07.11.2016 Fachtagung Bedrohungsmanagement Gewaltprävention Fachstelle Forensic Assessment & Fallmanagement (FFAF) Dr. phil. Angela Guldimann Klinik für Forensische Psychiatrie Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Seite Risikorelevante Angaben Kinder- und jugendpsychiatrische Abklärungen (Diagnose: Störung des Sozialverhaltens, Entwicklung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung) Therapieabbruch Bereits als Jugendlicher mit Delikten aufgefallen Unterschiedliche Deliktsbereiche (Leib und Leben, SVG, BtMG, Vermögensdelikte etc.) Unbeeindruckbarkeit durch rechtliche Sanktionen (mehrfache Flucht aus Gefängnis - > Selbstverständnis als «Ausbrecherkönig») Substanzmittelproblematik (Cannabis, Alkohol) Seite 1 07.11.2016 Persönlichkeitsstörung Komplexe Verknüpfungen Opfer-Risikovariablen Substanzkonsum (Drogen, Alkohol) Depression Gewalt Persönlichkeitsstörung Situative Faktoren Seite 2 07.11.2016 Begriffsbestimmung Persönlichkeitsstörung “Normale” Persönlichkeit Persönlichkeitsakzentuierung Persönlichkeitsstörung Seite Definition der Persönlichkeitsstörung ICD-10 A. Ein überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten, das von kulturell akzeptierten und erwarteten Normen abweicht. Das Muster manifestiert sich in mehreren Bereichen: 1) Kognition 2) Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen 3) Affektivität 4) Impulskontrolle B. Das Muster ist unflexibel und tiefgreifend in einem weiten Bereich persönlicher und sozialer Situationen C. Das Muster führt zu persönlichem Leidensdruck, nachteiliger Einfluss auf die Umwelt oder beides D. Das Muster ist stabil und langandauernd, d.h. es lässt sich bis in die Adoleszenz bzw. das frühe Erwachsenenalter zurückverfolgen E. Das Muster ist nicht Folge einer anderen psychischen Störung F. Das Muster ist nicht Folge einer Substanzwirkung oder körperlichen Erkrankung 3 07.11.2016 PS und Gewalt 3 - 10 % der Allgemeinbevölkerung, je nach PS-Typ 40 - 60 % der psychiatrischen Patienten In Haftpopulationen leiden bis zu 70 % an einer PS PS beeinflusst Verlauf und Prognose psychiatrischer Erkrankungen PS ist assoziiert mit gewalttätigen und nicht - gewalttätigen Rückfällen Manche Persönlichkeitsstörungen forensisch relevanter als andere (v.a.) − Narzisstische PS − emotional instabile PS (Borderline bzw. impulsive PS) − Paranoide PS − dissoziale PS − Psychopathy Quellen: Jamieson und Taylor (2004) von Schönfeld et al. (2006) Seite Kriterien Persönlichkeitsstörungen ICD-10 bzw. DSM-IV − − − − − − − − Narzisstische PS Dissoziale PS Gefühl eigener Wichtigkeit − Muster von Grossartigkeit in der Fantasie oder im Verhalten − Glaubt von sich etwas Besonderes zu sein − benötigt exzessive Bewunderung arrogante, hochmütige − Verhaltensweisen oder Ansichten Anspruchsdenken − ist in zwischenmenschlichen Beziehungen ausbeuterisch Mangel an Einfühlungsvermögen − Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer Verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Regeln / Normen Unfähigkeit dauerhafte Beziehung aufrechtzuerhalten Geringe Frustrationstoleranz für aggressives Verhalten Fehlendes Schuldbewusstsein / Unfähigkeit aus negativer Erfahrung (Bestrafung) zu lernen Neigung andere zu beschuldigen, Rationalisierungen für Taten − Neidproblematik Seite 4 07.11.2016 Psychische Störungen bei Stalkern McEwan & Strand (2013) Ex-Intimpartner Stalker vs. andere Stalker − Persönlichkeitsstörung in beiden Gruppen hoch (51% vs. 42%) − Persönlichkeitsgestörte Stalker weisen eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit auf mit Stalking rückfällig zu werden als Stalker ohne Persönlichkeitsstörung 8 Seite Tätertypologie Holtzworth Munroe & Stuart (1994) Dimensionen Family Only Dysphoric / Borderline Generell antisozial Schweregrad der Gewalt Gering Moderat – hoch Moderat – hoch Generelle Gewalttätigkeit Gering Gering - moderat Hoch Psychopathologie/ Persönlichkeitsstörungen Keine, Passivabhängig Borderline Antisozial, "psychopathy" Alkohol/Drogen Gering – moderat Moderat Hoch Depression Gering moderat Hoch Gering Seite 5 07.11.2016 Risikoeinschätzung Herr A. Wie beurteilt man das Risikopotential? (1) Unstrukturierte, klinische Beurteilung (2) Aktuarischer / statistischer Ansatz (z.B. ODARA) (3) Strukturierter professioneller (klinischer) Ansatz Quelle: www.kriminalpolizei.de Seite 6 07.11.2016 Statistische Verfahren: ODARA (Ontario Domestic Assault Risk Assessment) Herr A. 1. 