Einführung in die Ethik/Medizinethik Georg Marckmann Universität Tübingen Institut für Ethik und Geschichte der Medizin Fortbildung „Ethikberatung im Krankenhaus“ Zollernalb-Klinikum gGmbH Albstadt, 04.02.10 (Tag 1) 1 Moral vs. Ethik Moral Ethik Sittliche Phänomene in einer bestimmten Gemeinschaft: moralische Überzeugungen, Regeln, Normen, Wertmaßstäbe, Gebote Die Moral gibt an, was moralisch richtig und falsch ist Bspl.: „Der Wille eines Patienten ist zu respektieren.“ Die (philosophische) Reflexion über moralische Phänomene Die Ethik versucht zu begründen, warum etwas moralisch richtig und falsch ist. Bspl.: „Warum ist der Wille eines Patienten zu respektieren?“ Bspl.: „Wie kann man den Willen bei einem nicht äußerungsfähigen Patienten respektieren? Umgangssprache: Moral & Ethik oft synonym! 2 Verantwortung Zuschreibungsbegriff ohne eigenen moralischen Gehalt Allgemein: „Eine Person P ist verantwortlich für X“ 2 Verwendungen: 1. Fürsorgeverantwortung: P hat gewisse Verpflichtungen gegenüber X (prospektiv) Bspl.: Die Krankenschwester ist für die Verteilung der Medikamente verantwortlich 2. Rechenschaftsverantwortung: P muss Rechenschaft für Handlungen & Handlungsfolgen ablegen (retrospektiv) Bspl.: Der Stationsarzt ist verantwortlich für die Überdosierung des Medikamentes Entscheidend: Normativer Standard, der den Inhalt der Verantwortung definiert Wer ist für was verantwortlich? In der Medizin häufig: Rollen-Verantwortung, aber: individuelle Verantwortung endet nicht bei Rollen-Verantwortung! 3 Gewissen Häufige Referenz bei moralischen Fragen Gewissen: Moralische Instanz im menschlichen Bewusstsein gutes/schlechtes/reines Gewissen „Gewissensbisse“, „nach bestem Wissen und Gewissen“ Gefühl, was gut und böse, recht und unrecht ist Subjektives Bewusstsein vom sittlichen Wert und Unwert des eigenen Verhaltens Bspl.: „Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, den Patienten verhungern zu lassen.“ Probleme Sehr subjektiver moralischer Standard! Moralischer Gehalt des Gewissens wird in der Regel nicht erläutert Nachfragen!! (Cave: „Leerformel“!) Kann durch Umwelteinwirkungen entwickelt oder unterdrückt werden (vgl. NS-Verbrechen) 4 Formen der (philosophischen) Ethik Metaethik Deskriptive Ethik Klärt die Verwendung moralischer Begriffe und Grundfragen Bspl.: Gibt es eine rational begründbare, allgemein verbindliche Medizinethik? Untersucht faktische moralische Orientierungen Bspl.: Einstellungen von ÄrztInnen zur aktiven Sterbehilfe Normative Ethik Prüfung & Begründung moralischer Urteile Leifrage: „Was soll ich tun?“ Bspl.: „Ist die aktive Sterbehilfe ethisch vertretbar?“ Bspl.: „Soll man dem Wunsch des Patienten folgen und das Beatmungsgerät abstellen?“ 5 Leitfrage: Was soll ich tun? pragmatisch moralisch Kann eine PEG bei Demenz eine Aspirationspneumonie verhindern? technisch Dient die PEG dem Wohlergehen eines Demenzpatienten? Ist die vorausverfügte Verweigerung einer PEG bei Demenz zu respektieren? Naturwissenschaften/Medizin Strebensethik Evaluative Ethik Sollensethik Normative Ethik Abhängig von wissenschaftlicher Evidenz Abhängig von Vorstellungen des guten Lebens (Pluralität) Allgemeine Verbindlichkeit Ärztlich-pflegerische Expertise Individuelle Patienten-Präferenzen Oft rechtliche Regulierung 6 Ethische Theorien Ethische Theorie allgemeine Kriterien für Moralisch Richtig und Falsch Gut und Böse Gerecht und ungerecht Utilitarismus „Diejenige Handlung ist moralisch richtig, die das Wohlergehen aller Betroffenen maximiert.“ Prinzip der Nutzenmaximierung Kantische Ethik „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ [GMS] Universalisierungs-Test (Kategorischer Imperativ) 7 Das „moralische Ereignis“ (nach Pellegrino) Handlungssubjekt Handlung Folgen Theorie Tugendethik Deontologische Ethik Konsequentialistische Ethik Fokus CharakterEigenschaften Pflichten (Regeln Gebote) Ergebnisse, Nutzen/Schaden Beispiele Wahrhaftigkeit, Einfühlungsvermögen, Vertrauenswürdigkeit Selbstbestimmung des Patienten respektieren; Leben erhalten Chemotherapie: mehr Nutzen als Schaden für den Patienten? 8 Konsequentialismus vs. Deontologie Einbecker Empfehlung: Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen (1992) Deontologische Argumentation „Ausgangspunkt bleibt die grundsätzliche Unverfügbarkeit menschlichen Lebens“ „Eine Abstufung des Schutzes des Lebens nach der sozialen Wertigkeit, der Nützlichkeit, dem körperlichen oder dem geistigen Zustand verstößt gegen das Sittengesetz“ (I.2.) Konsequentialistische Argumentation „Die ärztliche Behandlungspflicht wird jedoch nicht allein durch die Möglichkeiten der Medizin bestimmt. […] Es gibt daher Fälle, in denen der Arzt nicht den ganzen Umfang der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten ausschöpfen muss.