! 1! Musikausstellungen: Museumsanalytische und ethnographische Untersuchungen María del Mar Alonso Amat und Andreas Meyer Mit dem vorliegenden Artikel präsentieren wir erste Einblicke in ein auf mehrere Jahre angelegtes Projekt zur „Vermittlung musikalischer Themen im Museum“, in dessen Verlauf wir eine Reihe von Musik-Museen in verschiedenen Ländern besuchen1. Den Ausgangspunkt ergibt die Annahme, dass Objekte, die in kultur- oder kulturhistorischorientierten Ausstellungen präsentiert werden, nicht nur für sich allein stehen, sondern sich im Verbund mit anderen Objekten, mit Texttafeln, Illustrationen, Audio- und Video-Beispielen sowie interaktiven Stationen zu komplexen, museal erzählten Geschichten verbinden. Diesen Geschichten spüren wir nach, indem wir Ausstellungen museumsanalytisch interpretieren. Außerdem geht es um kuratorische Intentionen und um die Frage, wie die musealen Geschichten vom Publikum tatsächlich gelesen werden. Dabei bedienen wir uns verschiedener Methoden. Im Zentrum der museumsanalytischen Herangehensweise stehen – in Anlehnung an die Kulturwissenschaftlerin Heike Buschmann2 – die erzähltheoretischen Begriffe „Event“, „Story“ und „Plot“, die der Schriftsteller und Essayist E.M. Forster in die Literaturwissenschaft eingeführt hat. Eine Story ergibt sich demnach durch die Aneinanderreihung von Events oder Ereignissen, während es beim Plot um Ursächlichkeit geht. Forster verdeutlicht das an einem viel zitierten Beispiel: „Der König starb und dann starb die Königin“ ist eine Story, „der König starb und dann starb die Königin aus Kummer“ ist ein Plot3. Während Events im Museum den Artefakten entsprechen und Stories sich durch die Reihenfolge der Betrachtung ergeben, müssen Kausalzusammenhänge bzw. Plots häufig durch Schlussfolgerungen von den „Lesern“ selbst gebildet werden4. Gottfried Korff spricht in diesem Zusammenhang von „Choques“ oder „Aha-Effekten“ durch die „Anordnung der Dinge im Raum“5. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 1 Ausgestellte Musik. Untersuchungen zur Vermittlung und Rezeption von musikalischen Themen im Museum. Forschungsprojekt an der Folkwang Universität der Künste, Essen. Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Vgl. http://www.folkwang-uni.de/de/home/wissenschaft/projekte und http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/252763169. 2!Heike Buschmann, “Geschichten im Raum. Erzähltheorie als Museumsanalyse“, in: Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes, hrsg. von Joachim Baur. Bielefeld 2010, S. 149–169. 3!E.M. Forster, Aspects of the Novel, London 1990 (zuerst veröffentlicht 1927), S. 87. 4 Buschmann, „Geschichten im Raum“, S. 154 f. 5 Gottfried Korff, Museumsdinge deponieren – exponieren. Köln et al. 2007, S. 72. ! 2! Mit der erzähltheoretischen Vorgehensweise verbinden sich semistrukturierte Interviews und ethnographische Methoden (eine Kombination aus Beobachtung und Gesprächen) zur Dokumentation der kuratorischen Intentionen und der Rezeption des Publikums. Im Folgenden stellen wir unter verschiedenen Gesichtspunkten Präsentationen aus zwei Museen vor, die Dauerausstellung im Grassi-Museum für Musikinstrumente der Universität Leipzig sowie eine Sonderausstellung zum Thema „Deutscher Schlager“ am rock’n and pop museum in Gronau/Westfalen. Während beim Grassi-Museum das Gesamtkonzept und die Gestaltung eines größeren thematischen Komplexes im Vordergrund stehen, geht es bei der Schlagerausstellung am rock’n pop museum eher um die Bedeutung von Konstellationen in einzelnen Vitrinen. Die Suche nach dem vollkommenen Klang Die gegenwärtige