freigebende, normative Wirklichkeit immer schon
eingebettet ist. Gelangten Rechtswissenschaftler von da aus zu einer Institutionentheorie,
nach der es „Leitideen“ waren, die diese Wirklichkeit konstituierten, setzte die Soziologie
auf der Ebene der Wirklichkeit selbst an und versuchte, Institutionen erfahrungswissenschaftlich nachzuzeichnen.
Nicht mehr Gebilde, deren logisch-axiomatische Implikate, sondern Zusammenhänge, deren
empirische Grundlagen zu erheben waren, standen damit im Betrachtungsmittelpunkt. An die
Stelle von Sätzen des Rechts, die normativ gerichtet waren, rückten konkrete kulturelle Werte, Herrschaftsformen (Herrschaft) und Kontrollen (soziale Kontrolle).
3. Funktionen der Institution Schule
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Integrations- / Inklusionsfunktion
Sozialisationsfunktion
Allokationsfunktion
Qualifikationsfunktion
Selektionsfunktion
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B. Institutionenanalyse Schule (Berufskolleg)
Das Ziel der bildungswissenschaftlich ausgerichteten Analyse der Institution Schule / Berufskolleg besteht darin zu erhellen, auf welche Weise sich möglichst freiheits- und ressourcenschonend bildungspolitische und verfassungsrechtlich gesetzte Steuerungsziele (Siehe
Funktionen) erreichen lassen. Sie betrachtet deshalb Strukturen und Prozesse im institutionalisierten Bildungswesen, in diesem Fall insbesondere an Berufskollegs als Teil des pädagogischen Handlungsfeldes. Der Aufbau oder Aufrechterhaltung ist durch spezifische institutionelle Regeln bestimmt; teils sind diese formalisiert (z.B. in rechtlichen Rahmenbedingungen,
Arbeitsanweisungen, Zuständigkeits- und Kompetenzregeln); zu einem erheblichen Teil sind
die Regeln aber auch informeller Natur und reichen bis in gesellschaftliche Rollenerwartungen hinein. Die Funktionsfähigkeit von Institutionen ist abhängig von der Interessenlage der
Beteiligten. Eine interdisziplinär angelegte Institutionenanalyse ermöglicht somit ein besseres Verständnis des Zusammenspiels der Akteure.
Arbeitsauftrag für den Praktikumsbericht Teil I:
Erstellen Sie eine Analyse der Institution ‚Berufskolleg‘, an der Sie ihr Praktikum absolvieren, anhand des folgenden Mehrebenenschemas:
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Ebene A (Makroebene der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung)
Auf dieser Ebene beschreibt man den gesellschaftlich zugewiesenen Aufgabencharakter
der Einrichtung und die Spezifik, in der sie zur gesellschaftlichen Reproduktion beiträgt.
Dazu gehören möglicherweise auch geschichtliche Aspekte der Institution.
Im einzelnen sind von Bedeutung:
1
Gesellschaftliche Aufgabenfunktion, Beitrag zur Reproduktion der Gesellschaft
2
Gibt es öffentliche Diskurse über die Institution, die ihre Funktion in Frage stellen
(Legitimität - Habermas). Wenn ja, was genau wird kritisiert?
3
Welche gesellschaftlichen Widersprüche sind bestimmend? (Sozialer Wandel)
4
Spielen demographische Entwicklungen eine Rolle? (Sozialer Wandel)
5
Welche Rechtssystematik gilt für die Institution (SGB, Schulgesetze etc.)
6
Gibt es typische Träger- und Verbandsstrukturen? (Organisation)
7
Wie sind die Finanzzuflüsse organisiert? (Finanzierung)
8
Welches sind die Akteure im Feld und welchen Einfluß üben sie aus? (Interessen)
9
Gibt es Konflikte, welche das Institutionenfeld durchzieht? (Macht)
10
Strebt die Institution neuen Organisationsformen zu? (Flexibilität)
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Wie groß ist die Institution? (soziale Mächtigkeit)
Mit diesen Fragen, die sicherlich nicht erschöpfend sind, wird deutlich, daß Institutionen
nicht für sich existieren, sondern in einen gesellschaftlichen Kontext eingebunden sind, mit
dem sie kommunizieren und interagieren müssen, wollen sie langfristig Bestand haben. Die
folgende Abbildung zeigt in Form eines Überblicks, mit welchen neuen Rahmenbedingungen
sich die Institution Schule z.B. auseinandersetzen muß.
