Untitled - Widerspruch - Münchner Zeitschrift für Philosophie

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Widerspruch Nr. 1 (01/81) Wissenschaft und sozialer Fortschritt
(1981)
INHALTSVERZEICHNIS
Editorial
Artikel
3
Zum THEMA: Wissenschaft und sozialer Fortschritt 9
Hans-Jörg Sandkühler
Die Frage nach den humanen Zielen der Wissenschaft 11
Elmar Treptow
Zum Verhältnis von Philosophie und Praxis
25
Alexander von Pechmann
"Freiheit der Wissenschaft" oder die "Relevanz der
Curiositas". Zu Hermann Lübbes neuem Buch
"Philosophie nach der Aufklärung"
32
Ralph Marks
Robert Spaemann:
Technische Eingriffe in der Natur als Problem der
politischen Ethik
40
Berichte und Bernard Léon
Rezensionen Dieter Henrich: Der neue Mann in München
(mit nicht todernst gemeinten Pointen)
49
Paul Bayer
Wissenschaft im Interesse der Arbeitnehmer
55
Alexander von Pechmann
Hegel und Marxismus
Bericht von einer philosophischen Tagung in
Berlin/DDR
58
In: Widerspruch Nr. 01 (01/81) Wissenschaft und sozialer Fortschritt (1981), S. 3-8
Autor: Die Redaktion
Editorial
Editorial
'Wieder mal eine Zeitschrift von frustriertes Philosophen für frustrierte
Philosophen. Wer weiß, wie lange die sich wohl diesmal hält, werden
einige von Euch denken. Auch wir wissen es nicht. Aber eines wissen
wir: die bloße Kritik an den Zuständen im herrschenden Lehrbetrieb, die
aufkommende Frustration über die Sinnlosigkeit des „Philosophierens“
in des Seminaren genügt nicht als solide Grundlage für die Arbeit an
einer Zeitschrift.
Blinder Aktionismus nach dem Motto 'Tu irgendwas, aber tu was' reicht
vielleicht hin, um eine Zeitschrift zu gründen und eine Zeit lang ein
Publikum für den eigenen angestauten Unmut zu finden; aber diese Unmittelbarkeit des Handelns trägt nicht; sie hat schon den Keim des Untergangs in sich, wie es in der Sprache der Philosophie so anschaulich
heißt.
Für eine Zeitschrift - und erst recht für eine alternative zum herrschenden Zehrbetrieb - braucht es ein Programm. Und das haben wir! Ein
klares, nachvollziehbares und festumrissenes Programm, das wir Euch
vorstellen wollen.
Philosophie - wofür?
Beginnen wir zunächst mit der zweiten Frage, die seit eh und je an die
Philosophie gerichtet worden ist. Nicht: „Was ist eigentlich die Philoso-
Editorial
phie?“ - die spezifische geistige Aneignung der Welt als Totalität -, sondern: „Was soll Philosophie?“ Wozu ist sie eigentlich gut? - Eine berechtigte Frage, Sie ist sogar so berechtigt, daß sie nicht nur immer wieder die
Philosophen stellen, sondern alle die arbeitenden Menschen, die wissen
wollen, was sich die Philosophen da mit ihren Geldern eigentlich alles
ausdenken, und was damit anzufangen ist.
Philosophie ist für die Philosophie nicht das Letzte. Sie hat ihren Sinn
und Zweck nicht in sich, sondern muß sich in ihrem Tun vor der Gesellschaft verantworten und an deren Bedürfnissen und Interessen orientieren, Wie jede Arbeit, so ist auch die philosophische zugleich gesellschaftliche .Arbeit. Im Grunde ein so selbstverständlicher und naheliegender
Gedanke, daß er den meisten unserer Philosophen aufs Höchste suspekt
ist.
Einiges über das „Münchner Philosophieren“ oder die Selbstgenügsamkeit der Philosophie
Leugnet man diese Erkenntnis, geht man also vom immanenten Zweck
der Philosophie, von der Philosophie als Selbstzweck aus, dann befinden
wir uns schon auf dem besten Wege, uns der gesellschaftlichen Realität
zu entheben und in die lichten Höhen der „Münchner Philosophie“ zu
entschweben. Aus der lebendigen Wirklichkeit gelangen wir in das tote
Reich der verschiedenen Geister setzen, an die Stelle der realen Auseinandersetzung und des wirklichen Lebens die Stille der geistigen Versenkung in eine längst vergangene Gedankenwelt. Die lebendige Unruhe
wird ersetzt durch „eine dem philosophischen Geist nicht gerade günstige Bravheit“ wie ein zeitgenössischer Philosoph die gegenwärtige Situation unserer Philosophie zurecht schildert.
Diese Abstraktion und Trennung der „geistigen Welt“ von der Wirklichkeit aber erzeugt nichts anderes als einen ganz unwirklichen Schein der
Selbstgenügsamkeit. An die Stelle wirklicher Befriedigung tritt eine
Scheinbefriedigung in der Entrückung und Entzückung an jener geistigen Welt, die nur ein paar weltferne Studenten der Philosophie auf die
Dauer in ihren Bann ziehen kann. Aber für die anderen führt diese untragbare Kluft zwischen einer Welt der Unsicherheit, der physischen und
Editorial
psychischen Verarmung, der Arbeitslosigkeit und der Kriegsgefahr einerseits und der heiteren, unbeschwerten , mit sich zufriedenen Gedankenwelt der Philosophen andererseits zu einem Widerspruch, den selbst der
Stärkste nicht lange auszuhalten vermag, und der ihn am Sinn der Philosophie zweifeln läßt.
Dieser Widerspruch ist jedoch keineswegs das Problem der Philosophie
insgesamt, sondern der „Münchner Philosophie“, insofern sie mit dem
Mittel der Abstraktion bewußt oder unbewußt statt zur Erklärung, nur
zur Verklärung der gesellschaftlichen Zustände beiträgt.
Zum Verhältnis von Philosophie und Wirklichkeit
Philosophie, die sich nicht Selbstzweck ist, hatte immer schon ein bewußtes Verhältnis zum gesellschaftlichen Leben, zu den Aktionen, Gedanken und Ideen der Menschen. Wirkliche Philosophie hat nie sich
selbst, sondern immer das wirkliche Leben zum Gegenstand.
Nur - wie verhält sie sich zu diesem ihrem Gegenstand? Verhält sie sich
zu ihm nur theoretisch oder auch praktisch? Ist es die Aufgabe der Philosophie, in einer gleichsam titanischen Anstrengung eine irgendwie aus
den Fugen geratene Wirklichkeit im Begriffe, im philosophischen Denken, nochmals zusammenzubringen und sie als letztlich doch vernünftig
zu erweisen? Oder ist es ihre Aufgabe, den Menschen Zielvorstellungen
zu artikulieren, ihnen Perspektiven zu formulieren und sie zu begründen,
die auf einen gesellschaftlichen Fortschritt hinorientiert?
Nach unserer Auffassung kann sich das philosophische Denken ebensowenig selbst genügen wie es nur ein theoretisches „Auf-den-Begriffbringen“ ist. Philosophie soll dem gesellschaftlichen Fortschritt dienen
und sie muß dies, wenn sie dem Leben der Menschen überhaupt etwas
geben will. Nicht abstrakte Utopien, unwirkliche Wunschvorstellungen
von einer anderen, besseren Welt, sondern mögliche und realistische
Ziele soll die Philosophie nach unserer Auffassung setzen und begründen.
Editorial
Wir verwechseln nicht den Mißstand und den Stillstand des philosophischen Fachbereichs mit der Wirklichkeit. Wir sehen eine Welt, die auf
Veränderung drängt, die unter vielen Qualen und mit großen Mühen
Neues hervorbringen will und wird; Aufgabe der Philosophie ist es, dieses „Neue“ zu formulieren und ihm zur Realität zu verhelfen. Die Einheit von Theorie und Praxis, von Philosophie und tätiger Veränderung
mag zwar ein theoretisches Problem sein, seine Lösung aber ist allemal
eine Sache der Praxis.
Die arbeitenden Menschen in den Betrieben und Büros, im Studium und
im Beruf, die oft genug orientierungslos um ihre Existenz kämpfen müssen, sie haben ein Recht auf eine Philosophie, die ihnen weder erklärt,
daß ja letztlich alles seine Ordnung habe, noch weismachen will, wie sie
sich zu verhalten haben und was eigentlich rechtens sei, sondern auf eine
Philosophie, die sich ihrer Interessen annimmt, sie artikuliert, verallgemeinert und bei ihrer Realisierung behilflich ist.
Unsere Zeitschrift - Ein Organ der lebendigen Diskussion ...
Unsere Zeitschrift möchte wieder einmal die Wirklichkeit, in der wir
leben, wenn wir nicht auf gut münchnerisch philosophieren, und die vor
den Seminaren halt machen mußte, in die Philosophie einbringen. Wir
wollen uns nicht weiterhin mit scholastischen Pseudo- oder Sekundärproblemen herumschlagen, sondern sie in der Weise aufnehmen und
diskutieren, wie sie uns die Wirklichkeit stellt, - und zwar sub specie ihrer
Veränderung. Wir wissen, daß das schwierig und kompliziert ist. Wir
wollen keine Popularphilosophie treiben, die jedem nach dem Munde
redet; auch keine „politische Philosophie“ im Sinne eines Teilgebiets der
Philosophie, sondern eine Philosophie, die sich in ihren innersten Quellen dem historischen und dem sozialen Fortschritt der Menschen verpflichtet weiß. Wir sehen auch, wie schwer das gegenwärtig ist. Gerade
heute, wo ganze philosophische und wissenschaftliche Institute es sich
zur Aufgabe gemacht zu haben scheinen, uns zum Verzicht auf Veränderung, auf Fortschritt mit allen nur erdenklichen Mitteln zu bewegen.
Aber wir beziehen unser Vertrauen auf eine bessere Zukunft aus den
Editorial
Kräften der Vergangenheit und der Gegenwart, die diese Verzichtserklärungen nicht gemacht haben, die sich dem Fortschritt der Menschheit
verpflichtet gefühlt haben und weiterhin fühlen. Wir orientieren uns am
Gedankengut vergangener und gegenwärtiger Philosophen, die ihre theoretische Arbeit in den Dienst praktischer Veränderung von Natur und
Gesellschaft gestellt haben.
... und ein Gegner von Dogmatismus und Reduktionismus in der Philosophie
Was wir unter allen Umständen vermeiden wollen und vermeiden werden, ist engstirniger Dogmatismus, lebensfernes Sektierertum und unphilosophische Rechthaberei. Wir vertreten keinen Alleinvertretungsanspruch in den Fragen des Fortschritts und der Entwicklung von
Menschheit und Gesellschaft. Die Zeitschrift soll ein Forum der Diskussion, eine Plattform der lebendigen Auseinandersetzung um die wesentlichen Fragen über unsere Gegenwart und um die Perspektiven der Zukunft sein, an der sich jeder Interessierte beteiligen kann und sollte. Allerdings - sie soll eine philosophische Zeitschrift werden, eine Zeitschrift,
die diese Fragen und Probleme unter philosophischen Aspekten und
Gesichtspunkten thematisiert und behandelt.
Sicherlich sind auch die Probleme der Wissenschaftstheorie, der Erkenntnistheorie, der Sprache, der Logik und Mathematik, oder der Platon- und Aristoteles-Deutung philosophische Probleme. Aber wir wenden uns gegen die verkürzte Auffassung, Philosophie hätte keine andere
Aufgabe, als über die bestehenden Wissenschaften zu reflektieren, oder
sei nicht mehr als die Erinnerung und Vergegenwärtigung vergangener
Philosophie, und sei darauf zu reduzieren.
Philosophie ist für uns in erster Linie und vor allem die geistige Aneignung der Wirklichkeit als Totalität; nicht lebensferne Abkapselung und
weltfremde „Theoretisierei“, sondern die geistige Öffnung zur wirklichen
Welt, die Aufnahme und theoretische Verarbeitung ihrer Probleme und
die Entwicklung und Begründung von Perspektiven und Zielvorstellun-
Editorial
gen. Diese Offenheit schließt sowohl Dogmatismus als auch Reduktionismus aus.
Einladung
Wir wollen eine Zeitschrift gestalten, die all dies berücksichtigt, die interessante, diskussionswürdige und perspektivreiche Beiträge veröffentlicht, die wichtige Informationen über das philosophische Geschehen
gibt, sich mit der gegenwärtigen Philosophie vor allem in München kritisch auseinandersetzt und - die dazu Eure Unterstützung und Mitarbeit
braucht.
In: Widerspruch Nr. 01 (01/81) Wissenschaft und sozialer Fortschritt (1981), S. 55-57
Autor: Paul Bayer
Bericht
Paul Bayer:
Wissenschaft im Interesse der Arbeitnehmer
Ca. zweihundert Gewerkschaftsfunktionäre, Vertrauensleute, Wissenschaftler, Studenten fanden sich am 8./9. Mai beim DGB-Kreis München zusammen, um über Kooperationsansätze, sowie Elemente einer
Wissenschaft im Interesse der Lohnabhängigen zu diskutieren. Entsprechend ihrem gemischten Rahmen versprach diese Veranstaltung einige
Anregungen, Da die meisten Teilnehmer selbst Mitglieder einer Einzelgewerkschaft waren, blieb es nicht nur bei Umarmungsakten der Wissenschaftler und Arbeitnehmervertreter; nach einleitenden Referaten und
gemeinsamer Diskussion über die momentane Entwicklung am Freitagabend, wurde samstags in 6 Gruppen gearbeitet (Wirtschaftsregion München, Rationalisierung im Angestelltenbereich, industrielle Arbeitsplätze,
Arbeitsrecht, Jugend- und Erwachsenenbildung, Gewerkschaften und
Hochschule).
Schließlich wurde angeregt und beschlossen, die Zusammenarbeit in
München weiterzuführen, Interessenten können sich an den dort gegründeten „Arbeitskreis Wissenschaften-Gewerkschaften“ wenden.
Welchen Hintergrund nun haben diese Annäherungsversuche, wie auch
die Technikdiskussion, die wir in den letzten Jahren verstärkt erleben
können?
Auf der Basis eines verminderten Wirtschaftswachstums mit zunehmend
schwereren Einbrüchen verschlechtert sich die Lebenslage der Lohnabhängigen zusehends. Mit Arbeitslosenzahlen um die 2,5 Millionen (einschließlich verdeckter Arbeitslosigkeit), seit mehreren Jahren fallenden
Sozialleistungen und neuerdings gesunkenem Reallohn brechen die
sozialen Spannungen zunehmend auf. Der führende soziale Block der
Wissenschaft im Interesse ...
letzten Jahre, dessen Verknöcherung die Bonner Regierungskoalition ist,
sieht sich mehr und mehr unerträglichen Zerreißproben ausgesetzt.
So befinden sich die Organisationen der Lohnabhängigen seit mehreren
Jahren in der Defensive. Mit einer Politik, orientiert auf ein starkes Wirtschaftswachstum, stehen sie der derzeitigen Lage ziemlich ratlos gegenüber. Hier sehen sie sich konfrontiert mit Rationalisierung, Steigerung
der Arbeitsintensität, Massenarbeitslosigkeit etc., ohne die materielle
Situation der Lohnabhängigen weiter verbessern zu können. Es stellt sich
ihnen das Problem aufgrund der zugespitzten Lage eine neue, umfassende Konzeption der gesellschaftlichen Entwicklung auszuarbeiten. Die
etablierten Parteien scheinen dazu nicht in der Lage. Das Modell der
Konservativen mit rigoroser Sparpolitik, Thatcherismus bietet nur eine
generelle Verschlechterung der Lebenslage großer Teile der lohnabhängigen Bevölkerung.