Dauerausstellung im Grassi-Museum für Musikinstrumente wurde 2006 eröffnet. Sie ist unter dem Titel „Die Suche nach dem vollkommenen Klang“ der Musikgeschichte gewidmet, hauptsächlich der Kunstmusik im deutschsprachigen Raum von der Renaissance bis zum 20. Jahrhundert. Die Events der musealen Erzählungen sind – wie der Name des Museums vermuten lässt – vor allem Musikinstrumente, mehrheitlich aus dem deutschsprachigen Raum (viele von ihnen aus Sachsen), aber auch aus Italien und anderen europäischen Ländern. Eine freistehende Texttafel in jedem Raum vermittelt Informationen zu kulturhistorischen Aspekten. Die meisten Vitrinen sind mit weiteren Erklärungstexten versehen, über historische Zusammenhänge etwa, aber auch über Musikästhetik und Musikinstrumentenbau. Weitere Texte sind den Instrumenten zugeordnet, mit allgemeinen Daten über Herkunft, Alter, Hersteller etc. Vier Multimediastationen verteilen sich in den Ausstellungsräumen und präsentieren Musikbeispiele für einige der ausgestellten Instrumente. Des Weiteren stehen Audioguides mit ausführlichen Textbeiträgen zur Verfügung; vor allem zur Vertiefung der Leipziger Musikgeschichte und in einigen Fällen auch zu technischen Aspekten der Musikinstrumente. In den Ausstellungsräumen sind Informationsblätter mit längeren Erklärungen über den kulturhistorischen Kontext und über einige ausgewählte Exponate erhältlich. Informationsblätter über Musikinstrumente, die als „Kostbarkeiten“ bezeichnet werden, kann man gegen einen kleinen Geldbetrag erwerben. Allerdings verweisen die Blätter nicht auf den Standort der Instrumente, sodass sich ein inhaltliches Zusammenspiel nur ansatzweise ergibt. Die Ausstellung ist in nacheinander liegenden Räumen chronologisch aufgebaut. Der Rundgang teilt sich in zwölf Bereiche, von denen fast alle den Leipziger Kontext miteinbeziehen (Abb. 1).!Der letzte Bereich des Rundgangs („Neue Renaissance“) bietet ! 3! einen Rückgriff auf den Anfang der Ausstellung; die Präsentation widmet sich der „Alte Musik-Bewegung“ und der Entstehung der Sammlung.6 Abbildung 1: Orientierungsplan der Dauerausstellung „Die Suche nach dem vollkommenen Klang“. © Grassi-Museum, Leipzig. Lokale Themen (etwa Leipziger Instrumentenbauer, die Musikautomaten-Industrie, der Musikhandel oder Komponisten wie Bach oder Mendelssohn) werden im Zusammenspiel von Musikinstrumenten, Texttafeln und weiteren Exponaten vermittelt. Einer dieser Bereiche, die 2015 neu gestaltete Präsentation der Musikautomaten-Industrie (Raum „Gründerzeit“, vgl. Abb. 1), soll hier etwas genauer beschrieben werden. Eine Texttafel mit dem Titel „Leipzig als Zentrum des Musikautomatenbaus 1880–1930“ verweist kurz auf die Bedeutung der Industrie und die Orte, in denen Musikautomaten und mechanische Musikinstrumente aufgestellt wurden. Eine Wand im Eingangsbereich zeigt verschiedene plattenförmigen Tonträger: Lochplatten, Schallplatten aus Schellack und Vinyl, eine Compact Disk. Darüber wird mit Fotos und kurzen Texten die „Tonträger-Chronologie“ skizziert (Abb. 2). !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 6 Am Ende der Ausstellung werden die Besucherinnen und Besucher eingeladen, ins „Klanglabor“ zu kommen. In diesem Raum, der sich in einer höheren Etage des Museums befindet, kann man Musikinstrumente aus verschiedenen Kontinenten spielen und einige Klangexperimente ausprobieren. Die Einrichtung und die Texte sind für Kinder geeignet. Museumspädagogen führen hier Veranstaltungen mit Schulklassen durch. ! 