Musikausstellungen: Museumsanalytische und ethnographische

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Musikausstellungen: Museumsanalytische und ethnographische Untersuchungen
María del Mar Alonso Amat und Andreas Meyer
Mit dem vorliegenden Artikel präsentieren wir erste Einblicke in ein auf mehrere Jahre
angelegtes Projekt zur „Vermittlung musikalischer Themen im Museum“, in dessen Verlauf
wir eine Reihe von Musik-Museen in verschiedenen Ländern besuchen1. Den
Ausgangspunkt ergibt die Annahme, dass Objekte, die in kultur- oder kulturhistorischorientierten Ausstellungen präsentiert werden, nicht nur für sich allein stehen, sondern sich
im Verbund mit anderen Objekten, mit Texttafeln, Illustrationen, Audio- und Video-Beispielen
sowie interaktiven Stationen zu komplexen, museal erzählten Geschichten verbinden.
Diesen Geschichten spüren wir nach, indem wir Ausstellungen museumsanalytisch
interpretieren. Außerdem geht es um kuratorische Intentionen und um die Frage, wie die
musealen Geschichten vom Publikum tatsächlich gelesen werden.
Dabei bedienen wir uns verschiedener Methoden. Im Zentrum der museumsanalytischen
Herangehensweise stehen – in Anlehnung an die Kulturwissenschaftlerin Heike Buschmann2
– die erzähltheoretischen Begriffe „Event“, „Story“ und „Plot“, die der Schriftsteller und
Essayist E.M. Forster in die Literaturwissenschaft eingeführt hat. Eine Story ergibt sich
demnach durch die Aneinanderreihung von Events oder Ereignissen, während es beim Plot
um Ursächlichkeit geht. Forster verdeutlicht das an einem viel zitierten Beispiel: „Der König
starb und dann starb die Königin“ ist eine Story, „der König starb und dann starb die Königin
aus Kummer“ ist ein Plot3. Während Events im Museum den Artefakten entsprechen und
Stories sich durch die Reihenfolge der Betrachtung ergeben, müssen
Kausalzusammenhänge bzw. Plots häufig durch Schlussfolgerungen von den „Lesern“ selbst
gebildet werden4. Gottfried Korff spricht in diesem Zusammenhang von „Choques“ oder
„Aha-Effekten“ durch die „Anordnung der Dinge im Raum“5.
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1
Ausgestellte Musik. Untersuchungen zur Vermittlung und Rezeption von musikalischen Themen im
Museum. Forschungsprojekt an der Folkwang Universität der Künste, Essen. Gefördert von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft. Vgl. http://www.folkwang-uni.de/de/home/wissenschaft/projekte
und http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/252763169.
2!Heike Buschmann, “Geschichten im Raum. Erzähltheorie als Museumsanalyse“, in:
Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, hrsg. von Joachim Baur.
Bielefeld 2010, S. 149–169.
3!E.M. Forster, Aspects of the Novel, London 1990 (zuerst veröffentlicht 1927), S. 87.
4
Buschmann, „Geschichten im Raum“, S. 154 f.
5
Gottfried Korff, Museumsdinge deponieren – exponieren. Köln et al. 2007, S. 72.
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Mit der erzähltheoretischen Vorgehensweise verbinden sich semistrukturierte Interviews und
ethnographische Methoden (eine Kombination aus Beobachtung und Gesprächen) zur
Dokumentation der kuratorischen Intentionen und der Rezeption des Publikums. Im
Folgenden stellen wir unter verschiedenen Gesichtspunkten Präsentationen aus zwei
Museen vor, die Dauerausstellung im Grassi-Museum für Musikinstrumente der Universität
Leipzig sowie eine Sonderausstellung zum Thema „Deutscher Schlager“ am rock’n and pop
museum in Gronau/Westfalen. Während beim Grassi-Museum das Gesamtkonzept und die
Gestaltung eines größeren thematischen Komplexes im Vordergrund stehen, geht es bei der
Schlagerausstellung am rock’n pop museum eher um die Bedeutung von Konstellationen in
einzelnen Vitrinen.