Mit der angerissenen gesellschaftlichen Entwicklung verändert sich die
Stellung der Intellektuellen. Jeder soziale Block, jede bestimmte Gesellschaftsformation gerade in der neueren Geschichte setzt bestimmte
Funktionen der Intelligenz; jeder „Entwicklungsprozeß ist an eine Dialektik Intellektuelle - Masse gebunden“ (Gramsci). Diese Funktion der
Intellektuellen im alten sozialen Block verschieben sich. Das drückt sich
ebenso an der sich verändernden Lebenslage der Intellektuellen aus (z.B.
Akademikerarbeitslosigkeit, Angestelltenrationalisierung), wie an den
ideologischen Kämpfen, die in den letzten Jahren ausgefochten werden.
(von der Grundwerte bis zur Ökologiediskussion).
Mit dem Ende des 'Wirtschaftswunders' sieht die Intelligenz ihre Rolle in
Frage gestellt:
Restauration der Intelligenz als Welt, um die sich die Sonne dreht, auf
Kosten des gemeinen Fußvolks des gesellschaftlichen Arbeitskörpers
oder aber bewußte Transformation dieser Rolle, basierend auf der Einsicht in faktische gesellschaftliche Zusammenhänge?
Rufe nach der Eliteuniversität, die Wachstumsdebatte, wie die Konzeption einer 'arbeitnehmerorientierten Wissenschaft' haben die genannte
Frage so oder so zum Inhalt. Die Entscheidung der Intellektuellen, also
hauptsächlich eines großen Teils der lohnabhängigen Mittelklassen über
Restauration oder Fortschritt in ihrer Zuordnung ist noch nicht ausgemacht. Entschieden wird hier als Resultat eines umfassenderen Diskussions- und Willensbildungsprozesses, in der Praxis also von Mal zu Mal in
der Entwicklung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse.
Paul Bayer
Es ist daher notwendig die Beziehung der Intellektuellen zur lohnabhängigen Mehrheit der Bevölkerung verstärkt zu diskutieren. Die Diskussion
über die 'Grundwerte' oder über 'sozialen Fortschritt' ist nichts anderes
als eine Neubestimmung der politischen Dialektik Intellektuelle - Masse.
Die Tagung „Wissenschaft im Interesse der Arbeitnehmer“ versuchte
diese Beziehung zu konkretisieren.
Wie erwähnt, darf es dabei nicht bei einer wechselseitigen Umarmung
bleiben, sondern die Wechselwirkung Wissenschaft – Gewerkschaft muß
intensiviert, ausgebaut und bewußt gestaltet werden.
Das Märchen von der Neutralität der Wissenschaft hatten sich die Teilnehmer lange schon aus dem Kopf geschlagen.
Paul Bayer
In: Widerspruch Nr. 01 (01/81) Wissenschaft und sozialer Fortschritt (1981), S. 49-54
Autor: Bernhard Leon
Bericht
Bernhard Leon:
Dieter Henrich: Der neue Mann in München
(mit nicht todernst gemeinten Pointen)
Gar nicht ironisch gemeint ist es, wenn wir dem Fachbereichsrat und
dem Kultusminister zur Berufung von Prof. Dr. Dieter Henrich für den
freiwerdenden Krings-Lehrstuhl zu gratulieren uns erlauben.
Unsere Anerkennung gilt nicht nur der diesmal, beinahe schon zur Ausnahme gewordenen, reibungslosen Abwicklung der Geschichte – denn es
bedurfte weder eines Sondervotums, noch mußte die Berufungsliste von
Herrn Maier umgestülpt und auf den Kopf gestellt werden, weder intervenierte Breschnew, noch Reagan, und auch der Papst mitsamt seiner
Lobby bis herunter zum Kardinal von München-Freising hielten sich
zurück – sondern umsomehr der Entscheidung für eine anerkannte Koryphäe bundesrepublikanischer Philosophie, die, weit über die Grenzen
hinaus bekannt, sich bereits in Berlin und Heidelberg als ordentlicher
Professor einen Namen gemacht hat und zudem Autor vieler Bücher
und Aufsätze, als Herausgeber nicht zuletzt der Beihefte der HegelStudien und als Präsident der Hegel-Vereinigung eine veritable Gestalt
bildet und als würdiger Nachfolger des Emeritus Hermann Krings gelten
darf.
„Schülerschaft besagt mehr als Nachfolge“1
Und also kann es nicht einzige Aufgabe sein, eine Laudatio zu schreiben.
Die leider noch kurze 'Begegnung' mit dem Lehrer, dies Resümee mag
1 D. Henrich, Karl Marx als Schüler Hegels. In: Universitätstage 1961, Veröffentlichung der FU Berlin, Berlin 1961, 8.
Freiheit der Wissenschaft
gleichwohl schon gezogen sein, bringt uns auf einige interessante Aspekte, und sie dürfen dies auch; denn
„so ist einer Schüler gerade dann, wenn er der Lehre nicht folgt,
sofern nur seine 'Unfolgsamkeit' daraus entsteht, daß er dem
Lehrer begegnet ist.“2
Wenn wir „das Ganze dessen zum Problem machen“3, was Lehre des
Meisters von der Wahrheit ist, und die banale Frage ausklammern, was
wohl geschähe, wenn Henrich nicht nach München gekommen wäre, so
befinden wir uns auf der Fährte Henrichs, selbst und gerade dann, wenn
uns dazu einige kritische Fragen einfallen:
1. Frage: Das Problem mit der Wirklichkeit
Das Sein des Seienden, das Wesen der Erscheinung, die Form der Materialität, der Weltengrund, das ist es, was einen Philosophen bewegt, und
zwar so sehr, daß der Gegenstand, dieses ordinäre Ding, nur mehr als
Hemmung und ale Schranke empfunden werden kann, der der Phantastik, dem unbeschwerten Fortspinnen des Gedankens allein im Wege
steht.
Diese fundamentale Antinomie, mit der die gesamte klassische Philosophie gerungen hatte wie Jakob mit dem Engel, löst Henrich unheimlich
locker auf und daran zeigt sich sein Genie:
Wozu, 'um mit Hegel zu reden', soll der „Begriff sich in den Ernst des
erfüllten Lebens“4 verlieren, wozu soll er die Sichselbstgleichheit des
sinnlichen Gegenstandes in mühseliger Kleinarbeit überwinden, wozu
die Wahrheit des Begriffs gegen die Beliebigkeit des Meinens herausarbeiten, wozu die Sache ihren Bestimmungen gemäß zergliedern und ihr
in ihrem Zusammenhang auf den Grund gehen, wenn es, 'um mit Hegel
zu reden', doch viel einfacher geht. Anders gesagt, als Philosoph geht
mich die Welt vorderhand überhaupt nichts an. Genial, fürwahr, demgegenüber Hegel wie ein Kanalarbeiter erscheint!
Theorie also soll Wirklichkeit nicht verallgemeinern und auf den Begriff
bringen, sondern kurzerhand abstreifen und hinter sich lassen wie einen
abgeschabten Mantel und einen Punkt jenseits ihrer, im Dunkel der
Transzendenz und im Lichte einer schillernden, phantastischen Subjektivität erringen. Via mystica und via negativa habe ich den transzendenta2
a.a.O., 8.
8.
4 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg, Meiner 1952, 12
3 a.a.O.,
Ralph Marks
len Punkt der Apperzeption schnell erreicht, fungiere als Bedingung der
Möglichkeit, daß überhaupt etwas und nicht vielmehr Nichts ist, und
sonne mich im Glanz meines Ich = Ich.
So gesehen, von der Warte meines universalen Kopfstands aus, schaut
die Welt gleich ganz anders und viel freundlicher aus, sie verliert ihren
vulgären Schein und die Sonne ihres Wesens beginnt zu strahlen; wozu
also sich noch die Hände schmutzig machen, ich schreibe der Welt die
Gesetze vor, und sie hat sich gefälligst danach zu richten; ich sperre mein
Maul auf und ,sättige die Theorie mit Wirklichkeit, und werde so ein
wahrhaft spekulativer Philosoph.
2. Frage: Hat d e r Wahnsinn noch Methode? ...
So im philosophischen Schlaraffenland angelangt, in welchem einem die
gebratenen Tauben wissenschaftlicher Erkenntnis genauso in den Mund
fliegen, wie die Willkür sich Standpunkte ausdenken kann, stellt sich
generell die Trage: Wie hängt die Unzahl der Subjekte miteinander zusammen, wie sieht ihre prästabilierte Harmonie aus, oder, in welche Begriffsform fasse ich die Beliebigkeit des Wähnens? Weil der Begriff, nach
„1“, nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, diese vielmehr nachgerade
ihn sättigen soll, tut sich nach „2“ ein weites Feld auf, das genial so eröffnet wird, ale ich den Begriff des Begriffs bilde. Die Form ist die Form
der Form und der Unförmigkeit. Das Blasen ist das Blasen des Blasens
und der Aufgeblasenheit, das Kalb ist die Kuh der Milch und des Ochsens, um nur einige Beispiele zu nennen, die wir freilich nicht im Henrichschen Oeuvre finden.
Anders gesagt: Wenn das einzige Kriterium der Philosophie, der einzige
Stoff die Form ist, und diese nicht aus der Vernunft der Wirklichkeit
gewonnen, nicht geronnene Wirklichkeit ist, so gilt: ex quodlibet quodlibet. Insofern folgt ebenso, daß die Philosophie die Einzelwissenschaften
nicht mehr verallgemeinern will, ihnen nicht Grundlagenwissenschaft
sein kann, sondern die Wahrheit von einem eigenen, nur ihr zustehenden
Ansatz her sucht5.
Damit hat das Recht der Philosophie auf die geforderte Abstraktion und
Negation des Einzelnen, reine Aufhebung ins Allgemeine und die Arbeit,
es auf den Begriff zu bringen, eine ganz andere Wendung und Qualität
5 D. Henrich, Die Universität der Gegenwart und die Philosophie. In: 15 Jahre FU
Berlin, 1963, 66.
Freiheit der Wissenschaft
gewonnen, ähnlich wie wir sie in Husserls epoché finden, als sie im
Grunde gefordert ist.
Wenn also die Kritik an den Einzelwissenschaften erst einmal sich all
ihrer Ergebnisse entschlagen muß, wenn diese sie nicht von innen transformiert, so vermag sie das nur dürftig und in ganz gehörig äußerlicher
Weise zu tun. Sie kann weder mehr sagen, was Wahrheit ist, noch ist sie
befugt, ein System der Totalität des Wissens zu bilden6, vielmehr übe sie
eich in Sokratischer Bescheidenheit, womit man heutzutage vornehm
seine Skepsis umschreibt. Freilich ist d i e s e Form des Agnostizismus
eine ganz andere als die Kantische, dennoch mag sie als eine Variante
desselben gelten, denn wenn der Grund nach Hegel das Aufheben der
Bestimmungen und des Bestimmtwerdens ist, so tut sich nun erst recht,
um mit Henrich 'mit Hegel zu reden', dahinter der gähnende Schlund der
Grundlosigkeit auf, weshalb die Welt nicht mehr in diesen zurückgeführt
und e r k a n n t werden soll, dies der eigene Standpunkt und die Aufgabe der Philosophie –, nein, sie will g e d e u t e t sein7.
Ist nun Hegel und der deutsche Idealismus auf die Heidelberger Hermeneutik heruntergebracht, so ist klar, daß die Einheit „von Erkenntnisbegriff, einer Weltdeutung und der Selbstinterpretation der Erfahrung eines
bewußten Lebens“8 sich die Philosophie einmal als Problem gestellt hat,
doch man im übrigen diesen überzogenen Anspruch aufgeben muß, und
nicht nur aus diesem Grunde, sondern weil Heidegger, Wittgenstein und
die Ideologiekritik der Frankfurter dies auch schon behauptet haben.9
... Antwort: Jawohl, die hat er! oder „im Westen nichts Neues“
Hier, auf diesem höchsten Punkt der Moderne, dieser Form von Ideologiekritik angelangt, muß unmittelbar erhellen, daß das Bestehende, weil
man sich der Wirklichkeit entschlagen hat und eine Unzahl beliebiger
Alternativen von derselben zum Genusse ausbreitet, als solches praktisch
unangetastet bleibt, und man kann gelinde ausgedrückt sagen, daß diese
Art von Philosophie nicht zufällig von unserer gesellschaftlichen Landschaft genausowenig wegzudenken ist, wie der historische und dialekti-
6 a.a.O.,
66.
D. Henrich, Grenzen und Ziele. Ansprache zur Einführung in die Probleme des
Kongresses. In: Hegel-Studien, Beiheft 17, 7.
8 a.a.O., 7.
9 a.a.O., 9.
7
Ralph Marks
sche Materialismus in der östlichen Hälfte des Globus, sowie der westlichen Mißachtung desselben.
Wo dennoch dieser obskure Gegenstand thematisiert und auf seine
Quellen zurückverfolgt wird, schneidet der Marxismus immer schlecht
ab. Henrich, dazu befragt, weiß seine Apologie der besten aller Welten
durchaus akademisch via negationis darzustellen wozu die besagten Mystifikationen die Voraussetzung bilden und nicht umgekehrt. In seinem
Aufsatz „Karl Marx als Schüler Hegels“10 geht die Reduktion der Praxis
auf die Theorie und dieser auf Biographisches zügig vonstatten.
Nicht Lohn, Preis und Profit waren maßgebend, daß Marx das Kapital
geschrieben hat, sondern der fatale Umstand, daß Marx Hegel über den
Weg gelaufen ist, so daß das Ringen des Schülers mit dem Meister sein
ganzes Leben und Werkeln, seine politische Ökonomie und heute noch
den ganzen Marxismus gefangen nimmt:
Die ungemein philosophische Frage, die durchaus auch eine solche ist
und als solche behandelt werden soll, wie die Einheit des Begriffs mit der
Wirklichkeit herzustellen sei.
Daß die Fragen nach Profitrate, nach Produktions- und Zirkulationssphäre des Kapitals, nach Mehrwerttheorien und Grundrente demgegenüber verblassen, ist klar und als ebenso ausgemacht gilt, daß Marx nie der
Alte war und auch kein gebrochenes Verhältnis zum jungen, sondern
immer jung und so der alte und als solcher Schüler Hegels blieb.
Das Resümee ist klar: Von einem solchen Ödipus, der bis an sein Lebensende mit dem Meister zu ringen hatte und nie damit fertig wurde,
kann ja nichts Gutes kommen, außerdem stellt Henrich fest, hat Marx
die Ausgangsfrage falsch gestellt, so daß der ganze gigantische Kampf
auf seinen Don Quichottischen Kern, auf einen bloßen Windmühlenfight zusammenschmilzt.
So folgt mit kalt fortschreitender Notwendigkeit, daß die 'Philosophie
revisionistisch sein muß', daß ähnlich humanistische Quengeleien (der
junge Kern des alten Marx) aufhören sollen, Hobbes rechtzugeben sei
und Hegel sein Interpret war. Einer sei dem anderen ein Wolf! Und
kaum einer traut sich im Seminar zu protestieren, wenn die HegelInterpretation rhetorisch aufbereitet den Bach hinunter geht und nicht
einmal mehr zwischen Mensch und Tier, deren Konsequenzen norma10 D. Henrich, Karl Marx als Schüler Hegels. In: Universitätstage 1961, Veröffentlichung der FU Berlin, Berlin 1961, 5-19; siehe auch: ders., Hegel im Kontext.
Freiheit der Wissenschaft
lerweise mit Sozialdarwinismus umschrieben werden, unterschieden
wird, so unheimlich aalglatt glitscht einem das Zeug hinunter.
