Deutscher Gewerkschaftsbund Bundesvorstand Abteilung Wirtschafts- und Tarifpolitik Abteilung Arbeitsmarkt- und Internationale Sozialpolitik Zusammenfassung und erste Bewertung des Jahresgutachtens 2002/2003 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) Berlin, 18. November 2002 Herausgeber: Verantwortlich: DGB-Bundesvorstand Heinz Putzhammer Abt. Wirtschafts- und Tarifpolitik Henriette-Herz-Platz 2 10178 Berlin Rückfragen an: Johannes Jakob (Abt. ais) Dr. Wolfgang Scheremet (Abt. wtp) Telefon 030/ 240 60 –727 Telefax 030/ 240 60 –218 E-Mail: carina.ortmann @bundesvorstand.dgb.de Zusammenfassung Weltwirtschaft Im ersten Halbjahr 2002 hatte sich die Weltwirtschaft zwar zunächst von der Rezession im Jahr 2001 erholt. Im Verlauf des Sommers kam es aber zu einer konjunkturellen Eintrübung. Der SVR sieht auch die Perspektiven der Weltwirtschaft keineswegs als positiv an. So wird die Wirtschaftsentwicklung mit Ausnahme der USA in kaum einem Land von einer binnenwirtschaftlichen Dynamik getragen. Zugleich wuchs der Welthandel in den beiden vergangenen Jahren, anders als in den Jahren zuvor, schwächer als das Welt-Bruttoinlandsprodukt. Die Abkühlung ging folglich mit einer deutlich schwächeren Ein- und Ausfuhrdynamik einher. Die konjunkturelle Abkühlung in den großen Industrieländern hat sich damit sehr schnell auf die Weltwirtschaft übertragen. Die einzelnen Wirtschaftsregionen werden damit auch durch weniger außenwirtschaftliche Impulse angeregt. Der SVR prognostiziert für das Jahr 2003 einen Zuwachs der weltwirtschaftlichen Produktion von 3,7 %. Die Zuwachsrate bleibt damit wiederum unter dem längerfristigen Durchschnitt zurück. Die Risiken für einen ungünstigeren Verlauf werden dabei höher eingeschätzt als die Chancen für ein besseres Ergebnis. Nach einer kräftigen Erholung im vergangenen Winter geriet die Wirtschaft in den USA im Jahresverlauf wieder ins Stottern. Sinkende Aktienkurse, unsichere Wachstumsperspektiven sowie die drohende Gefahr eines Krieges im Nahen Osten belasten die Konjunktur. Besonders stark ist die US-amerikanische Industrie von der Flaute betroffen, deren Produktion in diesem Jahr um fast 7 % abnahm. Stützend wirkte – nach Aussage des SVR - der private Verbrauch und der Staatskonsum. Insgesamt nimmt die gesamtwirtschaftliche Produktion in den USA in diesem Jahr um 2,4 % zu. Impulse erhielt die US-amerikanische Wirtschaft von der expansiven Geld- und Finanzpolitik. Zum ersten Mal seit fünf Jahren gerieten die öffentlichen Haushalte wieder in ein Defizit. Wie bereits in den achtziger Jahren weist die US-amerikanische Wirtschaft ein sogenanntes „Zwillingsdefizit“ auf, Defizite im Staathaushalt und in der Leistungsbilanz. Der SVR erwartet aber keinen deutlich Rückgang des Dollarkurses. Auch in Japan blieb die Konjunktur schwach. Die Produktion schrumpfte um 0,8 % und damit zum zweiten mal in Folge. Impulse kamen in diesem Jahr lediglich vom Export und von den Staatsausgaben. Demgegenüber stagnierten die privaten Konsumausgaben, und die Investitionen setzten ihren Abwärtstrend fort. Im nächsten Jahr erwartet der SVR nur eine Wachstumsrate von 0,7 %. Die Wirtschaftsaktivitäten in den südostasiatischen Schwellenländern nahmen mit einer Rate von 4,3 % sehr viel kräftiger zu als im Vorjahr. Konjunkturstützend wirkte auch hier ________________________________________________________________ 2 die expansive Geld- und Finanzpolitik. In Folge dessen kam es zu einer Ausweitung der privaten Verbrauchsausgaben und der Investitionen. In