Die Suche nach dem vollkommenen Klang
Die gegenwärtige Dauerausstellung im Grassi-Museum für Musikinstrumente wurde 2006
eröffnet. Sie ist unter dem Titel „Die Suche nach dem vollkommenen Klang“ der
Musikgeschichte gewidmet, hauptsächlich der Kunstmusik im deutschsprachigen Raum von
der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert. Die Events der musealen Erzählungen sind – wie
der Name des Museums vermuten lässt – vor allem Musikinstrumente, mehrheitlich aus dem
deutschsprachigen Raum (viele von ihnen aus Sachsen), aber auch aus Italien und anderen
europäischen Ländern. Eine freistehende Texttafel in jedem Raum vermittelt Informationen
zu kulturhistorischen Aspekten. Die meisten Vitrinen sind mit weiteren Erklärungstexten
versehen, über historische Zusammenhänge etwa, aber auch über Musikästhetik und
Musikinstrumentenbau. Weitere Texte sind den Instrumenten zugeordnet, mit allgemeinen
Daten über Herkunft, Alter, Hersteller etc. Vier Multimediastationen verteilen sich in den
Ausstellungsräumen und präsentieren Musikbeispiele für einige der ausgestellten
Instrumente. Des Weiteren stehen Audioguides mit ausführlichen Textbeiträgen zur
Verfügung; vor allem zur Vertiefung der Leipziger Musikgeschichte und in einigen Fällen
auch zu technischen Aspekten der Musikinstrumente. In den Ausstellungsräumen sind
Informationsblätter mit längeren Erklärungen über den kulturhistorischen Kontext und über
einige ausgewählte Exponate erhältlich. Informationsblätter über Musikinstrumente, die als
„Kostbarkeiten“ bezeichnet werden, kann man gegen einen kleinen Geldbetrag erwerben.
Allerdings verweisen die Blätter nicht auf den Standort der Instrumente, sodass sich ein
inhaltliches Zusammenspiel nur ansatzweise ergibt.
Die Ausstellung ist in nacheinander liegenden Räumen chronologisch aufgebaut. Der
Rundgang teilt sich in zwölf Bereiche, von denen fast alle den Leipziger Kontext
miteinbeziehen (Abb. 1).!Der letzte Bereich des Rundgangs („Neue Renaissance“) bietet
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einen Rückgriff auf den Anfang der Ausstellung; die Präsentation widmet sich der „Alte
Musik-Bewegung“ und der Entstehung der Sammlung.6
Abbildung 1: Orientierungsplan der Dauerausstellung „Die Suche nach dem vollkommenen
Klang“. © Grassi-Museum, Leipzig.
Lokale Themen (etwa Leipziger Instrumentenbauer, die Musikautomaten-Industrie, der
Musikhandel oder Komponisten wie Bach oder Mendelssohn) werden im Zusammenspiel
von Musikinstrumenten, Texttafeln und weiteren Exponaten vermittelt. Einer dieser Bereiche,
die 2015 neu gestaltete Präsentation der Musikautomaten-Industrie (Raum „Gründerzeit“,
vgl. Abb. 1), soll hier etwas genauer beschrieben werden. Eine Texttafel mit dem Titel
„Leipzig als Zentrum des Musikautomatenbaus 1880–1930“ verweist kurz auf die Bedeutung
der Industrie und die Orte, in denen Musikautomaten und mechanische Musikinstrumente
aufgestellt wurden. Eine Wand im Eingangsbereich zeigt verschiedene plattenförmigen
Tonträger: Lochplatten, Schallplatten aus Schellack und Vinyl, eine Compact Disk. Darüber
wird mit Fotos und kurzen Texten die „Tonträger-Chronologie“ skizziert (Abb. 2).
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Am Ende der Ausstellung werden die Besucherinnen und Besucher eingeladen, ins „Klanglabor“ zu
kommen. In diesem Raum, der sich in einer höheren Etage des Museums befindet, kann man
Musikinstrumente aus verschiedenen Kontinenten spielen und einige Klangexperimente ausprobieren.
Die Einrichtung und die Texte sind für Kinder geeignet. Museumspädagogen führen hier
Veranstaltungen mit Schulklassen durch.
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Abbildung 2: Tonträger-Chronologie und Entwicklung der Schallplatten.
