Peter Rinderle: Musik, Emotionen und Ethik

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VERLAG KARL ALBER
A
© Verlag Karl Alber in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2014
Ausgehend von einer Analyse zentraler Begriffe wie »Musik«, »Expressivität«, »Emotion«, »ästhetische Erfahrung« und »Ethik« unternimmt die Studie eine Interpretation der Interaktionen zwischen den
ästhetischen und den ethischen Dimensionen von Musik. Ihr Herzstück besteht in der Präsentation, Verteidigung und Illustration zweier
eng verknüpfter Thesen. Erstens: Die ethische Dimension von Musik
kann einen Beitrag zu ihrer ästhetischen Wertschätzung leisten. Als
besonders fruchtbar erweist sich dabei ein weiter Begriff von »Ethik«,
der über einen engen Begriff von »Moral« hinausweist; selbst »amoralische« oder »unmoralische« Musik kann somit ethische Vorzüge und
aus diesem Grund auch ästhetische Qualitäten aufweisen. Zweitens:
Umgekehrt kann die ästhetische Erfahrung von Musik ihrerseits eine
ethische Bedeutung annehmen. Sie kann die emotionale Phantasie des
Hörers beflügeln und so auch eine Spiegelung des Selbstverständnisses
des Menschen ermöglichen. In einem letzten Kapitel wendet sich der
Autor dem Verhältnis von Musik und politischer Ethik zu: Sein Interesse gilt insbesondere der Frage, ob und wie Musik zur Artikulation
und Kultivierung von Emotionen (Freiheitsliebe, Hoffnung, Toleranz
und Mitgefühl) beitragen kann, die für die politische Kultur einer liberalen Demokratie wichtig sind. Zahlreiche Beispiele aus der Musik –
und aus anderen Künsten wie Literatur und Malerei – veranschaulichen die Gedankenführung.
Der Autor:
Peter Rinderle, geboren 1963 in Seeg (Allgäu), promoviert 1995 am
Europäischen Hochschulinstitut in Florenz, habilitiert 2002 am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen; Lehraufträge an der FU
und HU Berlin, Vertretungsprofessuren an den Universitäten Kassel
und Hamburg; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Ethik, Politische Philosophie, Musikästhetik.
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Peter Rinderle
Musik, Emotionen und Ethik
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musik M
philosophie
Band 3
Herausgegeben von:
Oliver Fürbeth (Frankfurt am Main)
Lydia Goehr (Columbia, New York)
Frank Hentschel (Gießen)
Stefan Lorenz Sorgner (Erfurt)
Wissenschaftlicher Beirat:
Andreas Dorschel (Graz)
Bärbel Frischmann (Erfurt)
Georg Mohr (Bremen)
Albrecht Riethmüller (Berlin)
Günter Zöller (München)
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Peter Rinderle
Musik, Emotionen
und Ethik
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.
Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de
Satz: SatzWeise, Föhren
Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)
Printed on acid-free paper
Printed in Germany
ISBN 978-3-495-48450-0 (Print)
ISBN 978-3-495-86017-5 (E-Book)
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Meiner Mutter Rosa Rinderle
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Inhalt
Vorwort
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
Von der Expressivität zur Ethik . . .
Die Kernthese und das Argument .
Musik und ihre Expressivität . . .
Emotionen und ihr Ausdruck . . .
Ethik in einem weiten Sinne . . . .
Inhalte der ästhetischen Erfahrung
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2.
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
2.6
Kunst, Moral und gutes Leben . . . . . . .
Zur Vermessung des Terrains . . . . . . .
Drei Gründe für eine Trennung . . . . . .
Das Argument der verdienten Antwort . .
Die Integrität des Kunstwerks . . . . . . .
Das Verdienst unmoralischer Einladungen
Ästhetische Vorzüge unmoralischer Musik
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. 68
. 72
. 78
. 83
. 93
. 103
. 116
3.
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
Exakte emotionale Phantasien . . .