4! Abbildung 2: Tonträger-Chronologie und Entwicklung der Schallplatten. Man kann diese Konstellation für sich lesen oder eine Verbindung zu den ausgestellten Automaten herstellen, und schlussfolgern, dass mit den Automaten die Tonträgerindustrie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nimmt. Eine Reihe von Objekten ist vor Fotowänden platziert. Eine Fotowand zeigt ein Bild der Hupfeld-Werke im Leipziger Stadtteil Bölitz-Ehrenberg, deren Gebäude bis heute erhalten geblieben sind. Ortskundige Besucherinnen und Besucher können daher direkt einen lokalen Bezug herstellen. Die Firma Hupfeld war einer der führenden Hersteller selbstspielender Instrumente. Vor der Fotowand stehen von der Firma produzierte Musikautomaten und ein pneumatischer Flügel. Ein zudem ausgestelltes Grammophon verweist auf die Weiterentwicklung der Technik und den Beginn des Niedergangs der Musikautomatenindustrie (Abb. 3). Zwei weitere Fotowände zeigen ein Zimmer in einem großbürgerlichen Haus und die Gaststube eines Wirtshauses. Selbstspielende Instrumente und Automaten sind jeweils so davor platziert, als wären sie Teil der Inneneinrichtung (Abb. 4 und 5). Angedeutet wird damit eine Präsentationsweise, die im museumsanalytischen Kontext als „In situ Installation“7 oder „szenische Gestaltung des Ausstellungsraumes“8 bezeichnet wird. Ein zusätzlicher Plot ergibt sich aus der Zusammenstellung der Artefakte. Im Rahmen der Installation mit dem Foto vom großbürgerlichen Zimmer werden u. a. ein Vogelkäfig mit mechanischem Flötenwerk sowie eine Organette (Tischdrehorgel) in einer Holzvitrine (Abb. 4) und Standuhren mit !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 7 Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Destination Culture. Tourism, Museums, and Heritage, Berkeley & Los Angeles 1998, S. 20. 8 Jana Scholze, Medium Ausstellung. Lektüren musealer Gestaltung in Oxford, Amsterdam und Berlin, Bielefeld 2004, S. 150. ! unterschiedlichen Spielwerken gezeigt. Beim Foto mit der Gaststube eines Wirtshauses finden sich eine automatische Zither und mehrere als Holzmöbel gestaltete KammzungenSpielwerke9 (Abb. 5). Die Konstellationen verweisen auf die Vielfalt und Originalität der Instrumente. Ergänzt werden die verschiedenen musealen Erzählungen durch Erklärungstexte und kleine Fotos sowie durch Videoaufnahmen auf zwei Bildschirmen, die den Klang und die mechanische Funktionsweise von einigen der ausgestellten Automaten dokumentieren. Abbildung 3: Präsentation „Ludwig Hupfeld AG“. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 9 Zur Mechanik dieser Instrumente vgl. Birgit Heise, Leipzigs klingende Möbel – Selbstspielende Musikinstrumente 1880–1930, Katalog zur Sonderausstellung „music.mp0 – Selbstspielende Instrumente aus Leipzig“ im Grassi Museum für Musikinstrumente der Universität Leipzig, Altenburg 2015, S. 37. 5! ! Abbildung 4: Präsentation „Selbstspielende Musikinstrumente zu Hause“. Abbildung. 5: Präsentation „Dauerbeschallung im Wirtshaus“. Generell ist für die Dauerausstellung festzuhalten, dass Erklärungstexten und Illustrationen bei der Präsentation lokaler Kontexte eine zentrale Bedeutung zukommt, während Informationen zu den Instrumenten als solche sehr knapp sind. Bei einer Vitrine im Bereich der Renaissance etwa, mit Pommern und Zinken aus Deutschland und Frankreich (Abb. 6), bietet ein ausführlicher Erklärungstext an der Seitenwand Informationen über Stadtpfeifer und Ratsmusiker in Leipzig und beschreibt, bei welchen musikalischen Anlässen sie auftraten. Erklärungen über Bauweise und Spieltechnik fehlen10. Weitere !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 10!Lediglich bei Führungen wird umfassend auf die Funktionsweise der Instrumente eingegangen.! 