Man kann diese Konstellation für sich lesen oder eine Verbindung zu den ausgestellten
Automaten herstellen, und schlussfolgern, dass mit den Automaten die Tonträgerindustrie in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nimmt. Eine Reihe von Objekten ist vor
Fotowänden platziert. Eine Fotowand zeigt ein Bild der Hupfeld-Werke im Leipziger Stadtteil
Bölitz-Ehrenberg, deren Gebäude bis heute erhalten geblieben sind. Ortskundige
Besucherinnen und Besucher können daher direkt einen lokalen Bezug herstellen. Die Firma
Hupfeld war einer der führenden Hersteller selbstspielender Instrumente. Vor der Fotowand
stehen von der Firma produzierte Musikautomaten und ein pneumatischer Flügel. Ein zudem
ausgestelltes Grammophon verweist auf die Weiterentwicklung der Technik und den Beginn
des Niedergangs der Musikautomatenindustrie (Abb. 3). Zwei weitere Fotowände zeigen ein
Zimmer in einem großbürgerlichen Haus und die Gaststube eines Wirtshauses.
Selbstspielende Instrumente und Automaten sind jeweils so davor platziert, als wären sie
Teil der Inneneinrichtung (Abb. 4 und 5). Angedeutet wird damit eine Präsentationsweise, die
im museumsanalytischen Kontext als „In situ Installation“7 oder „szenische Gestaltung des
Ausstellungsraumes“8 bezeichnet wird. Ein zusätzlicher Plot ergibt sich aus der
Zusammenstellung der Artefakte. Im Rahmen der Installation mit dem Foto vom
großbürgerlichen Zimmer werden u. a. ein Vogelkäfig mit mechanischem Flötenwerk sowie
eine Organette (Tischdrehorgel) in einer Holzvitrine (Abb. 4) und Standuhren mit
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7
Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Destination Culture. Tourism, Museums, and Heritage, Berkeley &
Los Angeles 1998, S. 20.
8
Jana Scholze, Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Amsterdam und Berlin,
Bielefeld 2004, S. 150.
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unterschiedlichen Spielwerken gezeigt. Beim Foto mit der Gaststube eines Wirtshauses
finden sich eine automatische Zither und mehrere als Holzmöbel gestaltete KammzungenSpielwerke9 (Abb. 5). Die Konstellationen verweisen auf die Vielfalt und Originalität der
Instrumente. Ergänzt werden die verschiedenen musealen Erzählungen durch
Erklärungstexte und kleine Fotos sowie durch Videoaufnahmen auf zwei Bildschirmen, die
den Klang und die mechanische Funktionsweise von einigen der ausgestellten Automaten
dokumentieren.
Abbildung 3: Präsentation „Ludwig Hupfeld AG“.
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Zur Mechanik dieser Instrumente vgl. Birgit Heise, Leipzigs klingende Möbel – Selbstspielende
Musikinstrumente 1880–1930, Katalog zur Sonderausstellung „music.mp0 – Selbstspielende
Instrumente aus Leipzig“ im Grassi Museum für Musikinstrumente der Universität Leipzig, Altenburg
2015, S. 37.
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Abbildung 4: Präsentation „Selbstspielende Musikinstrumente zu Hause“.
Abbildung. 5: Präsentation „Dauerbeschallung im Wirtshaus“.
Generell ist für die Dauerausstellung festzuhalten, dass Erklärungstexten und Illustrationen
bei der Präsentation lokaler Kontexte eine zentrale Bedeutung zukommt, während
Informationen zu den Instrumenten als solche sehr knapp sind. Bei einer Vitrine im Bereich
der Renaissance etwa, mit Pommern und Zinken aus Deutschland und Frankreich (Abb. 6),
bietet ein ausführlicher Erklärungstext an der Seitenwand Informationen über Stadtpfeifer
und Ratsmusiker in Leipzig und beschreibt, bei welchen musikalischen Anlässen sie
auftraten. Erklärungen über Bauweise und Spieltechnik fehlen10. Weitere
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10!Lediglich bei Führungen wird umfassend auf die Funktionsweise der Instrumente eingegangen.!