Musik als lustvolles Erlebnis . . .
Musik als Quelle von Wissen . . .
Die ethische Kraft der Musik . . .
Probefühlen ohne Handlungsdruck
Herz- und hirnlose Gefühlchen . .
Risse, Brüche, Fragmente . . . . .
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127
139
148
154
165
178
4.
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
Spiegelungen des Selbst . . . .
Reflektierte Emotionen . . . .
Musikalischer Humor . . . . .
Musikalische Tragik . . . . . .
Musik und religiöse Emotionen
Das Selbst in der Gemeinschaft
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190
193
205
220
234
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17
22
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52
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Inhalt
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238
246
255
261
266
270
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
295
5.
5.1
5.2
5.3
5.4
5.5
5.6
Musik für eine liberale Demokratie . . .
Interaktionen von Musik und Politik .
Kernwerte des politischen Liberalismus
Die Affirmation von Freiheit . . . . .
Die Artikulation von Toleranz . . . . .
Die Kultivierung des Mitgefühls . . .
Drei Einwände und ein Fazit . . . . . .
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Vorwort
Mit diesem Buch möchte ich eine Lücke in der philosophischen Ästhetik schließen. Auf der einen Seite gibt es in den letzten Jahren nämlich
neue Erkenntnisse zum allgemeinen Verhältnis von Ethik und Ästhetik, wobei sich vor allem Autoren wie Martha Nussbaum oder Berys
Gaut um die Analyse der Interaktionen zwischen den moralischen und
ästhetischen Dimensionen von Kunst verdient gemacht haben. Allerdings bleiben ihre Beispiele weitgehend auf die Literatur und die Malerei beschränkt; die Musik wird in diesem Kontext bislang eher stiefmütterlich behandelt. Auf der anderen Seite gibt es in jüngster Zeit
eine intensive Debatte zum Problem der Expressivität von Musik: Denn
daß die Musik in einem engen Zusammenhang mit unseren Emotionen
steht, würde kaum noch jemand bestreiten. Aus welchen Gründen und
auf welche Weise wir die merkwürdigen Geräusche, die wir mit besonders präparierten Gegenständen wie Klavieren und Saxophonen,
Kontrabässen und Schlagzeugen produzieren, aber als Ausdruck bestimmter Emotionen wahrnehmen und mit expressiven Eigenschaften
ausstatten, bleibt unter Autoren wie Stephen Davies, Jerrold Levinson,
Peter Kivy, Jenefer Robinson und Roger Scruton bis heute umstritten.
Interessanterweise läßt sich in der jüngeren Musikästhetik nun ein paralleles Defizit ausmachen, denn auch dort spielt die Klärung des Verhältnisses von Musik und Ethik bislang keine besonders große Rolle.
Die Ergebnisse dieser nebeneinander her verlaufenden Diskussionen bleiben jedoch für eine Untersuchung des Verhältnisses von
Musik, Emotionen und Ethik relevant, und deshalb möchte ich mich
meinem Thema aus zwei verschiedenen Richtungen annähern. Zum
einen kann man dieses Verhältnis ja als speziellen Anwendungsfall
des allgemeinen Verhältnisses von Ethik und Ästhetik verstehen und
die Resultate einer Debatte, die sich vor allem um das Verhältnis von
Ethik und Literatur dreht, auch auf die Musik übertragen. Allein auf
diese Vorgehensweise zu setzen, verbietet sich indes schon deshalb,
weil wir die Eigenarten der abstrakten, manchmal »autonom« genann11
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Vorwort
ten Instrumentalmusik nicht übersehen dürfen. Was für die Literatur
und eventuell die Malerei richtig sein mag, muß nicht notwendig auch
für die Musik gelten. Deshalb ist es zum anderen erforderlich, die spezifischen Merkmale der Kunstgattung Musik zu berücksichtigen, hier
vor allem das Phänomen ihrer Expressivität im Auge zu behalten und
auf dieser besonderen Grundlage eine Theorie des Verhältnisses von
Musik und Ethik zu entwickeln. Aber auch dabei sollten wir uns vor
voreiligen Schlüssen hüten: Schließlich dürfen wir bei einem solchen
Unternehmen doch die spezifisch ästhetische Dimension von Musik,
den Umstand also, daß eben auch Musik eine Kunst ist und wie Werke
der Literatur und Malerei eine ästhetische Erfahrung ermöglichen
kann, nicht zu schnell aus dem Blick verlieren.