Bernard Léon
In: Widerspruch Nr. 01 (01/81) Wissenschaft und sozialer Fortschritt (1981), S. 40-48
Autor: Ralph Marks
Artikel
Ralph Marks
Robert Spaemann:
Technische Eingriffe in der Natur als
Problem der politischen Ethik
Der zu besprechende Aufsatz von Herrn Prof. Spaemann hat programmatischen Charakter für dessen politische und „philosophische Denkgewohnheiten“. Der noch zu untersuchende Standpunkt repräsentiert
ideologisch das rechte Spektrum der Ökologiebewegung.
Der oben genannte Aufsatz erschien im Jahre 1980 in dem ReclamSammelband „Ökologie und Ethik“ , in dem nun auch Spaemann seine
„philosophischen Bedenken“ vortragen durfte betreffs moralphilosophischer Bedenken der Nutzung von Kernenergie zu friedlichen
Zwecken. Auf die Frage atomarer Rüstung und deren „moralischen Bedenken“ läßt sich Spaemann nicht ein.
Dies geschieht keineswegs aus Zufall oder aus Platzmangel, sondern
entspringt genau dem weltanschaulichen Grundkonzept, das Spaemann
und andere seiner Adepten vertreten.
Für den „unvorbereiteten Leser“ scheint es schwierig zu sein, diesen 25
Seiten langen Aufsatz zu referieren und kritisch zu „würdigen“, da der
Spaemannsche Ansatz und dessen moralphilosophische Konsequenzen
auf weltanschaulichen Voraussetzungen sprich Prämissen beruhen; die
Spaemann selbst nicht hinterfragt.
Freiheit der Wissenschaft
Spaemanns methodisches Vorgehen sieht folgendermaßen aus:
Er unterscheidet grundsätzlich zwei Auffassungen, die beanspruchen
sich dem ökologischen Problemfeld gedanklich zu nähern; und diese
beiden Auffassungen beanspruchen Möglichkeiten zur Lösung ökologischer Fragestellungen an die Hand zu geben.
Beide Auffassungen basieren auf weltanschaulichen Grundkonzepten,
die für Spaemann folgendermaßen aussehen:
Die erste Auffassung ist die anarchistische. Für Spaemann sieht diese
Auffassung folgendermaßen aus:
„Die Freiheit des Menschen besteht gerade darin, daß nicht andere über
den Wert und Rang seiner Wünsche und Interessen zu entscheiden haben. Zur Freiheit gehört, daß ich den Dingen für mich die Bedeutung
geben kann, die ich selbst ihnen zu geben wünsche.
Der Bereich, in dem die individuellen Präferenzen ohne Bevormundung
den Ausschlag geben, ist der freie Markt.“
So weit, so gut, dies ist fast eine marxistisch-ökonomische Erkenntnis,
daß der sogenannte „freie Markt“, auch Marktwirtschaft tituliert auf
einer anarchistischen, nicht geplanten Produktion, Konsumption und
Distribution des Produzierten beruht.
Aber und jetzt zeigt sich, was Spaemann im Grunde beabsichtigt: Er
subsumiert unter dem Anarchismus im allgemeinen, den Sozialismus im
besonderen; als dessen „sozialistische Variante, die eine vorgängige Verschmelzung von Einzelinteressen und Kollektivinteressen ins Auge
faßt“.
Dieser willkürlichen Subsumtion von Sozialismus unter Anarchismus
folgt das Bemühen von Spaemann zu zeigen, warum im Grunde, heißt
aus philosophischen Weisheiten folgend der Sozialismus keine Lösungsmöglichkeiten zur Ökologieproblematik geben kann.
Seine Argumentation ist weder originell noch schlüssig, noch ist sie irgendwie wissenschaftlich begründbar - aber sie repräsentiert das Bewußtsein einer Klasse von Wissenschaftlern, die ihre weltanschaulichen
Vorurteile betreffs anderer Weltanschauungen wissenschaftlich drapieren
und als „ewige“ - heißt philosophische Einsichten dem philosophisch
Interessierten Publikum anpreisen wollen. Entweder, so Spaemann, sind
Ralph Marks
die „menschlichen Wünsche von Natur mit den vorhandenen Mitteln zu
ihrer Befriedigung in prästabilierter Harmonie“ wäre dem so, so macht
man „den Menschen zum Tier“, in Spaemanns Auffassung oder man
setzt voraus, da4ßalle Menschen ihre Ansprüche von sich aus auf ein
gerechtes Maß zurückschrauben. Wäre die zweite Variante zutreffend, so
Spaemann, bestünde die Menschheit nur aus Heiligen.
Welche Grundprämissen unterliegen jener Argumentationsstruktur im
Spaemannschen Denken:
Er argumentiert abstrakt und nimmt sich als Gegenstand des Denkens
den „Menschen-an-sich“ heraus: Dieser „Mensch-an-sich“ ist ein Wolf
unter Wölfen à la Hobbes, jeder bekämpft jeden im Naturzustand, sprich
im Zustand des Versuches, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Die
wissenschaftliche Drapierung wäre eine Lorenz'sche Konstruktion des
„Menschen-an-sich“ als aggressives Lebewesen. Nimmt man diese Prämisse, die Spaemann wohlweislich nicht hinterfragt an, so stellen sich
zwei Folgealternativen menschlichen Handelns in seiner Bedürfnisbefriedigung ein:
Entweder a) die „abstrakte“ Naturbasis bietet genug Konsumtionsmittel
für alle in ihrer Bedürfnislage an dies setzt aber eine „prästabilierte Harmonie“ von Angebot und Nachfrage voraus, die der freie Markt der
Marktwirtschaft auch für Spaemann nicht aufweist. (Warum wohl?)
Oder b) wieder abstrakt formuliert und gesehen:
Die Naturbasis ist beschränkt in ihrer Möglichkeit das Konsumtionsbedürfnis aller Menschen zu befriedigen, somit müßten sich alle Menschen
entschließen „in gerechter Weise“ ein Abkommen zu finden, das eine
gerechte Distributionssphäre für alle ermöglicht. Dies petzt für Spaemann aber voraus, daß es nur Heilige auf der Erde gäbe.
Trotz dieser scholastischen Spitzfindigkeiten will ich auch den zweiten
Einwand Spaemannschen abstrakten Denkens auf ihren ideologischen
Gehalt überprüfen:
Die zweite Annahme geht davon aus, es gäbe primär das Problem in der
Geschichte, daß es eine Knappheit an produzierten Gütern gäbe, und
daß die Nachfrage aller Menschen somit an „natürliche“ Schranken der
Freiheit der Wissenschaft
Produktion stoße. Spaemann will wohlweislich nicht anerkennen, daß
das Problem der Produktion und Distribution von Gütern abhängig ist
von den Produktionsverhältnissen einer historischen Gesellschaftsformation heißt wer produziert und wer eignet sich hauptsächlich das Produzierte der Produzenten, sprich Arbeiter, an.
Kurz gesagt: Hunger und Elend ist ein genuin politisches sozialökonomisches Problem, nicht ein Problem der natürlichen Basis des Menschen in
seinem abstrakten Miteinander.
Den „Menschen-an-sich“, den Spaemann in seinem „wissenschaftlichen
Blickfeld“ hat, ist jene Spezies von Mensch, der historisch konkret auftritt, wenn die, die produzieren nur einen Bruchteil dessen erhalten, im
Gegensatz zu denen, die produzieren lassen und sich die Produkte widerrechtlich aneignen und dabei rechtspositivistisch nach bestehenden
Gesetzen noch legitimiert werden.
Diese Spezies Mensch, ist aber weder ein Abkömmling der Spezies
„Mensch-an-sich“, sondern ein historisch konkretes Individuum, das
ausschließlich heute in der kapitalistischen Welt auffindbar ist: Der
„Mensch-an-sich“ bei Spaemann ist der „Kapitalist sui generis“.
Neben diesen Spaemannschen Problemen des Denkens ohne „Widersprüche“ heißt dem dialektischen Denken, wie es schon Hegel vorexerzierte, unterstellt Spaemann gewissen Denkern schlichtweg falsche, also
nicht von diesen Denkern geäußerte Gedanken.
Ein Beispiel hierfür sei folgendes Zitat:
„Marx hat richtig gesehen, daß eine solche Identität (von Angebot und
Nachfrage, d.V.) nur unter der Bedingung möglich ist, daß das Grundphänomen (?) allen bisherigen Wirtschaftens beseitigt ist, das Phänomen
der Knappheit.“
Diese Unterstellung ist so dreist und falsch, daß Spaemann geraten sei,
(noch) einmal das „Kapital“ von Marx zu studieren, um sich zu informieren, was Marx selber über das „Phänomen“ der Knappheit zu sagen
hatte, und welche realen, sozioökonomischen Ursachen diese Verknappung auf der Angebotsseite folgend aus der anarchistischen Produktionssphäre des Kapitalismus hat.
Da Spaemann leider nicht willens ist von „Grundphänomenen“ auf Ursachen seiner Entstellung in der Produktionssphäre zu schließen, verab-
Ralph Marks
solutiert er das „Grundphänomen“ der Knappheit, als absoluten Movens
allen geschichtlichen Fortschritts und kommt so folgerichtig in seinem
abstrakten Denken zu jenen Schlüssen, die politisch relevante Folgen in
der Geschichte des Kapitalismus zeitigten und immer noch zeitigen,
wenn er schreibt:
„Da indessen, wie wir heute wissen, Knappheit aus ökologischen physikalischen und anthropologischen Gründen prinzipiell unaufhebbar ist,
bleibt die definitive Aufhebung des Dualismus von Individualinteresse
und Allgemeininteresse eine Fiktion, der nur durch Zwang (hört!) allgemeine Geltung verschafft werden kann.“
Dieses Zitat ist so aussagekräftig und desavouiert seinen Autor am
schlagfertigsten selbst.
Festzuhalten sei noch die Konsequenz praktischer Art, jener oben geäußerten Gedanken:
a) Das „Grundphänomen“ ist die Knappheit der Güter (nicht hinterfragte Prämisse);
b) daraus folgend: Da Knappheit nicht abschaffbar aus den oben genannten drei Gründen, die selber nicht genauer, d.h. wissenschaftlich
begründet werden folgt
c) „Allgemeininteresse“ - was auch immer das sei - ist prinzipiell im
Spaemannschen Denken nicht in Übereinstimmung zu bringen mit dem
Individualinteresse, und die Konsequenz dieses absoluten, nicht auflösbaren Widerspruches ist
d) „Zwang“, der sich allgemeine Geltung“ verschaffen muß.
Nach der „philosophischen Widerlegung“ zumindest im Versuch des
Denkens vom „Menschen-an-sich“, des Anarchismus und Sozialismus ,
folgt natürlich für Spaemann, daß nur eine rechtsstaatliche Konzeption,
heißt ein konsensuelles Verfahren der Legitimation des Zwanges, der
ökologischen Bedrohung der Welt, Abhilfe verschaffen kann.
Seine rechtsstaatliche Konzeption ist „überraschend“ deckungsgleich mit
dem historischen Zustand unserer Verfassungswirklichkeit in Deutschland.
Wie sich Spaemann die Durchsetzung des Zwanges in seiner allgemeinen
Gültigkeit vorstellt, sieht folgendermaßen aus:
Freiheit der Wissenschaft
„Es gibt keine apriorische Identität von Machthabern und Rechthabern.
Gehorsam (sic!) gegenüber der Entscheidung des legitimen Machthabers,
also z.B. auch der Mehrheit ist also nur zumutbar wenn es nicht mit der
Zumutung verbunden ist dem Machthaber auch in der Sache recht zu
geben.“
Dies bedeutet für Spaemann: Vom rechtsstaatlichen Standpunkt aus hat
der Staat immer Gehorsam von seinen Untertanen zu fordern; er stellt es
ihnen nur anheim es zu tun, und sich einverstanden zu erklären oder
nicht. Eine wahrhaft großartige, rechtsphilosophische Konstruktion
eines Münchner Philosophie-Professors!
Wie sieht denn nun der Staat in Spaemanns Vorstellung aus, der auch auf
ökologische Fragestellungen reagieren kann und muß?
Auch hier wieder, da der Autor dieses Artikels sich nicht imstande sieht,
bestimmte Originalzitate besser zu kommentieren und die Originalzitate
Spaemanns Standpunkt selber so „vortrefflich“ darstellen:
„Der Staat hat im Unterschied zum Individuum die Pflicht so weit zu
sehen, wie es unter Zuhilfenahme aller in einer bestimmten Epoche zur
Verfügung stehenden Mittel möglich ist.“
Der Staat wird, von Spaemann, in alter deutscher Tradition verhaftet, als
Institution hypostasiert und mit Fähigkeiten ausgestattet, die gewaltiger
sind, als die jedes menschlichen Individuums.
Dieser starke Staat vertritt den volonté général, in Rousseauscher Tradition und verfolgt somit laut Spaemannschen Gedankens, selber keine
individuellen 2wecke, wie z.B. Profitmaximierung oder Erhaltung der
Macht, zur persönlichen Bereicherung weniger etc...! Der Staat in der
Spaemannschen Fassung ist in der Theorie einerseits stark, da er bestimmte Gesetze auch mit Gewalt gegen seine Untertanen durchsetzen
kann, wie z. B. ökologisch-bedingte Gesetzgebung zum Schutz von Tierarten. Andererseits spiet der Staat nur die Rolle des Zuschauers, der die
Regeln aufstellt, über ihre Einhaltung wacht, selber aber keine Zwecke
des Handelns setzt.
Diese schöne, leider nur theoretisch-abstrakte Konstruktion hat ihren
geschichtlichen Vorläufer in den liberalen Auffassungen der Staatsrechtler des 19. (!) Jahrhunderts, die für den sogenannten „Nachtwächterstaat“ auch schon eintraten.
Ralph Marks
So kann Spaemann folgendes formulieren: Gerade deshalb kann der
Staat „ohne seine eigentliche Aufgabe zu verfehlen, als Verwirklicher von
Zielen von Programmen“ nicht verstanden werden.
„Er kann seiner primären Aufgabe, die unerwünschten Nebenfolgen
menschlicher Zweckhandlungen zu neutralisieren, nur genügen, wenn er
nicht selbst als der größte Neutralisierer von Zwecken, auch die größten
und dann von niemandem mehr kontrollierten Nebenfolgen produziert.“
Dies führt in der Spaemannschen Konzeption dazu, daß eine abstrakte
Trennung eintritt zwischen den Individuen, die Zwecke für ihr Handeln
setzen und Mittel zu dessen Realisierung einsetzen, und andererseits dem
allmächtigen Staat, der die Mittel begrenzt und den Rahmen aufzeigt, in
dem die Handelnden ihre eigenen Mittel zur Durchsetzung ihrer Zwecke
einsetzen dürfen.
Dies ist die reine Vorstellung des „laisse-faire-Kapitalismus“ liberalkonservativer Provenienz.
Die entscheidende Frage ist nur, ob die dialektisch vermittelte Wirklichkeit von Mensch und Natur, sich dem abstrakten Denkmodell von
Spaemann unterordnen läßt außer natürlich in der abstrakten Theorie
einiger weltfremder Denker in ihren Elfenbeintürmen. Dies bedeutet
konkret, daß der Staat bei Spaemann keine eigenen, höchsten Zwecke
setzen darf, wie z.B. wissenschaftlich-sozialer Fortschritt, Abbau der
Arbeitslosigkeit, Abschaffung der Armut, Durchsetzung von Bildung
und Gesundheitswesen etc.