Lateinamerika war die Lage hingegen geprägt von den Krisen in Argentinien und Brasilien. Das Bruttoinlandsprodukt in der gesamten Region nahm um 0,9 % ab (Argentinien: -16 %). Für das kommende Jahr prognostiziert der SVR eine Erholung. Die Volkswirtschaften des Euroraums erholten sich im ersten Halbjahr 2002 nur zögerlich im Gefolge der weltwirtschaftlichen Belebung. Die Binnennachfrage schwächte sich ab. Das Bruttoinlandsprodukt nahm nur um 0,8 % zu. Bei restriktiver Finanzpolitik und schwacher Binnenkonjunktur wird die gesamtwirtschaftliche Expansion im kommenden Jahr mit einer Wachstumsrate von 1,8 % unter ihren Möglichkeiten bleiben. Wirtschaftsentwicklung in Deutschland Gemäß der Diagnose des SVR kam es in Deutschland im Jahr 2002 zu einer Überwindung der rezessiven Tendenzen. Impulse kamen von der Auslandsnachfrage, die Binnennachfrage blieb dagegen schwach, nicht zuletzt, weil die Ausrüstungsinvestitionen ihren im vorletzten Jahr begonnen Abwärtstrend nahezu ungebremst fortsetzten. Alles in allem reichte es nur zu einer Wachstumsrate von 0,2 %. Solange die Binnennachfrage keine Dynamik entwickelt, wird die konjunkturelle Entwicklung auf tönernen Füßen stehen. Die Exporte nahmen 2002 um 1‚8 % zu‚ obwohl der Euro an Wert gewann. Durch die extrem schwache Binnennachfrage gingen die Importe aber um 3,6 % zurück, so dass vom Außenbeitrag insgesamt doch ein positiver Wachstumsbeitrag ausging. Als „kümmerlich“ bezeichnet der Rat die Entwicklung des privaten Verbrauchs, der um 0,7 % schrumpfte. Sinkende verfügbare Einkommen, steigende Preise, zunehmende wirtschaftliche Unsicherheiten und die massiven Kursverluste an den Aktienmärkten werden als Gründe genannt. Stark rückläufig waren die Anlageinvestitionen, die insgesamt um 5,5, % abnahmen (Bauten: -4,9 %‚ Ausrüstungen: -7,4 %). Die Lage am Arbeitsmarkt hat sich 2002 weiter eingetrübt. Die Arbeitslosigkeit nahm im Jahresvergleich um 211.000 Personen zu, die Arbeitslosenquote stieg um 0,4 Prozentpunkte auf 9,8 %‚ die Zahl der Erwerbstätigen ging um 242.000 Personen zurück. Rechnet man die 1,74 Mio. verdeckt Arbeitslosen hinzu, beträgt die tatsächliche Arbeitslosenquote aber 13,4 %. Der SVR macht neben der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung und den ausgebliebenen Strukturreformen am Arbeitsmarkt auch die überhöhten Tarifabschlüsse für die schlechte Arbeitsmarktentwicklung verantwortlich. In den neuen Bundesländern ist der Konvergenzprozess laut SVR ins Stocken geraten. Seit 1996 ist das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen lediglich um 3,5 Prozentpunkte gegenüber dem ________________________________________________________________ 3 westdeutschen Wert gestiegen und liegt nun bei 70,3 % des Westniveaus. Zwar wächst die Industrie dynamisch, die industrielle Basis ist jedoch nach wie vor zu schmal, um die Strukturkrise des ostdeutschen Baugewerbes zu kompensieren. Seine Prognose betitelt der Rat mit „Erholung mit angezogener Handbremse“. Er erwartet nur eine behutsame Fortsetzung der konjunkturellen Aufwärtsbewegung mit einer Zuwachsrate von 1,0 %. Die Prognose deckt sich damit weitgehend mit der des DGB. Die wesentlichen Impulse kommen dabei erneut von der Außenwirtschaft. Er setzt vor allem auf die USA. Die Exporte steigen mit 3,6 % erneut kräftiger als die Importe (3,3 %). Die Binnenkonjunktur sieht er dagegen kraftlos. Neben dem privaten Verbrauch (0,8 %)‚ werden auch die Ausrüstungsinvestitionen verhalten um 0,9 % zunehmen. Der Rückgang der Bauinvestitionen schwächt sich ab (-0,2%). Die Arbeitslosigkeit wird weiter auf 4,17 Mio. Personen im Jahresdurchschnitt zunehmen. Die Beschäftigung wird weiter abgebaut, insbesondere im produzierenden Gewerbe. Bewertung der wirtschaftspolitischen Vorschläge Seine wirtschaftspolitischen Vorschläge beschreibt der SVR als ein „Programm für Beschäftigung und Wachstum“. Es umfasst 20 Punkte. Mit durchgreifenden Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen, in den öffentlichen Haushalten sowie in der Steuerpolitik soll das Wachstum angeregt werden. Wenig Erfolg verspricht sich der Rat durch die Vorschläge der Hartz-Kommission. Sie gehen dem SVR nicht weit genug. Das „20-Punkte-Prgramm“ des Rates lässt sich grob in vier Bereiche teilen. 1. Reform der institutionellen Ausgestaltung des Arbeitsmarktes (Punkte 1 bis 8). Im einzelnen sind dies: die Senkung der Arbeitskosten (1. Den Grenzabgabensatz für Arbeit senken; 2. Lohnanhebungen unterhalb der Zuwachsrate der Arbeitsproduktivität halten), Senkung der Lohnersatzleistung und Schaffung eines Niedriglohnsektors (3. Das Arbeitslosengeld auf 12 Monate befristen; 4. Arbeitslosenhilfe in Sozialhilfe integrieren; 5. Mehr Beschäftigung im Niedriglohnbereich erfordert eine Reform der Struktur der Sozialhilfe), Flexibilisierung der Tarifverhandlungen (6. Mehr Flexibilität - Verantwortung der Tarifvertragsparteien; 7. Gesetzliche Regelungen im Interesse dezentraler Lohnfindung ändern) und Deregulierung des Kündigungsschutzes (8. Die Möglichkeiten befristeter Arbeitsverträge erweitern - den Kündigungsschutz weniger stringent gestalten). 2. Reform der Gesundheitspolitik (Punkte 9 bis 15). Diese umfassen: 9. Neue Rollenzuweisung für die gesetzliche und ________________________________________________________________ 4 private Krankenversicherung; 10. Mehr Ergebnisorientierung bei der ärztlichen Honorierung im ambulanten Bereich; 11. Liberalisierung des Arzneimittelvertriebs; 12. Vertragsfreiheit für die gesetzlichen Krankenkassen; 13. Keine diskretionären Ausweitungen der Beitragsgrundlagen; 14. Von einkommensabhängigen Beiträgen zu gesundheitskostenorientierten Kopf-Pauschalen; 15. Mehr Wettbewerb in der privaten Krankenversicherung. 3. Finanzpolitik (Punkte 16 bis 19). Im einzelnen sind dies: 16. Haushaltskonsolidierung beherzt angehen - am Stabilitäts- und Wachstumspakt festhalten; 17. Staatliche Verschuldung senken bedeutet Wachstumskräfte stärken und zukünftige Generationen entlasten; 18. Staatsaufgaben zu Gunsten privater Aktivitäten zurückführen und staatliche Ausgaben gleichzeitig in Richtung öffentlicher Investitionstätigkeit umschichten, 19. Steuersätze weiter senken, Integration von Einkommens- und Unternehmensbesteuerung anstreben. 4. Ostdeutschland (Punkt 20), 20. Elemente eines Wachstumsprogramms für Ostdeutschland. Der SVR konstatiert, dass die Probleme der deutschen Wirtschaft zu Beginn der neunziger Jahre begannen und sich in der zweiten Hälfte der Dekade verschärft haben. Der Rat trennt in seiner Diagnose streng zwischen Konjunktur und Wachstum. Wachstum ist die längerfristige, Konjunktur dagegen die kurzfristige Dynamik. Da sich die wirtschaftliche Dynamik seit Mitte der neunziger Jahre bis heute, also über einen längeren Zeitraum, verlangsamt hat, diagnostiziert er einen abnehmenden Wachstumstrend. Es handelt sich folglich nicht mehr um eine konjunkturelle Schwächephase. Dies hat Konsequenzen für die wirtschaftspolitischen Empfehlungen des Rates. Auf die kurze Frist (ein bis zwei Jahre) könne die Wirtschaftspolitik, wie Geld- und