Es bietet sich daher an, es mit einer Kombination dieser beiden
Vorgehensweisen zu versuchen. Wir wollen zunächst die Eigenarten
der Musik berücksichtigen und für die Klärung von deren besonderem
Verhältnis zur Ethik fruchtbar machen; darüber hinaus haben wir auch
ein Interesse daran, mögliche Antworten auf diese Fragen in eine allgemeine Bestimmung der Interaktionen von Ethik und Ästhetik einzubetten. Mit dieser Beschreibung des methodischen Vorgehens der
vorliegenden Studie ist zugleich ihr Entstehungskontext gut charakterisiert: Zunächst habe ich in den vergangenen Jahren mehrere Lehrveranstaltungen zum Verhältnis von »Ethik und Ästhetik« durchgeführt
und zahlreiche Kongreßvorträge zu Einzelfragen aus diesem Themenkreis gehalten; darüber hinaus schließe ich mit diesem Buch aber unmittelbar an meine vor kurzem erschienene Untersuchung der »Expressivität von Musik« an. Besondere Vorkenntnisse setze ich für die
Lektüre aber nicht voraus; alle Grundlagen und -begriffe werden noch
einmal Schritt für Schritt eingeführt und anhand konkreter Beispiele
erläutert.
Wissenschaftliche Forschung ist sicherlich in hohem Maße auf
Freiheit und Einsamkeit angewiesen, wichtige Impulse für meine Arbeit gingen aber auch von institutionellen Pflichten, Zwängen und Zufällen, sowie vor allem von angenehmer Geselligkeit mit Kollegen,
Studenten und Freunden aus. An erster Stelle möchte ich meinen Dank
gegenüber Berys Gaut und Jerrold Levinson zum Ausdruck bringen; in
zahlreichen Gesprächen und E-Mails habe ich von ihnen viele hilfreiche Anregungen und Klarstellungen erhalten. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich weiterhin meinen Studenten an der Universität Tübingen, die ich über mehrere Semester hinweg mit unausgereiften Ideen
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Vorwort
traktieren konnte. Vor allem die Teilnehmer des Workshops Ȁsthetik
und Ethik der Musik« mit Jerrold Levinson im Frühjahr 2009 wie auch
die Teilnehmer meines Hauptseminars »Musik, Emotionen und Ethik«
im Wintersemester 2009/10 haben mir mit vielen Rückfragen bei der
Arbeit geholfen. Ganz besonders aber möchte ich Mario Gotterbarm
für viele wertvolle Kommentare und Einwände danken.
Für Anregungen, Kritik und Unterstützung bedanke ich mich darüber hinaus bei Maria Jose Alcaraz, Michael Bordt, Rodrigo Duarte,
Susan Feagin, Hans-Georg Flickinger, Martin Gessmann, Felix Heidenreich, Hans Maes, Corinna Mieth, Catrin Misselhorn, Jana und Thomas Osterkamp, Francisca Pérez-Careno, Ilse und Klaus Rinderle, Nikolaus Schneider, Aaron Smuts sowie vor allem bei meiner Korrektorin
Helga Meyer-Rath und meinem Verleger Lukas Trabert. Einige meiner
Ideen konnte ich, wie schon gesagt, in Vorträgen auf verschiedenen
Konferenzen ausprobieren: beim Internationalen Kongreß »Estéticas
do deslocamento« in Belo Horizonte, auf dem XVII. Internationalen
Kongreß für Ästhetik in Ankara, auf dem 6. Europäischen Kongreß
für Analytische Philosophie in Krakau, an der Hochschule für Philosophie in München, am IZKT Stuttgart, beim 66. Jahrestreffen der
»American Society for Aesthetics« in Northampton (Mass.) sowie zuletzt bei der Konferenz der »European Society for Aesthetics« in Udine.