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Die Beschreibung der Rahmenbedingungen der Institution führt so zu einer Umfeldanalyse.
Sie enthält schließlich die deutlichen Problemlagen ihrer Entwicklung (Schwächen, Stärken),
der Herausbildung neuer Lösungsmuster bzw. die gesellschaftlichen Ansprüche an die Institution. Wenn möglich, ist auch der Inklusionsbeitrag dieser Institution zu skizzieren. Sodann
kann mit dem zweiten Schritt der Institutionenanalyse begonnen werden.
Ebene B (Mesoebene der organisationalen Formgebung von Arbeit)
Die Mesoebene vermittelt zwischen den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (gesellschaftlichen Ansprüchen) und einzelnen typischen Arbeitsvollzügen. Auf dieser Ebene beschreibt man deshalb den organisationalen Rahmen, der die Institution sichern soll.
Im einzelnen sind von Bedeutung:
1
Welcher Philosophie und welchem Leitbild folgt die Institution? Gibt es diesbezügliche Programme?
2
Wie ist die Binnenstruktur (Hierarchie) verfaßt? Gibt es eine Satzung, ein Organigramm? Welche Rechtsform hat die Institution?
3
Welche Systeme und Verfahren der Qualitätssicherung und Evaluation gibt es?
4
Welche Formen der Personalentwicklung bevorzugt die Institution? Aus welchen
Berufen und Professionen bezieht sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Wie
gewinnt sie diese?
5
Welche Klientele und Problemlagen will die Institution besonders ansprechen?
6
Spielen Kulturen und Werte eine Rolle?
7
Gibt es Funktionsbeschreibungen für Arbeitsplätze und Arbeitsprozesse?
8
Welche Konferenzen prägen die Institution?
9
Wie sind die Entscheidungsprozesse organisiert? Wie kommt die Institution zu neuen Strategien?
10
Welche Arbeits- und Zeitmodell streben die Institutionen an?
11
Welche Beratungsprozesse strebt die Institution an?
Die Beschreibung der organisationalen Formgebung führt so zu einer Bestandsaufnahme von
Faktoren, von denen angenommen werden kann, daß sie Institution nach außen sichern und
nach innen ein für alle verläßliches Ordnungssystem abgeben. Der Ordnungsrahmen soll in
aller Regel Spannungen reduzieren und Maßstäbe für einen geregelten Arbeitsablauf setzen.
In Zeiten, in denen die Gesellschaft insgesamt einer Veränderung, einem sozialen Wandel,
einem Strukturwandel oder sogar einer Transformation unterworfen ist, geraten die auf Stabilität angelegten Binnenordnungen der Institutionen unter Legitimationsdruck, d.h. es
kommt zu ihrer Begründungs- und Rechtfertigungsbedürftigkeit.
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Nun gelangt man zum dritten Schritt der Institutionenanalyse.
Ebene C (Mikroebene der Arbeitsoperationen)
Die Mikroebene C nimmt die tatsächlichen Arbeitsprozesse in den Blick einschließlich prototypischer Einzeloperationen. Im einzelnen sind von Bedeutung:
1
In welchen fachlichen Kontext oder Funktionszusammenhang gehören die Arbeitsvollzüge?
2
Welche Rolle spielen Rechtsvorschriften, Regulierungen, Vorgaben, Entscheidungsebenen- und arten oder Termine?
3
Welche Arten von Wissen (Faktenwissen, Regelwissen, Theoriewissen, Problemlösewissen) sind zur Durchführung notwendig?
4
Welche Arbeitsmittel sind zu benutzen und einzusetzen?