Die Hypostasierung des Spaemannschen Staates führt soweit, daß sich,
so Spaemann, in „Familie, Gemeinde und Staat, nicht (sic!) im Individuum konkretisiert die Pflicht des Menschen, seine Zweckverfolgung so
einzuschränken, daß nicht Risiken auf andere ... abgewälzt werden.“
Alle diese Schlußfolgerungen ergeben sich für Spaemann „logischerweise“ aus der nicht hinterfragten Prämisse des Grundphänomens der
Knappheit, und den gleichzeitig auftretenden ökologischen Problemen
der Menschheit konkret-geschichtlich zum heutigen Zeitpunkt.
Epilog
Spaemanns Gedanken beruhen kurz gesagt auf dem Credo der kapitalistischen Marktwirtschaft, nicht mit sozial-liberaler, sondern liberalkonservativer Ausprägung.
Freiheit der Wissenschaft
Die Probleme, die der wissenschaftlich-technische und soziale Fortschritt als Aufgabe dem Menschen heute stelle, ist für Spaemann nicht
begreifbar, denn jene resultieren aus sozialen und ökonomischen Bedingungen der Produktionssphäre.
Da Spaemann selbst bei einem Phänomen der warenproduzierenden
Gesellschaft seine Analyse beginnt, das Phänomen verabsolutiert und
nicht willens ist aus weltanschaulichen Gründen, das Phänomen gedanklich adäquat als dieselbe aus der Basis der Produktion zu erklären.
Da die kapitalistische Wirtschaft an ihre Wachstumsgrenzen stößt und
die ökologische Herausforderung auf ihrer sozial-ökonomischen Basis
nicht lösbar ist - auch für Spaemann nicht - so braucht die Bourgeoisie
ein „neues“ und doch so altes Credo - den starken Staat - der ihre Belange schützt und vertritt.
Einerseits begreift Spaemann den Staat nur abstrakt als Herrschaftsinstrument des „Volonté général“, andererseits und dies ist die Negation
des ersten Gedankens, wird das Individuum nur als abstrakt einzelnes,
gierig, raffsüchtig und schlecht von Natur aus gesehen, Diese Beschreibung des Spaemannschen Individuums entspricht der Beschreibung des
total entfremdeten Menschen bei Marx, wie dieser ihn beschrieb und aus
der Produktionsbasis entwickelte.
Da der entfremdete, der sich selbst verlorene Mensch seiner Natur als
lebendiges Anderssein entfremdet ist, die Natur nur als Bedrohung seiner eigenen Autonomie begreift, nur abstrakt negativ, schreit er für
Spaemann nach einem starken Zwangsstaat, der seine Ordnung, die ihm
nun verlustig geht, retten soll.
Die nicht zu schaffende Legitimation dieses Staates bei Spaemann ist nur
zu erbringen durch einen neuen Glauben des Individuums (Bourgeois) der Staat, Mensch und Natur - als Ganzes irrational neu zusammenfügen
soll. Dies formuliert Spaemann folgendermaßen:
„Nur wenn der Mensch heute die anthropozentrische Perspektive überschreitet und den Reichtum des Lebendigen als einen Wert an sich zu
respektieren lernt (alte Kantkonstruktion! d.V.), nur an einem wie immer
begründeten religiösen Verhältnis zur Natur wird er imstande sein, auf
Ralph Marks
lange Sicht die Basis für eine menschenwürdige Existenz des Menschen
zu suchen, Der anthropozentrische Funktionalismus (Oje!) zerstört am
Ende den Menschen selbst.“
Da dieser hypostasierte Staat bei Spaemann die Zwangsgewalt zur
Durchsetzung seiner Interessen benötigt, braucht er zur Durchsetzung
derselbigen eine Legitimation qua religiösen Naturmystizismus, der die
Herrschaftsverhältnisse verschleiern soll.
Somit fällt Spaemann unter das Verdikt Marxens, der den Philosophen
seiner Zeit vorwarf in der 11. Feuerbachthese:
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es komm
aber darauf an, sie zu verändern.“
Nicht eine „neue“ restaurative Theorie hilft bei der Lösung der heutigen
ökologischen Probleme, sondern nur die sinnlich-tätige Veränderung
jener Verhältnisse, unter denen der Mensch ein geknechtetes und unterdrücktes Individuum ist.
Dies muß Grund und Ziel allen Handelns sein, auch für Philosophen.
In: Widerspruch Nr. 01 (01/81) Wissenschaft und sozialer Fortschritt (1981), S. 32-39
Autor: Alexander von Pechmann
Artikel
Alexander von
Pechmann
„Freiheit der Wissenschaft“ oder die
„Relevanz der Curiositas“
Zu Hermann Lübbes neuem Buch „Philosophie nach der Aufklärung“
Werfen wir zunächst einen Blick, auf den wissenschaftspolitischen Streit
zurück, der seit dem Ende der 60er Jahre bei uns in der Bundesrepublik
geführt worden ist.
Rasch hatte sich damals in dieser Diskussion um die gesellschaftliche
Bedeutung der Wissenschaften eine Frontstellung zwischen zwei Lagern
aufgebaut: auf der einen Seite die Verfechter der „Freiheit der Wissenschaften“, im anderen Lager die Vertreter einer „sozial verpflichteten
Wissenschaft“. In jenem Lager gruppierten sich die konservativen Wissenschaftspolitiker wie Hans Maier, Hermann Lübbe, Friedrich
Tenbruck, Robert Spaemann, Nikolaus Lobkowicz u.a., die durch eine
Reihe spektakulärer Aktionen („Bund Freiheit der Wissenschaft“, Tendenzwende-Kongreß, „Mut zur Erziehung“ u.ä.) die Wissenschaft dem
Zugriff gesellschaftlicher Gruppen und Interessen entziehen und die
Freiheit der Forschung gewahrt wissen wollten, Auf der anderen Seite
standen liberale und demokratische Wissenschaftler wie Habermas, von
Friedeburg, von Hentig, Abendroth, die bestrebt waren, die wissen-
Freiheit der Wissenschaft
schaftliche Forschung und Lehre nach gesellschaftlichen Bedürfnissen
auszurichten und sie ggf. demokratischen Kontrollinstanzen unterzuordnen.
Seither läuft die Debatte weiter, wie jüngst die Diskussion um die sog.
„Finalisierung der Wissenschaft“ gezeigt hat.
Einer der eifrigsten Verfechter jener „freiheitlichen“ Wissenschaft ist
zweifellos der Züricher Philosophieprofessor Hermann Lübbe. Ehemals
Staatssekretär im NRW-Kultusministerium, wurde er 1970 zum Mitbegründer der „Bundes Freiheit der Wissenschaft“, eines Bundes, der sich
zur Aufgabe gestellt hat, die Wissenschaft von bestimmten gesellschaftlichen Einflüssen frei zu halten. Und seither ist Hermann Lübbe bemüht,
in Wort und Schrift, auf Tagungen und Kongressen, in Artikeln und
Büchern das „hohe Lied“ auf die wissenschaftliche Freiheit zu singen.
Sein neuestes Werk „Philosophie nach der Aufklärung“ ist 1980 im Econ-Verlag in Düsseldorf erschienen. In ihm unternimmt der Autor den
Versuch, konservative Ideologeme zu restaurieren und zu begründen.
Alles, was nach gesellschaftlicher Veränderung und nach Fortschritt
klingt, wird in diesem Buch dem Verdikt eines „gegenstandslosen Traditionalismus“ unterworfen, der die Zeichen der Zeit noch nicht erkannt
habe. Statt in den dynamischen Kategorien der Aufklärung, wie Veränderung oder Entwicklung, müsse man heute, „nach der Aufklärung“, wieder in den Begriffen der Statik, wie Systemerhaltung, Stabilität o.a., denken. Unsere heutige Aufgabe sei es, mit den Folgelasten und -kosten der
Aufklärung fertig zu werden.
Plädoyer wider den „Relevanzkontrolldruck“
Was uns im Zusammenhang mit der Thematik der Zeitschrift in erster
Linie interessiert ist ein Essay aus diesem Buch mit dem Titel „Wissenschaft nach der Aufklärung“.
Alexander von Pechmann
Es ist wohl nicht zuviel vorweg behauptet, wenn man feststellt, daß sich
die Intension dieser Schrift darauf richtet, die Wissenschaft unter den
gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen von jeglicher Indienstnahme sozialer Kräfte und aller moralischer Verantwortung freizuhalten.
Lübbe argumentiert folgendermaßen: Während derjenigen Zeit, die er
die „Epoche der Aufklärung“ nennt, habe sich das „wissenschaftliche
Wissen“ von der Bevormundung durch politische und ideologische Instanzen, vor allem von den religiösen Dogmen der Kirche, befreit. In
seiner Sprache nennt er diesen Prozeß der Loslösung die „Emanzipation
der theoretischen Neugier (als) Liquidation aller Formen des politischen
und rechtlichen Geltungsschutzes, mit dem zuvor die orientierungspraktisch maßgebenden Wahrheiten ausgestattet waren.“ Diese Befreiung der
Wissenschaften, die sich auf verfassungspolitischer Ebene als „Erklärung
der Freiheit der Wissenschaft“ dargestellt habe, sei auf der Grundlage
und mit dem Hinweis auf die praktische Relevanz der Wissenschaften
geschehen. Gerade ihre technisch-praktische Nutzbarmachung sei es
gewesen, die den „Fortschritt des wissenschaftlichen Wissens“ frei von
allen ideologischen Hemmnissen habe vollziehen lassen.
Heutzutage jedoch, „nach der Aufklärung“, zeige sich laut Lübbe, daß
ein zunehmender „Relevanzkontrolldruck“ auf den Wissenschaften laste.
Die Erfahrung, daß die technisch-praktischen Folgen der wissenschaftlichen Resultate dem sozialen System immer größere Belastungen auferlegen, habe den Wissenschaften zunehmend die Legitimationsbasis entzogen, die sie ursprünglich dank ihres evidenten Nutzens hatte.
„Die wissenschaftslegitimierende Harmonie im Zuordnungsverhältnis
von theoretischer Neugier (curiositas) und praktischer Relevanz,
so Lübbe, „wird instabil unter dem Druck einer Grenznutzenerfahrung
in Bezug auf die zivilisatorische Nutzbarkeit unserer Wissenschaften.“
Mit diesem Verlust an „Harmonie zwischen Curiositas und Relevanz“
aber verstärke sich der Druck auf die Wissenschaften, ihren Fortschritt
wissenschaftlich, politisch und moralisch zu legitimieren. An die Stelle
der theoretischen Neugier als Movens wissenschaftlicher Evolution
könnten „Relevanzkontrolleure in Bezug auf die Wissenschaften“ treten,
Freiheit der Wissenschaft
die sie zum ständigen „Erbringen von Relevanznachweisen“ veranlassen
könnten. Die „Relevanz der Curiositas“ könnte durch die Curiositas
nach der Relevanz ersetzt, die Freiheit von Forschung und Lehre den
politischen und sozialen Institutionen geopfert werden.
Angesichts dieser Gefahr einer Inanspruchnahme der Wissenschaft
durch wissenschaftsexterne Institutionen sieht Lübbe „zweierlei fällig“.
Es bedarf seiner Meinung nach der „Kräftigung unserer Erinnerung“
daran, was wir dem ungezügelten Drang der Neugier des Forschers, der
Curiositas, alles verdanken, nämlich die institutionalisierte „Freiheit der
Wissenschaft“, die kulturelle „Privilegierung der kognitiven Innovationen
... gegenüber der Geltung von Traditionen“ sowie auf erkenntnistheoretischem Gebiet „die Anerkenntnis des prinzipiell hypothetischen Charakters unserer wissenschaftlichen Annahmen über das, was der Fall ist“.
Und es bedarf des weiteren - „unter Zukunftsaspekten“ - des Nachweises der Vorzüge jenes freien Forscherdranges, die Lübbe darin erkennt,
daß erstens allein diese unabhängige Wissenschaft diejenigen theoretischen Voraussetzungen schaffen könne, die nötig sind, um die zivilisatorischen Schädlichkeitsfolgen des wissenschaftlichen Fortschrittes zu
bewältigen; daß zweitens nur diese „freie Wissenschaft“ in der Lage sei,
„ideologiepolitische Frageverbote“ zu zersetzen und sich damit den
Dogmenbildungen im politischen Bereich zu widersetzen; und daß letztlich nur diese Freiheit dem Wissenschaftler die „humane Würde“ sichere,
die ihn dem Zugriff politischer Inanspruchnahme entzieht.
Allein die Unabhängigkeit der Wissenschaft von gesellschaftlicher Kontrolle, so fassen wir Lübbes Standpunkt zusammen, vermag die technologischen, ideologischen und moralischen Probleme der Zukunft zu
lösen; eine anders konzipierte Wissenschaft, eine Wissenschaft mit sozialer Verantwortung hingegen würde zu kognitiver Bedeutungslosigkeit,
zur Ohnmacht gegenüber sozialen Kräften und zur Amoralität des Wissenschaftlers verkommen.
Alexander von Pechmann
Die „Selbstheilungskräfte“ der Wissenschaft
Wenden wir uns nun der Kritik von Lübbes These von der „Freiheit der
Wissenschaft“ zu. Zwei Punkte möchte ich dabei anführen. Ohne auf
Lübbes reichlich oberflächlicher Charakterisierung von „Aufklärung“
und „Nach-Aufklärung“ einzugehen, möchte ich zunächst auf eine immanente Inkonsequenz in Lübbes Begründung einer freien, auf die bloße
„theoretische Neugier“ gegründet m „Wissenschaft nach der Aufklärung“ hinweisen.
Lübbe beginnt seine Darstellung damit, daß er die Emanzipation und
Unabhängigkeit der Wissenschaften von den politischen und ideologischen Vorgegebenheiten während der Zeit der Aufklärung ausdrücklich
durch den Hinweis auf den Charakter der „praktischen Relevanz“ der
Wissenschaften begründet. Der theoretische Freiraum und die „theoretische Neugier“ als wesentliches Movens des wissenschaftlichen Fortschritts ergab sich also eindeutig aus dem praktischen Nutzen, den die
wissenschaftlichen Ergebnisse im sozialen Bereich erzielt haben. Während der Aufklärungszeit bestand, folgt man Lübbe, eine Harmonie zwischen der theoretischen Curiositas und der praktischen Relevanz, gerade
weil das wissenschaftliche Wissen der „uneingeschränkten Beurteilung
unter Gesichtspunkten seiner praktischen Relevanz“ unterworfen worden ist und dieser Beurteilung standgehalten hat.
Diese Harmonie sei nun, in der Zeit nach der Aufklärung, gestört und
instabil geworden. Den Grund dieser Instabilität sieht Lübbe in der Zunahme der sozialen Folgelasten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, - damit verbunden - im schwindenden Zutrauen in die Nützlichkeit und in der zunehmenden Relevanzkontrolle einer sich frei betätigenden Wissenschaft. Durch die fehlende Evidenz der sozialen
Nützlichkeit der Wissenschaften sei die freie Forschung in eine Krise
und damit unter erheblichen Legitimationsdruck geraten.
Auf dieser Argumentationsgrundlage erscheint jedoch Lübbes Votum für
eine freie und unkontrollierte Wissenschaft reichlich absurd. Denn wenn
einerseits diese „freie Wissenschaft“ deswegen Mißtrauen erregt, weil
Freiheit der Wissenschaft
ihre praktische Relevanz und Nützlichkeit angesichts ihrer zunehmenden
Schädlichkeitsfolgekosten, mehr und mehr in Zweifel gezogen wird, aber
andererseits nur diese Wissenschaft in der Lage sein soll, eben diese
negativen Folgen zu beseitigen, dann kommt das dem Versuch gleich,
den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Es bleibt gänzlich ungeklärt, wieso ein und dieselbe Wissenschaft sowohl negative Folgen verursachen, als auch eben diese wiederum beseitigen können soll.
