Manuskript über die versuchstierkundliche Blockvorlesung der Johannes Gutenberg-Universität (02-06. August 2004) Inhaltsverzeichnis 1.1. 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4 1.1.5 1.1.6 1.1.7 1.1.8 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.2.5 1.2.6 1.2.7 1.2.8 1.2.9 1.2.10 1.2.11 1.2.12 1.2.13 1.2.14 1.2.15 1.2.16 Ethik und Tierversuche Historische Entwicklung der Mensch -Tier- Beziehungen und ihr abrupter Wechsel in den letzten 100 Jahren Empfinden und Verantwortungsbewusstsein des Menschen gegenüber Tieren Tiernutzungsbeschränkungen aufgrund christlicher Weltanschauung und philosophischer Ethik Gesellschaftlicher Auftrag zur ärztlichen Forschung und medizinischen Ausbildung Antiscientistische Strömungen in der Gesellschaft und Mißtrauen gegen Forscher Ethische Handlungsprinzipien der experimentellen Medizin und der biologischen Forschung Die gesetzlichen Vorgaben zur Regelung des Konfliktes zwischen biomedizinischen Forschung und Tierschutz Literatur Rechtliche Grundlagen tierexperimentellen Arbeitens Überblick der rechtlichen Grundlagen Im Deutschen Tierschutzgesetz berücksichtigte Tiergruppen Erlaubnis nach §11 TierSchG für die Haltung von Wirbeltieren für wissenschaftliche Zwecke Tierschutzrechtliche Kategorien von Eingriffen an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken Tierschutzrechtliche Legalisierung von wissenschaftlichen Eingriffen an Tieren Kardinalforderungen des Deutschen Tierschutzgesetzes Kardinalforderung „Narkose“ Kardinalforderung „Sachkunde der durchführenden Personen“ Kardinalforderung „Beschränkung auf das unerlässliche Maß“ Kardinalforderung „Wissenschaftlicher Zweck“ Kardinalforderung „Durchführung der Versuche an phylogenetisch möglichst niedrig stehenden Tieren“ Weitere Forderungen des TierSchG Aufzeichnungspflicht Versuchstiermeldung Übersichtstabelle Literatur 2. 2.1 2.2 2.2.1 2.2.1.1 2.2.1.2 2.2.2 2.2.3 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.7.1 2.7.2 2.7.3 2.7.4 2.7.5 Vergleichende Anatomie und Physiologie von Versuchstieren Zentralnervensystem (ZNS) Sinnesleistungen und Sinnesorgane Physiologie des Riechens und Schmeckens - „chemische Sinn“ Geschmacksinn - Schmecken Geruchssinn -Riechen Mechanorezeption - Hören Lichtrezeption - Sehen Integument (Haut): Atmung Blutkreislaufsystem (BKS) Verdauungstrakt Biologie und Verhalten von Versuchstieren Labormaus (Mus musculus domesticus) Laborratte (Rattus novegicus) Kaninchen (Oryctolagus cuniculus) Südafrikanischer Krallenfrosch (Xenopus laevis) Zebrafisch, Zebrabärbling (Danio rerio) 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.9 3.10 3.11 3.12 3.13 Zucht und Genetik Allgemeine Einführung in die Genetik Nomenklatur zur Kreuzung von Versuchstieren Ingezüchtete Stämme Koisogene Stämme Kongene Stämme Sogenannte “Speed-kongene“ Stämme Segregierende Inzuchtstämme Hybriden Rekombinante Inzuchtstämme Rekombinante Inzuchtstämme Ausgezüchtete Stocks (Auszuchtstämme) Embryotransfer bei der Spezies Maus Anwendungsgebiete des Embryotransfers bei der Spezies Maus Literatur 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11 4.12 4.13 4.14 4.15 Pflege und Haltung der wichtigsten Versuchstierarten Möglichkeiten der Standardisierung von Tierversuchen Haltungssysteme Richtlinien für Maushaltung Richtlinien für Rattenhaltung Richtlinien für Meerschweinchenhaltung Richtlinien für Kaninchenhaltung Fütterung Tränkung Klima Beleuchtung Geräusche, Lärm Angereicherte Tierhaltungsumgebung („Environmental Enrichment“) Gesundheitskontrolle Transport von Tieren Weiterführende Literatur 5. 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 Hygiene in Versuchstierhaltungen Bedeutung des mikrobiologischen Status von Versuchstieren Mikroflora von Versuchstieren Versuchstierkundliche Hygieneniveaus Gnotobiotische Tierhaltung Spezifisch bzw. spezifiziert Pathogen-freie (SPF) Tierhaltung Konventionelle Tierhaltung Literatur 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.1.6 Schmerzen, Leiden, Schäden Wohlbefinden Schmerzen Leiden Schäden Erkennen tierischer Schmerzen, Leiden oder Schäden Literatur 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.2.5 7.2.6 7.2.7 7.2.8 7.2.9 7.2.10 7.2.11 7.2.12 7.2.13 Anästhesie bei Versuchstieren Definitionen Narkosevorbereitung Applikationsmöglichkeiten einer Narkose Injektionsnarkose Beispiele häufig eingesetzter Substanzen zur Injektionsnarkose Inhalationsnarkose Beispiele für Inhalationsanästhetika Komplikationen während der Narkose Aufwachphase Narkoseüberwachung Einteilung der Narkosestadien nach Guedel Beispiele für mögliche Injektionsnarkosen bei kleinen Versuchstieren Literatur 8. 8.1. 8.1.1. 8.1.2. 8.1.3. 8.1.4. 8.1.5. 8.1.6. 8.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5 8.3.6 Applikationen und Probenentnahmen Blutentnahmen bei Versuchstieren Allgemeine Informationen Bestimmung der maximal zu entnehmenden Blutmenge Gebräuchliche Techniken der Blutentnahme bei Maus und Ratte Gebräuchliche Techniken der Blutentnahme beim Kaninchen Belastungen durch Blutentnahmen Literatur Gewinnung von Kot und Urin Injektionstechniken Allgemeine Informationen Orale Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen Intravenöse Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen Intraperitoneale Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen Intramuskuläre Applikationen Ratte und Kaninchen Subcutane Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen 9. 9.1. 9.2. 9.3. 9.4. 9.5. 9.6. 9.7 Grundlagen chirurgischen Arbeitens Definition Anforderungen bei operativen Eingriffen bei Versuchstieren Räumliche Voraussetzungen für die Durchführung von Operationen bei Versuchstieren Antisepsis und Asepsis Voraussetzungen bei operativen Eingriffen Beispiele operativer Eingriffe bei Labornagern Literatur 10. 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9 10.10 10.11 10.12 10.13 10.14 10.15 10.16 Töten von Versuchstieren Maus Ratte Hamster Meerschweinchen Kaninchen Katze Hund Frettchen, Nerz Schwein, Schaf, Ziege Tupaias u. höhere Primaten Vögel/Geflügel Frösche und Molche Schildkröten Schlangen Fische Abzulehnende Tötungsmethoden Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner 1.1. Ethik und Tierversuche (geringfügig modifiziert nach: K. Gärtner (1991) Mensch-Tier-Verantwortung, Komponenten einer Entscheidungsethik bei der Nutzung von Tieren im wissenschaftlichen Versuch; in: Qualitätskriterien der Versuchstierforschung, K. Gärtner (ed), VCH, Weinheim) 1.1.1 Historische Entwicklung der Mensch -Tier- Beziehungen und ihr abrupter Wechsel in den letzten 100 Jahren Illies (1977) hat in seiner Anthropologie des Tieres eine übersichtliche Zusammenstellung über den Wandel der Mensch-Tier-Beziehungen in europäisch mediterranen Kulturkreisen in den letzten 10.000 Jahren gegeben. Erst mit der Entwicklung von primitiven Waffen, wie Schleudern und Speeren, gelingt es dem sonst benachteiligten steinzeitlichen Homo sapiens, sich einigermaßen gegenüber Raubtieren zu wehren und auch größere Tiere als Jagdbeute zur Ernährung zu erlegen. Das ist die Situation seit der Menschwerdung bis etwa vor 10.000 Jahren. Danach finden wir erste Hinweise für das Entstehen von Haustieren. Absichtlich nimmt der Mensch nun Tiere in seinen allernächsten Lebenskreis auf und nutzt sie bei der Jagd oder für Nahrung, Bekleidung und Fortbewegung. Es findet eine gegenseitige Adaptation für das Umgehen miteinander statt. Durch eine vom Menschen gesteuerte Zuchtwahl wurden in über 5 000 bis 7 000 Jahren aus einigen Säugerspezies, die vornehmlich sozial lebend sind, Sublinien auf Zahmheit und besonderen Nutzwert entwickelt. Das sind die Haustiere. Diese Tiere lernen leicht, die Informationssignale des Menschen zu verstehen. Sie reduzieren die Ausstattung ihres zentralen Nervensystems, insbesondere solche für das Aggressionsverhalten und für die Angst gegenüber dem Menschen. Auch die Menschen werden sich adaptieren; unter ihnen findet sicher eine Selektion statt. Bevorzugt sind solche, die besondere Gesundheitsdisposition und Verstand für den Umgang mit Tieren haben. Diesem Selektionsprozess unterliegen in unseren Breiten unsere Vorfahren über 300 bis 400 Generationen lang. Anfang des 19. Jahrhunderts beginnt eine vorsichtige Auflösung der so erfolgreichen Lebens-, Wohn- und Arbeitsgemeinschaft des Menschen mit Haus- und Nutztieren. Die wachsende Industrialisierung bedingt Abwanderung von Bevölkerungsgruppen in Ballungszentren. Jedoch bleibt in größeren Städten bis in das Ende des 19. Jahrdunderts hinein der tägliche Kontakt mit Nutztieren zunächst erhalten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die Zugtiere verdrängt, in den späten 50er Jahren bedingt die Verbilligung von Nahrungsmitteln sowie die weitere Stadtentwicklung eine völlige Entleerung der Städte auch von der Haltung von Kühen in Melkbetrieben, Hausschweinen und Legehühnern in Stadtrandsiedlungen. Innerhalb der letzten 100 Jahre findet eine deutliche Abwanderung der deutschen Bevölkerung aus Gemeinden, die weniger als 5 000 Einwohner haben, in größere statt. 1 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner Während 1870 noch mehr als 70 % der Bevölkerung in kleinen ländlichen Gemeinden Alltagskontakt mit Nutz- und Haustieren hatten, sind es 1983 weniger als 7 % der Gesamtbevölkerung. Eine Analyse der Beziehungen von Mensch und Tier im Jahre 1988 musste diese enormen Änderungen der Wohn- und Lebensbedingungen berücksichtigen, die innerhalb von drei Generationen zu einem völligen Verlust des direkten und intensiven Kontaktes fast aller Menschen mit Nutztieren geführt haben, an die sich der Homo sapiens gewollt oder nicht gewollt in fast 300 Generationen in täglicher Arbeits- und Wohngemeinschaft adaptiert hatte, wenn er überleben wollte. Unter den neuen großstädtischen Lebensbedingungen bleibt das Bedürfnis, mit Tieren zusammenzuleben, bei einem Teil der Bevölkerung erhalten und findet sich dort rudimentär und modifiziert in Form individueller Heimtierhaltung. In 50 % aller Haushalte der meisten europäischen oder nordamerikanischen Länder findet sich irgendein Heimtier, wobei Hunde, Katzen und Vögel besondere Zuneigung genießen. Es kommt zum nahezu völligen Verlust des Kontakts zwischen Menschen und Nutztier. Besondere Verhaltensformen des Menschen, die er für die für ihn lebensnotwendige Nutzung der Tiere entwickelt hat, wurden nicht mehr benötigt und gingen verloren. Das wird im nächsten Kapitel erörtert. 1.1.2 Empfinden und Verantwortungsbewusstsein des Menschen gegenüber Tieren Die Empfindungen des Menschen gegenüber Tieren lassen sich auf einer Skala auftragen, deren einer Pol durch das Extrem “kollektive, anonyme Beziehung“ und deren anderer Pol durch den Begriff der „Du-Evidenz“ beschrieben wird. Ist der erste Pol durch Anonymität, Vermeidung von Spontankontakt und Reduzierung der Fürsorge auf technisch-nützliche Bedingungen gekennzeichnet, so ist der andere Pol durch persönliches, individuelles Kennen, Namensgebung, das Bedürfnis zur spontanen körperlichen Kontaktaufnahme, durch starkes Fürsorgeempfinden und Opferbereitschaft des Menschen für das Wohlergehen eines Tieres charakterisiert. Hat sich an diesem Verhältnis durch den beschriebenen Wandel des Kontakterlebnisses zu Tieren – vom Nutztier zum Heimtier – etwas verändert? Gehrke und Wiezorrek (1982) fanden, dass Personen, die mit Nutztieren aufgewachsen waren, unbewusst eine raffinierte Abschirmungsstrategie gegenüber Gewissensbelastungen ausgebildet hatten, die bei der Tötung oder anderer Belastung von Tieren entsteht und die andere Personen, die nur mit Liebhabertieren aufgewachsen waren, nicht besaßen. Sie beruht darauf, die Beziehung zu solchen Tieren auf einem anonymen, kollektiven, unpersönlichen Stand zu halten. Solche Personen unterlassen zum Beispiel Namensgebung der Tiere und Äußerungen des gegenseitigen engen Vertrautseins wie Streicheln und Anfassen aus reiner Kontaktfreude. Das heißt, sie bauen keine „ Du-Evidenz“ zu solchen Tieren auf. Aus anderen Untersuchungen ist bekannt, dass solche Du-Beziehungen eine 2 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner viel größere Gewissensbelastung für den Menschen bringen, wenn er später solche Tiere schlachten soll oder ihnen anderweitige Belastungen oder Schäden zufügen muß. Dem Aufbau von engen Du-Beziehungen gegenüber Nutztieren entziehen sich solche Personen unbewußt, die im Umgang mit Nutztieren aufgewachsen sind. Bei ihnen ist noch eine Strategie zur Dämpfung von Schuldempfinden Nutztieren gegenüber erhalten, die die Generationen vor uns sicher in sehr viel größerem Maße besaßen. Die heutigen Großstadtmenschen können diese Abschirmstrategie offenbar kaum noch entwickeln. Sie bauen zu fast jedem Tier nur noch individuelle soziale Beziehungen auf, die den Charakter von Du-Evidenzen besitzen. Die Schwelle der Schuldempfindung Tieren gegenüber ist damit viel sensibler geworden. Leider liegen dazu bisher nur wenige Untersuchungen vor. Befragungen hannoverscher Bürger in einer größeren sozialempirischen Studie lassen etwa folgende Verteilung des unterschiedlichen Fürsorge- und Verantwortungsempfindens von Großstadtbürgern vermuten (Die Ergebnisse resultieren aus Fragen, in denen die Probanden verbal mit Situationen im Umgang mit Tieren konfrontiert wurden und dazu ihre Lösungsvorschläge zu unterbreiten hatten.) Eine Großstadtbevölkerung besitzt zu etwa 10% Personen, die Tieren gegenüber ganz besonders Schuldempfinden haben und bereit sind, durch persönlichen Einsatz und eigene Opfer an Zeit und Geld Tieren zu helfen. Ein Großteil dieser Bevölkerungsgruppe waren Heim- und Nutztierbesitzer. Einem solchen Personenkreis mit aktivem Engagement Tieren gegenüber stehen etwa 12 % bis 15 % gegenüber, für die das Zusammenleben mit Tieren, auch in lockerer Gesellschaft, eher lästig ist; 18% sind Tieren gegenüber sehr indifferent, bei ihnen konnte weder Ablehnung noch Zuneigung festgestellt werden. Für eine große Gruppe von ca. 70% gilt, dass sie ein waches Verantwortungsbewußtsein für Tiere haben und eine Novellierung des Tierschutzgesetzes für wichtig halten. Das untersuchte Schuld- und Verantwortungsgefühl der Bevölkerung gegenüber Tieren zeigt eine auffällige Speziesabhängigkeit (Gehrke und Wiezorrek 1982, Tamir und Hamo, 1980). Affen, Hunde und Katzen als Spezies mit ausgeprägten Kommunikationstalenten gegenüber dem Menschen werden als besonders schutzwürdig empfunden. Bei landwirtschaftlichen Nutztieren, wie Schaf und Schwein, bestehen geringere Neigungen des Menschen, zu ihnen individuelle Sozialkontakte in Form von Du-Bindungen, Namensgebungen usw. aufzubauen. Diese Tierarten sind in unserer Vorstellung offenbart eher dazu bestimmt, ihr Leben für uns lassen zu müssen. Ratte und Maus haben die geringsten Schutzerwartung bei den Säugetieren. Auch die Körpergröße der Tiere hat einen gewissen Einfluss auf die Schutzerwartung insofern als kleine Tiere am Ende der Skala rangieren. Die nicht-säugenden Wirbeltiere (Fische, Amphibien, 3 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner Reptilien und Vögel) haben eine deutlich geringere Schutzerwartung im Vergleich zu den Säugern. Die Invertebraten haben die geringste menschliche Protektion zu erwarten. 1.1.3 Tiernutzungsbeschränkungen aufgrund christlicher Weltanschauung und philosophischer Ethik Hierzu existiert ein breites Spektrum von Standpunkten, das in jüngster Zeit wiederholt ausführlich beschrieben wurden (Teutsch, 1975, Patzig 1986). Es reicht von der Einordnung der Tiere als seelenlose Reflexmaschinen (Descartes) bis zum Zugestehen der Qualität eines Bruders. Patzig (Patzig 1986) ordnet sie in zwei Klassen von Begründungsansätzen: -die religiös oder metaphysisch fundierten Begründungsansätze, -die rational argumentierenden Begründungsansätze. In der ersten Gruppe ist der für unsere europäische Tradition kennzeichnende christliche, jedoch weitgehend auf alttestamentarischen Vorstellungen beruhende Ansatz von Bedeutung. Durch Gottes Gebot wird die Statthalterschaft des Menschen über die Natur begründet. Die menschliche Überlegenheit -vom göttlichen Auftrag gesichert– gibt Macht, aber diese Macht legitimiert nicht ein unbeschränktes Recht über das Tierreich. Sie verpflichtet den Menschen zur „königlichen Fürsorglichkeit“, wie es der exakte sprachliche Hintergrund im Hebräischen für die übliche kurze deutsche Übersetzung „herrsche“ (1, Moses 1.28 ) sein soll (Krapp, 1986). In der zweiten Gruppe mit rein rationalen Begründungsansätzen muss unterschieden werden zwischen anthropozentrischen Begründungsansätzen und solchen, die auf dem Gleichheitsprinzip beruhen. Beide sollen im folgenden nur kurz skizziert werden. Von Bedeutung für den anthropozentrischen Ansatz ist insbesondere die Argumentation Kants. Aus Gründen der Vernunft ist es gleichzeitig, was der Mensch mit den Tieren tut, denn alle sind von Gott, seiner Herrschaft unterworfen. Es liegt jedoch nahe, dass derjenige, der mit den Tieren Mitgefühl zeigt, dadurch empfänglicher wird für Gefühle des Erbarmens den Menschen gegenüber. Die Pflicht zur Vermeidung grausamer Behandlung von Tieren ergibt sich, weil sonst auch das Mitgefühl gegenüber dem Menschen abstumpft und diese natürliche Anlage gegenüber Menschen geschwächt und ausgetilgt werden könnte. Schopenhauer lehnt schon bald diesen Ansatz ab und zielt auf einen Gleichheitsgrundsatz. Der Gleichheitsgrundsatz wird mit metaphysischer Begründung durch Albert Schweitzers Prinzip von der „Ehrfurcht vor dem Leben“ in eher extremer Weise charakterisiert. Dabei ist Schweitzer so konsequent, dass er sich als Mörder von Bakterien bezeichnet, wenn er z.B. durch Gaben von Sulfonamiden einen Menschen von einer gefährlichen Infektionskrankheit befreit. Jeder, der Leben vernichtet oder beschädigt, aus welchen Gründen auch immer, handelt nach Albert Schweitzer böse und lädt moralische Schuld auf sich. Bei Entscheidungszwang kann der 4 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner Mensch dem Lebenswillen aller Lebewesen nicht entsprechen. In allen solchen Situationen macht er sich schuldig. Zu entscheiden ist zwischen Schuldlasten. Sie zwingen unter Umständen zur „grausigen Notwendigkeit“ des Tierversuches in bestimmten Fällen. Sehr viel nüchterner wird der Gleichheitsgrundsatz zur Zeit diskutiert (Patzig, 1986): Gleiches wird gemäß seiner Gleichheit gleich bewertet und muß gleich behandelt werden. Ungleiches darf entsprechend seiner Ungleichheit unterschiedlich behandelt werden (Patzig, 1986). Im Umgang mit Tieren heißt das, das Vernunftprinzip verpflichtet mich, Interessen, die ich bei mit selbst als realisierungswürdig betrachte, bei allen anderen Individuen, die die gleichen Interessen haben, als realisierungswürdig anzuerkennen. Das gilt generell wohl in erster Linie gegenüber anderen Menschen. Es scheint jedoch nicht rational begründbar, warum wir in Hinsicht auf den Anspruch auf Schmerzvermeidung einen radikalen Unterschied zwischen Mensch und nichtmenschlichen Lebewesen machen dürfen. Solange diese sich eindeutig so verhalten, dass wir annehmen müssen, auch sie könnten Schmerz und Lust, Behagen und Not und Angst empfinden (Patzig, 1986). Das Gleichheitsprinzip endet bei solchen Individuen, bei denen offenbar keine Schmerzund Leidensfähigkeit vorhanden ist. Dort, wo