2. 3. 4. 5. Früherer häuslicher Vorfall Früherer nicht - häuslicher Vorfall Frühere Freiheitsstrafe von mind. 30 Tagen Versagen bei früherer bedingter Entlassung Androhung einer Verletzung oder Tötung beim Index-Delikt 6. Einsperren des Opfers beim Index-Delikt 7. Opfer besorgt über zukünftige Übergriffe 8. Zusammen mehr als ein Kind 9. Leibliche Kinder des Opfers vom Ex-Partner 10.Gewalt gegen andere Personen 11.Zwei Indikatoren für Substanzmissbrauch 12.Übergriff auf das schwangere Opfer 13.Barrieren bei der Opferunterstützung Risikokategorie Rohwerte Rückfallrate 1 0 7% 2 1 17 % 3 2 22 % 4 3 34 % 5 4 39 % 6 5-6 53 % 7 7-13 74 % Quelle: Hilton et al. 2010 (N = 589) Follow-Up Zeitraum: 4.6 Jahre Seite Strukturierte professionelle Risikobeurteilung Fallinformationen sammeln Anwendermanuale mit definierten Risikofaktoren (empirisch, aus der Praxis) Bewertung der Risikofaktoren am Einzelfall Individuelle Relevanz der Risikofaktoren Keine Rückfallzahlen / Cut-Off-Werte Durchspielen von Risikoszenarien Einschätzung erfolgt anhand des eigenen (klinischen) Urteils Präventive Fallmanagement-Strategien Integrative Gesamtbeurteilung Quelle: Original © 2015 by ProActive ReSolutions Inc., all rights reserved. Seite Translated and edited with permission of the copyright owner.” 7 07.11.2016 SAM (Stalking Assessment and Management, Kropp et al., 2008) Stalking Risikofaktoren Täter Risikofaktoren Opfer Risikofaktoren Kommuniziert über Opfer Wütend Inkonsequentes Verhalten Kommuniziert mit Opfer Obsessiv Inkonsequente Einstellung Nähert sich Opfer Irrational Ungenügender Zugang zu Ressourcen Direkter Kontakt m. Opfer Reuelos Unsichere Lebenssituation Schüchtert Opfer ein Antisozialer Lebensstil Probleme sich um Kinder zu kümmern Bedroht Opfer Probleme in Intimbeziehungen Wendet Gewalt an Probleme in NichtIntimbeziehungen Probleme in Nicht-Intimbeziehungen Stalking ist persistierend Verzweifelt Verzweifelt Stalking eskaliert Suchtproblem Suchtproblem Kontaktverbot wird Seite gebrochen Arbeits- und finanzielle Probleme Arbeits- und finanzielle Probleme Probleme in Intimbeziehungen (Einige) von Herrn A’.s Problembereichen Suchtprobleme Tricks, Manipulation Herr A. Kontrolle / Dominanz Mangelnde Empathie Seite 8 07.11.2016 Investitionsmodell von Rusbult (1980) Was sagt Stalking nach einer Beziehung voraus? 1. Zufriedenheit in der Beziehung 2. Qualität der Beziehungsalternativen 3. Subjektiv getätigte Investitionen (aus Verhaltensebene, emotional, finanziell etc.) Praktische Relevanz? Mit der Dauer des Stalkings investiert der Stalker immer mehr, aufhören ohne Gesichtsverlust immer schwieriger Anspruchshaltung steigt subjektive Kosten steigen Quelle: Balmer, Oswald, Ermer, & Guldimann (2014) Seite Risikomanagement Frühzeitige Erfassung des risikorelevanten Verhaltens Gezeigtes prosoziales Verhalten verstärken Seine Motivation / Bedürfnisse beachten (Kosten / Nutzen / Kontrolle / Geltungssucht Seite Risikomanagement Transparenz, klare, respektvolle Kommunikation ihm gegenüber Risikorelevante Informationen teilen Interpersonelle Dynamiken Eigene Konfliktstrategien hinterfragen 9 07.11.2016 Warnverhalten Weg zur Gewalt Vorbereitungshandlungen (z.B. Waffenkauf) Neue Aggression Neue aggressive Verhaltensweisen (testen) Fixierung (noch) intensivere Beschäftigung mit Thema / Person Identifizierung Identifikation mit berühmten Tätern, Waffenaffinität, Leakage Kommunikation des geplanten Vorhabens an Dritte direkte Drohung Ankündigung der Tat gegenüber des Opfers Energieschub / Abflachung Letzter Ausweg Steigerung der Intensität, Diversität oder Frequenz von Warnverhalten ODER unerklärliche Abflachung Zunehmende Verzweiflung in Wort / Taten, Sackgasse“, Alternativen weg, Gewalt gerechtfertigt Seite Quelle: Meloy, Hoffmann, Guldimann & James, 2012 Empfehlung der Fachstelle «Das Risiko für erneute Gewalt ist aus Sicht der FFAF bei Herrn A. als hoch zu beurteilen» «Die Einholung eines forensisch-psychiatrischen Gutachtens wird empfohlenT» «Die Aufrechterhaltung eines Kontakt- und Rayonverbotes bezüglich der früheren Lebensgefährtin ist empfehlenswert. « > Im Falle einer Haftentlassung empfehlen wir im Rahmen von Ersatzmassnahmen ein Monitoring durch den Dienst Gewaltschutz der Kantonspolizei Zürich> Seite 10