“ (IV.2. & 4.) „Angesichts der in der Medizin stets begrenzten Prognosesicherheit besteht für den Arzt ein Beurteilungsrahmen für die Indikation von medizinischen Behandlungsmaßnahmen, insbesondere, wenn diese dem Neugeborenen nur ein Leben mit äußerst schweren Schädigungen ermöglichen würden, für die keine Besserungschancen bestehen.“ (VI) 9 Medizinethik Traditionelle Medizinethik: professionsinterne Regelung für das Verhalten von Ärzten („ärztliches Ethos“) Hippokratischer Eid Urspr.: 4. Jhdt. v. Chr. in pythagoräischer Ärztegruppe Z.B.: Patient nutzen und nicht schaden, Schweigepflicht Historisches Dokument, kein aktuell verbindlicher Moralkodex! Neue Entwicklungen seit 1950: Medizinisch-technischer Fortschritt (v.a. Intensivmedizin) Pluralisierung von Wertüberzeugungen Akzentuierung der Patientenautonomie (v.a. durch Rechtssystem!!) Akademisierung der Medizinethik (USA seit 1970, D seit 1995) Medizinethik ist nicht auf ärztliche Ethik beschränkt!! 10 Medizinethik Was ist moralisch richtig/falsch im medizinischen Bereich? Normative Ethik Begründung ethische Theorie Problem der angewandten Ethik: Krankenversorgung (Behandlung & Pflege), Forschung, Gesundheitssystem Pluralismus ethischer Theorien Abstraktionsgrad ethischer Theorien Berücksichtigung verschiedener moralischer Aspekte erforderlich (vgl. moralisches Ereignis) Alternativmodell: prinzipienorientierte Medizinethik Tom L. Beauchamp & James F. Childress: Principles of Biomedical Ethics (1979, 5. Aufl. 2001) 11 Prinzipienorientierte Medizinethik Keine umfassende Moraltheorie, kein oberstes Moralprinzip Ausgangspunkt: weithin geteilte moralische Überzeugungen Rekonstruktion sog. „mittleren Prinzipien“ als moralische Grundorientierung Prüfung auf Kohärenz: bei der Anwendung und im Hinblick auf Hintergrundtheorien ggf. Revision „Kohärentistische“ oder „rekonstruktive“ Ethikbegründung Mittlere Prinzipien: prima facie verbindlich Fallbezogene Interpretation & Gewichtung Beurteilungsspielraum im Einzelfall 12 Prinzipienorientierte Medizinethik Moralische Alltagsüberzeugungen Rekonstruktion Mittlere Prinzipien Autonomie Wohltun/Nutzen Nichtschaden Gerechtigkeit Interpretation Gewichtung Einzelfall 13 Medizinethische Prinzipien (1) Prinzip des Wohltuns „salus aegroti suprema lex“ Dem Patient nutzen (aktiv) Gesundheitlichen Schaden verhindern oder beseitigen Lebenserwartung + Lebensqualität verbessern Problem: Bewertung der Lebensqualität evaluative Vorstellungen des guten Lebens Prinzip des Nichtschadens „primum nil nocere“ Dem Patient keinen Schaden zufügen (passiv) Häufig: Abwägung Nutzen - Schaden 14 Medizinethische Prinzipien (2) Respekt der Autonomie Selbstbestimmungsrecht des Patienten Freiheit von äußerem Zwang und manipulativer Einflussnahme (negativ) Förderung der Entscheidungsfähigkeit, Unterstützung der Entscheidungsfindung (positiv) „Informed consent“ (informierte Einwilligung): Ein informiertes Einverständnis liegt vor, wenn der Patient ausreichend aufgeklärt worden ist, die Aufklärung verstanden hat, freiwillig entscheidet, dabei entscheidungskompetent ist und seine Zustimmung gibt. 15 Medizinethische Prinzipien (3) Prinzip der Gerechtigkeit Faire Verteilung von Nutzen und Lasten im Gesundheitswesen Verteilungsgerechtigkeit Herausforderung: Was ist eine gerechte Verteilung? Formales Gerechtigkeitsprinzip: „Gleiche Fälle sollten gleich behandelt werden, und ungleiche Fälle sollten nur insofern ungleich behandelt werden, als sie moralisch relevante Unterschiede aufweisen.“ Allgemeines Gebot: „verantwortungsvoller“ Umgang mit knappen medizinischen Ressourcen Nur die wirklich notwendigen Maßnahmen durchführen Kostengünstigere Alternativen nutzen 16 Anwendung der Prinzipien Prinzipien: Grundlage für ethische Begründung einer medizinischen Entscheidung Was sollen wir tun? Wozu sind wir ethisch verpflichtet? Anwendung: Fallbezogene Interpretation Keine hierarchische Ordnung Gewichtung im Konfliktfall „begründete Abwägung“ Ethische Probleme: Interpretation der Prinzipien Konflikt zwischen Prinzipien Wohlergehen eines Wachkomapatienten? Verweigerung von Blutprodukten durch Zeugen Jehovas 17 Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Literatur: Ethik in der Medizin. Ein Studienbuch. Hrsg. v. U. Wiesing. Philipp Reclam jun. Stuttgart 2004, 455 S., € 9,60 Kapitel 1: Allgemeine Einführung in die medizinische Ethik