wesentliche Unterschiede zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Lebewesen bekannt sind, verliert das Gleichheitsprinzip seine Bedeutung. So soll beim Menschen die Leidensfähigkeit angesichts seines Erinnerungsvermögens und seiner Zukunftserwartung in ihrer Qualität von der des Tieres verschieden sein. Das gilt auch für den Verlust des Lebens. Nur der Mensch hat ein Bewußtsein der ständigen Bedrohung seines Lebens durch den Tod, nur er hat eine „Biographie“. Ihm ist sein eigenes Sterbenmüssen bewußt. Er weiß um die Begrenzung seines persönlichen Daseins durch Geburt und Tod. Tiere haben ein begrenzteres Bewußtsein. Sie erleben sich vornehmlich im Präsens. Sie haben keine „Biographie“, kein persönliches Lebensziel. Der Verlust seines Lebens ist für ein Tier unerheblich, da es keine Zukunftsprojektion hat (Hoff, 1980, Spaemann, 1985). Das ist eine Beurteilung durch die Philosophen, zu der die Biologie meines Wissens noch nicht Stellung genommen hat, trotz mancher Erkenntnisse über die Bewußtseinshorizonte bei Tieren. Es gibt eine Fülle von persönlich schattierten Standpunkten verschiedener Philosophen zur Verantwortung Tieren gegenüber, auf die im weiteren nicht mehr eingegangen wird. Auch gibt es inzwischen die politisch-plakative Bezeichnung „Tierschutzethik“ (Teutsch, 1987). Sie ist ein Postulat vornehmlich auf der Basis der Mitgeschöpflichkeit oder der Brüderlichkeit. Etwa alle philosophischen Standpunkte basieren auf individualethischen Konzepten. Nirgends ist die Konfrontation mit der Gruppenethik deutlich herausgearbeitet, mit der Ärzte und Naturwissenschaftler konfrontiert sind. 5 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner 1.1.4 Gesellschaftlicher Auftrag zur ärztlichen Forschung und medizinischen Ausbildung Auftrag der Gesellschaft an die Universitäten und Bildungseinrichtungen ist es, Forschung und Lehre in den verschiedenen Disziplinen aktuell und fruchtbar zu betreiben. Das gilt auch für die medizinischen und biologischen Disziplinen. Die Erwartung der Gesellschaft auf entsprechende Forschungsresultate ist hier hoch. Das ist begründet durch den Einfluss biomedizinischer Forschung auf die klinische Medizin in den letzten 150 Jahren. Es gelang, Infektionskrankheiten innerhalb der westlichen Industienationen fast völlig zu beherrschen, unsere durchschnittliche Lebenserwartung um ca. 15 bis 20 Jahre zu verlängern, die Sterberate der Neugeborenen unter ein Prozent zu senken, durch die Beherrschung von Tierseuchen die Gefahr von Hungersnöten in unseren Breiten auszuschließen. Die heutigen Möglichkeiten der Chirurgie am Knochen, am Herzen, zur Transplantation von Organen, die Behandlung endokriner Krankheiten, die Hilfe durch Psychopharmaka oder Immuntherapie sind hier zu erwähnen. Die Erwartungen an den forschenden Arzt sind weiterhin hoch. Sie gelten insbesondere der Therapie chronischer Knochen- und Gelenkerkrankungen, chronischer Stoffwechsel- und Gefäßerkrankungen und des Krebses. Für das Betreiben solcher Forschungen weisen ihm die ärztliche Ethik, die Erfahrungen der forschenden Disziplinen und die Deklaration von Helsinki (52. WMA, General Assembly, Edinburgh, Scottland 2000) den Handlungsspielraum. Sie zwingen ihn für die wissenschaftliche Bearbeitung mancher Fragestellungen zum Einsatz von Versuchstieren. Das war bisher fast immer am Anfang der Bearbeitung eines neuen medizinischbiologischen Poblemfeldes der Fall. Der Tierversuch war meist eine Einstiegsmethode. Nach Kenntnis von Detailzusammenhängen wurde er verlassen und an den nun bekannten Subsystemen weitergearbeitet. So wechselte die Bakteriologie von Meerschweinchen zur Zeit Robert Kochs zu den Nährböden heute, die Pharmakologie von Ganztier zum isolierten Organ usw. (Gärtner 1986a, Gärtner 1986b, Gärtner 1986c). Der ethische Konflikt, unter dem der Forscher beim Einsatz von Versuchstieren steht, ergibt sich, weil er nicht nur eine persönliche, sondern auch eine überpersönliche Verantwortung trägt. Albert Schweitzer formuliert dazu, dass er unter Umständen „in eine Situation kommt, in der er nicht nur für sich selbst, sondern für eine Sache verantwortlich ist und zu Entscheidungen gezwungen ist, welche mit seiner persönlichen Moral in Konflikt geraten“. Er ist eingebunden in eine Gruppenethik, die in der Diskussion über den Tierversuch aus der Sicht der philosophischen und religiösen Ethik meist ausgeklammert wird. Für die zur Bewältigung dieses Konfliktes entwickelten Handlungsprinzipien sind die folgenden Überlegungen ebenfalls von Bedeutung. Aus zwei Gründen werden Tiere, insbesondere Wirbeltiere, in der Medizin und biologischen Forschung eingesetzt. Einmal kann man nur Wirbeltiere so züchten, ernähren und halten, dass genormte und standardisierte Ausgangsbedingungen für die schlüssige Überprüfung einer 6 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner Hypothese bestehen. An Wildfängen oder gar am Menschen ist das praktisch unmöglich. Zweitens sind die experimentell zu prüfenden Hypothesen vor allem in der Krankheits- und Therapieforschung für den Menschen oft risikoreich, so dass Tiere hier als Stellvertreter für den Menschen die Last des Risikos übernehmen. Das ist eine Frage der ärztlichen Ethik. Tiere sind Stellvertreter für das Überlebensrisiko des Menschen. In keinem Falle sind sie Stellvertreter, an denen die Schmerzhaftigkeit eines Eingriffs ausprobiert wird. Auf diesen Sachverhalt ist wiederholt ausführlich eingegangen worden (Ullrich und Frömter, 1985, Schoeppe, 1985, Brendel, 1985, Schaumann, 1985, Greim, 1985, Hörnicke 1985, Creutzfeldt 1985, Riecker 1985). 1.1.5 Antiscientistische Strömungen in der Gesellschaft und Mißtrauen gegen Forscher Zwei konträre Motive beeinflussen die Tierschutzgesetzgebung und die öffentliche Diskussion der Nutzung von Tieren für die Wissenschaft seit über 100 Jahren. Das ist -einmal die Sorge um den Schutz von Tieren als Mitlebewesen, -zweitens Wissenschaftsfeindlichkeit in ihren verschiedenen Spielarten. Argwohn gegen den Einsatz von Tieren in der biomedizinischen Forschung wird sehr häufig begründet mit dem Zweifel an der Übertragbarkeit von Ergebnissen, die an Tieren gewonnen worden sind, auf den Menschen. Er wird außerdem meist begründet mit dem Zweifel an der Reproduzierbarkeit von im Tierversuch gewonnenen quantitativen Resultaten. Daneben haben gewisse Gruppen der Gesellschaft immer wieder und laut Mißtrauen gegen die Redlichkeit der Forscher geäußert. Sie meinen, dass sie Tierversuche nicht aus wissenschaftlicher Erforderlichkeit betreiben, sondern diese zur Befriedigung sadistischer Abartigkeiten möglichst unter Ausschluß der Öffentlichkeit durchführen (Stiller und Stiller, 1976) oder nur aus Karrierebestreben, dass sie Tierversuche für unsinnige Fragestellungen machen oder immer wieder Fragestellungen mit Tierversuchen bearbeiten, die schon lange entschieden sind oder für die es Ersatzmethoden an schmerzfreier Materie gibt. Der Einfluss der Misstrauensargumente auf die Tierschutzgesetzgebung in Deutschland ist außerordentlich groß. Fast alle Ergänzungen, die zur Goßlerschen Verordnung (1983) für den Tierversuch in den Tierschutzgesetzen 1933, 1972, 1986 und 1998 hinzugekommen sind, zielen auf polizeiliche Maßnahmen zur Überwachung der fünf Kardinalforderungen dieser Verordnung (Narkosepflicht, nur Sachkundige, nur unerlässliche Belastungen, nur ernste wissenschaftliche Fragen, höhere Spezies – mehr Schutzanforderung) ab. 1883, in der Goßlerschen Verordnung, wurde unterstellt, dass Wissenschaftler in Eigenverantwortung diese fünf Kardinalforderungen wirklichen Tierschutzes berücksichtigen. Bei Übertretung erwartete man Anzeige und Bestrafung aufgrund des Reichsstrafgesetzbuches. 7 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner 1933 finden die immer wieder genannten Zweifel, dass Übertretungen nicht angezeigt würden, ihren Niederschlag in der Gesetzesauflage, dass alle Institute, die tierexperimentell forschen wollen, dafür eine Generalerlaubnis einholen müssen und regelmäßig durch Polizeibehörden überwacht werden. 1972 findet das öffentliche Mißtrauen, dass Versuche häufig ohne wissenschaftliche Relevanz und mit gewollter Grausamkeit durchgeführt werden, weiteren Einfluß auf die Gesetzesformulierung. Nunmehr muss jeder einzelne Forschungsplan durch die Aufsichtsbehörde vor Beginn der Forschung genehmigt sein. Regelmäßige Besuche durch den Amtstierarzt sollen sicherstellen, dass Entgleisungen nicht stattfinden. Die Protokolle über durchgeführte Tierversuchsvorhaben müssen der Behörde auf Verlangen ausgehändigt werden. 1986 führt eine langjährige diskriminierende Diskussion über die biomedizinische Forschung zur weiteren bürokratischen Verschärfung. Es wird vermutet, dass der Aufsichtsbehörde Verstöße entgehen. Verschärft werden die Antragsbedingungen und enorm vergrößert der erforderliche bürokratische Aufwand ihrer Beurteilung. Die Polizeibehörde wird nunmehr entscheiden, ob die mit dem Tierversuch verfolgten wissenschaftlichen Fragestellungen erforderlich und sinnvoll sind. Den Wissenschaftlern wird das Recht auf Eigenverantwortung völlig entzogen. Die Entscheidung der Aufsichtsbehörde erfolgt unter Beratung einer Kommission, von der ein Drittel durch Tierschutzverbände und antivivisektionistische Organisationen vorgeschlagen ist und die Laien sein dürfen. Die verbleibenden beiden Drittel sollen von Medizinern und Biologen besetzt werden, jedoch haben Forschungseinrichtungen hierfür kein Vorschlagsrecht. Betriebsinterne Tierschutzbeauftragte müssen eingestellt werden. Spezielle Protokolle werden erforderlich. Als erfolgreiche Strategie des Antiscientismus im Gewand der Tierschutzidee hat sich immer mehr die Lähmung von Forschung durch aufwendige Bürokratie herausgestellt. Die Unnötigkeit solcher Gesetzesauflagen aus der Sicht eines wirklichen Tierschutzes wird deutlich daran, dass es offenbar keine gehäuften Verstöße gegen die Grundprinzipien der Goßlerschen Verordnung gegeben hat; denn innerhalb der letzten 20 Jahre hatten weniger als ein Prozent der aufgrund des Tierschutzgesetzes in Deutschland ausgesprochenen Bestrafungen den Umgang mit Versuchstieren zum Anlaß (Gärtner 1986b). 1.1.6 Ethische Handlungsprinzipien der experimentellen Medizin und der biologischen Forschung Für den Konflikt, Tiere in der Forschung einzusetzen, haben die Wissenschaftler generelle Handlungsbeschränkungen entwickelt, die schon vor 100 Jahren in der Goßlerschen Verordnung (1983) ihre erste offizielle Formulierung fanden und nach wie vor gültig sind. Unvoreingenommenheit ist Grundprinzip jeder naturwissenschaftlichen Standortsuche. Diese Voraussetzung eliminiert anthropozentrische Argumentationen. Das Gleichheitsprinzip (Patzig 8 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner 1986) ist Basis der Nutzung von Versuchstieren. Insbesondere warmblütige Wirbeltiere sind ähnlich wie der Mensch schmerz- und leidensfähig, unterscheiden sich von ihm aber in einer Reihe von Bewußtseinsdimensionen. Es gelten folgende Handlungsbeschränkungen, zu denen sich Wissenschaftler immer wieder bekannt haben (Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1981; Schweizer Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 1982; Max-Planck Gesellschaft, 1984): -Narkose der Versuchstiere in nachhaltiger Weise, wo immer es mit dem Zweck der Forschung vereinbar ist, -Nur sachkundige Professoren und Dozenten dürfen experimentieren, -Nur solche und so viele Versuche sind erlaubt, als unerläßlich ist für die Absicherung einer wissenschaftlichen Hypothese; die Belastungen an Schmerz und Leid sind so gering wie möglich zu halten („unerläßliches Maß“), -Alle Versuche, die keinem ernsten wissenschaftlichen Zweck dienen, sind verboten, -Höher entwickelte Tiere sollen verschont werden, wenn der Versuch auch an niederen durchgeführt werden kann. Diese Prinzipien sind seit 1883 fast unverändert Kernstück aller Tierschutzgesetzgebungen. Seit 1960 kam durch die Aktivität der Wissenschaft eine Reihe von Entwicklungen hinzu, die vor allem optimale Haltung und Unterbringung betrafen. Das sind Entwicklungen, durch die die tierexperimentellen Forschungsbedingungen in der Bundesrepublik sich auch aus der Sicht des Tierschutzes zu den besten in der Welt entwickelten. Besondere Ausfüllung bedarf der Begriff des „unerläßlichen Maßes“. Das betrifft einmal die Abschätzung der Schwere (das Maß) an Schmerz und Leid, das die Tiere ertragen, und es betrifft zweitens die Erörterung der Größe von Versuchsgruppen sowie die Notwenigkeit der Wiederholung von Versuchsserien aus der Sicht der Biometrie. Für das Erreichen dieser Tierschutzziele haben sich als einfache und informative Sprachformel die Englischen Begriffe „reduction“, „refinement“ und „replacement“ durchgesetzt, wie sie von Russel and Burch (1959) ausführlich beschrieben wurden. Man spricht dann von der „Berücksichtigung der 3-R“. Zur Abschätzung des Grades von Schmerzen und Leiden, den Tiere erfahren, werden zwei Klassifikationssysteme diskutiert, nämlich einmal eine Einteilung nach experimentellen Methoden, zum anderen eine Klassifikation aufgrund klinischer und Verhaltensmerkmale, die Tiere im Versuch zeigen. Die erste Methode hat eine lange Tradition insbesondere in Großbritannien. Sie ist aus der Tierschutzdiskussion erwachsen und berücksichtigt in erster Linie chirurgisch Eingriffe und solche am Auge und im zentralen Nervensystem. Dieses Abschätzungssystem kann jedoch wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht standhalten. Auch von England kommen nunmehr Anregungen, für das Abschätzen von Schmerzen und Leiden 9 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner beim Tier klinische und Verhaltensmerkmale des betroffenen Versuchstieres zu berücksichtigen. Dabei ist eine vielfältige Merkmalserfassung erforderlich. Die regelmäßige, gründliche Beobachtung des spontanen und eventuellen Sozialverhaltens unter Berücksichtigung der Vokalisation, des Putzverhaltens, des Bewegungsverhaltens sowie der Vergleich solcher Verhaltenskomponenten beim selben Tier vor und nach Versuchsbeginn haben besondere Bedeutung. Die Quantifikation dieser oder anderer einzelner Verhaltensmuster erleichtert die Abschätzung. Sie bedürfen der weiteren Ergänzung durch Registrierung von Futter- und Wasseraufnahme, der Körpergewichtsentwicklung, unter Umständen verschiedener klinischsomatischer, auch hämatologischer Merkmale. Aus all den Einzeldaten lassen sich Vorliegen und Ausmaß von Schmerz- und Leidenszuständen abschätzend objektivieren, wie es unter anderem von Beynen et al. (1987), Morton und Griffiths (1985) sowie Gärtner (Gärtner 1986a, Gärtner 1986b, Gärtner 1986c) vorgeschlagen wurde. Für die Abschätzung der Zeitspannen von Leidensund Schmerzzuständen gibt es dabei weitgehend Konsens: bis zu 7 Tag = kurzfristig, bis zu 35 Tage = mittelfristig und mehr als 35 Tage = langandauernd. Das „unerläßliche Maß“ für den Umfang einer Versuchsgruppe, d.h. die Anzahl der Tiere pro Gruppe, ist wohl nie kleiner als 6, meist nicht größer als 15, kann aber in Ausnahmefällen bis zu einigen 100 ansteigen (Weber, 1972, Zbinden, 1973), wenn Messergebnisse mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, d. h. mit hoher Signifikanz gesichert sein sollen. Manchmal genügen dem Forscher zu seiner Orientierung schon Pilotstudien, also Untersuchungen ohne biostatistische Absicherung des Ergebnisses. Meist sind jedoch solide Wahrscheinlichkeitsaussagen für ein Ergebnis erforderlich. Dazu werden sehr geringe Wahrscheinlichkeit dafür gefordert, dass die Werte der Versuchsgruppe mit der der Kontrollen identisch sind ( Prüfung der Nullhypothese, Signifikanzprüfung). Der Fehler, eine falschen Aussage zu machen, sollte also kleiner als 5 %, oder oft sogar kleiner als 1 % sein. Für die Erfüllung dieser Forderungen muss vor Versuchsbeginn die dafür erforderliche Gruppengröße sorgfältig abgeschätzt werden. Hierbei ist die Kenntnis der quantitativen Größe der Variabilität des interessierenden Merkmales, d. h. seine Standardabweichung notwendig. Um die Gruppengröße klein zu halten, um sie auf ein unerlässlichen Maß zu begrenzen, gilt es auch die Frage zu prüfen, oberhalb welchem Unterschied des interessierenden Merkmales zwischen Versuchsgruppe und Kontrollen dieser Unterschied für die Beantwortung der gestellten wissenschaftlichen Frage eigentlich relevant wird. Sind auch kleinste Unterschiede schon von realistischer wissenschaftliche oder angewandter Bedeutung? In der Grundlagenforschung sind sie es meist, in der angewandten Forschung häufig nicht. Oberhalb welchem Unterschied ist diese Beobachtung von wissenschaftlichem Interesse bzw. von praktischem Nutzen? Festlegung solcher Grenzwerte - der Relevanz einer Aussage - ist für die 10 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner Abschätzung der unerlässlichen Gruppengröße von Bedeutung. Ist dieser Relevanzwert hoch, dann verringert sich die Anzahl der pro Gruppe erforderlicher Tiere ganz beträchtlich. Von Bedeutung ist weiterhin die Auswahl der statistischen Prüfverfahren. Bei großen Versuchsserien und erheblicher Belastung sollte zu einer sequenziellen Auswertung geraten werden, um eine Serie so früh wie irgend möglich erfolgreich beenden zu können. 