5
Welche typischen Wertmuster, Denk- und Urteilsmuster, aber auch Verhaltensstile
und Rollenmuster ergeben einen spezifischen Habitus?
6
Gibt es Spannweiten bzw. Differenzen der Handhabung?
7
Werden Lösungsmuster erörtert? In welcher Form werden sie erörtert?
8
Welche Arbeitsabsprachen prägen die Arbeitsabläufe?
9
Welche Kooperationen bestehen?
10
Gibt es besondere pädagogische Programme zur Steuerung der Arbeit?
Schließlich bedürfen die Handlungen, die im Zuge der Arbeitsoperationen ausgeführt werden, einer Kompetenz- und Qualitätssicherung. Darauf bezieht sich die Ebene D der
Institutionenanalyse: das subjektbezogene Kompetenzspektrum.
Ebene D (Mikroebene der Arbeitsoperationen)
Die Mikroebene D nimmt die tatsächlichen Arbeitsprozesse in den Blick einschließlich des
subjektbezogenen Kompetenzsspektrums. Im einzelnen sind von Bedeutung:
1
Welche Fachkompetenzen sind erforderlich?
2
Welche Sozialkompetenzen sind gefragt?
3
Welche Selbstkompetenzen sind unabdingbar?
5
Welche Formen des Kommunizierens und Argumentierens sind bedeutsam?
7
Welche Formen des Erschließens, Veranschaulichen und Motivierens sind hilfreich?
8
Welche Verfahren des Umsetzens sind erfolgversprechend?
9
Welche Reflexionen werden benötigt?
6
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Es sind diese und ähnliche Fragen, die für die Entwicklung der Institution überlebenswichtig
sind, speist sich doch aus den subjektbezogenen Kompetenzen die Möglichkeit, die gesellschaftlich zugewiesene Arbeitsaufgabe angemessen auszuführen und zu realisieren. Es ist
dies jedoch nur die eine Seite. Aus den subjektbezogenen Kompetenzen, ihrer Breite und
Tiefe, ergibt sich auch die Möglichkeit, für die betroffenen Kinder und Jugendlichen Entwicklungsprozesse zu eröffnen. Die Kompetenzen sind es schließlich, die eine Gewähr dafür
bieten, daß in öffentlich verantworteten Bildungsprozessen diese auch gelingen können.
Literatur
Gehlen, Arnold (1956): Urmensch und Spätkultur. Bonn: Athenäum-Verlag.
Gehlen, Arnold (1963): Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied: Luchterhand.
Goffman, Erving (1972): Asyle. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen (1968): Technik und Wissenschaft als >Ideologie<. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Lepsius, Mario Rainer (1977): Modernisierungspolitik als Institutionenbildung. Kriterien institutioneller Differenzierung. In: Zapf, Wolfgang (Hrsg.) (1976): Probleme der Modernisierungspolitik. Meisenheim am Glan: Hain-Verlag.
Lipp, Wolfgang (1968): Institutionen und Veranstaltung. Zur Anthropologie der sozialen Dynamik.
Berlin: Duncker & Humblot.
Parsons, Talcott (1964): Beiträge zur soziologischen Theorie. Neuwied: Luchterhand.
Schelsky, Helmut (1952): Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. In: JbSozW
3(1952) 1 ff., wiederabgedruckt in: Institutionen und Recht. Hg. R Schnur. Darmstadt 1968, 265
ff.
Schelsky, Helmut (1957): Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? In: ZEE 1 (1957) 153 ff.
Selznick, Philip (1975): Institutionen und ihre Verwundbarkeit in der Massengesellschaft. In: Lipp,
Wolfgang (1975): Konformismus, Nonkonformismus: Kulturstile, soziale Mechanismen und
Handlungsalternativen. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand.
Zapf, Wolfgang (1979): Theorien des sozialen Wandels. Königstein (Ts.): Verlagsgruppe Athenäum,
Hain, Scriptor, Hanstein.
Weber, Max (1976): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: J.C.B Mohr (Paul Siebek).
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