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instrumentenkundliche Schlussfolgerungen können sich lediglich aufgrund der Betrachtung
der Instrumente ergeben. Das entspricht durchaus dem Konzept der Kuratorin Eszter
Fontana11. Ihre Intention war es, einen lokalen Bezug zu vermitteln und die Instrumente „für
sich selber sprechen“ und „ausstrahlen“ zu lassen. Die Besucherinnen und Besucher sollen
„sich durch die Betrachtung der Musikinstrumente Fragen stellen“12. Der Musikpädagoge
Frank Sindermann, der während der Realisierung der Ausstellung am Haus beschäftigt war,
bemerkt ergänzend hierzu, dass eine Betrachtung der Musikinstrumente als Kunstobjekte
intendiert sei „und die Musik gar nicht mal manchmal das entscheidende scheint“. Er
bestätigt (und bedauert), dass Bautechnik oder Spielweisen nur eine geringe Bedeutung
haben.13
Abbildung 6: Pommern und Zinken.
Die Besucherinnen und Besucher kommen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen ins
Grassi-Museum. Das Spektrum umfasst ein Fachpublikum, das gezielt nach Informationen
sucht ebenso wie Liebhaber alter Instrumente bis hin zu Interessierten mit nur geringen
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11
Eszter Fontana war Museumsdirektorin von 1995 bis 2013.
Persönliche Mitteilung, 28. April 2015.
13
Persönliche Mitteilung, 28. April 2015. Diese Ansicht wird von anderen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern geteilt. Aus diesem Grund wurden etwa in der neu gestalteten Ausstellung zur Leipziger
Musikautomaten-Industrie Medienstationen installiert, mit Videofilmen, die u. a. die Funktionsweisen
der Instrumente vorstellen. Auch in einem 2015 überarbeiteten Bereich zur Bach-Zeit werden Bauund Spielweise stärker berücksichtigt. Als Kuratorin der neuen Musikautomaten-Ausstellung zeichnet
Birgit Heise, die Präsentation zur Bach-Zeit hat der neue Museumsdirektor Josef Focht kuratiert.
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musikalischen Vorkenntnissen. Eine Fülle von unterschiedlichen Rezeptionsweisen lässt sich
in Abhängigkeit von individuellen Erfahrungen, Interessen und Vorkenntnissen ausmachen.
Zum Teil werden die Instrumente wie Möbelstücke und unter kunsthandwerklichen
Gesichtspunkten betrachtet, Technikbegeisterte spüren der Komplexität der Mechanik nach,
Liebhaber beurteilen die Qualität des Klanges bei Musikbeispielen. Die lokalen Themen, so
ein Befund unserer Untersuchungen, werden weitgehend vermittelt. Vielfach und von
unterschiedlicher Seite (auch von „Nichtfachleuten“) wird das Fehlen detaillierter
Informationen zu den präsentierten Instrumenten beklagt. Die Idee, dass die Instrumente für
sich sprechen mögen, scheint damit nur mit Abstrichen erfolgreich umgesetzt. Kritisiert wird
weiterhin der mangelnde Einsatz von klingender Musik (obwohl es die Medienstationen gibt).
In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass die Instrumente in der
Dauerausstellung in der Regel nicht gespielt werden dürfen.
100 Jahre deutscher Schlager
Gronau ist eine kleine Stadt in Westfalen an der niederländischen Grenze, Insidern vielleicht
bekannt als Geburtsort des deutschen Rockstars Udo Lindenberg. Das 2004 eröffnete rock’n
pop museum dort widmet sich in seiner Dauerausstellung der Geschichte der Popmusik mit
einem Schwerpunkt auf die Entwicklungen in Deutschland. Zudem gibt es immer wieder
thematisch fixierte Wechselausstellungen. Vom März 2014 bis zum März 2015 präsentierte
das Haus eine Ausstellung mit dem Titel „100 Jahre deutscher Schlager“. Auch sie war
chronologisch aufgebaut, mit verschiedenen Epochen, die jeweils räumlich getrennt
abgehandelt wurden (Abb. 7). Als Events fungierte eine Reihe sehr unterschiedlicher
Artefakte. Die Bandbreite reichte von Verbreitungsmedien der jeweiligen Zeitabschnitte über
Bühnenkleidung und persönliche Gegenstände der Protagonisten bis hin zu Fanartikeln,
verbunden mit Texttafeln, Fotos, Videofilmen und Klangbeispielen. Die Klangbeispiele
konnten mittels eines Audioguides angesteuert werden.