1.1.7 Die gesetzlichen Vorgaben zur Regelung des Konfliktes zwischen biomedizinischen Forschung und Tierschutz Wir leben in einer Gesellschaft mit großer Meinungsvielfalt. Diese Meinungsvielfalt unserer Gesellschaft verlangt immer dann nach verbindlichen Konsensdefinitionen, wenn politische Entscheidungen erforderlich sind, die die divergierenden Interessen der Bürger betreffen. Dieser Konsens, meist ein Kompromiss, wird diskursethisch, im politischen Diskurs zwischen den verschiedenen Interessengruppen gesucht. Auf ihm basiert schließlich die entsprechende gesetzliche Bestimmung. Medizinisch-biologische Forschung verbinden in unserer Gesellschaft die einen mit der Hoffnung und dem Wunsche, dadurch vor Schmerz, Krankheiten und Hunger erfolgreicher bewahrt werden zu können, - das sind 70% bis 80% unserer Mitbürger - andere mit der Angst, dass durch solche Forschung unseren Lebensgrundlagen irreversibler Schaden zufügt wird - das sind höchstens 20%. Für die Mensch-Tier-Beziehung reicht die Vielfalt unter unseren Mitbürgern von der strengbrüderlichen Auslegung des Begriffs Mitgeschöpflichkeit - das sind ca. 10 % - über eine eher anonym-sachliche Mensch-Tier-Beziehungen, wie sie z. B. gegenüber Schlacht- und Nutztieren in artgemäßer Haltung gilt, - das sind ca. 50% - , bis zur Aversion gegen Tiere aus hygienischer Hysterie und Bedrohungsempfindungen - etwa 10 %. Diese Meinungsvielfalt bedingt auch Kollision zwischen den Forderungen nach Tierschutz und denen nach medizinischer und naturwissenschaftlicher Forschung. Forderungen die hier aufeinander prallen sind einerseits die innerwissenschaftlichen Forschungsprinzipien, die die Gesellschaft als unverzichtbar anerkennt und andererseits ethische Umgangsprinzipien mit Tieren, die gleichermaßen anerkannt sind. Die hier tangierten forschungsethischen Prinzipien sind vornehmlich drei, nämlich: (1.) Die Anerkennung empirischer Daten als letzte Appellationsinstanz. (2.) Rationalität als alleinige Rechtfertigungsbasis. (3.) Die strikte Ablehnung jedweder Informationseinschränkung. Die Respektierung dieser forschungsethischen Prinzipien garantiert unser Grundgesetz im Art.5(3) aber auch das Hochschulrahmengesetz (§3(2)) oder die EU-Charta (Art. 13) und andere. Dadurch werden uneingeschränkt durch den Staat gewährleistet: die Freiheiten für die 11 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner wissenschaftliche Fragestellung, für die Wahl der Methodik und für die Wahl der Veröffentlichungsplattform. Diese forschungsethischen Prinzipien haben Sachzwang für naturwissenschaftliches Forschen. Das gilt insbesondere deshalb, weil naturwissenschaftliche Forschung wegen der Komplexität von Naturvorgängen sowohl auf deterministische als auch auf nichtdeterministische, z. B. sog. random-Suchstrategien (das ist das Suchen nach Zufallsverteilungen) angewiesen ist. Werden diese Prinzipien nicht eingehalten, dann wird solche Forschung unfruchtbar und unzuverlässig. Diese, den Wissenschaften und der Forschung garantierten Freiheiten können mit den Prinzipien der Tierschutzethik kollidieren, wie sie das Tierschutzgesetz in seinem § 1 schützt: - Der Staat schützt das Leben und Wohlbefinden eines Tieres, - Der Staat verbietet das Zufügen von Schmerzen, Leiden oder Schäden ohne vernünftigen Grund. Zur Kollision kommt es, wenn bei tierexperimentellen Eingriffen Versuchstiere Schmerzen, Leiden oder Schäden erdulden könnten. In welcher Weise die gesetzlich definierten Tierschutzforderungen mit den grundgesetzlichen Garantien für Wissenschaft und Forschung in Einklang zu bringen sind, das bestimmt das Tierschutzgesetz in seinem 5. Abschnitt. Im Einzelnen geschieht das in den dortigen §§ 7 bis 10 aber auch in anderen §§ des Tierschutzgesetzes. Generell werden folgende Grenzen gezogen: Nur wenn die Erforderlichkeit von Versuchen an Wirbeltieren ausführlich und wissenschaftlich begründet dargelegt wurde und, wenn die dabei den Tieren zugemuteten Schmerzen und Leiden, aber auch die Anzahl an Einzelversuchen auf ein unerlässliches Maß reduziert sind, dann werden solche Tierversuchsvorhaben einzeln, als ethisch vertretbare Ausnahmen genehmigt. Deutlich wird in dieser Definition, dass die Prüfung der Vertretbarbeit der Fragestellung eines Versuchsvorhabens allein forschungsethischen Kriterien unterliegt, dass aber seine Durchführung vielen Auflagen, insbesondere die Berücksichtigung der Forderung nach den 3-Rs erfüllen muss. Das macht die Genehmigung jedes einzelnen Tierversuchsvorhaben schwierig. Der Gesetzgeber hat deshalb mit dem § 15 des Tierschutzgesetzes eine Kommission aus Vertretern der verschienen Interessenrichtungen bei der Aufsichtbehörde angesiedelt, die diese Bedingungen für jedes Versuchsvorhaben diskutiert und dadurch die Behörde bei der Entscheidung über die Genehmigung jedes Tierversuchsvorhabens unterstützt. 12 Ethik und Tierversuche Prof. Dr. med. vet. Klaus Gärtner 1.1.8 Literatur Beynen A.C., Baumanns V, Bertens A.P.M.G., Havenaar R., Hesp A.P.M. und van Zutphen L.F.M. (1987) Assessment of discomport in gallstone- bearing mice: a practical example of the problems encountered in an attempt to recognize discomfort in laboratory animals Lab. Anim 21: 35-42 Brendel W. (1985) Tierexperiment und Chirurgie, in: K.J. Ullrich, O.D. Creutzfeldt (eds), Gesundheit und Tierschutz, ECON, Düsseldorf, Wien, S. 150-166 Creutzfeldt O.D. (1985) Ethik, Wissenschaft und Tierversuche in: K.J. Ullrich, O.D. 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Klaus Gärtner Morton D.B. and Griffiths P.H.M. (1985) Guedelines on the recognition of pain, distress and discomfort in experimental animals and a hypothesis for assessment Vet. Rec. 116: 431436 Patzig G. (1986) Der wissenschaftliche Tierversuch unter ethischen Aspekten, in: W. Hardegg, G. Preiser (eds) Tierversuche und medizinische Ethik, Beiträge zu einem Heidelberger Symposium, Olms, Hildesheim Riecker G. (1985) Ärztliche Ethik und Tierversuche in: K.J. Ullrich, O.D. Creutzfeldt (eds), Gesundheit und Tierschutz, ECON, Düsseldorf, Wien, S. 82-93 Russel and Burch (1959) The Principles of Humane Experimental Technique. London Methuen. (Reprinted by UFAW, 1992). Schaumann W. (1985) Tierversuch bei der Entwicklung von Arzneimitteln, in: K.J. Ullrich, O.D. Creutzfeldt (eds), Gesundheit und Tierschutz, ECON, Düsseldorf, Wien, S. 167-177 Schoeppe W. (1985) Tierversuche als Krankheitsmodelle in: K.J. Ullrich, O.D. Creutzfeldt (eds), Gesundheit und Tierschutz, ECON, Düsseldorf, Wien, S. 140-149 Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaft (1982), Schweizerische Naturforschende Gesellschaft: Ethische Grundsätze und Richtlinien für wissenschaftliche Tierversuche, in: Bonner Arbeitskreis für Tierschutz, Gesetzesentwurf zur Novellierung des Tierschutzgesetzes, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Spaemann R. (1985) Über den Begriff der Menschenwürde, Scheidewege 15: 20-36 Stiller H. und Stiller M. (1976) Tierversuch und Tierexperimentator, Schade, Ronnenberg Tamir P. und Hamo A., (1980) Attitudes of secondary school students in Israel towards the use of living organisms in the study of biology Int. J. Stud. Anim. Prob. 1: 299 Teutsch, G.M. (1975) Soziologie und Ethik der Lebewesen. Europäischer Hochschulschriften, Reihe XXII, Bd. 14, Herbert Lang, Bern, Frankfurt Teutsch E.M. 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Die für eine Hochhygienehaltung erforderlichen zusätzlichen Investitionen in die Gebäudetechnik oder in Tierhaltungseinrichtungen sind erheblich. Zur Zeit werden die Hygieneanforderungen an Tierhaltungen nicht explizit gesetzlich geregelt. Allerdings wird von Seiten der Geldgeber tierexperimenteller Projekte (z. B. Deutsche Forschungsgemeinschaft – DFG), von Seiten der wissenschaftlichen Journale, in denen tierexperimentelle Ergebnisse publiziert werden, und zum Teil auch von Seiten der Tierexperimentatoren selbst eine Haltung von Versuchstieren auf höchstem Hygieneniveau verlangt. Aus dem Tierschutzgesetz kann die Haltung von Versuchstieren auf Hochhygieneniveau nur indirekt hergeleitet werden, insofern als einerseits wissenschaftlich belegt ist, dass sich durch diese Haltungsform die Aussagekraft von Tierversuchen erhöht und sich somit die Zahl der erforderlicher Tiere reduziert und andererseits das Deutsche Tierschutzgesetz die Reduktion von Tierversuchen auf das „unerlässliche Maß“ fordert. Gebäudeabsicherung Es muss allen Beteiligten klar sein, dass Tierversuche derzeit äußerst kontrovers diskutiert werden. Die Strenge des Deutschen Tierschutzgesetzes spiegelt letztendlich die Skepsis eines Großteils der Bevölkerung gegenüber Tierversuchen wider. Die Forderungen nach weitestgehendem Ersatz von Tierversuchen durch alternative Verfahren und nach der Reduktion von Tierversuchen auf das unabdingbare Maß reflektieren eben nicht nur das Tierschutzgesetz, sondern zeigen ein gesellschaftliches Anliegen auf. Andererseits sind viele Tierversuche derzeit eben nicht ersetzbar und ihre Durchführung ist auch nach Ansicht großer Teile der deutschen Bevölkerung erforderlich, um u.a. den weiteren biomedizinischen Fortschritt zu gewährleisten. Das zur Zeit gültige Tierschutzgesetz erlaubt die Durchführung von Tierversuchen lediglich nach strenger Prüfung und unter erheblichen Überwachungsauflagen und spiegelt damit die gesellschaftlichen Ambivalenz gegenüber Tierversuchen wider. Bei der Mehrzahl strikter Tierversuchsgegner besteht ein Konsens, dass die Auseinandersetzung mit den Befürwortern von 15 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Tierexperimenten auf politischer bzw. juristischer Ebene zu führen ist. Die Vergangenheit hat aber immer wieder gezeigt, dass ein Teil der Tierversuchsgegner auch nicht davor zurückschreckt, im Kampf für ihre Überzeugungen illegale Mittel anzuwenden. In Anbetracht des gesellschaftlichen Phänomens des illegalen Tierversuchsgegnertums raten die staatlichen Sicherheitsorgane eindringlich zur verstärkten Gebäudeabsicherung von Tierversuchsanlagen. Gesetzliche Forderungen zur Absicherung von Tierhaltungen gegen potentielle kriminelle Aktionen existieren derzeit nicht. Gentechnikgesetz (GenTG) Wie die Tierschutzberichte der letzten Jahre eindeutig belegen, werden zunehmend gentechnisch veränderte Tiere, und zwar insbesondere gentechnisch veränderte Mäuse, in der tierexperimentellen Forschung eingesetzt. Gentechnisch veränderte Tiere stellen per se „gentechnisch veränderte Organismen (GVOs)“ im Sinne des GenTGs dar. Darüber hinaus werden Versuchstiere häufig mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen experimentell infiziert. Derart experimentell infizierte Tiere stellen ebenfalls GVOs im Sinne des GenTGs dar. GVOs dürfen nur in entsprechend registrierten gentechnisch veränderten Anlagen gehalten und manipuliert werden. Gemäß GenTG ergeben sich umfangreiche Verantwortlichkeiten bei der Haltung gentechnisch veränderter Tiere (Bewertung der Sicherheitsstufe (1-4), Festlegung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes und Umweltschutzes sowie Verpflichtung zur Belehrung des Personals, Festlegung der gentechnische Anlage und Einhaltung von Anforderungen an dieselbe, Aufzeichnungspflicht, eventuell zusätzliche arbeitsmedizinische Untersuchungen des Personals, Begrenzung des Zutritts auf autorisierte Personen, etc) die in eindeutiger Weise auf bestimmte Personen mit nachgewiesener Qualifikation (Projektleiter, Betreiber) verteilt werden. Es sollte erwähnt werden, dass das GenTG bei Nichteinhaltung gentechnikrechtlicher Forderungen drakonische Strafen vorsieht. Infektionsschutzgesetz (IfSG = Nachfolger des ehemaligen „Bundesseuchengesetzes“): Werden Versuchstiere mit humanpathogenen Mikroorganismen experimentell infiziert, so muss hierfür eine entsprechende behördliche Erlaubnis eingeholt werden. Ähnlich wie beim Gentechnikgesetz werden auch durch das IfSG bestimmte Verantwortlichkeiten (Festlegung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes und Umweltschutzes sowie Verpflichtung zur Belehrung des Personals, Festlegung der Räumlichkeiten und Einhaltung von Anforderungen an diese, Aufzeichnungspflicht, zusätzliche arbeitsmedizinische Untersuchungen des Personals, Begrenzung des Zutritts auf autorisierte Personen, etc) in eindeutiger Weise auf verantwortliche Personen mit nachgewiesener Qualifikation verteilt. 16 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Verordnung über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei Tätigkeiten mit biologischen Arbeitsstoffen (Biostoffverordnung - BioStoffV) Alle Tiere sind, wie wir Menschen auch, Träger einer Vielzahl diverser Mikroorganismen. Bei diesen Mikroorganismen handelt es sich großteils um Bakterien (Darm- und Hautflora) und sie sind in der überwiegenden Zahl nicht pathogen für den Träger und andere Lebewesen. Tiere und Menschen können aber auch solche Mikroorganismen tragen, die für sie selbst oder andere Spezies insbesondere unter ungünstigen Bedingungen wie einer Immunsuppression pathogen sind, i.e. diese Erreger stellen potentielle Krankheitserreger dar. Die von Tieren getragenen Mikroorganismen, insbesondere diejenigen mit pathogenen Eigenschaften, stellen biologische Arbeitsstoffe nach BioStoffV dar. Aus diesem Grunde muss die Haltung und der Umgang mit Versuchstieren einer Gefährdungsbeurteilung nach BioStoffV unterzogen werden. Aus der Gefährdungsbeurteilung ergibt sich eine Schutzstufe (1-4) und entsprechende Sicherheitsmaßnahmen. Wiederum werden eindeutig festgelegte Verantwortlichkeiten auf verantwortliche Personen mit nachgewiesener Qualifikation übertragen. Arzneimittelgesetz (AMG) und Betäubungsmittelgesetz (BtMG) Werden an Tiere, insbesondere solche, die prinzipiell der Lebensmittelgewinnung dienen können, Arzneimittel verabreicht, so sind die Forderungen des Arzneimittelgesetzes (AMG) zu erfüllen. Hierzu muss eine tierärztliche Apotheke bei den Behörden beantragt werden. Der Inhaber der Apotheke (verantwortliche Person) muss die Umsetzung der Forderungen des AMG gewährleisten, insbesondere muss er Aufzeichnungen über den Verbleib der Medikamente führen. Noch wesentlich stringenter sind die Anforderungen bei der Verabreichung von Betäubungsmitteln an Tiere. In diesem Fall muss bei der sogenannten „Bundesopiumstelle“ eine diesbezügliche Registrierung der tierärztlichen Apotheke vorgenommen werden. Wiederum wird eine verantwortliche Person benannt, die gewährleisten und gegebenenfalls auch belegen muss (Aufzeichnungspflicht), dass kein Missbrauch mit den Betäubungsmitteln erfolgte. Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) und Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) Werden Gefahrstoffe im Sinne des Chemikaliengesetzes bzw. der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV) oder radioaktive Substanzen im Sinne der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) an Tiere verabreicht, so sind die Forderungen der entsprechenden Regelwerke zu berücksichtigen. Diese implizieren die Festlegung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes und des Umweltschutzes sowie die Verpflichtung zur Belehrung des Personals, eine entsprechende Kennzeichnung der Substanzen bzw. der Tierkäfige, gegebenenfalls (z.B. bei Verwendung kanzerogener Substanzen) die Veranlassung zusätzlicher arbeitsmedizinischer Untersuchungen etc. Wie bei anderen Gesetzen werden verantwortliche Personen mit nachgewiesener Qualifikation festgelegt. 17 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Deutsches Tierschutzgesetz (TSchG) „Last not least“ sind bei der Haltung von Versuchstieren und der Durchführung von wissenschaftlichen Eingriffen an Tieren die Forderungen des Deutschen Tierschutzgesetzes (TSchG) und der damit assoziierten Regelwerke zu beachten. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der Tierschutz kürzlich in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Hieraus ergeben sich vorläufig keine direkten Implikationen. Es wurde jedoch damit eine notwendige Voraussetzung geschaffen, um im nächsten Schritt das sogenannte Verbandsklagerecht im Tierschutz verankern zu können. Das Verbandsklagerecht würde es bundesweit anerkannten Tierschutzvereinen ermöglichen, quasi als „Sachwalter der Tiere“ gegen erlassene Behördenbescheide gerichtlich vorzugehen. Ob das Verbandsklagerecht tatsächlich in die Tierschutzgesetzgebung eingebracht werden wird und ob es gegebenenfalls in Folge davon zu einer Prozessflut und einer damit einhergehenden Lähmung biomedizinischer Forschung kommt, wie von einem Teil der Gegnerschaft des Verbandsklagerechts befürchtet wird, bleibt abzuwarten. Folgende tierschutzrechtlichen Regelungen sind bei der Haltung von Versuchstieren und der Durchführung von Eingriffen an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken insbesondere zu berücksichtigen: • Tierschutzgesetz in der Fassung v. 25. Mai 1998 • Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes vom 09. Februar 2000 • Verordnung über Aufzeichnungen über Versuchstiere und deren Kennzeichnung • Verordnung über die Meldung zu Versuchszwecken oder zu bestimmten Zwecken verwendeter Wirbeltiere (Versuchstiermeldeverordnung - VtMV) vom 4. November 1999 • Richtlinie des Rates vom 24. November 1986 zur Annäherung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (86/609/EWG) genannten Anforderungen („Euro-Richtlinie“) 1.2.2 Im Deutschen Tierschutzgesetz berücksichtigte Tiergruppen Das Deutsche Tierschutzgesetz gilt prinzipiell für alle Tiere. Dies trifft insbesondere für den § 2 des Gesetzes zu, der die Tierhaltung betrifft: „Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, 18 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 1. muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen, 2. darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden, 3. muss über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen.“ Bei der Nutzung von Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken macht sich der Einfluss des differenzierten Gleichheitsgrundsatzes bemerkbar, auf dem die Deutsche Tierschutzgesetzgebung prinzipiell basiert. So gelten diejenigen Paragraphen des TSchG, die explizit auf die Haltung von Versuchstieren und die Nutzung von Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken eingehen, lediglich für Wirbeltiere. Entsprechend wird in der sogenannten „EuroRichtlinie“ zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere folgende Definition eingeführt: „Tiere sind, soweit keine anderen Angaben gemacht werden, alle lebenden Wirbeltiere außer dem Menschen, einschließlich frei lebender und/oder fortpflanzungsfähiger Larven, jedoch keine Föten oder Embryonen“ Werden also Wirbeltiere zu wissenschaftlichen Zwecken genutzt, so gelten alle Paragraphen des TSchG in vollem Umfang. Bei der Verwendung von Nicht-Wirbeltieren für wissenschaftliche Zwecke liegt eine andere Situation vor, insofern als hier die spezifischen Regelungen des TSchG für den wissenschaftlichen Einsatz von Tieren nur bedingt greifen (§ 16(1) Nr. 3a . Darüber hinaus finden sich im TSchG noch Regelungen für die tierexperimentelle Nutzung von Cephalopoden und Dekapoden. 1.2.3 Erlaubnis nach §11 TierSchG für die Haltung von Wirbeltieren für wissenschaftliche Zwecke Der §11 des TierSchG lautet: „Wer Wirbeltiere a) nach § 9 Abs. 2 Nr. 7 zu Versuchszwecken oder zu den in § 6 Abs.1 Satz 2 Nr. 4, § 10 Abs.1 oder § 10a genannten Zwecken oder b) nach § 4 Abs. 3 zu dem dort genannten Zweck züchten oder halten will, bedarf der Erlaubnis der zuständigen Behörde.“ Dies bedeutet, dass bereits die bloße Haltung von Tieren, die wissenschaftlichen Zwecken dienen sollen, genehmigungspflichtig ist. Bei der Antragstellung zur Einholung einer 19 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Tierhaltungserlaubnis nach § 11 TierSchG sind gemäß der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes“ folgende Angaben zu machen: 20 Rechtliche Grundlagen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Name und dienstliche Adresse des Antragstellers Tätigkeit, für die die Erlaubnis beantragt wird (Tierspezies, Haltung oder Zucht) Angabe der Anschrift, wo die Tiere gezüchtet oder gehalten werden Name und dienstliche Anschrift der für die Tätigkeit verantwortlichen Person(en) Berufliche Qualifikation der für die Tätigkeit verantwortlichen Person(en) Nachweis der beruflichen Qualifikation Gattung und Höchstzahl der Tiere, die jährlich gezüchtet werden sollen Gattung und Höchstzahl (Bestand) der Tiere, deren Haltung beabsichtigt ist Beschreibung der Räume und Einrichtungen, die der Tätigkeit dienen sollen Die Behörde hat das Recht, bei der Erteilung einer Tierhaltungserlaubnis nach §11(1) TierSchG Nebenbestimmunen zu erlassen. Die für die Tierhaltung verantwortliche Person hat die Pflicht, über die Herkunft und den Verbleib der Tiere Aufzeichnungen gem. § 11a TierSchG zu machen und die Aufzeichnungen drei Jahre lang aufzubewahren. 