Ohne die Finanzierung meines Projekts zur Erforschung der »Expressivität von Musik« durch die Fritz Thyssen Stiftung hätte ich die
vorliegende Arbeit gar nicht erst in Angriff nehmen, geschweige denn
beenden können. Sowohl die Fritz Thyssen Stiftung als auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft haben es mir durch die Finanzierung
zahlreicher Kongreßreisen außerdem ermöglicht, in einen anregenden
und nützlichen Austausch von Ideen mit vielen Fachleuten aus aller
Welt zu treten.
Ein großer Dank von ganzem Herzen geht an meine Familie:
Meine Frau Sabine und meine Töchter Sophie und Paula haben mir
während des Projekts große Freiheiten für viele, sowohl physische als
auch mentale Absenzen geschenkt, gleichzeitig aber immer meine
emotionale Präsenz eingefordert und beharrlich darauf bestanden, über
dem Nachdenken über Musik das gemeinsame Singen, Trommeln und
Tanzen nicht zu vernachlässigen.
Berlin, im Januar 2011
P. R.
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1. Von der Expressivität zur Ethik
Kann Musik einen moralischen Einfluß auf Menschen ausüben, kann
sie etwa auch für die Erziehung von Kindern verwendet werden? Können wir etwas von der Musik lernen? Kann die Musik uns vielleicht
sogar intelligenter machen? Oder kann sie eventuell in sittlicher und
intellektueller Hinsicht auch schädliche Wirkungen haben? Kommt ihr
– einer Droge vergleichbar – das Vermögen zu, Menschen in einen
Rauschzustand zu versetzen und sie dann von ihren Pflichten und Verantwortlichkeiten anderen Menschen und sich selbst gegenüber abzulenken? Stellt sie deshalb eine große Gefahr dar, weil sie eher die dunklen Seiten unserer Existenz, die irrationalen und unkontrollierbaren
Bedürfnisse und Triebe wecken und stärken kann? Oder kann Musik
dazu beitragen, Gemeinschaftsgefühle zu wecken und auf diese Weise
etwa eine Verbundenheit mit unseren Mitmenschen zu kultivieren?
Und was hat ihre mögliche ethische Bedeutung mit unserer ästhetischen Wertschätzung von Musik zu tun? Gibt es eine enge Verbindung
zwischen dem Guten und dem Schönen? Oder muß man eher von der
Existenz eines tiefen Grabens zwischen diesen beiden Ideen ausgehen?
Dieser Cocktail von Fragen beschäftigt die Philosophie zwar seit
ihren Anfängen, gleichzeitig war die Musik seit jeher ein Anlaß nicht
nur zur Verwunderung, sondern auch zur Beunruhigung: Sie blieb ein
Terrain, das ihr häufig fremd und unzugänglich, ja unheimlich oder
gar bedrohlich erschien. Da den Philosophen die Entwicklung und
Ausübung unserer Fähigkeit zum Denken und Sprechen oft als höchstes Gut erschien, mußte ihnen die Produktion und Rezeption von
Musik als höchst suspekt erscheinen – im Unterschied etwa zur Literatur, die sich ja der Sprache als eines Mediums zur Artikulation bestimmter Gedanken und Gefühle bedient. Der Übergang zwischen beiden – man denke an Platon auf der einen Seite oder Robert Musil auf
der anderen – ist deshalb häufig fließend. Die Bedeutung von Musik
und ihren Gesten entzieht sich dagegen einer begrifflichen Fixierung.
Im vorliegenden Kontext ist dabei von besonderem Interesse, daß
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