Verfolgt man Lübbes Gedankengang, dann scheint es, als sei sein einziges Bestreben, Belege dafür zu suchen, die offensichtlich notwendige
Diskussion um die gesellschaftliche Relevanz der Wissenschaften zurückzuweisen und die Wissenschaften erneut der Frage nach ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen. Auch wenn dabei in polemischer Absicht der Versuch gemacht wird, all diejenigen Auffassungen,
die in der wissenschaftspolitischen Auseinandersetzung gegensätzliche
Standpunkte beziehen, als Gegenaufklärung, als Dogmatismus und Konzepte der Ineffizienz zu etikettieren, so bleibt Lübbe dennoch den Beweis schuldig, wie denn die von ihm verfochtene Konzeption einer „freien Wissenschaft“ diejenigen Selbstheilungskräfte aufbringen soll, die jene
wundersame Harmonie zwischen ungezügelter Forschung einerseits und
sozial und moralisch verantwortbarer Nützlichkeit andererseits herbeiführen könnte.
Der Nachweis der These, allein die Freiheit der Wissenschaft garantiere
die theoretische Lösung der gesellschaftlich relevanten Probleme, fehlt
und wird durch den Glauben an die magische Kraft der Selbstheilung
ersetzt.
Das Märchen von der „Freiheit der Wissenschaft“
Schließlich kann sich der Verfasser wohl nicht dem Vorwurf einer grenzenlosen Naivität in Fragen der „Freiheit der Wissenschaft“ entziehen.
Es erscheint nahezu unmöglich, daß ein ehemaliger Staatssekretär und
aktiver Wissenschaftspolitiker nichts von der massiven Beeinflussung
Alexander von Pechmann
von Industrie und Staatsbürokratie auf die Planung, Organisation und
die Inhalte der Wissenschaft mitbekommen hat.
Es ist doch nicht zu leugnen, daß Lübbe selbst daran mitgewirkt hat, die
vormals noch bestehenden Freiräume der wissenschaftlichen Forschung
und Lehre abzubauen, um an die Stelle jener interesselosen „Curiositas“
von Staat und Wirtschaft finanzierte und kontrollierte Forschungsprojekte zu setzen. Oder sollten ihm wirklich die Passagen des Gründungskongresses des von ihm selbst mitinitiierten „Bundes Freiheit der Wissenschaft“ entgangen sein, wo es heißt, daß vor allem die „staatlichen Organe“ und die „betroffenen gesellschaftlichen Gruppen“ zur Mitwirkung
bei der „Festsetzung der Anforderungen professioneller Qualifizierung“
eingeladen sind? Das ist kaum zu glauben.
Ist es nicht fast realistischer, davon auszugehen, daß Lübbe mit seiner
These von der „Freiheit der Wissenschaft“, die es zu bewahren gälte, auf
der einen Seite „gesellschaftliche Gruppen“, wie die Arbeitnehmerorganisationen oder die Studentenverbände, von der Kontrolle der Wissenschaften abhalten und auf der anderen Seite von der realen Einflußnahme solcher wissenschaftsexternen Kräfte, wie Staat und Industrie, ablenken will?
Wenn dem so wäre, dann zeugte die These des Autors nicht nur von
Naivität, sondern von bewußter Irreführung.
Zusammenfassung
Fassen wir die Kritik abschließend noch zusammen: Lübbes Begründung
einer „freien Wissenschaft“ vermag unter den gegenwärtigen Bedingungen, „nach der Aufklärung“, nicht zu überzeugen.
An die Stelle der rationalen Legitimation eines solchen wissenschaftspolitischen Modells tritt ein irrationaler Glaube an die Kraft der Selbstregeneration einer unabhängigen Wissenschaft. Es bleibt im Dunkeln, wie
eine Wissenschaft, die zugegebenermaßen im sozialen Bereich eine Reihe
Freiheit der Wissenschaft
von Problemen erzeugt, aus sich selbst heraus eben diese Probleme lösen
können sollte.
Zudem liegt der begründete Verdacht nahe, daß Lübbes These wissenschaftsstrategisch darauf hinzielt, die demokratischen Massenorganisationen von der Mitbestimmung im Wissenschaftsbereich auszuschalten,
um damit die reibungslose Institutionalisierung einer wissenschaftlichen
Praxis voranzutreiben, die sich an den Interessen der staatlichen Organe
und der großen Wirtschaftsverbände orientiert. Ganz sicher findet ein
demokratisches Wissenschaftskonzept, das die Wissenschaft gerade wegen ihrer enormen sozialen Folgen unter gesellschaftliche Kontrolle
stellen will, in Hermann Lübbe einen ihrer entschiedensten ideologischen
Gegner.
In: Widerspruch Nr. 01 (01/81) Wissenschaft und sozialer Fortschritt (1981), S. 25-31
Autor: Elmar Treptow
Artikel
Elmar Treptow
Zum Verhältnis von Philosophie und
Praxis
Im Gegensatz zur metaphysischen und positivistischen Philosophie versteht sich die dialektische Philosophie nicht als einfach gegeben, unabgeleitet, unvermittelt, selbständig und autonom, Die dialektische Philosophie reflektiert charakteristischerweise ihre eigenen theoretischen und
praktischen Voraussetzungen und begreift sich als konstituiert durch
einen Entwicklungszusammenhang, in dem sie selbst und ihre Gegenstände vermittelt sind. Dieser Entwicklungszusammenhang ist für die
idealistische dialektische Philosophie ein Entäußerungsprozeß der absoluten Idee, für die materialistische dialektische Philosophie dagegen der
Prozeß der Natur und Gesellschaft, Materialismus heißt, daß erstens die
Natur und in diesem Sinne das materielle Sein als Voraussetzung und
bestimmende Grundlage des menschlichen Lebens (der Mensch a1s
Naturprodukt) erkannt wird, und da0 zweitens im menschlichen Leben
die materiellen, nämlich die sozialökonomischen Verhältnisse (Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse) als Voraussetzung und bestimmende Grundlage der ideellen Formen und Tätigkeiten erkannt werden.
Indem für Hegel die absolute Idee, das absolute Denken, das Subjekt ist,
das über das entäußerte natürliche und gesellschaftliche Objekt übergreift, bzw. die ideelle unendliche Form, die sich selbst den Inhalt gibt,
Zum Verhältnis von Philosophie und Praxis
so daß das Sein nur gesetztes Moment innerhalb des Denkens ist (und
zwar von vornherein vorausgesetzt, wie Feuerbach den Anfang der
"Phänomenologie" und der "Logik" kritisiert) und indem für Hegel die
seinsverändernde Praxis nur die entäußerte Stufe der absoluten Idee in
ihrem Prozeß der Selbstbestimmung als Selbsterkenntnis ist, hat für ihn
die Theorie die auf den Gegenstand in seiner Bewegung eingeht und
ohne kritizistische transzendentale Voruntersuchung der Instrumente der
Erkenntnis der "immanenten Entwicklung der Sache selbst", d.h. der
absoluten Idee in ihrem Entäußerungsprozeß, zusieht den Maßstab und
das Kriterium in sich selbst.
Den Beweis der Wahrheit liefert für Hegel die Theorie, die absolut kreisläufig alle Momente total vermittelt ("die Philosophie als ein in sich zurückgehender Kreis"). Für Marx dagegen bleibt die dialektische Theorie
bezogen auf die letztlich vorauszusetzende, theoretisch insgesamt nicht
ableitbare oder vermittelbare Natur und naturaneignende Praxis der
gesellschaftlichen Individuen, Indem Marx die "Logik der Sache" gegen
die Hegelsche "Sache der Logik" setzt, ist die Grenze bestimmt, die seine
Aufhebung der Hegelschen Verknüpfung des dialektischen und systematischen Erkennens mit der Notwendigkeit theoretischer Ableitung oder
theoretischer Setzung der Voraussetzungen hat (während Positivismus,
Empirismus und Metaphysik hinter Hegels Dialektik zurückfallen, indem
sie die einzelnen Tatsachen des mannigfaltigen empirischen Materials
einerseits und die abstrakten Allgemeinheiten bzw. formellen Identitäten
andererseits als unmittelbar gegeben voraussetzen oder z.B. in dem von
Popper herangezogenen Hempel-Oppenheim-Schema dualistisch aufeinander beziehen, ohne beide Seiten aus ihrem inneren konkret allgemeinen Zusammenhang zu erklären).
Dementsprechend beweist sich die Wahrheit der materialistischen dialektischen Theorie nicht immanent in der Theorie selbst. Die Praxis, d.h.
die sinnlich-gegenständliche direkt verändernde Tätigkeit der gesellschaftlichen Individuen ist sowohl die vorauszusetzende Grundlage und
das Ziel wie das Kriterium der Theorie, wie Marx in den FeuerbachThesen darlegt.
Elmar Treptow
Für die Theorie die sich auf die konkret allgemeine Praxis der gesellschaftlichen Individuen bezieht, ist im übrigen eine Überprüfung am
Einzelnen weder nötig noch möglich. Die dialektische Theorie kann an
empirischen Einzelfällen weder induktiv verifiziert noch deduktiv falsifiziert werden da das konkret Allgemeine keine Summe des (selbständigisolierten) Einzelnen ist. Rein individuelle Praxis, die nicht auch allgemein wäre, gibt es nicht; dementsprechend gibt es hierüber auch keine
rein singulären Basis- oder Protokollsätze.
Noch einmal auf die dialektische Methode konzentriert: sowohl Hegel
wie Marx betrachten den Gegenstand als Einheit von Form und Inhalt
und die wissenschaftliche Methode als das Bewußtsein über die innere
Selbstbewegung des Inhalts bzw. als Form der Form des Inhalts. Aber
für Hegel ist der Inhalt der Inhalt, den sich die absolute Form selbst gibt
(die Selbstbestimmungen der Idee) und ist die Methode die Selbstbetrachtung der Idee als Idee (die absolute Idee).
Dagegen ist für Marx die begriffliche Reproduktion des Gegenstandes,
und zwar des politökonomischen Gegenstandes, die Einheit der objektiven grundlegenden Bewegung des Gegenstandes und des subjektiven
Aneignungsverfahrens des Gegenstandes, wobei die im Forschungsprozeß erkannten Gesetzmäßigkeiten des Gegenstandes in der Darstellung
bewußt als solche reproduziert werden, d.h. die Darstellung sich als die
Bewegungsform des Gegenstandes und seiner Reproduktion weiß.
(Demgegenüber gründet z.B. Habermas die methodische Selbstreflexion,
die er gegen die objektivistische Gegenstandsverfallenheit des Positivismus setzen will, nicht wie Marx auf das Sein der objektiven dialektischen
Logik der Praxis der gesellschaftlichen Individuen, sondern auf das Bewußtsein einer davon getrennten subjektiv-normativen Logik diskursivsprachlicher Verständigung und einer Theorie "allgemeiner Strukturen
möglicher Redesituationen" als Hauptstück einer "Konsensustheorie der
Wahrheit".)
Zum Verhältnis von Philosophie und Praxis
In ihrem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Praxis begriffen, sind
die dialektische Theorie und die von ihr untrennbare Wissenschaft nicht
nur ein System von Begriffen, Aussagen und Theorien und theoretischmethodisches Herangehen an den Gegenstand, sondern auch ein Bestandteil der Produktivkraftentwicklung der gesellschaftlichen Individuen
innerhalb bestimmter arbeitsteiliger und herrschaftsspezifischer Verhältnisse (wobei die verschiedene Form der Synthese der beiden immer
notwendigen subjektiven und objektiven Elemente der Produktivkraft
nämlich der menschlichen Arbeitskraft und der sachlichen Produktionsmittel die Verschiedenheit der Gesellschaftsformationen konstituiert).
Die Wissenschaft ist in dieser Weise sowohl ideelle Form theoretischer
Tätigkeit wie materielle Form praktischer Tätigkeit, d.h. sie ist spezifisches Bewußtsein das eine bestimmte Funktion im gesellschaftlichen
Sein erfüllt. (Von dieser Komplexität der Wissenschaft wird von vornherein abstrahiert, wenn sie etwa wissenschaftstheoretisch auf die logische Analyse von Aussagen oder erkenntnistheoretisch auf die Begründungsproblematik beschränkt wird.)
Mit der gesellschaftlichen Praxis steht die Wissenschaft dadurch in fundamentalem Zusammenhang, daß sie aus den Bedürfnissen und Erfordernissen der Arbeit hervorgeht. Das heißt die produktive gebrauchswertproduzierende bedürfnisbefriedigende Arbeit die subjektive Seite der
Produktivkraft enthält in sich stets theoretische reproduzierende und
antizipierende Momente, die in der Wissenschaft systematisiert werden
(wobei die theoretischen Momente auf der Grundlage der Trennung von
körperlicher und geistiger Arbeit zu einem speziellen Gebiet werden
innerhalb der gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die auch ein gesellschaftlicher Zusammenhang ist). Hiermit geht die Wissenschaft über das Niveau des Alltagsbewußtseins qualitativ hinaus, suspendiert die unmittelbaren praktischen Zielsetzungen und Erfordernisse des Alltagslebens,
bildet ein eigenartiges relativ autonomes Medium der Objektivation,
ermöglicht aber gerade dadurch auch die erweiterte und vertiefte Aneignung und Beherrschung der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt
und wechselseitig die Entfaltung des Menschen.
Elmar Treptow
Die Produktivkraft und mit ihr die Wissenschaft entwickeln sich allerdings nur innerhalb bestimmter Produktionsverhältnisse, bei uns: innerhalb des Kapitalverhältnisses.
Das heißt die Wissenschaft steht in dem dialektischen Widerspruch von
Arbeits- und Verwertungsprozeß bzw. von Produktivitätssteigerung und
Profitorientierung (wobei die Profitorientierung die übergreifende, dominierende Seite ist, so daß der Inhalt der Wissenschaft der Form der
Verwertung untergeordnet ist). Dementsprechend muß sich unter kapitalistischen Bedingungen der wissenschaftlich-technische Fortschritt so
auswirken wie gesamte Produktivitätssteigerung, nämlich in Richtung der
Verschärfung des Widerspruchs, indem für das Wachstum oder die Akkumulation des Kapitals das Wachstum der Produktivität zunehmend
sowohl erforderlich wie hinderlich ist. Der wissenschaftlich-technische
Fortschritt beschleunigt die krisenhafte Entwicklung unserer Gesellschaft.
Angesichts der gegenwärtigen wissenschaftlich-technisch fundierten
krisenhaften Veränderung der gesamten Arbeits- und Lebensbedingungen, besonders der Einwirkungen der Rationalisierung und Automatisierung auf die Zah1 und Qualität der Arbeitsplätze sowie der Einwirkungen der Atomwissenschaft auf Umwelt und Weltfrieden, angesichts der
staatlichen Hochschul-, Wissenschafts- und Forschungspolitik , weiter
der Anstrengungen zur wissenschaftlichen Beratung der Politik und des
Eingreifens wissenschaftlicher Autoritäten in die sozialpolitischen Auseinandersetzungen ist es eine besondere Abstraktionsleistung, wenn die
Wissenschaft in ihrer theoretischen und methodischen Form a1s Selbstzweck betrachtet wird und für die gesellschaftlichen Folgen und Voraussetzungen der Wissenschaft die Verantwortung negiert wird (oder allenfalls sporadisch in willkürlich unwissenschaftlicher Weise ein Ausflug In
die gesellschaftliche Praxis unternommen wird).