Finanzpolitik, einen Einfluss ausüben. Die längere Frist, also das Wachstum, würden aber allein von den strukturellen Rahmenbedingungen bestimmt. Da die wirtschaftliche Dynamik aber eben über einen längeren Zeitraum schwach verlief, und es sich deshalb um eine Wachstumsschwäche handele, könne die allgemeine Wirtschaftspolitik dafür nicht verantwortlich sein. Mithin könne mit den Instrumenten der Geld- und der Finanzpolitik auch nicht agiert werden. Sie seien nutzlos. Vielmehr seien Maßnahmen zur Stärkung des Wachstumstrends zu ergreifen. Der Rat macht es sich mit dieser theoretischen und akademischen Unterscheidung sehr einfach. Da in der theoretischen Welt des Rates die allgemeine Wirtschaftspolitik allenfalls für die Konjunktur, nicht aber für das Wachstum von Bedeutung ist, es sich aber in Deutschland um eine reine Wachstumsschwäche handele, kann der Rat die Rolle der Geld- und der Finanzpolitik ausblenden. Ihr Einfluss wird sozusagen durch die Reduzierung der schwachen Dynamik auf ein reines Wachstumsphänomen ________________________________________________________________ 5 „wegdefiniert“. Die allgemeine Wirtschaftspolitik und eine mögliche restriktive Wirkung von Geld- und Finanzpolitik werden vom Rat daher auch nicht weiter untersucht. Diese Unterscheidung ist aber rein hypothetisch. Sie entspricht nicht der Realität. Wachstum und Konjunktur sind nicht unabhängig voneinander. Die schwächere Dynamik ging auch auf die restriktive Geld- und Finanzpolitik zurück. Dies negiert der Rat völlig. Der Rat betrachtet dagegen einzig und allein mögliche strukturelle Ursachen für die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit. So weist er der deutschen Vereinigung, die mit steigenden Schulden und Abgaben einherging sowie den Rigiditäten des deutschen Arbeitsmarktes zentrale Bedeutung zu. Auch die nicht beschäftigungsorientierte Lohnpolitik hätte hierzu beigetragen. Diese Diagnose schlägt sich dann in den Empfehlungen nieder. Laut der Diagnose des Rates begannen die Probleme vor allem in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre. In dieser Zeit blieben die Lohnzuwächse (einschließlich der Lohnnebenkosten) aber deutlich hinter dem Produktivitätswachstum zurück. Dies muss zwar auch der Rat konstatieren, er folgert aber daraus, dass der Zuwachs der Arbeitskosten zwar niedrig, aber dennoch zu hoch war (weil ja die Arbeitslosigkeit gestiegen ist). Bis auf das Ratsmitglied Herr Prof. Dr. Jürgen Kromphardt ignoriert der Rat möglich negative Rückkopplungen der schwachen Einkommensentwicklung auf den privaten Verbrauch und damit auf die Beschäftigung. Aus Sicht des SVR ist ein Grund für hohe Arbeitslosigkeit auch der angeblich zu hohe Anspruchslohn, den Arbeitslose erwarten, wenn sie sich um eine neue Stelle bewerben. Als Anspruchslohn wird der Lohn bezeichnet, den eine arbeitslose Person von einem neuen Arbeitsplatz erwartet. Es ist quasi der Referenzlohn. Er hängt ab vom Lohn der vorangegangenen Beschäftigung und der Höhe der sogenannten Lohnersatzleistungen (Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe). Die arbeitslose Person vergleicht den angebotenen Lohn mit dem von ihm gebildete Anspruchslohn und entscheidet dann ob, sie die angebotene Stelle annimmt. Dieser Anspruchslohn läge in Deutschland angeblich relativ hoch. Ein Teil der Arbeitslosigkeit sei also darauf zurückzuführen, dass Arbeitslose wegen zu hoher Ansprüche einen Arbeitsplatz ablehnen. Als einen Grund für diesen hohen Anspruchslohn vermutet der Sachverständigenrat, das