1.2.4 Tierschutzrechtliche Kategorien von Eingriffen an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken Der Gesetzgeber unterscheidet bei Eingriffen an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken folgende Kategorien: -Tötung zu wissenschaftlichen Zwecken (§ 4 Abs. 3 TierSchG) Hierbei wird das Tier ohne vorherige Behandlungen getötet und anschließend werden am toten Tier Organe für wissenschaftliche Untersuchungen entnommen -Entnahme von Geweben oder Organen (i. d. R. unter Narkose mit anschließender Tötung) zum Zwecke der Transplantation oder des Anlegens von Kulturen oder der Untersuchung isolierter Organe, Gewebe oder Zellen (§ 6 Abs. 1 Nr. 4 TierSchG) Bei der Mehrzahl an Fällen wird das nicht vorbehandelte Tier narkotisiert und es werden in Narkose Organe für die aufgeführten wissenschaftliche Zwecke entnommen. Das Tier wird in der Regel noch in Narkose getötet. Bei geringgradigen Belastungen (wie beispielsweise Schwanzspitzenabnahmen) kann u.U. auf eine Narkose verzichtet werden und die Tiere können nach dem Eingriff weiterleben. -Genehmigungspflichtige Tierversuche (§ 8 (1) TierSchG) Tierversuche werden definiert als Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken 1. an Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für diese Tiere oder 2. am Erbgut von Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere verbunden sein können. - Genehmigungsfreie (=anzeigepflichtige) Tierversuche (§ 8 a Abs. 1 und 2 TierSchG) 21 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Dabei handelt es sich um Eingriffe, die als Impfungen, Blutentnahmen oder sonstige diagnostische Maßnahmen nach bereits erprobten Verfahren vorgenommen werden, sowie um genehmigungspflichtige Eingriffe an Cephalopoden oder Dekapoden. -Eingriffe zu Aus-, Fort- oder Weiterbildung (§ 10 TierSchG) Hierbei werden Eingriffe jedweder Art zu den aufgeführten Zwecken durchgeführt. -Eingriffe zur Herstellung, Gewinnung, Aufbewahrung oder Vermehrung von Stoffen, Produkten oder Organismen (§ 10a TierSchG) Hierbei werden Eingriffe zu den aufgeführten Zwecken durchgeführt. Die Immunisierung von Kaninchen zum Zweck der Antikörpergewinnung stellt ein Beispiel eines Eingriffs nach § 10a TSchG dar. 1.2.5 Tierschutzrechtliche Legalisierung von wissenschaftlichen Eingriffen an Tieren Über die Durchführung von Tötungen zu wissenschaftlichen Zwecken nach § 4 Abs. 3 muss die Behörde nicht informiert werden. Sie kann aber gem. § 16a die notwendigen Maßnahmen bei rechtmäßiger und nicht rechtmäßiger Tötung ergreifen. Der Anzeigepflicht unterliegen: -Organentnahme (i. d. R. unter Narkose mit anschließender Tötung) nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 -nicht genehmigungspflichtige Tierversuche nach § 8 a Abs. 1 und 2 -Eingriffe zur Aus-, Fort- oder Weiterbildung Anzeige nach § 10 -Eingriffe zur Herstellung, Gewinnung, Aufbewahrung oder Vermehrung von Stoffen, Produkten oder Organismen nach § 10a Die Angaben, die bei einer Anzeige von Eingriffen an Tieren gemacht werden müssen, sind in der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes“ festgelegt: 1 2 3 3.1 3.2 4. 4.1 4.2 5 6 6.1 6.2 6.3 7 8 Bezeichnung des Vorhabens einschließlich der internen Kurzbezeichnung und der Rechtsgrundlage des Anzeigeverfahrens im Tierschutzgesetz Zweck des Vorhabens Angaben zu den für die Verwendung vorgesehenen Versuchstieren mit kurzer Begründung im Hinblick auf § 9 (2) Nummer 1 und 2 Art der vorgesehenen Tiere Bei Wirbeltieren, und ggf. bei Cephalopoden oder Dekapoden, die Zahl der vorgesehenen Tiere Beschreibung des beabsichtigten Verfahrens einschließlich der Betäubung Art und Durchführung der vorgesehenen Eingriffe oder Behandlungen Angabe, welche Eingriffe oder Behandlungen an Wirbeltieren unter Betäubung durchgeführt und welche Betäubungsverfahren dabei angewandt werden sollen Ort und vorgesehener Beginn (Datum) sowie voraussichtliche Dauer des Verfahrens Angaben zu den beteiligten Personen Name, dienstliche Anschrift und Fachkenntnisse des Leiters des Vorhabens Name, dienstliche Anschrift und Fachkenntnisse des stellvertretenden Leiters des Vorhabens Name, dienstliche Anschrift und Fachkenntnisse der durchführenden Person(en) Bei Vorhaben nach § 6 (1) Satz 2 Nr. 4 die Begründung für den Eingriff Bei Vorhaben, die nach § 8 (7) Nr. 1 nicht der Genehmigung bedürfen, der Rechtsgrund der Genehmigungsfreiheit 22 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 9 Bei Durchführung mehrerer gleichartiger Vorhaben nach § 8a Abs. 1 und 2, § 10 oder § 10a, die voraussichtliche Zahl der Vorhaben (§ 8a (3) Satz 1) Ort und Datum, Bestätigung der Kenntnis des Tierschutzgesetzes, Unterschriften von Leiter und Stellvertreter Nach der Einreichung der Anzeige bei der Behörde muss eine Frist von 2 Wochen abgewartet werden, bevor mit den Eingriffen begonnen werden kann. In der Regel wird von der Behörde eine Bestätigung über den Eingang der Anzeige ausgestellt. Der aufwendigen Genehmigungspflicht unterliegen genehmigungspflichtige Tierversuche nach § 8 Abs. 1. Die erforderlichen Angaben zur Beantragung der Genehmigung eines Tierversuchsvorhabens sind in der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes“ festgelegt. Sie umfassen folgende Informationen: 1. 1.1. Angaben zum Versuchsvorhaben Bezeichnung des Versuchsvorhaben einschließlich der internen Kurzbezeichnung und Kennzeichnung, ob es sich um einen Finalversuch im Sinnes des §8 (5 a) handelt. 1.2. Zweck und Unerlässlichkeit des Versuchsvorhaben 1.2.1. Angaben des Zwecks des Versuchsvorhaben und wissenschaftlich begründete Darlegung, dass dieser einem der in § 7 Abs. 2 genannten Zwecke zuzuordnen ist 1.2.2. Wissenschaftlich begründete Darlegung der Unerlässlichkeit des Versuchsvorhabens unter der Berücksichtigung des jeweiligen Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse 1.2.3. Wissenschaftlich begründete Darlegung, dass der Versuchszweck nicht durch andere Methoden oder Verfahren als den Tierversuch erreicht werden kann 1.3 Ausschöpfung zugänglicher Informationsmöglichkeiten 1.3.1. Genutzte Informationsmöglichkeiten 1.3.2 Wissenschaftlich begründete Darlegung, dass das angestrebte Versuchsergebnis noch nicht hinreichend bekannt ist. 1.4 Art und Anzahl der vorgesehenen Tiere 1.4.1 Vorgesehene Tierarten und Begründung für die Wahl der Tierart 1.4.2 Vorgesehene Anzahl und Begründung für die Anzahl der Tiere einschließlich Angaben zur biometrischen Planung 1.4.3 Angabe, ob es sich eigens für Tierversuche gezüchtete Tiere handelt 1.4.3.1 Gegebenenfalls Antrag auf Zulassung einer Ausnahme nach § 9 Abs. 2 Nr. 7 Satz 2 mit Begründung, wenn eigens für Tierversuche gezüchtete Tiere nicht verwendet werden können. 1.4.3.2 Gegebenenfalls Begründung, wenn eine Entnahme aus der Natur für erforderlich gehalten wird 1.5 Ort, vorgesehener Beginn (Datum) und voraussichtliche Dauer des Versuchsvorhabens 1.6 Beschreibung der vorgesehenen Tierversuche einschließlich der Betäubung 1.6.1 Art, Durchführung und Dauer der vorgesehenen Eingriffe oder Behandlungen 1.6.2 Angabe, welche Eingriffe oder Behandlungen unter Betäubung durchgeführt und welche Betäubungsverfahren dabei angewandt werden sollen. 1.6.3. Angabe, ob schmerzhafte Eingriffe ohne Betäubung durchgeführt werden soll. 1.6.4. Angabe, ob an einem nicht betäubten Tier mehrere erheblich schmerzhafte Eingriffe oder Behandlungen durchgeführt werden sollen 1.6.5. Belastung (Intensität und Dauer von Schmerzen oder Leiden), denen die Tiere vorrausichtlich ausgesetzt, und Schäden, die ihnen vorrausichtlich zugefügt werden 1.6.6. Vorgesehene Maßnahmen zur Schmerzlinderung nach Abklingen der Betäubung 1.6.7. Die Angaben nach den Nummern 1.6.1 bis 1.6.6 sind zusätzlich in einer dem Genehmigungsantrag beizufügenden Tabelle zu vermerken (siehe Tabelle Anlage I) 1.7. Ethische Vertretbarkeit des Versuchsvorhaben (§ 7 (3) ) 1.7.1. Wissenschaftlich begründete Darlegung, dass die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind 1.7.2. Bei länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden, wissenschaftlich begründete Darlegung, dass das angestrebte Versuchsergebnis vermutlich für wesentliche Bedürfnisse von Mensch und Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung ist (§ 7 (3) Satz 2) 2. Nachweis der Erfüllung der Voraussetzungen des § 8 (3) Nr. 3 und 4 23 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 2.1. Nachweis, dass die zur Durchführung des Versuchsvorhaben erforderlichen Anlagen, Geräte und sonstige sachlichen Mittel vorhanden sind 2.2. Nachweis, dass die organisatorischen Voraussetzungen, insbesondere für die Aufgabenerfüllung des Tierschutzbeauftragten, gegeben sind 2.3. Nachweis, dass eine den Anforderungen des § 2 entsprechende Unterbringung und Pflege einschließlich der Betreuung der Tiere sowie ihre medizinische Versorgung sichergestellt ist 3. Verfahren am Versuchsende 4. Darlegung, dass die Einhaltung der Anforderungen an die Durchführung der Tierversuche nach § 9 Abs. 1 und 2 und die Erfüllung der Aufzeichnungspflicht nach § 9 a Abs. 1 erwartet werden kann 5. Angabe, ob der Tierschutzbeauftragte eine Stellungnahme nach §8 Abs. 3 Nr. 3 abgegeben hat. 6. Leiter des Versuchsvorhabens und sein Stellvertreter 6.1 Leiter des Versuchsvorhabens: 6.1.1 Name und Anschrift: 6.1.2 Berufsbezeichnung: 6.1.3 Nachweis der fachlichen Einigung: 6.2 Stellvertretender Leiter des Versuchsvorhabens: 6.2.1 Name und Anschrift: 6.2.2 Berufsbezeichnung: 6.2.3 Nachweis der fachlichen Einigung: 7. Personen, die im Rahmen der Versuchsdurchführung Eingriffe oder Behandlungen an Tieren durchführen 7.1 Namen der Personen und deren Tätigkeit (ausgenommen Betäubung) 7.1.1 Nachweis der erforderlichen Qualifikation (§9 Abs. 1 Satz 2 und 3; im Falle des §9 Abs. 1 Satz 4 Hinweis auf eine erteilte Ausnahmegenehmigung) 7.2 Im Fall einer Betäubung Namen der Personen, die die Betäubung durchführen oder die Durchführung der Betäubung beaufsichtigen 7.2.1 Nachweis der erforderlichen Qualifikation (§9 Abs. 2 Nr.4 Satz 2) 7.3 Berechtigung der Personen zur Benutzung der Einrichtung, in der die Tierversuche durchgeführt werden 7.3.1 Angabe, ob die genannten Personen bei der Einrichtung beschäftigt sind 7.3.2 Gegebenenfalls Angabe, ob sie mit Zustimmung des verantwortlichen Leiters der Einrichtung zur Benutzung der Einrichtung befugt sind. 8. Personen, die für die Pflege, Betreuung und medizinische Versorgung der Versuchstiere verantwortlich sind (§8 Abs. 3 Nr.4) 8.1. Name und Qualifikation der für die Pflege und Betreuung der Tiere beauftragten Person 8.2. Name und Qualifikationen der für die medizinische Versorgung verantwortlichen Person 8.3. Name und Anschrift des Tierarztes, dem nach Abschluss des Versuchs die überlebenden Tiere der in § 9 Abs. 2 Nr. 8 genannten Arten vorgestellt werden Ort und Datum, Bestätigung der Kenntnis des Tierschutzgesetzes, Unterschriften von Leiter und Stellvertreter Über Tierversuchsanträge, die bei der zuständigen Behörde eingereicht werden, entscheidet diese nicht alleine. Gemäß § 15 TierSchG sind die zuständigen Behörden verpflichtet, eine Kommission zur Unterstützung der zuständigen Behörden bei der Entscheidung über die Genehmigung von Tierversuchen zu berufen. Die Mehrheit der Kommissionsmitglieder muss die für die Beurteilung von Tierversuchen erforderlichen Fachkenntnisse der Veterinärmedizin, der Medizin oder einer naturwissenschaftlichen Fachrichtung haben. In die Kommissionen sind auch Mitglieder zu berufen, die aus Vorschlagslisten der Tierschutzorganisationen ausgewählt worden sind und auf Grund ihrer Erfahrungen zur Beurteilung von Tierschutzfragen geeignet sind; die Zahl dieser Mitglieder muss ein Drittel der Kommissionsmitglieder betragen. Die zuständige Behörde unterrichtet unverzüglich die Kommission über Anträge auf Genehmigung von Versuchsvorhaben und gibt ihr Gelegenheit, in angemessener Frist Stellung zu nehmen. Prinzipiell kann die Behörde einen Tierversuchsantrag vorbehaltlos genehmigen, unter Auflagen oder Einschränkungen genehmigen oder ablehnen. 24 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Unerhebliche Änderung eines genehmigten Versuchsvorhabens können nach § 8 Abs. 7 Satz 2 angezeigt werden. Hierfür sind die gleichen Angaben zu machen wie bei Anzeigen zu anderen Zwecken. 1.2.6 Kardinalforderungen des Deutschen Tierschutzgesetzes Die in der heutigen deutschen Tierschutzgesetzgebung (letzte Novelle: 1998) verankerten Beschränkungen für Eingriffe an Versuchstieren sind weitgehend die gleichen, die auch schon in der Goßlerschen Verordnung für den Tierversuch, 1883, formuliert wurden und die auch in allen dazwischen liegenden deutschen Tierschutzgesetzen (1933, 1972 und 1986) berücksichtigt waren. Dabei handelt es sich um folgende Kardinalforderungen: • Narkose der Versuchstiere, wo erforderlich • Sachkunde der durchführenden Personen • Beschränkung auf das unerlässliche Maß • Wissenschaftlicher Zweck • Durchführung der Versuche an phylogenetisch möglichst niedrig stehenden Tieren Den Kardinalforderungen des Deutschen Tierschutzgesetzes unterliegen alle anzeige- oder genehmigungspflichtigen Eingriffe an Tieren. Mit Ausnahme der Narkoseforderung gelten sie ebenfalls für Tötungen, die nach § 4 Abs. 3 zu wissenschaftlichen Zwecken durchgeführt werden. Fast alle nach der Goßlerschen Verordnung initiierten Novellen der deutschen Tierschutzgesetzgebung zielten vorzugsweise auf eine intensivere Überwachung dieser fünf Kardinalforderungen ab. 1.2.7 Kardinalforderung „Narkose“ In § 9 Abs. 2 Nr. 4 TierSchG wird formuliert: „Versuche an Wirbeltieren dürfen nur unter Betäubung vorgenommen werden. Ist bei einem betäubten Wirbeltier damit zu rechnen, dass mit Abklingen der Betäubung erhebliche Schmerzen auftreten, so muss das Tier rechtzeitig mit schmerzlindernden Mitteln behandelt werden. An einem nicht betäubten Wirbeltier darf a) kein Eingriff vorgenommen werden, der zu schweren Verletzungen führt, b) ein Eingriff nur vorgenommen werden, wenn der mit dem Eingriff verbundene Schmerz geringfügiger ist als die mit einer Betäubung verbundene Beeinträchtigung des 25 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Befindens des Versuchstieres oder der Zweck des Tierversuchs eine Betäubung ausschließt.“ 1.2.8 Kardinalforderung „Sachkunde der durchführenden Personen“ Das TierSchG unterscheidet folgende Eingriffe zu wissenschaftlichen Zwecken an Tieren: • Tötung • Nicht-operative Eingriffe (z. B. Injektionen, Blutentnahmen) • Betäubung • Operative Eingriffe (Eingriffe, die mit einer mehr als punktförmigen Zusammenhangstrennung der Haut verbunden sind) Für die benannten wissenschaftlichen Eingriffe wird folgende Sachkunde der durchführenden Personen gefordert: Eine Tötung von Tieren kann von solchen Personen vorgenommen werden, bei denen eines der folgenden beruflichen oder anderen Qualifikationskriterien erfüllt ist: -Erfolgreiche Ausbildung zum Biologielaborant(in), Tierwirt(in), Landwirt(in), Tierpfleger(in), Tierpflegemeister(in), Biologisch-technische(r) Assistent(in) -Erfolgreicher Abschluss des Studiums der Veterinär- oder Humanmedizin, der Biologie mit dem Schwerpunkt der Zoologie oder Fischereibiologie -Vorliegen einer Berufsausbildung, eines anderen Studienabschlusses oder eines Weiterbildungsabschlusses, die nachweislich ebenfalls für bestimmte Tierarten entsprechende Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzen -Erfolgreiche Teilnahme an einem tierexperimentellen Kurs oder -Im Einzelfall kann die zuständige Behörde die entsprechende Sachkunde bei solchen Personen annehmen, die ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung über einen angemessenen Zeitraum regelmäßig Tiere ordnungsgemäß getötet haben; in diesem Fall ist eine entsprechende Bescheinigung durch die zuständige Behörde, eine beauftragte Stelle oder den Tierschutzbeauftragten auszustellen. Für Personen, die nicht-operative Eingriffe vornehmen, und für Personen, die eine Betäubung vornehmen, gelten dieselben Qualifikationsmerkmale. Diese lauten: -Abgeschlossenes Hochschulstudium der Veterinärmedizin oder der Medizin oder -Abgeschlossenes naturwissenschaftliches Hochschulstudium oder -Fachkenntnisse auf Grund einer abgeschlossenen Berufsausbildung nachweislich vorhanden Für Personen, die operative Eingriffe durchführen gelten folgende Qualifikationsmerkmale: -Abgeschlossenes Hochschulstudium der Veterinärmedizin oder der Medizin oder 26 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg -Abgeschlossenes Studium der Biologie - Fachrichtung Zoologie -, wenn diese Personen an Hochschulen oder anderen wissenschaftlichen Einrichtungen tätig sind Die höchsten Anforderungen stellt das TierSchG schließlich an die Qualifikation der verantwortlichen Leiter genehmigter oder angezeigter Verfahren sowie deren Stellvertreter. Diese müssen jeweils über ein abgeschlossenes Hochschulstudium der Veterinärmedizin, der Medizin oder einer anderen naturwissenschaftlichen Fachrichtung verfügen. Darüber hinaus müssen sich diese Personen jeweils nachweislich zusätzliche Kenntnisse und Fähigkeiten erworben haben. Hierzu ist es erforderlich, dass sie entweder eine mindestens dreijährige Tätigkeit in einem vergleichbaren Bereich der tierexperimentellen Forschung nachweisen können oder dass sie alternativ erfolgreich an einem versuchstierkundlichen Kurs teilgenommen haben. Die Ausführungen über die gesetzlich geforderte Sachkunde von Personen, die Eingriffe an Versuchstieren durchführen, machen apparent, dass in vielen Fällen die erfolgreiche Teilnahme an einem versuchstierkundlichen Kurs als Qualifikationsmerkmal gefordert wird. Von Seiten der FELASA (Federation of European Laboratory Animal Science Associations), der Dachorganisation der europäischen versuchstierkundlichen Gesellschaften, werden prinzipiell vier Kompetenzstufen (Kategorien) bei der Haltung von Versuchstieren und der Durchführung von Eingriffen an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken unterschieden: Kategorie A - Tierpfleger Kategorie B – Personen, die an der Durchführung von Tierversuchen beteiligt sind Kategorie C - Personen, die für die Leitung von Tierversuchen verantwortlich sind. Kategorie D – Spezialisten (z.B. Tierhausmanagement) Tierexperimentelle Kurse, die als Aus- oder Weiterbildungsmaßnahme für Personen der Kategorie B vorgesehen sind, müssen auf vorgegebene Lerninhalte eingehen, solche Kurse müssen einen Gesamtumfang von mindestens 40 Stunden haben. Tierexperimentelle Kurse die als weitere Qualifikationsmaßnahme für Personen der Kategorie C vorgesehen sind, müssen auf wesentlich umfangreichere Lerninhalte eingehen als dies bei BKursen der Fall ist, solche Kurse müssen einen Gesamtumfang von mindestens 80 Stunden haben. Gemäß § 9 (1) kann die zuständige Behörde Ausnahmen von der prinzipiellen Forderung des TierSchG zulassen, dass Eingriffe an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken nur von solchen Personen durchgeführt werden dürfen, die über die im TierSchG spezifizierten erforderlichen Fachkenntnisse verfügen. In solchen Fällen muss dargelegt werden, dass der Nachweis der 27 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg erforderlichen Fachkenntnisse auf andere Weise erbracht ist. Hierzu ist bei der Behörde ein Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung nach § 9 Abs. 1 Satz 4 des Tierschutzgesetzes zu stellen. Der Antrag muss gemäß der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes“ folgende Angaben enthalten: 1. Name, dienstliche Anschrift und Berufsbezeichnungen der Personen, für die eine Ausnahmegenehmigung beantragt wird 2. Nachweis der Ausbildung und fachlichen Kenntnisse dieser Personen: (sofern der Nachweis in einem früheren Antrag gegenüber derselben Behörde erbracht wurde, genügt ein Hinweis auf diesen Antrag) 3. Art der Eingriffe oder Behandlungen, die von diesen Personen durchgeführt werden sollen 4. Art der Tiere, an denen Eingriffe oder Behandlungen nach Nummer 3 durchgeführt werden sollen Ort, Datum und Unterschrift des Antragstellers 1.2.9 Kardinalforderung „Beschränkung auf das unerlässliche Maß“ Die tierschutzrechtlich geforderte „Beschränkung auf das unerlässliche Maß“ bezieht sich sowohl auf die Quantität der Tiere als auch auf die Qualität der Eingriffe. So wird unter §9 (2) Nr. 2, 3 bzw. 6 formuliert: „Für den Tierversuch dürfen nicht mehr Tiere verwendet werden, als für den verfolgten Zweck erforderlich ist.