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Abbildung. 7: „100 Jahre deutscher Schlager“. Eingang zum Bereich der 1950er Jahre.
Drei Objektkonstellationen möchten wir näher vorstellen. Im Bereich „Schlager der NS-Zeit“
war eine der Vitrinen dem Textdichter Bruno Balz und dem Komponisten Michael Jary
gewidmet, die zusammen einige der bekanntesten Schlager während der NS-Zeit
komponierten. Die Vitrine enthielt eine Sonnenbrille von Zarah Leander, eine
Schreibmaschine, eine goldene Feder für Bruno Balz, verliehen 1983; außerdem eine GemaMedaille, eine Einbürgerungsurkunde aus dem Jahr 1928 sowie die Urkunde einer
Militärregierungsbefreiung aus dem Jahr 1946 von Michael Jary (Abb. 8). An der Wand rund
um die Vitrine fanden sich Schallplatten und Fotos von Interpretinnen und Interpreten sowie
Notenblätter mit Gesangstexten aus der NS-Zeit, aber auch aus der Zeit nach dem Zweiten
Weltkrieg. Ein erster Plot ist leicht nachzuvollziehen: Es wird deutlich, dass der Erfolg des
Komponistenduos die NS-Zeit überstanden hat. Das untermauerte eine Texttafel neben der
Vitrine. Sie informierte zunächst darüber, dass viele (vor allem jüdische) Protagonisten des
deutschen Schlagers während der NS-Zeit Deutschland verlassen mussten oder im
Lagersystem der Nazis ermordet wurden, während nicht-jüdische Texter und Komponisten
an ihre Stelle traten. Dann verweist der Text auf Michael Jary und Bruno Balz als
„kongeniales Schlagerduo, das einige der populärsten Schlager während des
Nationalsozialismus aber auch danach geschrieben hat“. Hier wäre zu fragen, inwieweit die
Einbürgerungs- und die Militärbefreiungsurkunde von Michael Jary sich in das Narrativ
einfügen. Die Texttafel bietet eine mögliche Erklärung, indem sie auf Vertreibung und Mord
und die nachrückenden nicht-jüdischen Künstler verweist. Man könnte nämlich annehmen,
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dass Balz und Jary die Notlage der Verfolgten ausgenützt hätten. Dagegen wirken diese
Urkunden. Die Einbürgerungsurkunde bezeugt die polnische, „nicht arische“ Herkunft des
Komponisten, die Militärbefreiungsurkunde weist ihn nach dem Krieg als nationalistisch
unbelastet aus. Vor allem letzteres Dokument wird so zu einem Zeichen für den
einwandfreien Charakter des Komponisten.
Abbildung 8: Präsentation der Schlagerkomponisten Michael Jary und Bruno Balz.
Eine Vitrine im Bereich der 1950er Jahre zeigte Exponate zu Gerhard Winkler, einem der
bekanntesten Schlagerkomponisten und Sänger jener Zeit. Sie enthielt den Paul-LinckeRing, verliehen 1957 für besondere Verdienste um die deutschsprachige
Unterhaltungsmusik, ein privates Fotoalbum des Sängers mit Bildern von seinen
Urlaubsreisen nach Italien, eine Medaille sowie ein dazugehöriges Schreiben vom
italienischen Außenministerium als Dank für die Verdienste um die deutsch-italienische
Verständigung (Abb. 9). Flankiert wurde die Vitrine durch Notendrucke von Gerhard Winklers
Schlagern, u. a. die „Capri Fischer“ und das „Chianti Lied“. Es ging bei dieser Konstellation
um das in den 1950er Jahren typische Schlager-Topos des Fernwehs. Dabei relativierten
sich ein Stück weit verbreitete Vorstellungen, denen zu Folge ferne Länder im deutschen
Schlager realitätsfremd als imaginäre Sehnsuchtsorte konstruiert werden. Gerhard Winklers
Italien ist konkret, und sein Preisgesang hat konkrete Auswirkungen z. B. für die
Tourismusindustrie, denn er verweist auf Sehnsüchte, die sich durchaus erfüllen lassen.