Aber auch wenn es der Wissenschaftler selbst nicht wahrhaben will, hat
seine Tätigkeit den Praxisbezug erstens durch die Steigerung der Arbeitsproduktivität, und zwar vermittels der Qualifizierung der Arbeits-
Zum Verhältnis von Philosophie und Praxis
kraft und der Entwicklung der Technologie, und zweitens durch Ideologieproduktion bzw. Ideologiekritik. Daß die Wissenschaft außerdem
Aufgaben der Planung und Leitung der gesamtgesellschaftlichen Produktionsverhältnisse übernimmt, verhindert unter kapitalistischen Bedingungen die Naturwüchsigkeit und Spontaneität der Entwicklung.
Die praxisenthobene scheinbare Selbstzweckhaftigkeit der Wissenschaft
läßt sich nicht unter Berufung auf die Freiheit der Wissenschaft retten,
Die Freiheit der Wissenschaft wird nicht eingeschränkt, wenn sie sich
überhaupt auf Praxis und Interessen einläßt, sondern wenn sie sich an
bestimmte Praxis und bestimmte Interessen bindet, nämlich an die, die
die Produktivkraftentwicklung der gesellschaftlichen Individuen einschränkt. Freiheit der Wissenschaft besteht nicht im Freisein von Interessen (im Los- und Ledigsein der Interessen), sondern in dem bewußten
zur Geltung bringen und in der Entfaltung der Interessen, die durch die
soziale Lage, d.h. die spezifische Förderung oder Hemmung der Produktivkraftentwicklung, bestimmt sind, (Versteht sich, daß hier "Interesse"
nicht mit subjektiven Wünschen und Absichten oder individueller Anteilnahme gleichzusetzen ist, sondern mit der objektiven Stellung der
Produzenten im Produktionsprozeß.)
Bezieht sich die Wissenschaft bewußt auf Interessen, dann müssen diese
allerdings, sofern sie partikular sind, zumindest potentiell zugleich allgemein sein, wenn die krisenhafte Universalität der Wissenschaft nicht
eingeschränkt werden soll. Der Interessenbezug der Wissenschaft vereinbart sich mit der Objektivität, denn er besteht darin, daß die Praxis
adäquat reproduziert wird, und zwar in ihrer Gesamtheit ohne Reduzierung auf bestimmte Seiten.
Indem die Wissenschaft objektiv die gesamten praktischen Interessen in
ihrer Widersprüchlichkeit und somit in ihrer Dynamik und Tendenz auf
den Begriff bringt, hat sie selbst eine Tendenz und ist sie selbst "tendenziös" (nicht indem den wissenschaftlichen Resultaten äußerlich eine
subjektiv-parteiliche, etwa moralische Stellungnahme hinzugefügt wird).
Hierin ist unter anderem die Antwort auf den Werturteilsstreit zu suchen. Erst recht ist die praktisch wirksame Wissenschaft "tendenziös",
Elmar Treptow
insofern sie als Moment der Produktivkraftentwicklung unmittelbar in
bestimmter Richtung wirkt. Jedenfalls besteht in der wissenschaftlich
fundierten Beherrschung und Kontrolle der eigenen Arbeits- und Lebensbedingungen durch die produzierenden gesellschaftlichen Individuen der Prozeß der Selbstbestimmung, der Freiheit.
In: Widerspruch Nr. 01 (01/81) Wissenschaft und sozialer Fortschritt (1981), S. 11-24
Autor: Hans Jörg Sandkühler
Artikel
Hans Jörg Sandkühler
Wissenschaftsentwicklung und gesellschaftliche Bewegungen
Ausschnitte aus
BdWi Forum März 1980
Gesellschaftliche Arbeitsteilung, wissenschaftliche Spezialisierung, sozialökonomische Funktion und bürgerlich-ideologische Hegemonie sind
Faktoren, die hinsichtlich der Wissenschaftler in kapitalistischen Systemen, bezogen auf den dominanten Typus, den Satz erlauben: Sie wissen
nicht, was sie tun.
Der Anspruch auf Wertneutralität, der Anspruch auf Exterritorialität
inmitten kapitalistischer Produktion und Reproduktion und die Idee,
Wissenschaft werde erst und nur im Stadium ihrer Anwendung und
Verwertung sozial bestimmt, sind die Kennzeichen dieses Nichtwissens.
Sie sind zugleich Indizien für eine Normalität wissenschaftlicher Tätigkeit, die in sozialer Integration und ökonomischer Subsumtion besteht.
Politisch und ideologisch wirkt sich diese Situation sowohl in konservativer wie in links-opportunistischen Denkmustern aus: zum bürgerlichen
Wissenschaftsentwicklung
Staat gehört der bürgerliche Wissenschaftler, und der Marxist und Sozialist ist im Wissenschaftssystem nicht vorgesehen; wo er auftritt, ist er
Feind und wird mit Berufsverbot belegt; der Schematismus der Identifizierung von 'Warenform' und 'Denkform' verfestigt wider Willen diesen
konservativen Hegemonieanspruch; auch für ihn fällt der Widerspruch
innerhalb des gesellschaftlichen Systems Wissenschaft aus der Definition
der Wissenschaft im Kapitalismus heraus.
Sozial, politisch, ökonomisch und ideologisch aber gehört dieser Widerspruch zur bürgerlichen Gesellschaft selbst, seit ihrer Entstehung und bis
in die Phase ihrer Überwindung: Wissenschaft tritt nicht nur in der Dimension 'Kapital' auf, sondern entsprechend deren Entwicklungsprinzipien, ebenso in der Arbeiterbewegung, Dieses „nicht nur - sondern
auch“ ist freilich nur eine umgangssprachliche Verlegenheitslösung für
einen theoretisch klarer faßbaren Tatbestand.
Diese Konjunktion unterschlägt, worin die Beziehung ihre Struktur hat:
in einem historisch bestimmten Verhältnis aller Momente der bürgerlichen Gesellschaft, die zusammen bilden, was Gramsci einen 'historischen Block' nennt. Wissenschaft in der bürgerlichen Gesellschaft ist
determiniert nicht allein vom Kapital und dessen isoliert betrachteter
Reproduktion, sondern vom Kapital als Reproduktionsverhältnis. So
wäre es falsch, allein der Bourgeoisie die Umsetzung von Wissenschaft in
(ökonomische) Praxis zuzuschreiben, dem Faktor 'Arbeiterklasse' - weit
gefaßt als Begriff für alle lohnabhängigen, vom Monopol bedrohten
Schichten - aufgrund von deren Unterdrückungssituation aber allein die
Entwicklung einer 'alternativen' Ideologie zuzurechnen. Historisch und
aktuell entsteht in den Auseinandersetzungen der Arbeiterbewegung und
über sie hinaus etwa in Wissenschaftlerbewegungen ein qualitativ neuer
Typus der Beziehung zwischen Theorie und Praxis und der Überführung
von Wissenschaft in gesellschaftliche Produktivkräfte, ausgezeichnet
durch den historisch notwendigen Vorrang des Politischen, welches in
letzter verändernder Instanz sozial-ökonomische Wirkung bereits vor der
Phase der Überführung der gesellschaftlichen Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum ausübt.
Hans Jörg Sandkühler
Voraussetzung dieser Einschätzung ist, daß der Begriff der 'Produktivität
der Wissenschaft' zwar vom Terminus 'produktiv' im Sinne der politischen Ökonomie ausgeht, ihn aber zugleich überschreitet in der Frage
nach der Nützlichkeit der Wissenschaft für den gesellschaftlichen Fortschritt.
Wie produktiv ist Wissenschaft? In wessen Interesse wird Wissenschaft
produziert? Verschärft die Entwicklung wissenschaftlicher Produktivkräfte den Widerspruch zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen? Oder entwickelt der Kapitalismus die Produktivkraft Wissenschaft
prinzipiell nur soweit, wie sie der Reproduktion des bestehenden Kapitalverhältnisses, d.h. der langfristigen Systemstabilität dient?
Mit der Frage nach der produktiven Funktion der Wissenschaft im Kapitalismus verbunden sind weitere Probleme:
1. das Problem, inwieweit der staatsmonopolistische Kapitalismus den
Übergang von extensiven Formen der Erweiterung der volkswirtschaftlichen Reproduktion zur intensiv erweiterten Reproduktion bewerkstelligt;
2. das Problem der Erkennbarkeit und Prognostizierbarkeit der Wissenschaftsentwicklung, der Bestimmung von dem Wesen der Entwicklung
adäquaten Parametern etc.;
3. das Problem des Charakters der wissenschaftlich-technischen Revolution unter kapitalistischen Bedingungen: entfaltet sie sich überhaupt und,
wenn ja, mit den Auswirkungen in Richtung einer sozialen Revolution?
Antworten auf diese Fragen müssen folgende Punkte berücksichtigen:
Erstens darf der Begriff der kapitalistischen Produktionsweise nicht so
eingesetzt werden, daß der gesetzmäßige Charakter des 'Übergreifens'
der materiellen Produktion auf alle Lebensbeziehungen sich in einer
Stabilität des Systems ausdrückt, nicht aber in dessen Dialektik; das kapitalistische Gesetz der Produktion und Reproduktion der Arbeiterklasse
muß hier eine wesentliche Rolle spielen.
Wissenschaftsentwicklung
Zweitens muß die sozialökonomische produktive Funktion der Wissenschaft als Bedingung des Übergangs zum Sozialismus erscheinen und
nicht nur als dessen Resultat; sonst fiele die Wissenschaft aus dem Klassenkampf heraus, dessen Errungenschaft sie bestenfalls zu sichern in der
Lage wäre, dessen Instrument und Ergebnis sie aber nicht wäre.
Drittens: die Wissenschaft ist eine Funktion des Gesamtsystems der
Antagonismen des Kapitalverhältnisses, des Klassenkampfes und der
politisch-rechtlichen Strukturen der Gesellschaft und bildet dieses System - hier ihre ideologische Funktion - notwendig adäquat ab; adäquat ist
nicht gleichbedeutend mit 'wahr' bzw. 'richtig' (logisch), sondern meint:
Wissenschaft ist Widerspiegelung der Widersprüche des Kapitalismus in
der Form eines widersprüchlichen Wissenschaftssystems.
Diese Widersprüchlichkeit schlägt sich nieder in den Gesellschaftswissenschaften in der bürgerlichen Gesellschaft, in deren Ambivalenz von
notwendiger Realitätshaltigkeit und irrationalistischer Ideologieproduktion; sie schlägt sich nieder in ideologischen Kampfbegriffen wie 'Wissenschaftspluralismus', deren institutionelle Seite der Kampf um Marxismus
und Marxisten an Universitäten ist (wo es sie schließlich gibt); sie schlägt
sich nieder in wissenschaftlichen Institutionen der Arbeiterklasse inmitten bürgerlicher Herrschaft; sie zeigt sich in der Mitwirkung sozialistischer Wissenschaftler in Bürgerinitiativen und im Mitbestimmungskampf
von Wissenschaftlern und Technikern in Betrieben und staatlichen
Großforschungseinrichtungen.
Es ist zweifellos richtig, diese Seite des Widerspruchsverhältnisses nicht
überzubewerten. Worauf es ankommt, ist, den dialektischen Begriff der
Wissenschaft der realen Dialektik des Wissenschaftsprozesses und der
Dialektik der Klassenauseinandersetzung abzugewinnen und keinen
homogenen, statischen Zustand von 'Kapitalismus' zu unterstellen.
Die hier notwendige Schlußfolgerung für die Analyse der Wissenschaft
im Kapitalismus muß zunächst lauten: eine wesentliche Problemstellung
der Wissenschaftspolitik und der Wissenschaftsforschung muß die Ent-
Hans Jörg Sandkühler
wicklung eines nicht-kapitalistischen Wissenschaftssektors im Kapitalismus sein.
Mit Phasenverschiebung entfalten sich nicht-kapitalistische Formen der
Wissenschaftsproduktion und -organisation im Rahmen der Arbeiterklasse in vielen technologisch hochentwickelten Ländern des kapitalistischen Systems. Erst in dieser strategisch wichtigen Sichtweise können
einseitige Fixierungen auf den Aspekt der Kapitalreproduktion vermieden werden; erst so wird aus der Existenz widersprüchlicher Klassenbewegung die Folgerung gezogen, welche die mechanistische, in der Kritik
bürgerlicher Ideologie immer wieder auftretende Gleichung 'Wissenschaft im Kapitalismus = kapitalistische Wissenschaft' verhindert.
Was ist und wer definiert arbeitnehmerorientierte Wissenschaft?
In einer programmatischen Rede hat 1977 Heinz Oskar Vetter als DGBVorsitzender nüchtern festgestellt, es seien in der Geschichte unserer
Universitäten „eher die geistigen Waffen gegen die Arbeiterbewegung
geschmiedet worden“ als deren Glück. Und doch brauche die Universität
nicht für immer den „Interessen von Wirtschaft und politischem Konservatismus verpflichtet zu sein! ... Die Arbeitnehmer, auf deren Arbeit
der Reichtum dieser Gesellschaft beruht und die damit auch die Hochschuletats mitfinanzieren, haben ein Recht darauf, daß ihre Probleme,
ihre Interessen und ihre Gestaltungsmöglichkeiten Eingang in Forschung, Ausbildung und Weiterbildung finden, Dieser Anspruch muß
Geschichte machen, d.h. er muß in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen unserer Tage durchgesetzt werden, und deshalb wird er
hier angemeldet“.1
Vetter bezog sich in seiner programmatischen Erklärung auf Wissenschaft in dreierlei Bedeutung:
als Qualifikationsprozeß zur Steigerung des Arbeitsvermögens,
1 H.O. Vetter, Was erwarten die Gewerkschaften von den Hochschulen? in: Blätter
für deutsche und internationale Politik, H. 8, 1977 ((Sonderdruck), 4-5.
Wissenschaftsentwicklung
als angewandte Technologie zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und
als Ideologieproduktion und Mittel zur Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse.
Und alle drei Momente betreffen unmittelbar Funktionsbereiche der
Gewerkschaften als Interessenorganisation der Arbeitnehmer. Konsequenz daraus ist: die Gewerkschaften wollen vom betroffenen Objekt
der Wissenschaft zum Subjekt der Wissenschaftsentwicklung werden
und beanspruchen die Definitionshoheit über die Wissenschaft, die sie
zum sozialen Nutzen der Massen einsetzen wollen oder eingesetzt wissen wollen. Ohne diesen politischen Willen sind die Definitionen nicht
erklärbar, die zum Konzept der arbeitsorientierten Wissenschaft vorliegen.
Es gibt inzwischen eine Fülle leider noch kaum systematisch gesammelter Dokumente: Gewerkschaftsbeschlüsse, Beschlußanträge, Programmentwürfe für den Wissenschaftssektor, Vertragstexte zu Kooperationsprojekten zwischen Gewerkschaften und Hochschulen, empirische Analysen und theoretische Beiträge in gewerkschaftlichen Medien und in
Buchveröffentlichungen. Hervorzuheben, weil die entwickeltste Position
darstellend, ist das soeben im Kölner Bund-Verlag erschienene umfassende Gemeinschaftswerk der Leiter und Mitarbeiter des an der Universität Bielefeld angesiedelten Projekts „Arbeits- und Lebensbedingungen
der Arbeitnehmer als Gegenstand der Hochschulforschung“. Sein Titel:
„Wissenschaft und Arbeitnehmerinteressen“2.