“ „Schmerzen, Leiden oder Schäden dürfen den Tieren nur in dem Maße zugefügt werden, als es für den verfolgten Zweck unerlässlich ist; insbesondere dürfen sie nicht aus den der Arbeits-, Zeit- oder Kostenersparnis zugefügt werden.“ „Bei Tierversuchen zur Ermittlung der tödlichen Dosis oder tödlichen Konzentration eines Stoffes ist das Tier schmerzlos zu töten, sobald erkennbar ist, dass es infolge der Wirkung des Stoffes stirbt.“ Der Beschränkung von Tierversuchen auf das unerlässliche Maß gemäß Deutschen Tierschutzgesetzes entspricht das von den Wissenschaftlern Russell and Burch (1959) in die wissenschaftliche Debatte über Tierversuche eingeführte 3R-Konzept. Gemäß dieses Konzeptes sind bei der Durchführung von Tierversuche folgende Grundsätze zu verfolgen: • Replacement (Ersatz wenn möglich) • Reduction (Reduktion auf die unabdingbar erforderliche Tierzahl) • Refinement (Reduktion der Belastung auf unabdingbare Maß) 1.2.10 Kardinalforderung „Wissenschaftlicher Zweck“ In §7 (2) TierSchG wird formuliert: „Tierversuche dürfen nur durchgeführt werden, soweit sie zu einem der folgenden Zwecke unerlässlich sind: 28 Rechtliche Grundlagen 1. Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Vorbeugen, Erkennen oder Behandeln von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder körperlichen Beschwerden oder Erkennen oder Beeinflussen physiologischer Zustände oder Funktionen bei Mensch oder Tier, 2. Erkennen von Umweltgefährdungen, 3. Prüfung von Stoffen oder Produkten auf ihre Unbedenklichkeit für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder auf ihre Wirksamkeit gegen tierische Schädlinge, 4. Grundlagenforschung.“ Über die Forderung nach dem wissenschaftlichen Zweck hinaus verbietet das TierSchG die Durchführung von Tierversuchen zum Zweck der Erprobung von Waffen oder zur Entwicklung von Tabakerzeugnissen, Waschmitteln und Kosmetika. So wird unter §7 (4) und (5) formuliert: „Tierversuche zur Entwicklung oder Erprobung von Waffen, Munition und dazugehörigem Gerät sind verboten.“ „Tierversuche zur Entwicklung von Tabakerzeugnissen, Waschmitteln und Kosmetika sind grundsätzlich verboten.“ Allerdings wird das zuständige Bundesministerium ermächtigt, im Falle von Kosmetika Ausnahmen zuzulassen, soweit es erforderlich ist, um „1. konkrete Gesundheitsgefährdungen abzuwehren, und die notwendigen neuen Erkenntnisse nicht auf andere Weise erlangt werden können, oder 2. Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft durchzuführen.“ 1.2.11 Kardinalforderung „Durchführung der Versuche an phylogenetisch möglichst niedrig stehenden Tieren“ In § 9 (2) 1 TierSchG wird formuliert: „Versuche an sinnesphysiologisch höher entwickelten Tieren, insbesondere warmblütigen Tieren, dürfen nur durchgeführt werden, soweit Versuche an sinnesphysiologisch niedriger entwickelten Tieren für den verfolgten Zweck nicht ausreichen.“ In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Reihenfolge der „sinnesphysiologischen Entwicklungshöhe“ der diversen Wirbeltiergruppen. Es besteht sicherlich ein Konsens, dass die Entwicklungshöhe in der Reihenfolge Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere kontinuierlich zunimmt. Innerhalb der Säugetiere kommt den lissencephalen Tiergruppen (z.B. Nagetiere, Kaninchenartige) sicherlich eine primitiverer Status zu als den gyrencephalen Säugern (z.B. Wiederkäuer, Schweineartige, Fleischfresser, Huftiere). Es wird sicherlich auch allgemein 29 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg anerkannt, dass Primaten und Delphine Säuger mit herausragenden kognitiven Fähigkeiten darstellen. 1.2.12 Weitere Forderungen des TierSchG Über die 5 Kardinalforderungen hinaus gibt das TierSchG weitere Forderungen vor. Hierbei soll Erwähnung finden, dass Tierversuche nur an speziell dafür gezüchteten Tieren vorgenommen werden dürfen, dass Tierversuche ethisch vertretbar sein müssen und dass Einrichtungen, an denen Tierversuche an Wirbeltieren durchgeführt werden, einen Tierschutzbeauftragten (TierSchB) bestellen müssen So formuliert das TierSchG unter § 9 (2) 7 sowie § 7 (3) sowie § 8b „Wirbeltiere, mit Ausnahme der Pferde, Rinder, Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner, Tauben, Puten, Enten, Gänse und Fische, dürfen für Tierversuche nur verwendet werden, wenn sie für einen solchen Zweck gezüchtet worden sind.“ „Versuche an Wirbeltieren dürfen nur durchgeführt werden, wenn die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Versuchstiere im Hinblick auf den Versuchszweck ethisch vertretbar sind. Versuche an Wirbeltieren, die zu länger anhaltenden oder sich wiederholenden erheblichen Schmerzen oder Leiden führen, dürfen nur durchgeführt werden, wenn die angestrebten Ergebnisse vermuten lassen, dass sie für wesentliche Bedürfnisse von Mensch oder Tier einschließlich der Lösung wissenschaftlicher Probleme von hervorragender Bedeutung sein werden.“ „Träger von Einrichtungen, in denen Tierversuche an Wirbeltieren durchgeführt werden, haben einen oder mehrere Tierschutzbeauftragte zu bestellen und die Bestellung der zuständigen Behörde anzuzeigen. In der Anzeige gem. § 8b sind auch die Stellung und die Befugnisse des Tierschutzbeauftragten nach Ans. 6 Satz 3 anzugeben.“ Zum Tierschutzbeauftragten können nur Personen mit abgeschlossenem Hochschulstudium der Veterinärmedizin, Medizin oder Biologie - Fachrichtung Zoologie - bestellt werden. Sie müssen die für die Durchführung ihrer Aufgaben erforderlichen Fachkenntnisse und die hierfür erforderliche Zuverlässigkeit haben. Der Tierschutzbeauftragte ist verpflichtet, „1. auf die Einhaltung von Vorschriften, Bedingungen und Auflagen im Interesse des Tierschutzes zu achten, 2. die Einrichtung und die mit den Tierversuchen und mit der Haltung der Versuchstiere befassten Personen zu beraten, 3. zu jedem Antrag auf Genehmigung eines Tierversuchs Stellung zu nehmen, 30 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 4. innerbetrieblich auf die Entwicklung und Einführung von Verfahren und Mitteln zur Vermeidung oder Beschränkung von Tierversuchen hinzuwirken. „ Die Einrichtung hat den Tierschutzbeauftragten bei der Erfüllung seiner Aufgaben so zu unterstützen und von allen Versuchsvorhaben zu unterrichten, dass er seine Aufgaben uneingeschränkt wahrnehmen kann. Der Tierschutzbeauftragte ist bei der Erfüllung seiner Aufgaben weisungsfrei. Er darf wegen der Erfüllung seiner Aufgaben nicht benachteiligt werden. Der Tierschutzbeauftragte muss über alle anzeige- oder genehmigungspflichtigen Eingriffe an Tieren und auch über Tötungen, die nach § 4 Abs. 3 zu wissenschaftlichen Zwecken durchgeführt werden, informiert sein. 1.2.13 Aufzeichnungspflicht In § 9a TierSchG wird vorgeschrieben, dass über Tierversuche Aufzeichnungen zu machen sind. „Die Aufzeichnungen müssen für jedes Versuchsvorhaben den mit ihm verfolgten Zweck, insbesondere die Gründe für nach § 9 (2) Nr.1 erlaubte Versuche an sinnesphysiologisch höher entwickelten Tieren, sowie die Zahl und Bezeichnung der verwendeten Tiere und die Art und Ausführung der Versuche angeben. Werden Wirbeltiere verwendet, so ist auch ihre Herkunft einschließlich des Namens und der Anschrift des Vorbesitzers anzugeben; bei Hunden und Katzen sind zusätzlich Geschlecht und Rasse sowie Art und Zeichnung des Fells und eine an dem Tier vorgenommene Kennzeichnung anzugeben. Die Aufzeichnungen sind von den Personen, die die Versuche durchgeführt haben, und von dem Leiter des Versuchsvorhabens zu unterzeichnen; der Unterschrift bedarf es nicht, wenn die Aufzeichnungen mit Hilfe automatischer Einrichtungen erstellt werden. Die Aufzeichnungen sind drei Jahre lang nach Abschluss des Versuchsvorhabens aufzubewahren und der zuständigen Behörde auf Verlangen zur Einsichtnahme vorzulegen.“ Der Aufzeichnungspflicht unterliegen alle anzeige- oder genehmigungspflichtigen Eingriffe an Tieren. Lediglich Tötungen, die nach § 4 Abs. 3 zu wissenschaftlichen Zwecken durchgeführt werden, unterliegen keiner Aufzeichnungspflicht. 1.2.14 Versuchstiermeldung Die Versuchstiermeldeverordnung (VtMV) legt fest, dass derjenige, der anzeige- oder genehmigungspflichtige Eingriffe oder Tötungen nach § 4 Abs. 3 zu wissenschaftlichen Zwecken an Tieren vornimmt, verpflichtet ist, der zuständigen Behörde Angaben über Art, 31 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Herkunft und Zahl der verwendeten Wirbeltiere sowie über den Zweck und die Art der Versuche oder der sonstigen wissenschaftlichen Verwendungen zu machen. Die Meldungen sind für jedes Kalenderjahr bis zum 31. März des folgenden Jahres nach vorgegebenem Muster zu erstatten. In Abstimmung mit der zuständigen Behörde können die Meldungen auch in elektronischer Form erfolgen. In der Meldung sind mittels eines Zahlencodes in der Hauptsache folgende Angaben vorzunehmen: -Tierspezies -tierschutzrechtliche Zuordnung des Verfahrens (§§ 4, 6, 7, 8, 10, 10a) -Zahlenangaben zu erstmals verwendeten Tieren -Anteil transgener (Anmerkung des Verfassers: = gentechnisch veränderter) Tiere -Zahlenangaben zu erneut verwendeten Tieren -Bezugsquelle der Tiere -Angaben zum Verwendungszweck -Zusammenhang mit bestimmten Erkrankungen 32 Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 1.2.15 Übersichtstabelle Die nachfolgende Tabelle informiert im Überblick über die Art von Eingriffen an Tieren zu wissenschaftlichen Zwecken, deren Legalisierung, Verantwortlichkeiten und Pflichten. Tierschutz-rechtliche Zuordnung der Vorhaben Tierschutzrechtliche "Legalisierung" Benennung eines verantwortlichen Leiters und dessen Stellvertreters -nach § 4 Abs. 3 (Tötung zu wissenschaftlichen Zwecken), nicht erforderlich nein ja ja nein ja -nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 ( Entnahme von Geweben oder Organen), Anzeige ja ja ja ja ja -nach § 8 Abs. 1 (genehmigungspflichtige Tierversuche), Antrag / Genehmigung ja ja ja ja ja Anzeige ja ja ja ja ja Anzeige ja ja ja ja ja - nach § 10 (Aus-, Fort- oder Weiterbildung), Anzeige ja ja ja ja ja - nach § 10a (Herstellung, Gewinnung, Aufbewahrung oder Vermehrung von Stoffen, Produkten oder Organismen) Anzeige ja ja ja ja ja -nach § 8 a Abs. 1 und 2 nicht genehmigungspflichtige Tierversuche (Eingriffe, die als Impfungen, Blutentnahmen oder sonstige diagnostische Maßnahmen nach bereits erprobten Verfahren vorgenommen werden, genehmigungspflichtige Eingriffe an Cephalopoden oder Dekapoden -nach § 8 Abs. 7 Satz 2 (Änderung eines genehmigten Versuchsvorhabens) 33 Gültigkeit Zuständigder keit eines AufzeichAngaben KardinalTierschutz- nungspflicht nach VtMV forderungen beauftragten des TSchG Rechtliche Grundlagen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 1.2.16 Literatur 1. Tierschutzgesetz in der Fassung v. 25. Mai 1998, in Kraft getreten am 01.06.1998, BGBl. Jg. 1998, Teil I, Nr. 30, S. 1105 ff 2. Verordnung über die Meldung zu Versuchszwecken oder zu bestimmten Zwecken verwendeter Wirbeltiere (Versuchstiermeldeverordnung) vom 4. November 1999 3. Verordnung über Aufzeichnungen über Versuchstiere und deren Kennzeichnung vom 20.05.1988 4. Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes vom 09. Februar 2000 5. Richtlinie des Rates vom 24. November 1986 zur Annäherung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (86/609/EWG) genannten Anforderungen („Euro-Richtlinie“) 6. Hirt A, Maisack C, Moritz J, Tierschutzgesetz, Verlag Franz Vahlen, München, 2003 7. Lorz A, Metzger E , Tierschutzgesetz, Kommentar. C. H. Beck Verlag, München, 1999 8. Russell WMS, Burch RL (1959) The Principles of Humane Experimental Technique. London Methuen. (Reprinted by UFAW, 1992). 34 Anatomie und Physiologie 2. Um Prof. Dr. Uwe Wolfrum Vergleichende Anatomie und Physiologie von Versuchstieren die Anforderung an eine tiergerechte Haltung von Versuchstieren und ein tierexperimentelles Vorgehen fundiert beurteilen zu können, müssen die Eigenheiten im Bauplan (Morphologie, Anatomie), Physiologie und Verhalten des Versuchstiers bekannt sein. Zudem ist es bei der Prüfung der Eignung einer Versuchstierspezies für ein spezielles Versuchsvorhaben wichtig, die artspezifischen anatomischen und physiologischen Gegebenheiten als Auswahlkriterium zu nutzen. So eignet sich beispielsweise zur Analyse der Mechanismen des Farbensehens von Vertebraten der Goldfisch, ein Vertreter der Knochenfische, auf Grund seines Sinneszellrepertoire im Auge besser als die Labornager, Ratte und Maus, die uns Altweltprimaten aus phylogenetischer Sicht wesentlich näher stehen. Allerdings ist es häufig dem breiter ausgebildeten Zoologen vorbehalten, aus der großen Biodiversität tierischer Organismen die für spezielle Vorhaben geeignete Spezies auszuwählen. Ein übergreifender Vergleich zwischen den Tiergruppen soll den Veranstaltungen der „Speziellen Zoologie“ vorbehalten bleiben. Da das Tierschutzgesetz bekanntlich nur - mit Ausnahme der Tintenfische (Cephalopoden) und Krebse (Dekapoden) – für Wirbeltiere (Vertebrata) Anwendung findet, möchte ich mich hier auch auf Wirbeltiere beschränken und dabei die Eigenheiten der Baupläne gängiger Versuchstiere aufgreifen. 2.1 Zentralnervensystem (ZNS) Das Zentralnervensystem (ZNS) umfaßt bei Vertebraten Rückenmark und Gehirn. Das Gehirn ist bei den höheren Wirbeltieren – Vögeln und Säugern – zu einem leistungsstarken Datenprozessor evoluiert. Von ihm werden alle intrinsischen Körperfunktionen am Laufen gehalten und zudem werden vom ihm komplexe Verhaltensweisen gesteuert. Das Gehirn der Wirbeltiere setzt sich aus 5 Teilen zusammen: Telencephalon (Großhirn) und Diencephalon (Zwischenhirn), die zusammen das Vorderhirn bilden, dem Mes- (Mittelhirn) sowie dem Met- (Hinterhirn) und dem Myelencephalon (Nachhirn), das sich in das Rückenmark fortsetzt. Met- und Myelencephalon können als das Rhombencephalon (Rautenhirn) zusammengefasst werden. Während der Wirbeltierevolution sind folgende Trends der Gehirndifferenzierung deutlich erkennbar. Bei ektothermen (= poikilotherme, „wechselwarme“) Tieren – Fischen, Amphibien und Reptilien (rezent) – ist das Gehirnvolumen mit dem Körpergewicht der Tiere korreliert, wohingegen bei den phylogenetisch progressiveren endothermen (= homoitherme, „gleichwarme“) Wirbeltiere, den Vögeln und Säugern, das Gehirn im Bezug auf das Körpergewicht maßgeblich vergrößert ist. Dabei nimmt auch die Segmentierung des Gehirns zu und damit entstehen auch weitere funktionelle Gehirnkompartimente. Während der Phylogenie der Vertebraten differenziert sich das Dach des 35 Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum Metencephalon zum Cerebellum (Kleinhirn), dem primären Zentrum zur Koordination von Bewegungen. Im Bereich des Diencephalons werden bei dieser Umgestaltung die beiden integrierenden Zentren Thalamus und Hypothalamus herausgebildet und im Telencephalon differenziert sich die Großhirnrinde (Cortex) heraus, die für höhere Gehirnfunktionen, beispielsweise für das Lernen und das Gedächtnis, zuständig wird. Während der Cortex primitiver Säugetieren (z. B. Insektivoren, Nagetiere, Hasenartige) noch eine glatte Oberfläche aufweist (lissencephales Säugetier-Gehirn) nimmt mit dem Auftreten von komplexeren Verhaltensweisen die Oberfläche des Cortex durch Einfaltungen enorm zu (gyrencephales Säugetier-Gehirn der höheren Säuger wie z. B. Raubtiere (Carnivora), Paarhufer (Artiodactyla), Unpaarhufer (Perissodactyla), Waale (Cetacea) und Primaten. Durch die Faltung können wesentlich mehr Neurone mit ihrem Zellkörper (Perikaryon) im Cortex Platz finden, was eine leistungsstärkere Prozessierung der Umweltinformationen und eine entsprechende Zunahme kognitiver Fähigkeiten erlaubt. Bei niederen Vertebraten, den Fischen, Amphibien und Reptilien ist das Telencephalon wenig differenziert, dass ein angeborenes Instinktverhalten im Vordergrund steht, welches die Tiere in der Lage versetzt, auf primitive überlebenswichtige Umweltreize zu reagieren. Bei allen Säugetieren (ob lissencephal oder gyrencephal) ist das Telencephalon komplexer aufgebaut und es können z.B. Emotionen empfunden werden oder Affekt-geprägte Verhaltensweisen durchgeführt werden. Die Beeinflussung des Verhaltens durch Emotionen ermöglicht es den Säugetieren, wesentlich differenzierter auf Umweltreize zu reagieren als dies bei primitiveren Wirbeltieren der Fall ist. Dabei können im Gehirn der Säugetiere Zentren für die positive Emotion „Vorfreude“ sowie für die negativen Emotionen „Angst“, „Wut“ und „Einsamkeit“ unterschieden werden. Erst bei den progressiven Säugetieren treten kognitive Leistungen wie Selbstbewusstsein, Aufmerksamkeit, räumliche und zeitliche Orientierung, und abstraktes Denken auf. Die am höchsten ausgeprägten kognitiven Leistungen zeigen dabei die Primaten. Setzt man Körpergröße und Cortexoberfäche in Beziehung, so rangieren interessanterweise Delphine hinter den Primaten auf Rang 2. Die Relativgröße des Gehirns der Delphine lässt auf ein hohes Maß an Intelligenz der Tiere schließen, könnte jedoch auch dadurch bedingt sein, dass im Gehirn der Waale immer nur eine Gehirnhälfte aktiv ist. Das Gehirn des Menschen (Homo sapiens sapiens) zeigt den mit Abstand höchsten Differenzierungsgrad des Cortex auf und ermöglicht einzigartige kognitive Leistungen, die ihm eine komplexe Sprache ermöglicht. 36 Anatomie und Physiologie 2.2 Prof. Dr. Uwe Wolfrum Sinnesleistungen und Sinnesorgane Mittels vielgestaltiger Sinnesorgane nehmen Tiere Informationen über Umweltbedingungen auf, die dann nach der Transformation und Verstärkung des Signals in der Sinneszelle in die körpereigene elektrische Kodierung weitergeleitet wird, um im Zentralnervensystem (in der Regel im Gehirn) ausgewertet bzw. vom Tier wahrgenommen zu werden. 2.2.1 Physiologie des Riechens und Schmeckens - „chemische Sinn“ Der „chemische Sinn“ – wie man den Geschmacks- und Geruchsinn zusammenfaßt, weil beide an chemische Stoffe als Überträger gekoppelt sind - ist das älteste Sinnessystem der Tier. Der grundsätzliche Unterschied besteht zunächst darin, dass die zu analysierenden chemischen Stoffe in verschiedenen Medien gelöst vorliegen. Wasserlebende Organismen konnten zunächst im Wasser gelöste Substanzen über Sinneszellen direkt detektieren bzw. „schmecken“. Demgegenüber wurde nach dem Wasser-Land-Übergang die Luft das Medium, um Moleküle, Duftstoffe, zu übertragen und zu ihrer Detektion mußten spezielle Organe ausgebildet werden. 