6! ! 7! instrumentenkundliche Schlussfolgerungen können sich lediglich aufgrund der Betrachtung der Instrumente ergeben. Das entspricht durchaus dem Konzept der Kuratorin Eszter Fontana11. Ihre Intention war es, einen lokalen Bezug zu vermitteln und die Instrumente „für sich selber sprechen“ und „ausstrahlen“ zu lassen. Die Besucherinnen und Besucher sollen „sich durch die Betrachtung der Musikinstrumente Fragen stellen“12. Der Musikpädagoge Frank Sindermann, der während der Realisierung der Ausstellung am Haus beschäftigt war, bemerkt ergänzend hierzu, dass eine Betrachtung der Musikinstrumente als Kunstobjekte intendiert sei „und die Musik gar nicht mal manchmal das entscheidende scheint“. Er bestätigt (und bedauert), dass Bautechnik oder Spielweisen nur eine geringe Bedeutung haben.13 Abbildung 6: Pommern und Zinken. Die Besucherinnen und Besucher kommen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen ins Grassi-Museum. Das Spektrum umfasst ein Fachpublikum, das gezielt nach Informationen sucht ebenso wie Liebhaber alter Instrumente bis hin zu Interessierten mit nur geringen !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 11 Eszter Fontana war Museumsdirektorin von 1995 bis 2013. Persönliche Mitteilung, 28. April 2015. 13 Persönliche Mitteilung, 28. April 2015. Diese Ansicht wird von anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geteilt. Aus diesem Grund wurden etwa in der neu gestalteten Ausstellung zur Leipziger Musikautomaten-Industrie Medienstationen installiert, mit Videofilmen, die u. a. die Funktionsweisen der Instrumente vorstellen. Auch in einem 2015 überarbeiteten Bereich zur Bach-Zeit werden Bauund Spielweise stärker berücksichtigt. Als Kuratorin der neuen Musikautomaten-Ausstellung zeichnet Birgit Heise, die Präsentation zur Bach-Zeit hat der neue Museumsdirektor Josef Focht kuratiert. 12 ! 8! musikalischen Vorkenntnissen. Eine Fülle von unterschiedlichen Rezeptionsweisen lässt sich in Abhängigkeit von individuellen Erfahrungen, Interessen und Vorkenntnissen ausmachen. Zum Teil werden die Instrumente wie Möbelstücke und unter kunsthandwerklichen Gesichtspunkten betrachtet, Technikbegeisterte spüren der Komplexität der Mechanik nach, Liebhaber beurteilen die Qualität des Klanges bei Musikbeispielen. Die lokalen Themen, so ein Befund unserer Untersuchungen, werden weitgehend vermittelt. Vielfach und von unterschiedlicher Seite (auch von „Nichtfachleuten“) wird das Fehlen detaillierter Informationen zu den präsentierten Instrumenten beklagt. Die Idee, dass die Instrumente für sich sprechen mögen, scheint damit nur mit Abstrichen erfolgreich umgesetzt. Kritisiert wird weiterhin der mangelnde Einsatz von klingender Musik (obwohl es die Medienstationen gibt). In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass die Instrumente in der Dauerausstellung in der Regel nicht gespielt werden dürfen. 100 Jahre deutscher Schlager Gronau ist eine kleine Stadt in Westfalen an der niederländischen Grenze, Insidern vielleicht bekannt als Geburtsort des deutschen Rockstars Udo Lindenberg. Das 2004 eröffnete rock’n pop museum dort widmet sich in seiner Dauerausstellung der Geschichte der Popmusik mit einem Schwerpunkt auf die Entwicklungen in Deutschland. Zudem gibt es immer wieder thematisch fixierte Wechselausstellungen. Vom März 2014 bis zum März 2015 präsentierte das Haus eine Ausstellung mit dem Titel „100 Jahre deutscher Schlager“. Auch sie war chronologisch aufgebaut, mit verschiedenen Epochen, die jeweils räumlich getrennt abgehandelt wurden (Abb. 7). Als Events fungierte eine Reihe sehr unterschiedlicher Artefakte. Die Bandbreite reichte von Verbreitungsmedien der jeweiligen Zeitabschnitte über Bühnenkleidung und persönliche Gegenstände der Protagonisten bis hin zu Fanartikeln, verbunden mit Texttafeln, Fotos, Videofilmen und Klangbeispielen. Die Klangbeispiele konnten mittels eines Audioguides angesteuert werden. ! 