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Abbildung 9: Präsentation des Schlagersängers und -komponisten Gerhard Winkler.
Im Bereich des gegenwärtigen Schlagers war ein Abschnitt dem Sänger Dieter Thomas
Kuhn gewidmet. In einer Vitrine fanden sich neben einem Konzertplakat ein rosafarbenes
Bühnenkostüm, ein mit Plüschtieren benähter Sessel aus dem Besitz des Künstlers sowie
diverse Auszeichnungen (Abb. 10); was es mit dem Plüschtiersessel auf sich hatte, wurde
aufgrund der Präsentation nicht deutlich, möglicherweise handelt es sich um ein Geschenk
von Fans. Ein Podest neben der Vitrine zeigte Haarlocken von Begleitmusikern des Sängers,
versehen mit deren Vor- bzw. Spitznamen: „Dieter“, „Howie“, „Nino“, „Udo“. Auf einer Tafel
davor fand sich folgender Text:
„Nach einer künstlerischen, aber auch kommerziellen Tiefphase erlebt der Schlager seit
Ende der 1990er Jahre ein Revival, ausgelöst durch Künstler wie Gildo Horn und Dieter
Thomas Kuhn, die alte Lieder in einem neuen Gewand interpretieren und damit ganz neue
Fans für sich gewinnen.“
Gildo Horn und Dieter Thomas Kuhn interpretieren Schlager in einer schrillen, übersteigernd
anmutenden Weise, die somit durchaus satirischen Charakter hat. Das wird aber weder von
den Interpreten noch von den Fans kaum jemals explizit so gesagt und würde
möglicherweise auch verneint werden. Die Ausstellung entspricht dem in der Szene üblichen
Umgang mit der Interpretationsweise, von Satire ist keine Rede. Die museale Erzählform, bei
der sich, wie oben beschrieben, Plots insbesondere aufgrund von Schlussfolgerungen
ergeben können, erweist sich als idealer Vermittler.
Voraussetzungen für die hier dargestellten museumsanalytischen Interpretationen waren
Vorbildung und spezifische Interessen und damit die Bereitschaft zur Reflektion. Im Fall der
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Vitrine zu Bruno Balz und Michael Jary muss man z. B. wissen, was eine
Militärbefreiungsurkunde ist, um den herausgearbeiteten Plot zu verstehen. Die
Interpretation der Winkler-Vitrine erfordert Überlegungen vor dem Hintergrund kulturkritischer
Kenntnisse. Um die künstlerische Ambivalenz von Dieter Thomas Kuhn nachzuvollziehen,
bedarf es Insider-Wissen. Gleichwohl korrespondieren die Interpretationen vielfach mit den
Absichten des Kurators Martin Lücke. Ihm zufolge sollte etwa die Militärbefreiungsurkunde
verdeutlichen, warum die beiden Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg „bruchlos“ ihre
Karriere fortsetzen konnten. Die Medaille des italienischen Außenministeriums an Gerhard
Winkler wiederum wurde präsentiert, um auf die Bedeutung der Italienschlager von Gerhard
Winkler für den Italientourismus zu verweisen14. Zur Präsentation von Dieter Thomas-Kuhn
bemerkte Lücke:
„Der Besucher soll sich seine Meinung bilden, der Besucher soll sagen, aber das ist doch
nicht ernst gemeint, liebe Leute, das ist doch ein Witz. Wir wollen das nicht vorgeben. Denn
es gibt ganz viele Dieter Thomas Kuhn-Fans, die sehen das als Ironie, die sehen das als
Überzeichnung und die andere Hälfte der Fans sieht ihn genau so als Person, sie finden
diese Figur, Dieter Thomas Kuhn oder auch ihre Rolle interessant und sehen dahinter gar
keine Ironie. Und wir möchten das nicht befördern“15.
Abbildung 10: Präsentation des Schlagersängers Dieter Thomas Kuhn.
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Persönliche Mitteilung, 18. September 2015.
Persönliche Mitteilung, 5. Juni 2015.