2.2.1.1 Geschmacksinn - Schmecken Unter dem „Geschmack“ eines Stoffes versteht man in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise die Summe aller Empfindungen, die bei der Nahrungsaufnahme im Mundraum entstehen. Neben den klassischen gustatorischen Stimulationen sind vor allem die olfaktorischen Empfindungen (~ 80%) sowie mechano-, thermo- und nociceptive Stimuli beteiligt. Die eigentlichen Geschmackssinnesorgane (= Geschmacksknospen) liegen bei höheren Landwirbeltieren ausschließlich in der Mundhöhle, während hingegen bei Fischen Geschmackssinnesorgane zusätzlich noch über die gesamte äußere Körperoberfläche verteilt lokalisiert sein können und manche Amphibien für Salzlösung und für Änderungen des ph-Wertes über ihre Haut sensibel sind. Bei Säugetieren sind die gustatorischen Sinneszellen (sekundäre Sinneszellen) in den Geschmacksknospen der Geschmackspapillen des Mundraumes vor allem auf der Zunge lokalisiert. Säuger können über diese Geschmacksknospen 4 Grundqualitäten, süß, sauer, salzig und bitter unterscheiden, die durch die Geschmacksrichtungen umami (japanisch = wohl schmeckend, Geschmacksverstärker Glutaminsäure) und alkalisch ergänzt werden. Die Geschmacksqualitäten sind über die Zungenoberfläche charakteristisch verteilt. Innerhalb der Wirbeltiere variiert die Anzahl der Geschmacksknospen beträchtlich. So besitzen Hühner und Tauben nur 20-40, Enten und Fledermäuse etwa 100, wohingegen der Mensch ca. 2.000 und Hasen, Rinder und Hunde bis zu 30.000 Geschmacksknospen besitzen. 37 Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum 2.2.1.1 Geruchssinn -Riechen In der weitgehend sprachlosen Welt der Tiere ist der Geruchsinn neben dem visuellen System das wichtigste Kommunikationsmittel. In der Nasenhöhle von Säugern sind die Riechrezeptorzellen neben Stütz- und Basalzellen (adulte Stammzellen für Regeneration der Riechrezeptorzellen) im Riechepithel, dem olfaktorischen Teil der Nasenschleimhaut, lokalisiert. Das gesamte Epithel ist mit einer Schleimschicht überdeckt, in die die sensorischen Cilien an den Riechköpfen der Sinnezellen hineinprojizieren. Duftmoleküle, die mit der Atemluft in die Nasenhöhle gelangen, müssen durch diesen Schleim hindurchdiffundieren, um auf die olfaktorischen Rezeptormoleküle (7-trans-Membran-Rezeptormoleküle) in der Cilienmembran zu gelangen und diese zu stimulieren. Als primäre Sinneszellen besitzen olfaktorische Rezeptorzellen ein Axon, das aus dem Riechepithel hinaus durch das Siebbein des Schädels hindurch zu den olfaktorischen Glomeruli des Bulbus olfactorius projizieren, wo die erste Verarbeitung der eingegangenen Reize erfolgt. Während die meisten Fische paarige Riechgruben besitzen, wird ein neuer Typ von Riechorgan im Übergang zum Landleben kreiert. Dabei werden äußeren Nasenöffnungen über einen Gang mit inneren Nasenöffnungen (= Choanen) im Dach der Mundhöhle verbunden, um eine Ventilation der Atemluft durch die Nasenhöhle zu ermöglichen. Die Differenzierung der Riechorgane erreicht innerhalb der Vertebraten bei den Säugern ihre höchste Komplexität. Die Wale und höheren Primaten bilden dabei jedoch die Ausnahme. Die enorme Empfindlichkeitsdifferenz zwischen Säugern z.B. zwischen Hund und Mensch beruht vor allem auf der Anzahl der Riechzellen im olfaktorischen Epithel und damit der Zahl der auf den olfaktorischen Cilien präsentierten Rezeptormolekülen. Darüber hinaus sind beim Menschen von den ca. 1.300 bei anderen Säugern, wie beispielsweise der Maus oder dem Hund, gefundenen Genen für olfaktorische Rezeptoren nur noch ca. 350 aktiv. Die anderen liegen nur noch als funktionslose Pseudogene vor. Dieser Unterschied in der Differenzierung des Riechorgans spiegelt sich auch in der Ausbildung des primären Riechzentrums im Gehirn wider. Dem bei Huftieren, Nagern und Raubtieren mächtig entwickelte Bulbus olfactorius entspricht bei den Primaten ein winziger Fortsatz des Telencephalon. Bei Delphinen ist das Riechorgan sogar ganz reduziert. Obwohl vieles dafür spricht, dass Brieftauben sich bei ihrer Orientierung zum Heimat-Schlag auch Geruchsinformationen ausnutzen, sind Vögel im Allgemeinen recht schlechte Riecher. Neben dem olfaktorischen Epithel in der Nasenhöhle besitzen die meisten Reptilien und Säuger mit dem Vomeronasalorgan oder Jakobson´sche Organ ein weiteres Geruchsorgan im Gaumendach. Während Eidechsen und Schlangen beim „Züngeln“ mit der Zungenspitze Duftmolekühle aufnehmen und diese beim Zurückziehen der Zunge auf das Sinnesepithel des Vomeronasalorgans übertragen wird bei vielen Säugern die Funktion des Vomeronasalorgan im 38 Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum Zusammenhang mit der Perzeption von Pheromonen gebracht. Zwar wird die Existenz des Vomeronasalorgans beim Menschen z.Z. noch kontrovers diskutiert, doch gibt es recht weitreiche Evidenz dafür, dass auch beim Menschen Pheromone über das Vomeronasalorgan detektiert werden. Für die Versuchstierhaltung ist von Bedeutung, dass die Populationsdichte z.B. von Mäusen über die Geruchsperzeption geregelt wird. Ist eine Population zu groß bzw. werden Tiere zu eng gehalten, so ist der arteigene Geruch im Areal zu intensiv und die Fruchtbarkeit der Weibchen über hormonelle Wege reduziert. 2.2.2 Mechanorezeption - Hören Bei Wirbeltieren liegen die einfachsten Mechanorezeptoren in der Epidermis und Dermis der Haut. Sie kommen dort als freie Nervenendigungen oder umhüllt von akzessorischen Strukturen als „Körperchen“ in Form der Meissnerschen Tastkörperchen, Vater-Pacinischen Lammellenkörperchen oder Merkel-Tastkörperchen vor. Mittels prinzipiell ganz anderer Mechanorezeptoren, nämlich durch sekundäre Haar-Sinneszellen, werden die mechanischen Reize von Wasserstömungen im Seitenlinienorgan der Fische und der im Wasser lebenden Amphibien rezipiert. Als sekundäre Sinneszellen besitzen diese Haarzellen kein Axon, sondern können über Synapsen durch ihre efferente Innervation moduliert werden oder die Erregung an afferenten (ableitende, sensorische) Neurone weiterleiten. Gruppen von Haarsinneszellen projizieren mit ihrem reizaufnehmenden Stereovilli in eine Gallertkappe (Cupula), die durch die Wasserströmung im Seiteliniensystem abgebogen werden. Vom Seitenlinienorgan läßt sich phylogenetisch das Bogengangsystem des Labyrinthes im Innenohr der Wirbeltiere ableiten. In den Bogengängen sind als mechanosensitive Sinnesorgane, neben den Ampullen, die für die Detektion der Winkelbeschleunigung dienen, Utriculus und Sacculus lokalisiert, die für den Statischen Sinn zuständig sind. Zum Schallsinnesorgan der Tetrapoden entwickelt sich ein ventrale Aussackung des Labyrinths, zunächst die Lagena und später bei Säugern die Cochlea, in der mechanosensitive Haarzellen im Corti´schen Organ organisiert sind. Bei Säugern werden Schallwellen in der Luft über das äußere Ohr auf das Trommelfell geleitet und über den schalleitenden Apparat der Gehörknöchelchen im Mittelohr auf die flüssigkeitsgefüllten Räume der Cochlea übertragen. Aufgrund der unterschiede der Mikromechanik der Cochlea ist das Frequenzspektrum der Hörbereiche verschiedener Säugetiere recht unterschiedlich und kann wie allgemein bekannt bei Fledermäusen, aber auch bei Nagetieren und Delphinen in den Ultraschallbereich hineinreichen. Zahlreiche Säugetiere besitzen zudem Tasthaare oder Vibrissen, die vor allem als Druckund Tastrezeptoren arbeiten. So sind an der Schnauze der Labornager große und kräftige 39 Anatomie und Physiologie Tasthaare eingelenkt, Prof. Dr. Uwe Wolfrum deren Wurzeln mit hochempfindlichen, mechanosensitiven Nervenendigungen umspannt sind. Die Gesichtsvibrissen dienen Seehunden zur Ortung von sich im Wasser bewegenden Objekten, z.B. Beutefischen. Kürzlich konnten auch bei Krokodilen und Alligatoren Kuppelförmige Rezeptoren im Schnauzenbereich gefunden werden, die geringsten Wasserbewegungen detektieren und den Tieren eine Ortung von Beute ermöglichen. 2.2.3 Lichtrezeption - Sehen Cephalopoden und Vertebraten verfügen über komplexe Einzellinsenaugen, die in der Onthogenese analog gebildet werden. Dabei differenziert sich das gesamte Auge, incl. der everse Retina, bei den Cephalopoden aus dem Hautektoderm, während die Retina der Vertebraten onthogenetisch aus einer Ausstülpung des Diencephalons (Zwischenhirn) entsteht. Hieraus resultiert die „inverse“, dem Lichteinfall abgewande Anordnung der Photorezeptoren im Auge der Vertebraten. In der Wirbeltierretina sind zwei getrennte Rezeptorsysteme unterschiedlicher Sensitivität und Qualität zu finden: das skotopische Stäbchensystem ermöglicht farbenblindes Dämmerungssehen und das photopische Zapfensystem ist auf Kosten der Sensitivität farbtüchtig. Das Verhältnis der Zahl der Zapfen zu der der Stäbchen und ihre Verteilung über die Retina variiert innerhalb der Vertebraten. In der Retina tagaktiver Tiere dominieren in der Regel die Zapfen während bei Dämmerungstieren die Stäbchen überwiegen. Die meisten Säugetiere sind Dichromate, sie besitzen zwei Typen von Zapfen, die Opsine unterschiedlicher spektraler Empfindlichkeit, Blau-Opsin und Grün-Opsin, exprimieren. Innerhalb der Primaten sind Neuweltaffen Dichromaten, während bei Altweltaffen einschließlich der Hominoiden ein weiterer Zapfentyp mit einem Rot-Opsin auftritt (Trichromat). Demgegenüber sind manche Fische sogar pentachromat und besitzen 5 Zapfentypen. Extraokulare Lichtrezeptoren sind bei Wirbeltieren im Pinealorgan (= Parietalorgan), am Dach des Zwischenhirns lokalisiert. Das Pinealorgan ist bei manchen Wirbeltieren (Fischen, Reptilien) zu einem echten Auge mit akzessorischer Linse, dem sogenannten Medianauge differenziert. Über das Pinealorgan kann die circadiane Rhythmik und damit verbundene biologische Prozesse lichtabhängig gesteuert werden. Neben den oben genannten „gängigen“ Sinnessystemen sind bei manchen Wirbeltieren spezielle Sinnesorgane ausgebildet. So sind z. B. Infrarotrezeptoren in den Grubenorganen am Kopf von Schlangen lokalisiert, die es den Tieren ermöglichen, Beutetiere über deren Körpertemperatur zu orten. Elektrische Fische detektieren nicht nur die elektrischen Felder anderer Tiere im Wasser, sondern können sogar mittels spezifischer elektrischer Signale kommunizieren. 40 Anatomie und Physiologie 2.3 Prof. Dr. Uwe Wolfrum Integument (Haut): Es wird häufig übersehen, dass die Haut (das Integument) das flächenmäßig größte Organ von Wirbeltieren ist. Die Aufgaben und Leistungen des Integuments und seiner Derivate sind sehr umfangreich und vielgestaltig. Sie reichen beispielsweise von der Regulation des Wasserhaushalts und der Thermoregulation über Tarnung der Tiere bis hin zur Brutpflege. So spiegelt sich der große evolutive Schritt des Wasser-Landübergangs der Wirbeltiere sehr eindrucksvoll am Aufbau des Integuments wieder. Es ist leicht einsichtig, dass Landtiere sich von der Austrocknung schützen müssen. Auch wurde die Entwicklung zur Endothermie konnte erst an Land vollzogen und die Differenzierungen der Haut sind essentiell für die notwendige Thermoregulation. Die Haut der Vertebraten unterteilt sich in Cutis und Subcutis. Dabei stellt die Cutis, die Haut im engeren Sinne dar und besteht aus Epidermis und Dermis. Die Epidermis der Vertebraten ist in der Regel ein mehrschichtiges Plattenepithel, wobei die sich in der Schicht des Striatum germinativum gebildeten Zellen durch vermehrte Keratin-Einlagerung verhornen und schließlich als tote Zellen das Striatum corneum aufbauen. Während Fische und Amphibien häufig eine sehr dünne, noch wenig verhornte Epidermis aufweisen, bildet sie Reptilien deren Hornschuppen aus, die cyclisch gehäutet werden (merke: die Hornschuppe der Reptilien und mancher Säuger (z.B. Schuppen am Schwanz der Ratte) sind epidermalen Ursprungs und damit nicht homolog zur Fischschuppe, die aus der Dermis stammt.). Aus der Reptilienschuppe dürfte die Feder der endothermen Vögel (und Archaesauria) hervorgegangen sein, die ursprünglich nicht zur Lokomotion/Fliegen sondern eher zur Wärmeisolation der Tiere beigetragen hat. Als weitere Wärmeisolator epidermalen Ursprungs konnten sich Haare bereits auch bei endothermen Reptilien durchsetzen und sind später als Charakteristikum der Säuger gewertet worden. Weitere Derivate der Epidermis sind: Krallen, Nägel und Hufe, aber auch Hautdrüsen, wie Schweiß- und Milchdrüsen der Säuger und die Schleim- und Giftdrüsen in der Haut von Fischen und Amphibien. 2.4 Atmung Der oxidative Stoffwechsel der Tiere erfordert einen ständigen Gasaustausch zwischen Organismus und Umgebung. Der äußere Gasaustausch ist sehr eng mit dem internen Transportsystem (Kreislaufsystem s.u.) gekoppelt. Neben Hauptatmungsorganen der Kiemen und Lungen kann der Gasaustausch bei Amphibien zu einem beträchtlichen Teil (~ 80%) über die Haut erfolgen (auch Mündhöhlenatmung). Bei „Fischen“ unterscheidet man Beutelkiemen (Cyclostomata, Neunaugen), Plattenkiemen (Elasmobranchii, Haie und Rochen) und die 41 Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum Lamellenkiemen der Knochenfische (Teleostei). Demgegenüber besitzen die wasserlebenden Amphibien und manche Larvenstadien von „Fischen“ büschelförmige Außenkiemen. In den Kiemen verläuft der Blutstrom im respiratorischen Kapillarsystem entgegen dem Wasserstrom und Gase können im Gegenstromprinzip ausgetauscht werden. Die Vertebratenlunge und die Schwimmblase der „Fische“ differenzieren sich homolog als Aussackungen des Vorderdarms. Die Lungen der Tetrapodengruppen unterscheiden sich vor allem in der Ausdehnung des respiratorisch aktiven Aveolarepithels. Bei Schlange und „schlangengestaltigen“ Amphibien (Gymnophiona) ist einer der Lungenflügel reduziert. Beim Atemvorgang werden die Lungen bei der die Inspiration mit Luft gefüllt, die bei der Exspiration wieder entweicht. Die damit verbundenen Volumenänderungen werden in der Regel bei den Tetrapoden durch Atembewegungen des Brustkorbes (oder in Spezialfällen bei Schildkröten durch die Extremintätenmuskulatur oder bei Krokodilen über die Verschiebung des Eingeweidesackes mittels eines speziellen Muskels) unterstützt. Demgegenüber ist die eigentliche Lunge der Vögel starr konstruiert. Die eigentlichen, respiratorisch aktiven Teile der Lunge sind die sogenannten Parabronchien, die mit einem komplizierten Luftsacksystem in Verbindung stehen, das sich bis in die Knochen hineinerstreckt (pneumatisierte Knochen). Die Strömungseigenschaften in diesem System gewährleistet, dass sowohl beim Ein- als auch beim Ausatmen frische Luft in die Parabronchien gelangt und die Effizienz der Vogellunge gegenüber der Säugetierlunge höher ist. 42 Anatomie und Physiologie Fisch Prof. Dr. Uwe Wolfrum Amphib larval Amphib adult I. II. Reptilia Vögel Mammalia III IV V. VI Abbildung: Gruppenspezifische Modifikationen des Gefäßsystems von Vertebraten (Verändert nach Wehner/Gering). 2.5 Blutkreislaufsystem (BKS) Vertebraten besitzen ein geschlossenes Blutkreislaufsystem mit einem dreiteiligen Herzen als Antriebsorgan: Das Wirbeltierherz besteht aus Sinus venosus, Atrium (Vor-) und Ventrikel (Hauptkammer), die vom Pericard (Herzbeutel) umgeben sind. Durch Einbezug des Lungenkreislaufs in das BKS differenzieren sich während der Phylogenese zwei Atrien (Amphibien - Reptilien) und später auch zwei getrennte Ventrikel (Vögel, Säuger), die die Durchmischung O2-reichen mit O2-armen Blutes verhindern. Zum Herz führende Gefäße werden Venen genannt, während Arterien das Blut vom Herzen wegführen. Bei Fischen wird das Blut vom Herzen über die Aorta ventralis in die Kiemenbogenarterien (in der Regel 6) gepumpt, um nach der Passage durch die Kiemen in der Aorta descendens dem Rumpf zugeführt zu werden. Bei den Landwirbeltieren werden die Arterienbögen ontogenetisch zwar angelegt, erfahren jedoch später gruppenspezifische Modifizierungen. Dabei werden die ursprünglich vorhandenen Bögen 1 und 2, sowie Bogen 5 bei Reptilien, Vögeln und Säugern (Amniota) vollständig 43 Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum reduziert. Während Bogen 3 zur Kopfarterie und Bogen 4 zur Aortenwurzel werden, wird über den Bogen 6 die Lunge in den BKL einbezogen. Über den Lungenkreislauf oxygeniertes Blut gelangt über den linken Ventrikel und die Aortenwurzel in den Körperkreislauf, in dem desoxygeniertes Blut über die Hohlvenen zum Herzen zurückgeführt wird. 2.6 Verdauungstrakt Der Verdauungstrakt der Vertebraten läßt sich neben dem Mundbereich und Pharynx (Rachen) in den Vorderdarm, Mitteldarm und Enddarm gliedern. Dabei setzt sich der Vorderdarm aus Oesophagus (Speiseröhre) und Magen, der in Cardia (Eingangsbereich), Fundus und Pylorus (Sphinkter zum Mitteldarm hin) unterteilt ist. Im Allgemeinen dient der Magen primär als Nahrungsspeicher und kann sekundär Verdauungsaufgaben übernehmen. Die Magenabschnitte unterscheiden sich vor allem in ihrer Ausstattung an Drüsen- und schleimbildenden Zellen. Während im Eingangsbereich Schleimdrüsen in der Darmwand lokalisiert sind, scheiden die Drüsen im Fundus HCl und Proteasen aus. Eine Sonderstellung innerhalb der Wirbeltiere nimmt der Magen der Vögel ein, der sich aus dem Drüsen- oder Vormagen und dem Muskelmagen zusammensetzt. Letztere formt bei Insekten- und Körnerfressern das Gewölle. Bei den Säugetieren stellt der Magen der Wiederkäuer eine Spezifikation dar: Hier gliedert sich der Magen in 3 Vormägen (Pansen, Netz- und Blättermagen) und den bei den übrigen Säugern homologen Magenabschnitt, den sogenannten Labmagen. Pansen und Netzmagen beherbergen eine sehr diffizile Endosymbionten-Fauna aus Ciliaten und Bakterien, die mit Hilfe von Cellulase Cellulose spalten können. Andere Mikroorganismen der Magenfauna können sogar im Pansen Harnstoff als Stickstoffquelle für die Proteinsynthese nutzen. Der Mitteldarm, gleich Dünndarm, ist der eigentliche im Dienste der Verdauung, der Nahrungsresorption, stehende Darmtrakt. Sein erster Abschnitt ist das Duodenum, der Zwölffingerdarm, in den die Ausführgänge der Leber (Gallenflüssigkeit emulgiert Fette und aktiviert die Lipase des Pankreas) und des Pankreas, der wichtigsten Verdauungsdrüse, die zudem in den Langerhansschen Inseln die Hormone Insulin und Glucagon bildet, münden. Der Dünndarm setzt sich dann als Jejunum ( = Leerdarm) und als Ileum ( = Krummdarm) fort. Im Übergang zum Enddarm mündet der Blinddarm, auch Coecum oder Caecum genannt, der bei manchen Säugern (z. B. Insectivoren oder Bären) ganz fehlen kann, aber bei anderen eine sehr bedeutende Rolle spielt. So ist er bei manchen Vögeln (Auerhühnern) ein wichtiger Verdauungsbereich und bei herbivoren Nagetierarten und Lagomorpha (Hasenartige) ersetzt ein verhältnismäßig voluminöser Blinddarm in gewisser Weise den Pansen der Wiederkäuer. Im Coecum werden Vitamine der B-Gruppe gebildet und einzellige Symbionten sind Quelle von Cellulase. Bei Hasenartigen wird der im Coecum produzierte Vitamin-B-reiche Kot nach seiner 44 Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum Ausscheidung aus dem Enddarm gefressen (Coecotrophie), der harte "normale" Kot dagegen wird meist nicht aufgenommen. Durch das Kotfressen werden die Aufnahme von Vitamin-B und die Weitergabe der Symbionten gesichert und die Coecotrophie ist damit ein für das Tier wichtiges Verhalten, das seiner Gesundheit dient und in Gefangenschaft keinesfalls unterbunden werden darf. Im Enddarm wird zunächst im Dickdarm (Colon) der Kot durch Wasserresorption eingedickt und Cellulose verdaut, bevor er nach der Passage durch das Rektum (Mastdarm) über den After ausgeschieden wird. 2.7 Biologie und Verhalten von Versuchstieren: Um eine tiergerechte Haltung zu gewährleisten und im Experiment