Aufgabe dieses gewerkschaftlichen Leitprojekts ist es, Bedingungen und
Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Arbeitnehmerinteressen bei der Planung
und Durchführung von Forschungsvorhaben sowie bei der Umsetzung
der Ergebnisse stärker als bisher berücksichtigt werden können. Obwohl
es sich auf die in der BRD nicht repräsentative Hochschulforschung
beschränkt - nicht repräsentativ, weil zwei Drittel aller in Forschung und
Entwicklung Beschäftigten in der privaten Wirtschaft arbeiten und hier
2
S. Katterle, K. Krahn, Köln 1979, im folgenden zitiert: (W+A).
Hans Jörg Sandkühler
der überwältigende Teil der finanziellen Mittel eingesetzt ist -, sind die
Ergebnisse des Projekts richtungsweisend. Das Projekt will Vorschläge
unterbreiten hinsichtlich einer „idealtypischen methodischen Vorgehensweise, wie Forschungsdefizite aus Arbeitnehmersicht erarbeitet und
in Forschungsprioritäten umgesetzt werden können“. Wichtig ist, daß es
nicht beim theoretischen Modell einer alternativen Forschung stehenbleibt, sondern realistisch „Überlegungen zur Verbesserung der personellen, finanziellen und organisatorischen Bedingungen arbeitnehmerorientierter Forschung an den Hochschulen“ einschließt.3 Und doch
könnte dem Projekt das Etikett einer intellektuellen Pläneschmiede umgehängt werden, wenn nicht... Ja, wenn nicht! Sind es nicht doch wieder
Wissenschaftler, die den Gewerkschaften den Weg zur Wissenschaft
vorschreiben? Wer denn sonst, wird man, an traditionelle Standards
fixiert zurückfragen.
Hier zeigt sich, was letztlich neu ist an der arbeitnehmerorientierten
Wissenschaft, was sie zur wirklichen Alternative zur gepriesenen „freien
Wissenschaft“ macht: Das Bielefelder Projekt und es steht nicht allein hat seine Lehren aus der an zahlreichen Hochschulorten längst bestehenden Kooperation zwischen Wissenschaftlern und Arbeitnehmervertretern gezogen und es hat - und hier steht es noch allein - selbst in
Dortmund, Frankfurt, Göttingen und Hamburg diese Kooperation mit
aufgebaut und ausgewertet.
Die Verallgemeinerungen aus dieser gewerkschaftlichen Wissenschaftspraxis sind nun keine bloßen wissenschaftstheoretischen Konstruktionen
mehr, sondern wissenschafts- und gesellschaftstheoretisch geleitete Erfahrungssätze. Das Projekt hat den unter Wissenschaftlern recht seltenen
Mut bewiesen, öffentlich hinzuzulernen.
Vergleicht man, was es 1977 in seinem Zwischenbericht an theoretischem Entwurf der neuen Wissenschaft gedacht, mit dem jetzt vorlie3
Projekt 3140, Mitteilung vom 20.11.79, S 11.
Wissenschaftsentwicklung
genden Resultat, dann wird man feststellen: die Praxis und das Bemühen
um vertiefte theoretische Begründung haben zu einer Revision vieler
zunächst verschwommener Annahmen geführt. Mit anderen Worten: die
Transparenz des Erkenntnisprozesses, welche das Projekt gegen die
Geheimhaltung im Wirtschaftssektor als Kennzeichen demokratischer
Wissenschaft fordert, hat es selbst vorexerziert.
Was hat es konzeptionell erreicht? Es hat drei methodologische Kriterien
einer arbeitnehmerorientierten Wissenschaft theoretisch umrissen. Diese
Kriterien heißen: Interessenbezug, Praxisbezug, Kooperation. Genauer:
Wissenschaft soll sich an den Interessen der Arbeitnehmer orientieren,
Wissenschaft soll praktisch nutzbare Problemlösungen liefern und Wissenschaft soll die Distanz gegenüber der Gewerkschaft aufgeben. Zwischen diesen drei Kriterien einer alternativen Wissenschaft gibt es eine
innere Logik.
Denn: wer mißt, wer greift auf, wer artikuliert die Interessen der Werktätigen? Das Kooperationskriterium folgt der geschichtlichen Logik der
Interessenvertretung. Als größte Organisation der Arbeiterbewegung
vermittelt die Gewerkschaft zwischen den Interessen und der Wissenschaft. Entscheidend für das Verständnis der Arbeitnehmerinteressen ist,
daß sie nicht spontan formuliert werden können. Was Interesse ist, muß
- auch wissenschaftlich - erarbeitet werden. Denkt man hier ein Stück
weiter, so kommt man zur Folgerung: die arbeitnehmerorientierte Wissenschaft bildet nicht nur vorhandene Interessen ab, verdoppelt nicht die
Realität, sondern stößt von der Diagnose zur Prognose vor, unterstützt
die Erarbeitung gewerkschaftlicher Strategien und verbessert die Zielfindung gewerkschaftlicher Politik. Mit anderen Worten: Wissenschaft realisiert nicht nur Interessen, sondern hebt Interessen auf ein entwickelteres
Niveau4.
Das Kriterium „Kooperation“ wird dabei im Wortsinn zum Prüfstein.
Denn was arbeitnehmerorientierte Wissenschaft ist, kann nach den histo4
W + A, 145.
Hans Jörg Sandkühler
rischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung mit der Intelligenz nicht der
Wissenschaftler in 'Einsamkeit und Freiheit' bestimmen. Diese Definition von Wissenschaft steht nicht im Lexikon. Sie ist das Ergebnis kollektiven Handelns von Wissenschaftlern und Gewerkschaftern. Kooperation hat - um eine Formulierung von S. Katterle zu verwenden - mehrere
Funktionen: Sie dient der Absicherung gesellschaftlicher, ökonomischer
und institutioneller Rahmenbedingungen. Sie ist Instrument des Erkenntnisprozesses, indem sie Erfahrungen im Produktionsprozeß und im
gewerkschaftlichen Handeln in die Wissenschaft integriert. Sie ist Mittel
zum Transfer von Erkenntnissen in die Gewerkschaftspraxis. Und
schließlich: Kooperation muß Kooperationsbedingungen erzeugen und
verbessern; mit anderen Worten: die soziale Diatanz zwischen Wissenschaftlern und Gewerkschaftern würde, bliebe sie unverändert bestehen,
alle anderen Funktionen der
Kooperation verhindern 5.
Fassen wir thesenartig zusammen: in der arbeitnehmerorientierten Wissenschaft wird die Arbeiterbewegung durch die Gewerkschaften zum
Träger und zum Subjekt einer neuen, auf Demokratie verpflichteten
Wissenschaft. Diese Wissenschaft lebt nicht mehr in der und von der
sozialen Trennung zwischen Arbeit und Erkenntnis, Lohnabhängigkeit
und Privileg.
Wissenschaftlerbewegung und Wissenschaftsentwicklung
Die Wissenschaftsentwicklung in den heutigen kapitalistischen Ländern
ist zwar weitgehend vom spontanen Wirken ökonomischer Gesetzmäßigkeiten geprägt. Die ersten Erfolge der Gewerkschaftsbewegung in der
BRD im Bereich der Wissenschafts- und Forschungspolitik zeigen aber,
daß der Zusammenhang zwischen Wissenschaft, Technik und Produkti5
S. Katterle, Kooperation als Voraussetzung und Instrument arbeitnehmerorient.
Forschung. in: Bielefelder Universitätszeitung, Nr. 108, 1978, 10.
Wissenschaftsentwicklung
on nicht naturwüchsig unbegriffen und unbeeinflußbar ist. Entscheidend
ist, in die Rechnung das wichtigste Element der Produktion und Reproduktion, die Menschen in ihrer Arbeit, einzubeziehen. Es geht um die
Stellung der Arbeiterklasse, um die Stärke ihrer Organisationen, um die
Bewußtheit ihrer Politik.
Ohne Demokratie, ohne die ökonomische Verfügung der Mehrheit der
werktätigen Bevölkerung über die Produktionsmittel und ohne die politische Macht zur Sicherung der Mehrheitsinteressen gegenüber den
Machtansprüchen der monopolistischen Bourgeoisie bleibt die Wissenschaft in der bürgerlichen Gesellschaft letztlich selbst Ausdruck des
Widerspruchs, bildet den Widerspruch in sich ab und wird an der vollen
Entfaltung ihrer fortschrittlichen sozialen Wirkung gehindert. Gleichwohl bleibt zu berücksichtigen: Ergebnisse der Wissenschaft nutzen sich
nicht ab und bleiben verwendbar. Selbst die Produktivkraftentwicklung
durch bürgerliche Wissenschaft dient nicht ausschließlich dem Kapital,
sondern verbessert langfristig die Ausgangsbedingungen der Arbeiterklasse auch dann, wenn zunächst ihre negativen Folgen wirksam werden.
Innerhalb des materiell-gesellschaftlichen Strukturwandels der Produktion und der Klassenverhältnisse vollzieht sich ein Strukturwandel im
Qualifikationsprofil wissenschaftlicher und technischer Tätigkeiten. Die
Gesellschaftlichkeit des Bewußtseins von Angehörigen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz ist in den Strukturwandel unmittelbar einbezogen: der gesellschaftliche Inhalt der Erkenntnistätigkeit und des produzierten Wissens tritt deutlicher zutage. Mit anderen Worten: geistige
Tätigkeit, wissenschaftlich-technisch qualifizierte Erfahrungen und Erkenntnis tendieren stärker zum Bewußtsein der Gesellschaftlichkeit sowohl ihrer kognitiven wie ihrer materiell-praktischen Dimension. In der
Organisation geistiger Arbeit verschmilzt die Individualität von Angehörigen der Intelligenz immer mehr mit dem gesellschaftlichen Charakter
der Arbeit. Zu fragen ist nicht nur, wie sich die Intelligenz zur Bourgeoisie oder zum Proletariat verhält - gerade als verhielte sich diese Schicht
von einem klassenneutralen Außenstandpunkt aus zu den Klassen -,
sondern es ist vielmehr zu fragen, wie sich die gesellschaftlichen Beziehungen in der Intelligenz geltend machen; oder anders ausgedrückt: wie
Hans Jörg Sandkühler
wirken die widersprüchlichen materiellen Verhältnisse der gegenwärtigen
bürgerlichen Gesellschaft als Vermittlungsglieder zwischen der gesellschaftlichen Aktivität körperlich bzw. geistig Werktätiger?
Aufgrund der Verwandlung der Wissenschaft zur unmittelbaren Produktivkraft und aufgrund des enormen gesellschaftlichen Funktionszuwachses wissenschaftlicher Tätigkeit in der Produktion und Reproduktion des
Kapitalverhältnisses hat der sozial-ökonomische Widerspruch in kaum
einer anderen Schicht eine derart tiefgreifende Wirkung wie in der wissenschaftlich-technischen Intelligenz. Man kann sagen, daß diese Schicht
heute durch ihre Produktionstätigkeit wesentlich an ihr beteiligt ist, und
zwar in einem erheblich größerem Ausmaß, als der Zahlenvergleich
zwischen den Angehörigen der Hauptklassen und dieser relativ kleinen
Schicht es erwarten läßt. Wissenschaftlich-technische Produktivkräfte
steuern zunehmend den Prozeß der Verschiebung im Kräfteverhältnis
der Klassen. Unabhängig davon, ob dieser oder jener Wissenschaftler
und Ingenieur sich dessen bewußt ist, trägt seine Tätigkeit zur Sprengung
der durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse künstlich,
krampfhaft und gewaltsam errichteten Barrieren der Produktivkraftentwicklung in Richtung der Überwindung des Kapitalismus bei. Entsprechend ihrer gesellschaftlichen Funktion steht die wissenschaftlichtechnische Intelligenz nicht in einem Niemandsland zwischen den
Hauptfaktoren des Kapitalverhältnisses, sondern in einer komplizierteren
Beziehung zur Dialektik der Hauptklassen, als es die bildhafte Vorstellung von der 'Mitte zwischen den Klassen' ausdrücken kann. Sie tritt
aktiv ein in den Reproduktionsprozeß des Kapitalismus.
Reproduktion des Klassenverhältnisses bedeutet im staatsmonopolistischen Kapitalismus, daß sich nicht mehr die Kapitalisten vermehren,
sondern die Kapitalien vergrößern, wobei die kapitalistische Klasse zahlenmäßig abnimmt. Die Arbeiterklasse wird quantitativ und qualitativ
stärker. Wo steht in dieser Entwicklung die Intelligenz? Gemessen an
ihrer objektiven Funktion, Dienste in der Konzentration und Zentralisation des Kapitals zu übernehmen und damit die erweiterte Reproduktion
Wissenschaftsentwicklung
der Arbeiterklasse zu beschleunigen, steht sie in einer gesellschaftlichen
Funktion als Faktor der Intensivierung der Klassenverschiebung.
Die Rolle der Intelligenz darf nicht nach dem Selbstverständnis der bürgerlichen Ideologen und auch nicht nach dem Selbstverständnis selbsternannter intellektueller Avantgarden bestimmt werden. Selbst unabhängig
von der objektiven Parteinahme für das Kapital und den Kapitalismus
trägt die Intelligenz dazu bei, daß die Reproduktion der Klassen (und
ihrer selbst als Schicht) an die Grenze des Übergangs zu sozialistischen
Formen der Produktion und der gesellschaftlichen Organisation vorangetrieben wird.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: ich spreche von keinem Automatismus, und die Parteinahme der Intelligenz beschleunigt oder verlangsamt diesen Prozeß. Mit andern Worten: die wissenschaftlich-technische
Revolution ist an sich keine Garantie für den Sozialismus, sie ersetzt
nicht den aktiven Kampf der Arbeiterklasse. Die klare materialistische
Bestimmung der Rolle der Intelligenz, einer 'Rolle in letzter Instanz', ist
aber eine Voraussetzung dafür, daß im ideologischen Kampf die Intelligenz auf die Seite der Arbeiterbewegung gezogen werden kann. Zunächst reißt die wissenschaftlich-technische Revolution die Intelligenz
mit allen Folgen, sozialen und ideologischen, in den Strudel der Krise des
Kapitalismus. Teile der Intelligenz klammern sich um so heftiger an das
sinkende Boot. Soziale Gratifikationen hält das Kapital aber nur für
einen kleinen Teil der Intelligenz bereit. Die Mehrheit spürt tagtäglich die
Abhängigkeit von einer Macht, die ihrer Tätigkeit feindlich gegenübersteht. Eine der wichtigsten Erfahrungen macht der wissenschaftlichtechnische lohnabhängige oder gehaltsabhängige Werktätige, sobald sich
die materiellen, vor allem finanziellen Ressourcen seiner Arbeit verringern, sobald seine Tätigkeit sachfremd und bürokratisch behindert wird,
sobald er z.B. zwischen dem Rüstungs- und dem Bildungs- oder Wissenschaftshaushalt vergleicht. Er spürt die Wirkungen einer Krise und sieht
sich konfrontiert mit Erklärungen der Krise des Kapitalismus. Da er sich
aus eigenem materiellen Interesse nicht blind stellen kann, fällt er auf die
Lüge, diese Krise sei 'weltweit', nicht herein.
Hans Jörg Sandkühler
Die lebhafte Demokratie-Diskussion in der BRD zeigt, daß die Krise zur
Suche nach gesellschaftlichen Alternativen zwingt. Sie zeigt, daß Teile
der Intelligenz sich an Positionen heranarbeiten (arbeiten wortwörtlich
genommen), welche historisch die Arbeiterklasse innehat. Die Tendenz,
in welcher sich die kapitalistisch gesteuerte Verwissenschaftlichung der
Produktion und Reproduktion durchsetzt und zugleich neben kapitalsubsumierten Formen der Vergesellschaftung wissenschaftlicher Tätigkeit nicht-monopolistische Wissenschaftsinhalte herausbilden, ist ein
wichtiges Moment der Widerspruchsentwicklung in der gegenwärtigen
bürgerlichen Gesellschaft.
Unter ideologischen Gesichtspunkten führt die Berücksichtigung dieser
Tendenz zu einer fundierten Kritik konservativer und linksopportunistischer Identifizierungen von Kapital und Wissenschaft. Unter politischem
Aspekt drängt dieses Ergebnis zur Verstärkung gewerkschaftlicher und
anderer politisch-organisatorischer Aktivitäten in Richtung demokratischer Mitbestimmung und Kontrolle im Wissenschaftsprozeß und zur
Legitimation der gegen die Kapitalherrschaft gerichteten Forderungen
auf Beteiligung an den wissenschaftlichen Ressourcen der Gesellschaft.