9! Abbildung. 7: „100 Jahre deutscher Schlager“. Eingang zum Bereich der 1950er Jahre. Drei Objektkonstellationen möchten wir näher vorstellen. Im Bereich „Schlager der NS-Zeit“ war eine der Vitrinen dem Textdichter Bruno Balz und dem Komponisten Michael Jary gewidmet, die zusammen einige der bekanntesten Schlager während der NS-Zeit komponierten. Die Vitrine enthielt eine Sonnenbrille von Zarah Leander, eine Schreibmaschine, eine goldene Feder für Bruno Balz, verliehen 1983; außerdem eine GemaMedaille, eine Einbürgerungsurkunde aus dem Jahr 1928 sowie die Urkunde einer Militärregierungsbefreiung aus dem Jahr 1946 von Michael Jary (Abb. 8). An der Wand rund um die Vitrine fanden sich Schallplatten und Fotos von Interpretinnen und Interpreten sowie Notenblätter mit Gesangstexten aus der NS-Zeit, aber auch aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein erster Plot ist leicht nachzuvollziehen: Es wird deutlich, dass der Erfolg des Komponistenduos die NS-Zeit überstanden hat. Das untermauerte eine Texttafel neben der Vitrine. Sie informierte zunächst darüber, dass viele (vor allem jüdische) Protagonisten des deutschen Schlagers während der NS-Zeit Deutschland verlassen mussten oder im Lagersystem der Nazis ermordet wurden, während nicht-jüdische Texter und Komponisten an ihre Stelle traten. Dann verweist der Text auf Michael Jary und Bruno Balz als „kongeniales Schlagerduo, das einige der populärsten Schlager während des Nationalsozialismus aber auch danach geschrieben hat“. Hier wäre zu fragen, inwieweit die Einbürgerungs- und die Militärbefreiungsurkunde von Michael Jary sich in das Narrativ einfügen. Die Texttafel bietet eine mögliche Erklärung, indem sie auf Vertreibung und Mord und die nachrückenden nicht-jüdischen Künstler verweist. Man könnte nämlich annehmen, ! 10! dass Balz und Jary die Notlage der Verfolgten ausgenützt hätten. Dagegen wirken diese Urkunden. Die Einbürgerungsurkunde bezeugt die polnische, „nicht arische“ Herkunft des Komponisten, die Militärbefreiungsurkunde weist ihn nach dem Krieg als nationalistisch unbelastet aus. Vor allem letzteres Dokument wird so zu einem Zeichen für den einwandfreien Charakter des Komponisten. Abbildung 8: Präsentation der Schlagerkomponisten Michael Jary und Bruno Balz. Eine Vitrine im Bereich der 1950er Jahre zeigte Exponate zu Gerhard Winkler, einem der bekanntesten Schlagerkomponisten und Sänger jener Zeit. Sie enthielt den Paul-LinckeRing, verliehen 1957 für besondere Verdienste um die deutschsprachige Unterhaltungsmusik, ein privates Fotoalbum des Sängers mit Bildern von seinen Urlaubsreisen nach Italien, eine Medaille sowie ein dazugehöriges Schreiben vom italienischen Außenministerium als Dank für die Verdienste um die deutsch-italienische Verständigung (Abb. 9). Flankiert wurde die Vitrine durch Notendrucke von Gerhard Winklers Schlagern, u. a. die „Capri Fischer“ und das „Chianti Lied“. Es ging bei dieser Konstellation um das in den 1950er Jahren typische Schlager-Topos des Fernwehs. Dabei relativierten sich ein Stück weit verbreitete Vorstellungen, denen zu Folge ferne Länder im deutschen Schlager realitätsfremd als imaginäre Sehnsuchtsorte konstruiert werden. Gerhard Winklers Italien ist konkret, und sein Preisgesang hat konkrete Auswirkungen z. B. für die Tourismusindustrie, denn er verweist auf Sehnsüchte, die sich durchaus erfüllen lassen. ! 