erzielte Ergebnisse einschätzen zu können, bedarf es auch der fundierten Beurteilung der natürlichen Lebensweise einschließlich des Verhaltens der Zuchttiere und ihrer wildlebenden Vorfahren. Ordnung Familie Muridae Rodentia Lagomorpha Cricetidae Spezies Mus musculus Rattus norwegicus Subspezies M. m. domesticus M. m. musculus M. m. castaneus M. m. bactrianus Mesocricetus auratus Meriones ungiculatus Caviidae Cavia aperea Leporidae Oryctolagus cuniculus Abbildung: Systematik der Versuchsnagetiere und des häufig fälschlicherweise als Nagetier angesehenen Kaninchens 2.7.1 Labormaus (Mus musculus domesticus) Die meisten Stämme und Linien von Labormäusen stammen von der Hausmaus, Mus musculus (M. m.) ab, wobei genetisches Material der in Europa und Amerika beheimatete Subspezies M. m. domesticus sowie der in Asien vorzufindende Subspezies M. m. musculus in den Genpool der Labormäuse eingeflossen sind. Die ersten bekannten experimentellen Untersuchungen an Mäusen stammen aus dem 17. Jahrhundert. Hobbyzüchter waren wahrscheinlich zunächst an Varianten in der Fellfarbe interessiert, die dann später für Versuchszwecke weitergezüchtet 45 Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum wurden. Während der Domestikation der Labormäuse erfuhren die Zuchtformen eine Reihe von Anpassungsveränderungen. Diese Domestikationseffekte zeigen sich besonders deutlich in der drastischen Abnahme des Gehirngewichtes in Bezug auf das Körpergewicht der Tiere. Auf Grund dieser Unterschiede liegt der Schluß nahe, dass sich auch das gesamte Verhaltensrepertoire während der Domestikation verringert hat. Die Verkleinerung anderer Organe, z.B. von Herz, Nebenniere, Milz und Leber deuten darauf hin, dass die Widerstandsfähigkeit der Zuchtmäuse insgesamt geringer ist. Zudem entwickeln sich die Geschlechtsorgane der über 500 gängigen Inzuchtstämme früher als die ihrer wildlebenden Ausgangsformen. Die Wildform Mus musculus ist ein Allesfresser, der im Gegensatz zu anderen wildlebenden Mäusearten keine Vorräte anlegt. Sofern die Futter- und Wasserversorgung gesichert ist, verläßt die Hausmaus ein Areal von einigen Metern zeitlebens nicht. Hausmäuse leben in kleinen Verbänden (Großfamilien) in einem gemeinsamen, durch Duftmarken abgegrenzten Wohngebiet. Eß- und Ruheplätze sowie Harn- und Kotstellen werden gemeinsam genutzt. Unter den Männchen gibt es eine Rangordnung, die durch Kämpfe zwischen den Tieren aufgestellt wird. Zwischen den Mitgliedern der Großfamilie wird gut zu beobachtende soziale Körperpflege betrieben. Die Populationsgröße innerhalb des Hausmausbestandes kann durch hormonelle Geburtenregulation der Weibchen geregelt werden. So können heranwachsende Weibchen zunächst unfruchtbar bleiben. Die Hauptaktivitätszeit der Hausmaus liegt am Abend und in der Nacht. Allerdings können Aktivitäts- und Ruhephasen im Tagesgang recht häufig wechseln (bis ~ 20-mal). Bei der nächtlichen Orientierung der Tiere spielen Geruchs- und Gehörsinn die Hauptrolle. Dabei ist der Dynamikbereich der Schallwahrnehmung bei Mäusen gegenüber dem Menschen in den höheren Frequenzbereich (bis ~ 40 kHz) ausgedehnt. Im Dunkeln orientieren sich Mäuse sehr gut chemotaktisch an Harnmarkierungen. Doch setzen sie auch ihre mechanosensitive Vibrissen, die vor allem im Schnauzenbereich lokalisiert sind, ein. Demgegenüber steht die visuelle Orientierung mit den recht kleinen Augen eher im Hintergrund. Mäuse sind Dichromaten, besitzen neben Stäbchenphotorezeptoren nur Grün- und Blau-Zapfen. Unter reinem Rotlicht können sie sich nicht optisch orientieren. Entgegen häufig in der Literatur beschriebenen Daten entspricht das Verhältnis der Zahl von Zapfen zu Stäbchen ungefähr dem Verhältnis beim Menschen. Allerdings sind die Zapfen bei Mäusen nicht wie beim Menschen in der Fovea centralis konzentriert, sondern mehr oder weniger homogen über die gesamte Retina verteilt. Biologische Daten der Labormaus: Körpermasse: 20-35 g, max. bis 50g 46 Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum Kopf-Rumpf-Länge: 5-10 cm; Schwanzlänge: 8-10 cm Körpertemperatur: 36-38°C Atemfrequenz: ca. 160 Respirationen / min. Herzschlagfrequenz: 300-800 Schläge / min. Blutdruck: 150 / 100 mmHg Chromosomenzahl (2n) : 40 Lebensdauer: 1,5 - 2 Jahre (maximal 3 Jahre) Verhalten: Nachtaktives Nagetier, Nesthocker, kommensale Lebensweise, Kosmopolit, Zusammenleben in Gruppen mit ausgeprägter Hierarchie, Nestbauverhalten, Fellpflege (Grooming), Männchen untereinander sehr aggressiv, Geruchsmarkierung des Reviers mit Urin Reproduktionsbiologie: Weibchen: 5 Mammarkomplexe, Uterus duplex Geschlechtsreife: Zuchtreife: Männchen: ca. 30-40 Tage Weibchen ca. 40-50 Tage 55-70 Tage Brunstzyklus: asaisonal polyöstrisch, Zykluslänge: 4-5 Tage, Spontanovulation im Östrus Tragzeit: 18-21 Tage Wurfgröße: Inzuchtstämme: 5-8, Auszuchtstämme: 10-20 Geburtsgewicht: ca. 1 g Absetzalter: frühestens 18-21 Tage Absetzgewicht: durchschnittlich 10 g Verpaarung: erfolgt permanent (vorzugsweise) oder alternierend; monogam oder polygam Whitteneffekt: Der Whitteneffekt kann zur Zyklussynchronisation genutzt werden. Hierbei werden in großen Gruppen gehaltene, azyklische Weibchen terminiert mit Männchen verpaart. Bei ca. 50% der Tiere wird am 3. Tag nach Verpaarung ein Östrus zu beobachten sein. Bruceeffekt: Wird ein Mausweibchen in früher Trächtigkeit zu einem neuen Bock gesetzt, so kann es zum Abort der Föten kommen. Lee-Boot-Effekt: Durch sterile Kopulation wird zuverlässig eine 10 – 13 Tage andauernde Pseudogravidität induziert. Der Lee-Boot-Effekt kann in seltenen Fällen auch durch mechanische Stimulation der Scheide, z.B. im Rahmen vaginalzytologische Untersuchungen, induziert werden. Ernährungsbiologie 47 Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum Zahnformel: 2.7.2 Maxilla: 1003; Mandibula: 1003 Futteraufnahme: 3-6 g pelletiertes Trockenfutter / Tag / Tier Wasseraufnahme: 4-7 ml / Tag / Tier Urinmenge: 1-3 ml / Tag / Tier Laborratte (Rattus novegicus) Laborratten sind fast ausschließlich Nachfahren der Wanderratte (Rattus novegicus), die ursprünglich aus dem asiatischen Raum stammte und neben Hausratte (Rattus rattus), die vorher durch die Kreuzritter eingeschleppt wurde, im 17. Jahrhundert in Europa heimisch wurde. Auch Laborratten zeigen durch die Domestikation hervorgerufene Anpassungsveränderungen, die sich vor allem gegenüber der Wildform in - bezogen auf das Gesamtkörpergewicht - leichteren inneren Organen äußert. Zudem sind Laborratten früher, nach ca. 60-70 Tagen, geschlechtsreif und Weibchen zeigen bei einer Tragzeit von 21-23 Tagen eine höhere Fruchtbarkeit (6-12 Junge pro Wurf sind Nesthocker). Ratten können bis zu 3,5 Jahre alt werden und können ein Gewicht von bis 300 g bei Weibchen und 550 g bei Männchen erreichen. Ratten sind Allesfresser und sehr anpassungs- und lernfähig. Sie leben territorial in Rudeln mit einer Rangordnung. Ihre Hauptaktivitätsphasen liegen in der Nacht und während der frühen Morgenstunden. Auch bei Ratten steht die visuelle Orientierung eher im Hintergrund. Das Photorezeptorrepertoire gleicht dabei demjenigen der Maus. Ratten orientieren sich vor allem an chemischen und mechanischen Reizen. Sie besitzen ein sehr gutes Gehör mit Frequenzmaximum im Ultraschallbereich (80 kHz) und setzen Vibrissen am Kopf, Beinen und Schwanz als Tastrezeptoren ein. Biologische Daten der Laborratte: Körpermasse: 250-500 g, max. bis 600 g Kopf-Rumpf-Länge: 22-26 cm; Schwanzlänge: 18-22 cm Körpertemperatur: 37,5-38,5 °C Atemfrequenz: ca. 60-170 Respirationen / min. Herzschlagfrequenz: 300-500 Schläge / min. Blutdruck: 150 / 100 mmHg Chromosomenzahl (2n) : 42 Lebensdauer: 2 - 3 Jahre (maximal 3,5 Jahre) Verhalten: Nachtaktives Nagetier, Nesthocker, Kommensale Lebensweise, Kosmopolit, Zusammenleben in Gruppen mit ausgeprägter Hierarchie, Nestbauverhalten, gegenseitige Fellpflege, Männchen Geruchsmarkierung des Reviers (Urin) 48 untereinander wenig aggressiv, Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum Reproduktionsbiologie: Weibchen 6 Mammarkomplexe, Uterus duplex Geschlechtsreife: 50-70 Tage Zuchtreife: 90-100 Tage Brunstzyklus: asaisonal polyöstrisch, Zykluslänge: 4-6 Tage, Spontanovulation im Östrus Tragzeit: 20-23 Tage Wurfgröße: Inzuchtstämme: 6-10, Auszuchtstämme: 10-20 Absetzalter: frühestens 18-21 Tage Absetzgewicht: durchschnittlich 35-50 g Verpaarung erfolgt permanent oder alternierend; monogam oder polygam Ernährungsbiologie: Zahnformel: Maxilla: 1003; Mandibula: 1003 Futteraufnahme: 12-20 g pelletiertes Trockenfutter / Tag Wasseraufnahme: 15-35 ml / Tag Urinmenge: 10-15 ml / Tag Anatomische Besonderheit: Fehlen einer Gallenblase 2.7.3 Kaninchen (Oryctolagus cuniculus) Die Heimat der europäischen Kaninchen ist die iberische Halbinsel. Sie wurden zunächst von den Römern weiter über Europa verbreitet und bereits im 16. Jahrhundert waren einige Rassen bekannt. Kaninchen zählen zur Ordnung der Lagomorpha (Hasenartige) und besitzen im Gegensatz zu den Nagetieren im Oberkiefer ein weiteres Paar Schneidezähne, die als kleinere Stiftzähne ausgebildet sind. Kaninchen verfügen als Pflanzenfresser über einen langen Darmtrakt mit einem großen Blinddarm (Caecum). Der aus dem Blinddarm stammende weiche Kot ist proteinreich und enthält Vitamin-B. Er wird von den Tieren in den frühen Morgenstunden direkt vom Anus aufgenommen (Caecotrophie, s.o.). Bei Kaninchen beträgt die Tragzeit 29-35 Tage und die Wurfgröße liegt bei 4-10 Jungtieren (Nesthocker). Kaninchen können je nach Rasse bis 7 Jahre alt und 2-7 kg schwer werden. Weibliche Tiere können gut in Gruppen gehalten werden, wohingegen männliche Tiere untereinander aggressiver sind und Rangordungskämpfe austragen. Biologische Daten des Kaninchens: Körpermasse: 250-500 g, max. bis 600 g Körpermasse: 1,7 – 5,0 kg (stark rasseabhängig, bei einigen Rassen werden die Weibchen teilweise schwerer als die Männchen) 49 Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum Körpertemperatur: ca. 39,5 °C Atemfrequenz: ca. 40-60 Respirationen / min (unter Belastung bis 150) Herzschlagfrequenz: 120-250 Schläge / min (rasse- und belastungsabhängig) Blutdruck: 110 / 80 mmHg Chromosomenzahl (2n) : 44 Lebensdauer: 5 - 7 Jahre (maximal bis 14 Jahre) Verhalten: Tag- und Nachtaktives Tier, Nesthocker, in freier Natur Zusammenleben in Gruppen mit hierarchischer Ordnung, Nestbauverhalten, gegenseitige Fellpflege, Männchen untereinander sehr aggressiv (gezielte Hodenverletzungen), Geruchsmarkierung des Reviers (Urin, Drüsen im Halsbereich) Reproduktionsbiologie: „Langtagzüchter“ Weibchen 4 Mammarkomplexe, Uterus duplex Geschlechtsreife: ca. 100 Tage Zuchtreife: ca. 4 - 6 Monate Brunstzyklus: kein regelmäßiger Brunstzyklus, es sind stets sprungbereite Eifollikel am Ovar vorhanden, die Ovulation wird neurohormonal ausgelöst und erfolgt ca. 10 Std. nach der Begattung (Reflexovulation) Tragzeit: ca. 31 Tage Wurfgröße: 3-9 Absetzalter: 42-56 Tage Absetzgewicht: stark rasseabhängig, ca 0,5 – 1,5 kg Verpaarung: erfolgt durch temporäres Zusetzen der Zibbe zum Rammler Ernährungsbiologie: 2.7.4 Zahnformel: Maxilla: 2033; Mandibula: 1023 Futteraufnahme: 40 g pelletiertes Trockenfutter / Tag Wasseraufnahme: 60-350 ml / Tag Urinmenge: 50-500 ml / Tag Südafrikanischer Krallenfrosch (Xenopus laevis) Im Gegensatz zu anderen Anuren ist Xenopus ausschließlich ans Wasser gebunden und kann an Land nur kurz überleben. Die Kaulquappen sind Detritusfresser, wohingegen adulte Tiere carnivor sind. Sie fressen alles lebende und tote Material, das sie in stehenden Gewässern finden und das sie sich mit den Vorderextremitäten ins Maul stopfen. Die namensgebenden Krallen setzen Krallenfrösche zum Graben nach Beute im Schlamm ein. Zudem vergraben sich die Tiere im Schlamm, wenn die Heimattümpel im Sommer austrocknen und verharren dort bis zur 50 Anatomie und Physiologie Prof. Dr. Uwe Wolfrum nächsten Regenzeit. Die Weibchen legen im Frühjahr binnen 24 h auf einmal 500-1000 Eier, die von den angeklammerten Männchen anschließend besamt werden. Die Larven schlüpfen ca. 3 Tage nach der Besamung und vollziehen die Metamorphose nach ca. 2 Monaten. Sie sind nach ca. 18 Monaten geschlechtsreif. 2.7.5 Zebrafisch, Zebrabärbling (Danio rerio) Der Zebrafisch ist auf Grund seiner großen Potenz für genetische Ansätze in den letzten Jahren ein weiteres, gängiges Labortier und Tiermodell für menschliche Erkrankungen geworden. Die Wildformen von Danio stammen aus Pakistan, Indien, Bangladesch und Nepal, wo sie in Flußbiotopen mit dichter Randbepflanzung leben. Die sehr lebhaften, sonnenlichtliebenden Fische sind im Alter oft aggressiv. In der Zucht legt das Weibchen zwischen 300 und 400 Eier ab. Da die Elterntiere Laichräuber sind, sollten sie nach der Eiablage aus dem Zuchtaquarium wieder entfernt werden. Die Entwicklungszeit von Danio beträgt in der Zucht ca. 24 h. Durch die Durchsichtigkeit der Jungtiere können Entwicklungsvorgänge am lebenden Tier, wie z.B. die Organogenese oder das Auswachsen von Blutgefäßen beobachtet werden. Die bis zu 6 cm langen adulten Tiere können leicht als Schwarmfische in größeren Verbänden gehalten werden und können ein Alter von 3,5 Jahren erreichen. 51 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 3. Zucht und Genetik (das vorliegende Manuskript lehnt sich an die Publikation „Zimmermann F, Weiss J, Reifenberg K (2000) Breeding and assisted reproduction techniques, In: „The handbook of experimental animals: the rat“ (ed: Krinke G. J.) Academic Press, London, 177-198“ an.) 3.1 Allgemeine Einführung in die Genetik Wie bei anderen Säugerspezies umfasst auch das haploide Genom der Versuchstierspezies Maus und Ratte 3 Milliarden DNA-Basepaare. Diejenigen DNA-Regionen, die für bestimmte Genprodukte –meist Proteine- kodieren, werden als Gene bezeichnet. Die charakteristische DNA-Sequenz eines Gens kann geringfügige Variationen aufweisen, die Einfluss auf die genetische Funktion haben können. Diese alternativen Formen eines Gens werden als Allele bezeichnet. Ein Gen befindet sich auf einer charakteristischen chromosomalen Region, die als genetischer Locus bezeichnet wird. Im Gegensatz zu den Autosomen, die als Paare morphologisch identischer Partnerchromosomen auftreten, weisen die Geschlechtschromosomen der Säuger, das X- und das Y-Chromosom, signifikante morphologische Unterschiede auf. Diese werden deshalb auch als Heterosomen bezeichnet. Die überwiegende Mehrzahl an Genen, die sich auf den Heterosomen befinden, kommt entweder nur auf den X-Chromosom oder nur auf dem Y-Chromosom vor. Den meisten dieser Gene fehlt ein Pendant auf dem Partnerheterosom. Bisher wurden nur sehr wenige Gene identifiziert, die sich sowohl auf dem X- als auch auf dem Y-Chromosom befinden. Die kleine heterosomale Region, die diese Gene trägt, wird als pseudoautosomale Region bezeichnet. Die Nomenklatur der pseudoautosomalen Region ist mit Bedacht ausgewählt, da sich die Heterosomen bezüglich dieser chromosomalen Region wie Autosomen verhalten. Männliche Säuger tragen von den meisten heterosomal vererbten Genen lediglich ein einziges Allel. Lediglich die wenigen heterosomalen Gene, die in der pseudoautosomalen Region lokalisiert sind, existieren bei männlichen Tieren in zwei Allelen. Ein diploider Organismus, der zwei identische Allele eines bestimmten Gens trägt, wird als homozygot bezeichnet. Trägt ein Organismus zwei unterschiedliche Allele, so sprechen wir von Heterozygosität. Die spezielle Situation bei männlichen Säugern, dass die meisten heterosomal gebundenen Gene in einem einzigen Allel existieren, wird als Hemizygosität bezeichnet. Durch die Entwicklung der Transgentechnologie musste die Definition der Hemizygosität jedoch erweitert werden. Die Mikroinjektion von geeigneten linearen DNA-Konstrukten in den Pronukleus befruchteter Eizellen kann zur Integration der transgenen DNA-Sequenzen an einer nicht vorhersehbaren chromosomalen Stelle des Empfängergenoms führen, wodurch ein neuer genetischer Locus entsteht. Transgene Tiere können den neu erworbenen Locus auf einem 52 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg einzigem Autosom und nicht auf dem Partnerchromosom tragen. Da diese Situation der der meisten heterosomal gebundenen Gene männlicher Säuger, die ja ebenfalls nur einen Genlocus aufweisen, sehr ähnlich ist, wird sie ebenfalls als Hemizygosität bezeichnet. In diploiden Organismen kommt es beim Transfer der genetischen Information von der vorhergehenden zur nächsten Generation zu einer Reduktion des diploiden parentalen Genoms (2n) auf das haploide Genom der Gameten. Der spezielle Zellteilungstyp, der diese Genomreduktion erreicht, wird als Meiose bezeichnet. Im Verlauf der Meiose werden die beiden parentalen Allele jedes heterozygoten Locus gleichmäßig auf die Keimzellen verteilt. Also werden 50% der Gameten das eine und 50% das andere Allel tragen. Diese Vererbungsregel wurde bereits von Mendel entdeckt und wird als zufällige Segregation bezeichnet. Mendel entdeckte ebenfalls bereits das Gesetz der unabhängigen Vererbung. Dieses Gesetz besagt, dass die Segregation zweier unterschiedlicher Gene unabhängig voneinander verläuft. Heute weiß man allerdings, dass das Gesetz der unabhängigen Vererbung lediglich für solche Gene gilt, die sich auf unterschiedlichen Chromosomen befinden. Für Gene, die auf demselben Chromosom liegen, existieren kompliziertere Vererbungsregeln. In diesen Fällen ist die Aufteilung der Allele von komplexen chromosomalen Rekombinationen während der Meiose abhängig. Während alle autosomalen Partnerchromosomen und die zwei X-Chromosomen weiblicher Säuger häufig rekombinieren, ist die Situation bezüglich der von männlichen Säugern getragenen X- and YChromosomen anders. Da sich das meiotische Rekombinationspotential dieser Chromosomen auf die kleine pseudoautosomale Region beschränkt, sind Rekombinationsereignisse, falls sie überhaupt stattfinden, sehr selten. 3.2 Nomenklatur zur Kreuzung von Versuchstieren Es wurde ein spezielles Nomenklatursystem etabliert, um Kreuzungen zwischen Versuchstieren, die ein standardisiertes Genom tragen, zu beschreiben. Das System berücksichtigt meist den Genotyp eines einzelnen Genes oder einer Gruppe von Genen der beiden Paarungspartner. Zur Vereinfachung wird das System nachfolgend für ein einzelnes imaginäres Gen mit dem Allelrepertoire A and a beschrieben. Beim Incrossing werden homozygote Tiere des Genotyps A/A bzw. a/a miteinander verpaart. Durch die Incrossing-Kombinationen A/A x A/A or a/a x a/a werden Nachkommen produziert, die wiederum den parentalen Genotyp A/A bzw. a/a tragen. Das Incrossing wird benutzt, um ingezüchtete Tierstämme zu propagieren. 53 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Ein Intercross wird erreicht, indem heterozygote A/a Tiere untereinander verpaart werden. Das Intercross A/a x A/a wird Tiere des Genotyps A/A, A/a and a/a erzeugen, wobei diese Genotypen ein Verhältnis von 1:2:1 aufweisen werden. Die Kreuzung von homozygoten A/A oder a/a Tieren mit einem heterozygoten A/a Partner wird als Backcrossing bezeichnet. Die Backcrosse A/A x A/a oder a/a x A/a werden Tiere der Genotypen A/A und A/a oder a/a und A/a erzeugen. Eine Serie hintereinandergeschalteter Backcrosse muss durchgeführt werden, um ein bestimmtes interessierendes Gen oder eine Gengruppe von einem unerwünschten Donorstamm auf einen erwünschten ingezüchteten Rezipientenstamm zu übertragen. Verpaarungen zwischen homozygoten A/A und a/a Tieren werden als Outcrossing bezeichnet. Das Outcross A/A x a/a wird heterozygote A/a Tiere erzeugen. Neben anderen Zwecken dienen Outcrosse dazu, Hybriden herzustellen. 