In historischer Perspektive fördert diese Tatsache die Forschungen zur
geschichtlichen Herausbildung alternativer wissenschaftlicher Tätigkeit in
der Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung. Wissenschaftstheoretisch
gesehen stellt sich eine neue Aufgabe: das Widerspruchssystem 'Wissenschaft im Kapitalismus'' so allgemein wie möglich und so formationsspezifisch wie notwendig kategorial zu erfassen. Der Begriff der Herausbildung eines nicht-kapitalistischen Sektors der Wissenschaftsentwicklung
ist - wenn er nicht eng politisch-ökonomisch gefaßt wird - ein Beitrag
zur Lösung dieser theoretischen und politischen Aufgabe. Er erlaubt es,
die gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaftler für den Fortschritt tiefer zu begründen und realistischer zu fordern.
In diesem Prozeß steht die demokratische Wissenschaftlerbewegung vor
der Aufgabe, sich zu organisieren, ohne sich der Gewerkschaftsbewegung zu verweigern. Die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Wis-
Wissenschaftsentwicklung
senschaftler und die Sicherung ihrer Arbeitsplätze ist in erster Linie das
Ziel ihrer gewerkschaftlichen Organisation. Und doch wäre es politisch
wie wissenschaftlich falsch, eine Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaften und Wissenschaftlerorganisationen mit der Grenze zwischen der
Vertretung materieller und politischer bzw. wissenschaftspolitischer
Interessen zu unterstellen. Eine solche Arbeitsteilung würde die Wissenschaftler sozial von der Arbeiterklasse distanzieren und verhindern, worauf es heute entscheidend ankommt: die Annäherung zwischen Gewerkschaften und Wissenschaftlern als gemeinsamen politischen Lernprozeß
zu organisieren. Die Organisationen demokratischer Wissenschaftler sind
heute Alliierte der Gewerkschaften. Sie können und müssen ihre Mitglieder fähiger dazu machen, von Alliierten zu Teilen der Gewerkschaftsbewegung zu werden. Dies ist keine nur befristete Aufgabe. Als Gewerkschafter wird der Wissenschaftler dazu beitragen, daß die Doppelmitgliedschaft etwa in einer DGB-Gewerkschaft und im Bund
demokratischer Wissenschaftler keine Spaltung, sondern eine Verdoppelung bedeutet.
In: Widerspruch Nr. 1 (01/81) Wissenschaft und sozialer Fortschritt
(1981), S. 9-10
AutorenInnen: Redaktion
Zum Thema
Zum Thema
Wissenschaft
schritt
und
sozialer
Fort-
Jede Ausgabe der Zeitschrift möchten wir gerne unter ein bestimmtes
Leitthema stellen, um das sich die Beiträge, Rezensionen und Informationen gruppieren sollen.
Die erste Nummer haben wir dem Problemkreis „Wissenschaft und
sozialer Fortschritt“ gewidmet, Dieses Thema scheint uns eines der umstrittensten Probleme gegenwärtiger Reflexion über Gesellschaft und
Wissenschaft aufzuwerfen.
Gibt es heutzutage - angesichts wachsender ökonomischer und ökologischer Probleme- überhaupt noch so etwas wie „sozialen Fortschritt“?
Wie kann das, was „sozialer Fortschritt“ heißt, unter den gegenwärtigen
Bedingungen konzipiert werden, und welche politischen, sozialen, ökonomischen und technischen Voraussetzungen sind nötig, um ihn zu
realisieren?
Das sind Fragen, die die Wissenschaften ebenso herausfordern wie die
Philosophie.
Andererseits: Welche Rolle spielt die Wissenschaft innerhalb einer gesellschaftlichen Praxis, die auf die Durchsetzung des sozialen Fortschritts,
zum Thema
als Inbegriff der materiellen, sozialen und politischen Rechte und Errungenschaften der Menschen, hinzielt? Kann die Theorie hierfür einen
Beitrag leisten; und, wenn ja, welchen?
Auch hier ist die Philosophie herausgefordert, zur Klärung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, von gesellschaftlicher Veränderung und
deren Konzeptualisierung beizutragen.
Der Leitartikel dieser Nummer stammt von Prof. Hans-Jörg Sandkühler,
der sich auf ein Referat bezieht, das Sandkühler im Wintersemester 1981
in der Münchner Universität zum Thema „Die Frage nach den humanen
Zielen der Wissenschaft“ gehalten hat, Sandkühler begründet darin die
Auffassung, daß eine Wissenschaft auch unter kapitalistischen Verhältnissen möglich ist; die sich in ihren Ziel- und Wertvorstellungen an fortschrittlichen Positionen orientiert.
Elmar Treptow schrieb dazu das Koreferat, das systematisch begründete
Antworten auf Fragen gibt, die mit dem Thema „Wissenschaft und
sozialer Fortschritt“ aufgeworfen werden.
Die Auseinandersetzung mit Hermann Lübbe und Robert Spaemann
sollen mit dem Nachweis geführt werden, daß von einflußreicher Seite
her der Versuch unternommen wird, Konservative und gegen den Fortschritt gerichtete Ideologien zu produzieren, die jedoch einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten können, Weiterhin haben
wir aus aktuellem Anlaß einen Beitrag zu Dieter Henrich aufgenommen,
der sich kritisch mit seiner philosophischen Position auseinandersetzt.
Berichte zu Tagungen und Kongressen ergänzen den Band.
Wir wünschen uns, daß wir Euer Interesse für unsere Zeitschrift finden,
und Euch - viel Spaß beim Lesen.
Die Redaktion
In: Widerspruch Nr. 01 (01/81) Wissenschaft und sozialer Fortschritt (1981), S. 58-61
Autor: Alexander von Pechmann
Bericht
Alexander von Pechmann:
Hegel und Marxismus. Bericht von einer philosophischen Tagung in Berlin/DDR
Anfang April fand in Berlin/DDR ein internationales Symposion statt.
Das Thema: Die Philosophie Hegels und der Marxismus-Leninismus.
Veranstaltet wurde die Tagung von den Akademien der Wissenschaften
der UdSSR und der DDR.
Worum ging es bei diesem Treffen? Den marxistischen Philosophen aus
ganz Europa sollte die Gelegenheit gegeben werden, 150 Jahre nach
Hegels Tod den Stand der marxistischen Hegel-Forschung zu bestimmen und das gegenwärtig erreichte Verhältnis marxistischer Philosophie
zu Hegel zu überdenken. Einhelliges Fazit der Veranstaltung war, daß
Hegel keineswegs als „toter Hund“ behandelt werden könne, sondern im
Gegenteil die marxistische Aneignung des reichen „Hegel-Erbes“ noch
lange nicht abgeschlossen sei. „Hegel-Erbe“ – das bedeutet keine unreflektierte, platte Übernahme in die Gegenwart, sondern es fordert zur
kritischen Aneignung und zur Fruchtbarmachung unter den gegenwärtigen Verhältnissen heraus. Ja, vom sowjetischen Philosophen W.W.
Mschwenieradse (Moskau) wurde sogar das Verhältnis der Wissenschaften
zu Hegels Dialektik zum „Reifegrad der Wissenschaft“ gemacht; ohne
konkrete Bezugnahme auf Hegels Dialektik keine fertige Wissenschaft,
so ließe sich der Standpunkt zusammenfassen.
Das Einleitungsreferat des DDR-Philosophen Manfred Buhr (Berlin) setzte sich mit der gegenwärtigen Hegel-Rezeption in der bürgerlichen und
der marxistischen Philosophie auseinander. Die bürgerliche Philosophie
sei schon seit dem Tode Hegels nicht mehr in der Lage, das Fortschrittliche und Vorwärtsweisende seiner Philosophie aufzunehmen; statt dessen
herrsche dort ein unsicheres, unhistorisches Hegelisieren, das weit hinter
Freiheit der Wissenschaft
den philosophischen Anspruch Hegels zurückfalle. „Hegel ist unser
Bundesgenosse“, weil er damals ebenso gegen die Vernunftlosigkeit und
die Erkenntnisfurcht gestritten habe wie die marxistische Philosophie
heute. Dieser käme es vor allem darauf an, das Geniale und das Antizipierende in Hegels Denken, das insbesondere in seiner Dialektik enthalten sei, herauszuarbeiten und auf materialistischer Grundlage fruchtbar
zu machen. Das kleinkarierte Herumklauben in Hegel könne man ruhig
den anderen überlassen.
Als das zentrale Problem der Veranstaltung stellte sich die Frage heraus:
„Wie wollen wir es mit Hegels 'spekulativer Dialektik' halten?“ Weder
sein sich zum geschlossenen Ganzen entwickelndes Gesamtsystem noch
seine idealistische Grundposition sind akzeptabel. Aber was ist es dann?
Hans Heinz Holz (Groningen) unternahm einen Interpretationsversuch
von Hegels Dialektik, der Hegel „vom Kopf auf die Füße“ stellen sollte.
Hegels „Wissenschaft der Logik“ sei der großartige Versuch, die philosophischen Kategorien systematisch auseinander zu entwickeln. Aber er
spule sie sozusagen in idealistischer Manier aus dem Kopf, statt sie als
Widerspiegelungen der Grundstrukturen der Wirklichkeit im Bewußtsein
nachzuweisen. Man könne die Logik Hegels weder als idealistisch einfach
abtun noch als Steinbruch für dialektische Kategorien mißbrauchen,
sondern müsse sie sich auf der Grundlage dialektisch-materialistischer
Interpretation als subjektive Abbildung der objektiven Dialektik im Detail aneignen.
In ähnlicher Weise argumentierte der tschechische Philosoph Jindrich
Zelený, der die Hegelsche Kritik an Kants Kategorienlehre hervorhob.
Waren bei Kant die Kategorien noch „tote Fächer der Intelligenz“ so
„verflüssigt“ Hegel die Kategorien. Dieses „In-Bewegung-Setzen“ der
Denkbestimmungen sei das bleibende Verdienst Hegels. Aber, so Zelený, es käme nicht nur darauf an, sie im Medium des reinen Denkens zu
entwickeln, sondern sie als Produkte historischer Entwicklung zu begreifen, d.h. sie aus ihrer geschichtlichen Entstehung abzuleiten.
Auf diesen Zusammenhang von logischer und historischer Entwicklung
wies auch der Moskauer Philosoph T.I. Oiserman hin. Hegels Behandlung
der Philosophie zeige, wie wichtig ihm die Einheit von Logischem und
Historischem gewesen sei. Hegel habe mit seiner „Geschichte der Philosophie“ den Versuch unternommen, die historische Vielfalt der philosophischen Meinungen als einen notwendigen Widerstreit der Philosophie
mit sich selbst nachzuweisen, der sich zu höheren und komplexeren
Formen der Philosophie entwickelt habe. Diese Einheit von Logischem
Ralph Marks
und Historischem sei einer der wesentlichen Gesichtspunkte auch des
marxistischen Geschichtsverständnisses; aber nicht der sich entfaltende
Geist, sondern die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse seien die
Triebkräfte der Geschichte. Diese Verkehrung führe bei Hegel zu Verzerrungen und Mißdeutungen, die sich aus dem Zwang ergeben, die
Geschichte der Philosophie in das Prokrustesbett der Logik zu spannen.
Zwei weitere wichtige Beiträge kamen von den beiden Rechtsphilosophen Hermann Klenner (Berlin) und Karl-Heinz Schöneburg (Potsdam),
Klenner wies darauf hin, daß die Rechtsphilosophie Hegels keineswegs
so reaktionär gewesen sei, wie das lange Zeit behauptet wurde, sondern
in den wesentlichen rechtspolitischen Details durchaus progressiv war.
Dennoch liege die eigentliche Bedeutung von Hegels „Grundlinien der
Philosophie des Rechts“ nicht in den Details, sondern in seiner Gesamtkonzeption, die sich gegen den Empirismus in den Rechtswissenschaften
ebenso gewandt habe wie gegen einen dogmatischen Rechtspositivismus.
Sie bestand in dem Versuch, die Rechtsverhältnisse der Gesellschaft als
vernünftig nachzuweisen. Hegel habe daher weniger ein juristisches Gesetzessystem aufgestellt, als eine Sozialphilosophie entwickelt, die mit
dem Gegenstand des historischen Materialismus, der gesamten Gesellschaft, übereinstimmt. So habe Hegels Rechtsphilosophie auch weniger
Einfluß unter den Juristen als unter den Kritikern der Gesellschaft gefunden, die jenen antipositivistischen Zug zur Gesellschaftskritik gebrauchten.
Karl-Heinz Schöneburg hob die Staatskonzeption Hegels heraus, die es
seiner Meinung nach vor allem in den entwickelten sozialistischen Ländern zu berücksichtigen gelte.
Für Hegel sei der Staat nicht nur ein politisches Machtinstrument gewesen, sondern er habe ihn als einen „politisch-sozialen Organismus“ angesehen, der die sozialen Gliederungen zu einem gesellschaftlichen Gesamtsystem zusammenfüge. Hier könne auch der Hegelsche Staatsbegriff
innerhalb der marxistisch-leninistischen Rechtsphilosophie geltend gemacht werden.
Aus der Fülle der Referate möchte ich noch auf einen Beitrag verweisen,
der sich des Stiefkindes der Hegelschen Philosophie, seiner Naturphilosophie, annahm.
Der Physiker Hans-Jürgen Treder (Potsdam) stellte Überlegungen darüber
an, inwiefern Hegels spekulative Physik Einsichten vermittelt, die noch
heute tragfähig sein könnten. Zuerst einmal hob er hervor, daß Hegel –
gegen die Einwände seiner Kritiker – mit den Naturwissenschaften sei-
Freiheit der Wissenschaft
ner Zeit durchaus vertraut war, ja daß er unter Umständen mehr erkannt
hat als seine zeitgenössischen Naturforscher selbst. So hielt er beispielsweise nichts von der Annahme eines eigenständigen Wärmestoffes, sondern interpretierte die Wärme als eine qualitativ besondere Bewegungsform. Eine Erkenntnis, die bei den Naturwissenschaftlern erst Jahrzehnte später Allgemeingut wurde.
Hegels Stärke, so Treder, läge vor allem in seiner Fähigkeit zur Kritik an
gängigen Lehrmeinungen, insbesondere der Newtonschen Mechanik, die
die Physiker vor Betriebsblindheit bewahren könnten. Zwar sehe er bei
Hegel wie bei anderen Naturphilosophen die Gefahr einer vorschnellen
Übertragung der allgemeinen Prinzipien auf konkrete Sachverhalte, die
den ganzen „theoretischen Mittelbau“ nicht entsprechend würdige, aber
dennoch enthalte Hegels spekulative Physik eine Menge von Anregungen, die jedoch erst bei ihrer materialistischen Umstülpung tragfähig und
ernsthaft diskutierbar würden.
Zusammenfassend läßt sich zu dem Symposion der marxistischen Philosophen sagen, daß sie sich der „Macht und der Größe des Hegelschen
Geistes“ (Buhr) durchaus bewußt sind, und daß sie überaus selbstbewußt
sich als Erben seiner Philosophie verstehen. Dieses Selbstbewußtsein
schließt einen prinzipienfesten Standpunkt einerseits und eine differenzierte Hinwendung zur Philosophie Hegels andererseits ein. Es scheint,
als sei der Brocken, den uns Hegel hinterlassen hat, von den MarxistenLeninisten im Großen und Ganzen bewältigt worden.
Alexander von Pechmann
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