11! Abbildung 9: Präsentation des Schlagersängers und -komponisten Gerhard Winkler. Im Bereich des gegenwärtigen Schlagers war ein Abschnitt dem Sänger Dieter Thomas Kuhn gewidmet. In einer Vitrine fanden sich neben einem Konzertplakat ein rosafarbenes Bühnenkostüm, ein mit Plüschtieren benähter Sessel aus dem Besitz des Künstlers sowie diverse Auszeichnungen (Abb. 10); was es mit dem Plüschtiersessel auf sich hatte, wurde aufgrund der Präsentation nicht deutlich, möglicherweise handelt es sich um ein Geschenk von Fans. Ein Podest neben der Vitrine zeigte Haarlocken von Begleitmusikern des Sängers, versehen mit deren Vor- bzw. Spitznamen: „Dieter“, „Howie“, „Nino“, „Udo“. Auf einer Tafel davor fand sich folgender Text: „Nach einer künstlerischen, aber auch kommerziellen Tiefphase erlebt der Schlager seit Ende der 1990er Jahre ein Revival, ausgelöst durch Künstler wie Gildo Horn und Dieter Thomas Kuhn, die alte Lieder in einem neuen Gewand interpretieren und damit ganz neue Fans für sich gewinnen.“ Gildo Horn und Dieter Thomas Kuhn interpretieren Schlager in einer schrillen, übersteigernd anmutenden Weise, die somit durchaus satirischen Charakter hat. Das wird aber weder von den Interpreten noch von den Fans kaum jemals explizit so gesagt und würde möglicherweise auch verneint werden. Die Ausstellung entspricht dem in der Szene üblichen Umgang mit der Interpretationsweise, von Satire ist keine Rede. Die museale Erzählform, bei der sich, wie oben beschrieben, Plots insbesondere aufgrund von Schlussfolgerungen ergeben können, erweist sich als idealer Vermittler. Voraussetzungen für die hier dargestellten museumsanalytischen Interpretationen waren Vorbildung und spezifische Interessen und damit die Bereitschaft zur Reflektion. Im Fall der ! 12! Vitrine zu Bruno Balz und Michael Jary muss man z. B. wissen, was eine Militärbefreiungsurkunde ist, um den herausgearbeiteten Plot zu verstehen. Die Interpretation der Winkler-Vitrine erfordert Überlegungen vor dem Hintergrund kulturkritischer Kenntnisse. Um die künstlerische Ambivalenz von Dieter Thomas Kuhn nachzuvollziehen, bedarf es Insider-Wissen. Gleichwohl korrespondieren die Interpretationen vielfach mit den Absichten des Kurators Martin Lücke. Ihm zufolge sollte etwa die Militärbefreiungsurkunde verdeutlichen, warum die beiden Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg „bruchlos“ ihre Karriere fortsetzen konnten. Die Medaille des italienischen Außenministeriums an Gerhard Winkler wiederum wurde präsentiert, um auf die Bedeutung der Italienschlager von Gerhard Winkler für den Italientourismus zu verweisen14. Zur Präsentation von Dieter Thomas-Kuhn bemerkte Lücke: „Der Besucher soll sich seine Meinung bilden, der Besucher soll sagen, aber das ist doch nicht ernst gemeint, liebe Leute, das ist doch ein Witz. Wir wollen das nicht vorgeben. Denn es gibt ganz viele Dieter Thomas Kuhn-Fans, die sehen das als Ironie, die sehen das als Überzeichnung und die andere Hälfte der Fans sieht ihn genau so als Person, sie finden diese Figur, Dieter Thomas Kuhn oder auch ihre Rolle interessant und sehen dahinter gar keine Ironie. Und wir möchten das nicht befördern“15. Abbildung 10: Präsentation des Schlagersängers Dieter Thomas Kuhn. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 14 15 Persönliche Mitteilung, 18. September 2015. Persönliche Mitteilung, 5. Juni 2015. ! 