hohe Niveau von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe. Im Kern geht der Rat also davon aus, dass die Arbeitslosigkeit zumindest zum Teil freiwillig sei. Zur Lösung dieses Problems wird vorgeschlagen, mehr Anstrengungen zur Verbesserung der Qualifikation zu unternehmen, (das ist sicherlich unstrittig) aber auch den Anspruchslohn zu senken. Voraussetzung hierfür sei eine drastische Senkung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Im Gegenzug soll Beschäftigten, die trotz niedrigen Lohnes eine ________________________________________________________________ 6 Arbeit aufnehmen, eine Lohnsubvention gewährt werden. Die Absenkung der Lohnersatzleistungen sei erforderlich, um das Modell überhaupt finanzierbar zu machen. Das Konzept sieht vor: Arbeitslosengeldempfänger sollen bereits nach drei Monaten – nicht wie bisher nach sechs Monaten - einen Arbeitsplatz akzeptieren müssen, bei dem sie einen Nettolohn in Höhe des Arbeitslosengeldes erhalten. Zusätzlich soll das Arbeitslosengeld für alle Arbeitslosen auf zwölf Monate befristet werden. Nach Ablauf der zwölf Monate soll nach den Vorstellungen des Sachverständigenrates jeder Arbeitslose nur noch eine Sozialleistung in Höhe der heutigen Sozialhilfe erhalten. Der Rat bezeichnet zwar die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosenhilfe in den USA als Konjunkturstabilisierungsmaßnahme, er zieht aber für die Deutschland nicht auch die entsprechenden Schlussfolgerungen. Neben Effizienzgewinnen haben Kürzungen bei den Lohnersatzleistungen erhebliche Einsparungen zur Folge. Im Ergebnis können so 10,7 Milliarden Euro auf dem Rücken der Arbeitslosen eingespart werden. Weiter sollen in Zukunft arbeitsfähige und nicht arbeitsfähige Arbeitslose eine unterschiedliche Leistung erhalten. Für erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger sollen die Leistungen noch einmal um 30% auf 70% des heutigen Niveaus gesenkt werden. Sozialhilfeempfänger, die arbeiten, erhalten einen höheren Freibetrag, d. h. ein geringerer Teil des Einkommens wird auf die Sozialhilfe angerechnet. Wer keine Arbeit findet, soll seine Arbeitskraft den Kommunen für gemeinnützige Arbeit zur Verfügung stellen. Der Vorschlag des Sachverständigenrates stellt unser soziales Sicherungssystem weitgehend in Frage. Durch maßlose Leistungskürzungen sollen Arbeitslose unter Druck gesetzt werden, jede angebotene Arbeit zu akzeptieren. Dies hätte zwangsläufig zur Folge, dass die Löhne gerade im Bereich geringqualifizierter Arbeit noch einmal dramatisch sinken. Ob allerdings zusätzliche Beschäftigung ausgelöst wird, ist vom Sachverständigenrat nicht untersucht worden. Vielmehr wird das Sozialsystem verantwortlich gemacht für die Arbeitslosigkeit. Der DGB hat in mehreren Studien nachgewiesen, dass der Lohnabstand zwischen Sozialhilfe und unteren Einkommen nach wie vor beachtlich ist. Durch Anhebungen der Leistungen beim Wohngeld und Kindergeld hat der Lohnabstand sich sogar weiter vergrößert. Bei der Gruppe der Alleinstehenden, die den größten Teil der Sozialhilfeempfänger stellen, liegt bereits bei einem Stundenlohn von 4,00 Euro – das Einkommen höher als die Sozialhilfe. Der Rat verkennt auch, dass Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfeempfänger keinesfalls Dauerarbeitslose sind. Der größte Teil der Sozialhilfeempfänger kann bereits innerhalb eines Jahres ________________________________________________________________ 7 den Leistungsbezug verlassen. Bei der Gruppe der jüngeren Langzeitarbeitslosen, liegen