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Bei der Besucherrezeption wird wiederum deutlich, wie sehr Lesarten und
Schlussfolgerungen von individuellen Bedingungen abhängen. So konnten wir zum Beispiel
die Rezeptionsweise einer kleinen niederländischen Reisegruppe beobachten, die die
Ausstellung in weniger als 20 Minuten durchmaß (wir benötigten für einen ersten Rundgang
etwa eineinhalb Stunden). Dabei war die Freude immer dann groß, wenn jemand aus der
Gruppe ein Lied oder einen Interpreten bzw. eine Interpretin wiedererkannte, es folgte
meistens ein reger Austausch und zum Teil wurden die Lieder dann gesungen. Zwei
Besucherinnen der Gruppe hielten sich etwas länger vor der Vitrine zu Bruno Balz und
Michael Jary auf. Sie hatten das Konterfei von Heidi Brühl entdeckt und die Vinyl-Schallplatte
mit ihrem Lied: „Wir wollen niemals auseinandergehen“, komponiert von Balz und Jary in den
1960er Jahren. Die Damen waren etwas älter, und der Schlager hatte offensichtlich
Bedeutung in ihrer Jugend gehabt. Mit höchstem Vergnügen und nicht ganz ohne
selbstironisches Sentiment sangen sie gemeinsam das Lied. Dass sie sich in dem Raum
zum Thema „Schlager im Dritten Reich“ befanden, spielte nicht die geringste Rolle. Sie
bezogen die Illustration und die Schallplatte nicht auf die Objekte, in deren Kontext sie
ausgestellt waren, sondern auf ihre persönlichen Lebenserfahrungen.
Resümee
Es zeigt sich, dass Museumsanalysen häufig zu Interpretationen führen, die weitgehend mit
den Absichten der Kuratorinnen und Kuratoren übereinstimmen. Das entspricht auch
unseren Erfahrungen bei vielen anderen Museen. In beiden Ausstellungen lassen sich
Schlussfolgerungen aufgrund der Selektion und Anordnung der Artefakte ableiten. Im GrassiMuseum verlässt man sich bei der Vermittlung lokaler Themen jedoch stärker auf Objekte in
Verbindung mit Erklärungstexten und illustrierenden Abbildungen. Hinsichtlich der Rezeption
ist die Heterogenität des Publikums zu beachten. Folgerungen korrespondieren in hohem
Maße mit individuellen Voraussetzungen. Das ist ein durchaus bekanntes Phänomen,
aufgrund dessen von museumswissenschaftlicher und museumspädagogischer Seite
bisweilen der Ruf nach konstruktivistischen Konzepten laut wird, wie sie der amerikanische
Pädagoge George Hein in die Diskussion zur Museumsgestaltung eingebracht hat16. Hier
geht es darum, inhaltliche kuratorische Absichten zurückzuschrauben und Ausstellungen so
zu konzipieren, dass Besucherinnen und Besucher aufgrund ihrer Erfahrungen individuelle
Erkenntnisse ableiten. In Ansätzen findet sich so ein Konzept im Grassi-Museum, mit dem
Anliegen, die Instrumente mögen für sich selbst sprechen. Dabei ist zu bedenken, dass ein
Gutteil des Publikums eben doch konkretes Wissen vermittelt bekommen möchte und
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16!George Hein, „The Constructivist Museum“, in: The Educational Role of the Museum, hrsg. v.
Eilleen Hooper-Greenhill, London et al. 1999, S. 73–79.
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dezidierte Bildungsansprüche an die Institution stellt. Auch wenn Museen Orte der Freizeit
sind, gehören sie dennoch zu den Kommunikationsmedien des kulturellen Gedächtnisses.
Dessen Einrichtung, schreibt Aleida Assmann in ihrem Buch über „Erinnerungsräume“, bringt
die Gefahr der Verzerrung, der Reduktion und der Instrumentalisierung von Erinnerung mit
sich, ein Problem, das nur durch begleitende Kritik und Diskussion aufgefangen werden
kann17. Demzufolge wären nicht nur offene, der Erwartungs- und Erfahrungsvielfalt
entsprechende Konzepte gefragt, sondern gerade auch Herangehensweisen, die
Positionierungen beinhalten, an denen sich das Publikum reiben kann.
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Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses,
München 2003, S. 15.
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