13! Bei der Besucherrezeption wird wiederum deutlich, wie sehr Lesarten und Schlussfolgerungen von individuellen Bedingungen abhängen. So konnten wir zum Beispiel die Rezeptionsweise einer kleinen niederländischen Reisegruppe beobachten, die die Ausstellung in weniger als 20 Minuten durchmaß (wir benötigten für einen ersten Rundgang etwa eineinhalb Stunden). Dabei war die Freude immer dann groß, wenn jemand aus der Gruppe ein Lied oder einen Interpreten bzw. eine Interpretin wiedererkannte, es folgte meistens ein reger Austausch und zum Teil wurden die Lieder dann gesungen. Zwei Besucherinnen der Gruppe hielten sich etwas länger vor der Vitrine zu Bruno Balz und Michael Jary auf. Sie hatten das Konterfei von Heidi Brühl entdeckt und die Vinyl-Schallplatte mit ihrem Lied: „Wir wollen niemals auseinandergehen“, komponiert von Balz und Jary in den 1960er Jahren. Die Damen waren etwas älter, und der Schlager hatte offensichtlich Bedeutung in ihrer Jugend gehabt. Mit höchstem Vergnügen und nicht ganz ohne selbstironisches Sentiment sangen sie gemeinsam das Lied. Dass sie sich in dem Raum zum Thema „Schlager im Dritten Reich“ befanden, spielte nicht die geringste Rolle. Sie bezogen die Illustration und die Schallplatte nicht auf die Objekte, in deren Kontext sie ausgestellt waren, sondern auf ihre persönlichen Lebenserfahrungen. Resümee Es zeigt sich, dass Museumsanalysen häufig zu Interpretationen führen, die weitgehend mit den Absichten der Kuratorinnen und Kuratoren übereinstimmen. Das entspricht auch unseren Erfahrungen bei vielen anderen Museen. In beiden Ausstellungen lassen sich Schlussfolgerungen aufgrund der Selektion und Anordnung der Artefakte ableiten. Im GrassiMuseum verlässt man sich bei der Vermittlung lokaler Themen jedoch stärker auf Objekte in Verbindung mit Erklärungstexten und illustrierenden Abbildungen. Hinsichtlich der Rezeption ist die Heterogenität des Publikums zu beachten. Folgerungen korrespondieren in hohem Maße mit individuellen Voraussetzungen. Das ist ein durchaus bekanntes Phänomen, aufgrund dessen von museumswissenschaftlicher und museumspädagogischer Seite bisweilen der Ruf nach konstruktivistischen Konzepten laut wird, wie sie der amerikanische Pädagoge George Hein in die Diskussion zur Museumsgestaltung eingebracht hat16. Hier geht es darum, inhaltliche kuratorische Absichten zurückzuschrauben und Ausstellungen so zu konzipieren, dass Besucherinnen und Besucher aufgrund ihrer Erfahrungen individuelle Erkenntnisse ableiten. In Ansätzen findet sich so ein Konzept im Grassi-Museum, mit dem Anliegen, die Instrumente mögen für sich selbst sprechen. Dabei ist zu bedenken, dass ein Gutteil des Publikums eben doch konkretes Wissen vermittelt bekommen möchte und !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 16!George Hein, „The Constructivist Museum“, in: The Educational Role of the Museum, hrsg. v. Eilleen Hooper-Greenhill, London et al. 1999, S. 73–79. ! 14! dezidierte Bildungsansprüche an die Institution stellt. Auch wenn Museen Orte der Freizeit sind, gehören sie dennoch zu den Kommunikationsmedien des kulturellen Gedächtnisses. Dessen Einrichtung, schreibt Aleida Assmann in ihrem Buch über „Erinnerungsräume“, bringt die Gefahr der Verzerrung, der Reduktion und der Instrumentalisierung von Erinnerung mit sich, ein Problem, das nur durch begleitende Kritik und Diskussion aufgefangen werden kann17. Demzufolge wären nicht nur offene, der Erwartungs- und Erfahrungsvielfalt entsprechende Konzepte gefragt, sondern gerade auch Herangehensweisen, die Positionierungen beinhalten, an denen sich das Publikum reiben kann. !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! 17 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2003, S. 15.