häufig individuelle Probleme vor, die eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt erschweren. Gleichzeitig würde der Vorschlag das bestehende Sozialversicherungssystem infrage stellen. Arbeitnehmer würden zu Recht fragen, warum sie Beiträge zahlen sollen, wenn bereits nach zwölfmonatiger Unterstützung nur noch eine reduzierte Sozialhilfe gezahlt wird und gleichzeitig das gesamte Vermögen zur Bestreitung des Lebensunterhaltes eingesetzt werden muss. Dies soziale Sicherungssystem würde seinen Namen nicht mehr verdienen. Noch gravierender sind die Auswirkungen auf niedrige Löhne. Die Konkurrenz von Beschäftigten und Arbeitslosen wird massiv verstärkt – mit dem Ergebnis, dass auch tarifvertragliche Regelungen unterlaufen werden und in einigen Bereichen Tarifverträge nicht mehr abgeschlossen werden können. Das soziale Sicherungssystem hat aus Sicht der Gewerkschaften auch die Funktion, Arbeitnehmer vor Ausbeutung mit niedrigen Löhnen zu schützen. Der Arbeitnehmer soll eben nicht gezwungen werden, eine Arbeit um jeden Preis zu akzeptieren. Der Rat legt damit Hand an die Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft. Ein weiterer Pfeiler der Empfehlungen des Rates ist die Forderung nach einer Dezentralisierung der Lohnverhandlungen. Im Kern geht es aber nicht nur um eine Dezentralisierung, sondern primär um eine Schwächung der Gewerkschaften, damit die Einkommenszuwächse geringer ausfallen. Der Rat ignoriert jedoch auch hier, dass das System des Flächentarifvertrags in den vergangenen 20 Jahren in der Tendenz zu stabilitätskonformen Löhnen geführt hat. Des weiteren ignoriert der Rat, dass eine gewisse Rigidität der Nominallöhne eine stabilisierende Funktion hat. Wie die Erfahrungen in Japan gezeigt haben, droht eine Deflation erst bei sinkenden Nominallöhnen. Bei der gegenwärtigen Gefahr einer sich verstärkenden Abwärtsspirale der Konjunktur bietet der Flächentarifverträge einen Schutz gegen eine solche Entwicklung. Er verhindert einen Rückgang der Einkommen und damit des Konsums und stabilisierten die Nachfrageseite. Alles in allem ist zu konstatieren, dass der Rat die eigentlichen Probleme in der Weltwirtschaft nicht zur Kenntnis nimmt. Alle Welt redet von deflatorischen Tendenzen. Der Rat geht darauf nicht ein. Für alle anderen Regionen der Weltwirtschaft würdigt der Rat die expansiven Effekte der Geld- und Finanzpolitik. Nur in Europa spiele beides keine Rolle. Mehr und mehr internationale Institutionen rufen die Europäische Zentralbank mittlerweile zu einer expansiveren Politik auf. Der Rat dagegen sieht die Geldpolitik in Europa auf dem richtigen Kurs. Mittlerweile herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die hohen Realzinsen für Deutschland ein erhebliches Problem darstellen. Der Rat beschreibt diesen Umstand zwar, geht aber nicht weiter darauf ________________________________________________________________ 8 ein. Es gibt immer mehr Ökonomen, die vor einer prozyklischen Finanzpolitik warnen und den Stabilitätspakt kritisieren. Der Rat dagegen fordert die Bundesregierung auf, den Sparkurs zu forcieren. Es gab wohl selten ein Gutachten des Sachverständigenrates, dass so abseits der weltwirtschaftlichen Probleme stand, wie das in diesem Jahr. Sollten die Empfehlungen des Rates umgesetzt werden, wird sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland nicht verbessern. Im Gegenteil: Die Vorschläge des Rates führen geradewegs in die Deflation. ________________________________________________________________ 9