3.3 Ingezüchtete Stämme Per Definitionem wird ein Stamm als ingezüchtet bezeichnet, wenn er für 20 oder mehr aufeinanderfolgende Generationen einer Bruder x Schwester Inzucht (= BSI) unterworfen wurde (Festing and Staats, 1973). Paarungskombinationen, bei denen Eltern mit Nachkommen gekreuzt wurden, können das BSI-Zuchtregiment ersetzen, wenn die Verpaarung mit dem jüngeren der beiden Elternteile erfolgt. Bei der Durchführung eines BSI-Zuchtregiments erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter genetischer Locus homozygot wird, ständig. Diese Wahrscheinlichkeit wird als Inzuchtkoeffizient Ft bezeichnet. Für eine bestimmte Generation t, berechnet sich Ft nach folgender Formel (Falconer 1989): Ft = 0.25 (1 + 2Ft-1 +Ft-2) Für Stämme, die für 20, 40 bzw. 60 Generationen einer Bruder-Schwester-Inzüchtung unterlagen, nimmt Ft Werte von 0.986335, 0.999803 bzw. 0.999997 an. Für einige Zwecke ist es günstiger die Zunahme von Ft pro Generation anzugeben. Dieser wert wird als ∆F bezeichnet. ∆F berechnet sich nach der Formel: ∆F = (Ft-Ft-1) / (1-Ft-1) ∆F ist gleich 0.250, 0.167, 0.200 bzw. 0.188 für die ersten vier Generationen von BSI. In späteren Generationen erreicht ∆F einen konstanten wert von 0.191. Der Inzuchtkoeffizient gibt die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass ein einzelner (beliebiger) genetischer Locus in 54 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg homozygoter Form vorliegt. Da jedoch nicht einzelne Gene sondern Blöcke von verbundenen Genen von einer auf die nachfolgende Generation übertragen werden, ist der Anteil des gesamten Genoms der nach einer BSI-Serie in homozygoter Form vorliegt (=fixiert ist) immer geringer als er durch den Inzuchtkoeffizienten wiedergegeben wird. Der Anteil fixierter Loci im Genom ingezüchteter Tiere hängt nicht nur von der Anzahl durchgeführter BSI-Generationen sondern auch von der Genomgröße und zu einem geringerem Ausmaß von der artspezifischen Chromosomenanzahl ab (Stam, 1980). Für eine Tierart der Genomgröße 2500cM und einer haploiden Chromosomenzahl von 20 hat Fisher (1965) abgeschätzt, dass nach 60 Generationen aufeinanderfolgender BSI Tiere mit einer 99%-igen Fixierung auftreten. Dieser Wert gilt wahrscheinlich ebenfalls für ingezüchtete Maus- und Rattenstämme, da diese Spezies ähnliche Genomgrößen aufweisen. So wird in der Rat Genome Database [http://ratmap.gen.gu.se/] die Größe des Rattengenoms auf 2250cM geschätzt; das haploide Rattengenom ist in 21 Chromosomen organisiert. Die Genomgröße der Maus beträgt 1650 cM, die genetische Information ist hier auf 20 Chromosomen verteilt. Folglich tragen ingezüchtete Maus- und Rattenstämme selbst nach 60 Generationen aufeinanderfolgender BSI noch einen beträchtlichen Anteil an Restheterozygosität. Um verbleibende heterozygote Loci ingezüchteter Tiere eventuell doch noch zu fixieren, werden Inzuchtstämme nicht nur mittels BSI erzeugt, sondern ebenfalls durch BSI propagiert. Es können jedoch Selektionsdrücke wirken, die heterozygote Genotypen favorisieren. In solchen Fällen nämlich, in denen homozygote Tiere eine reduzierte Lebensfähigkeit oder Fertilität aufweisen, können trotz des durch BS-Inzucht erzeugten Drucks zur Homozygosität heterozygote Verhältnisse persistieren (Hayman and Mather, 1953). Zuchtkolonien ingezüchteter Stämme werden in Nucleuskolonien (NC), pedigrierte Expansionskolonien (PEC) and Multiplikationskolonien (MC) unterteilt (Hedrich, 1990a). Die NC ist ein sich selbst erhaltendes System, das dazu dient, den Inzuchtstamm zu konservieren. Es wird eine strenge Bruder x Schwester-Inzuchtpaarung durchgeführt. Solche NC-Kolonien haben meist eine geringe Größe von 10-30 Zuchtpaaren und alle Tiere stammen von einem gemeinsamen früheren Zuchtpärchen ab. In der Regel werden zwei bis drei Sublinien des gemeinsamen Ahnenpaares erzüchtet, die dann 3 bis 7 Generationen lang erhalten werden. Die divergierenden Sublinien werden sorgfältig bezüglich Fortpflanzungserfolg und bestimmter genetischer Daten kontrolliert. Wenn genügend Daten über die Sublinien vorliegen, wird eine dieser Linien ausgesucht, um den Inzuchtstamm weiter zu propagieren während die anderen Sublinien von der NC ausgeschlossen werden. Pro Woche kann eine Maus- oder Ratten-NC etwa 10 bis 15 Tiere produzieren. Werden mehr Tiere benötigt, muss eine pedigrierte Expansionskolonien (PEC) gesetzt werden. Die Zuchttiere einer PEC stammen ausnahmslos von 55 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg der NC ab. Wie die NC, wird auch die PEC durch Bruder x Schwester Verpaarung propagiert. Da PECs primär dazu dienen, Zuchttiere für Multiplikationskolonien (MC) zu produzieren, entspricht ihre Größe der der zu versorgenden MCs. MCs werden nicht durch Bruder x Schwester Verpaarung propagiert, sondern die Zuchttiere werden zufällig zusammengesetzt. MCs dienen dazu, genügende Tierzahlen für die tierexperimentelle Forschung zu erzeugen. Genetische Variabilität von Inzuchtstämmen Forscher, die mit ingezüchteten Tieren arbeiten, müssen sich der Tatsache bewusst sein, dass der Genpool eines vorgegebenen Inzuchtstammes nicht völlig stabil ist, sondern Schwankungen unterliegt. Die Instabilität des Genpools kann durch folgende drei Faktoren bedingt sein. Residualheterozygosität: Auch ein stark ingezüchteter Tierstamm, der für 60 oder noch mehr Generationen durch Bruder-Schwester-Inzüchtung propagiert wurde, kann durchaus noch heterozygote Loci aufweisen. Während der Weiterzucht des Stammes durch BSI können solche Loci fixiert werden. Die Fixierung vormals heterozygoter Loci stellt einen Faktor dar, der zu Schwankungen im Genepool ingezüchteter Stämme führt. Mutation: Ein anderer Faktor, der den Genepool ingezüchteter Tierstämme beeinflusst, ist das spontane Auftreten von Mutationen. Die genaue Mutationsrate einzelner Gene ist meist unbekannt. Die Häufigkeit des Auftretens von Mutationen im Genepool ingezüchteter Stämme kann jedoch abgeschätzt werden. Die durchschnittliche Mutationsrate eines eukaryoten Organismus, die als u bezeichnet wird, wird auf etwa 10-5 pro Gamete and pro Locus geschätzt (Ohno 1972). Dieser Wert berücksichtigt jedoch nicht die Tatsache, dass die Mutationsrate vom jeweiligen genetischen Locus, vom Geschlecht und vom Alter abhängt (siehe Review-Artikel von Crow, 1997). Da bei einem durch Bruder x Schwester Inzucht geführten Inzuchtstamm jede Generation von genau zwei Tieren begründet wird, ist jedes autosomale Gen im Genepool mit nur 4 Allelen repräsentiert. Deshalb beträgt in einem Inzuchtstamm die Mutationsrate eines bestimmten genetischen Locus 4 x u. Die Wahrscheinlichkeit der Fixierung einer erworbenen Mutation ist in starkem Ausmaß davon abhängig, ob selektive Kräfte auf das mutierte Allel wirken. Ohne den Einfluss einer Selektion weisen neue Mutationen eine 25%ige Wahrscheinlichkeit auf, im Genpool des Inzuchtstammes fixiert zu werden. Folglich ist die Wahrscheinlichkeit für den Austausch eines gegebenen Allels durch ein mutiertes Allel pro Bruder x Schwester Inzuchtgeneration gleich der Mutationsrate u (Falconer, 1989). Da das Säugergenom etwa 30.000 Gene umfasst, werden pro Generation ca. 0,3 Mutationen Im Genpool, eines Inzuchtstamms fixiert. Es ist unklar, inwiefern die aufgeführte Abschätzung der Mutationsrate von Inzuchtstämmen die tatsächlichen Verhältnisse widerspiegelt. Bailey (1977) 56 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg hat für die Spezies Maus gezeigt, dass tatsächlich in jeder dritten Generation eine Mutation fixiert wird. Genetische Kontamination: Genetische Kontaminationen von Inzuchtstämmen resultieren aus der unbeabsichtigten Einführung fremder Gene durch Outcrossing. Im Gegensatz zu den Mechanismen der Fixierung vormals heterozygoter Loci und des Erwerbs von Mutationen, ist die genetische Kontamination prinzipiell vermeidbar. Das nachweislich häufige Auftreten von genetischen Kontaminationen ingezüchteter Stämme in der Vergangenheit zeigt jedoch, dass es sehr schwierig ist, ein akzidentelles Outcrossing sicher zu verhindern. Das Risiko der genetischen Kontamination ist in solchen Tierhaltungen besonders hoch, in denen viele unterschiedliche Inzuchtstämme, die dieselbe Fellfarbe aufweisen, in großer Nähe zueinander gezüchtet werden. Personen, denen die Zucht ingezüchteter Tiere anvertraut ist, sind verpflichtet, alle nur möglichen Maßnahmen zu ergreifen, um das Risiko des Auftretens genetischer Kontaminationen zu minimieren. Dies impliziert die sichere Identifikation von Zuchttieren und das Training und die kompetente Beaufsichtigung der Tierpfleger. In Tierhaltungen, in denen eine breite Vielfalt von ingezüchteten Varianten propagiert wird, muss ein genetisches Monitoring-System etabliert werden, um die Authentizität der Stämme zu kontrollieren. Es existiert geeignete Literatur (Hedrich 1990b), die sich spezifisch mit Programmen zur Durchführung eines genetischen Monitoring befasst. Die Kryokonservierung ingezüchteter Stämme von Mäusen oder Ratten in der Form von gefrorenen Präimplantationsembryonen ist heute unproblematisch möglich. Diese Technik erlaubt es, eine Art “backup“ des Genepools eines ingezüchteten Stamms zu erstellen, so dass im Fall einer genetischen Kontamination der authentische Stamm wieder hergestellt werden kann. Zusammenfassend muss konstatiert werden, dass die Veränderung des Genpools ingezüchteter Stämme durch die Fixierung residualer heterozygoter Loci und durch die Akquirierung von Mutationen nicht zu vermeiden ist. Der genetische Status ingezüchteter Stämme wird zudem durch die Möglichkeit der genetischen Kontamination bedroht. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren wurden eindeutige Regeln erstellt, ab welchem Zeitpunkt ein ingezüchteter Stamm in neue Substämme unterteilt werden muss (Festing and Staats, 1973). Diese Regeln sind insbesondere von solchen Personen zu befolgen, denen die Zucht von Inzuchtstämmen anvertraut wurde. 57 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 3.4 Koisogene Stämme Ingezüchtete Stämme tragen ein standardisiertes Genom und repräsentieren deshalb ideale Träger von erwünschten Mutationen. Mutationen von Nagetiergenen können entweder spontan entstehen oder durch die Behandlung mit mutagenen Substanzen verursacht werden (Russell et al, 1979) oder durch ionisierende Strahlung entstehen (Green and Roderick, 1966). Weiterhin können durch Pronukleus-Mikroinjektion geeigneter DNA-Konstrukte direkt transgene Sequenzen in das Genom ingezüchteter Mäuse oder Ratten eingeführt werden. Weiterhin konnte für die Spezies Maus eine Technik entwickelt werden, durch homologe Rekombination embryonaler Stammzellen gezielte Veränderungen im Genom vorzunehmen (Gene Targeting). Ein koisogener Stamm wird erzeugt, indem ein ingezüchtetes Tier eine Mutation bzw. eine gentechnische Veränderung (Trangen, „knock-out“ oder „knock-in“) in die nächste Generation vererbt. Jedes koisogene Stammsystem besteht aus dem originären Inzuchtstamm in der nichtmutierten oder nicht-gentechnisch-veränderten Form sowie dem koisogenen Partnerstamm, der das mutierte Allel oder die gentechnische Veränderung trägt. Das koisogene Stammsystem verfügt somit über denselben genetischen Hintergrund, unterscheidet sich jedoch lediglich bezüglich eines spezifischen genetischen Locus. Diese Eigenschaften machen koisogene Stammsysteme zu idealen Modellen zur Analyse der Phänotypen, die durch Mutationen oder durch gentechnische Veränderungen hervorgerufen werden. Koisogene Stämme sollten durch Bruder x Schwester Inzüchtung propagiert werden. 3.5 Kongene Stämme Ein kongener Stamm wird erzeugt, indem ein spezifischer genetischer Locus von einem unerwünschten Donorstamm auf einem erwünschten Rezipienteninzuchtstamm übertragen wird. Der übertragene genetische Locus wird als Differentiallocus bezeichnet und kann ein spezielles interessierendes Allel oder eine ganze Gruppe verbundener interessierender Gene wie den Haupt- histokompatibilitätskomplex (MHC) umfassen. Die Funktion des Donorstamms besteht darin, den Differentiallocus zur Verfügung zu stellen. Folglich muss der Donorstamm nicht notwendigerweise ingezüchtet sein und es ist irrelevant, ob das Differentialgen in homozygoter oder heterozygoter Form vorliegt. Im Gegensatz dazu liefert der Rezipientenstamm den neuen genetischen Hintergrund für die Differentialregion; dieser Stamm muss ingezüchtet sein. Der Transfer des Differentiallocus auf den Rezipientenstamm wird durch Zuchtmaßnahmen erreicht, deren prinzipielles Konzept von George Snell entwickelt wurde (Snell 1978). Heutzutage wird in fast allen Fällen das sogenannte NX-Zuchtschema angewandt, um kongene Stämme zu erzeugen (Flaherty, 1981). 58 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Donorstamm RezipientenInzuchtstamm X F1 (initiales Outcross) ungeignet: X X N2 (1. Backcross) X X N3 (2. Backcross) X X N10 (9. Backcross) X Kongener Stamm Abbildung 3.1 NX-Zuchtschema zur Erzeugung kongener Stämme Der Donorstamm trägt einen gewünschten Differentiallocus X, der sich jedoch auf einem unerwünschten genetischen Hintergrund befindet (durch weiße Füllung der Symbole dargestellt). Der Rezipienteninzuchtstamm trägt zwar den erwünschten genetischen Hintergrund (durch schwarze Füllung der Symbole dargestellt), ihm fehlt jedoch das Differentialallel X. Durch konsekutive Kreuzung von X-Trägertieren auf Tiere des Rezipienteninzuchtstamms wird ein kongener Stamm erzeugt. Der Kongenstamm vereint das Differntailallel X mit dem gewünschten genetischen Hintergrund des Rezipienteninzuchtstamms ( : Männchen, Ο: Weibchen). Wie in der Abbildung 3.1 dargestellt, besteht das NX-Zuchtkonzept aus zwei Komponenten. Zunächst wird ein Outcrossing zwischen Donor- und Rezipientenstamm durchgeführt, um das Differentialallel überhaupt in den Genpool des Empfängerstammes einzubringen. Durch das initiale Outcross wird nicht nur der gewünschte Differentiallocus übertragen, das Outcross führt leider zur breiten Einführung unerwünschter Donorstammallele. Deshalb werden anschließend viele Backcrosse auf den Rezipientenstamm durchgeführt, um die kontaminierenden Donorstammallele wieder durch Rezipientenstammgene zu ersetzen. In jeder Backcrossgeneration werden heterozygote oder hemizygote Träger des Differentiallocus von Nicht-Trägertieren selektiert. Nur die Trägertiere werden mit Repräsentanten des RezipientenInzuchtstammes verpaart. Die erste Outcrossgeneration wird als Generation 1 (F1) bezeichnet, die erste Backcrossgeneration als Generation 2 (N2), die zweite Backcrossgeneration als Generation 3 (N3), u.s.w. Per definitionem (Greenhouse et al, 1990) sind 10 Kreuzungen des Differentialallels auf den Rezipienteninzuchtstamm erforderlich, um die resultierende Variante 59 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg als kongen bezeichnen zu dürfen. Dabei wird das initiale Outcross als 1. Generation (F1) gezählt. Ist das übertragene Gen dominant, können einmal etablierte kongene Stämme durch weiteres Backcrossing zum Rezipientenstamm gezüchtet werden. Alternativ kann der kongene Stamm auch durch Bruder x Schwester Inzüchtung propagiert werden. Abschätzung der genetischen Kontamination kongener Stämme Obwohl das NX Zuchtsystem zu einem extensivem Ersatz unerwünschter Donorstammallele durch erwünschte Rezipientenstammgene führt, sollte im Auge behalten werden, dass kongene Stämme eine beträchtliche residuale genetische Kontamination durch Donorstammallele aufweisen. In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass der Ersatz von Donorstammallelen mit chromosomaler Verbindung (Linkage) zum Differentiallocus durch Rezipientenstamm-Material von chromosomalen Rekombinationsereignissen abhängt. Im Gegensatz dazu sind keine keine meiotischen Rekombinationen erforderlich, um Donorstammallele ohne Linkage zum Differentiallocus durch Rezipientenmaterial zu verdrängen. Deshalb müssen Versuche, das Ausmaß der residualen Kontamination kongener Varianten durch Donorstammallele abzuschätzen, unterscheiden, ob eine chromosomale Verbindung zum Differentiallocus vorliegt oder nicht. Unter der Annahme, dass alle Gene des Donor- und Rezipientenstammes polymorph sind, werden diejenigen Tiere, die aus dem initialen Outcross resultieren, Genome tragen, die ausschließlich heterozygote Loci aufweisen. In denjenigen Genomteilen, die keine Linkage zum Differentiallocus haben, wird jedes Backcrossing den Anteil heterozygoter Loci um 50% reduzieren. Folglich kann bezüglich der Loci ohne Linkage zum Differentialgen für eine bestimmte Backcrossgeneration n der Anteil an Heterozygosität durch die Formel 0.5n-1 berechnet werden. Gemäß dieser Formel werden kongene Tiere, die für 10 Generationen (n=10) mit dem Rezipienten-Inzuchtstamm gekreuzt wurden, 0.20% heterozygoter Loci an jenen Stellen des Genoms tragen, die ohne Linkage zur Differentialregion sind. Dieser Wert wird allgemein als akzeptabel bewertet. Die Kontaminationsrate kongener Stämme durch Donorstammallele ist jedoch an demjenigen Chromosom, das den Differentiallocus trägt, kritischer zu bewerten. Dieses Chromosom wird, zusammen mit der eigentlichen Differentialregion, ein chromosomales Fragment des Donorstamms erwerben, das eine beträchtliche Größe aufweist. Die Größe des Segmentes Ln (in cM) kann für eine bestimmte Anzahl n von Kreuzungen zum Rezipienteninzuchtstamm nach folgender Formel abgeschätzt werden (Flaherty, 1981): Ln (cM) = 200 x (1-2-n)/n 60 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Für alle Werte, in denen n größer als 5 ist, kann diese Formel vereinfacht werden zu (Bartlett and Haldane, 1935): Ln = 200/n Beide angegebenen Formeln basieren auf der Annahme, dass der Differentiallocus sich nicht am chromosomalen Ende befindet. Mit Hilfe der Formeln kann die Größe des chromosomalen Donorsegments, das den Differentiallocus flankiert, abgeschätzt werden. Für kongene Stämme, die für 10 bzw. 20 Generationen mit dem Rezipienten-Inzuchtstamm gekreuzt wurden, ergeben sich Werte von 20 cM bzw. 10 cM. Bei einer Größe des Maus- bzw. Rattengenoms von 1650 cM bzw 2250 cM , entspricht dies immerhin ca. 1.0 % bzw. 0.5 % des kongenen Genoms. Die aufgeführten Kalkulationen zeigen, dass neu etablierte kongene Stämme ein beträchtliches Ausmaß an residualer genetischer Kontamination durch Donorstammallele tragen. Werden kongene Stämme durch weiteres Backcrossing propagiert, so wird diese Kontaminationsrate weiter abnehmen. In solchen Fällen jedoch, in denen kongene Stämme durch Bruder x Schwester Inzüchtung weitergezüchtet werden, werden diese heterozygoten Loci zum Teil fixiert werden. Da die Donor- und Rezipientenstammallele heterozygoter Loci eine gleiche FixierungsWahrscheinlichkeit aufweisen, werden 50% der Loci durch unerwünschte Donorstammallele besetzt werden. Diese kontaminierenden Donorstammregionen werden über das gesamte Genom kongener Tiere, die durch Vollgeschwisterverpaarung propagiert werden, verteilt sein. Sie werden als sogenannte „Passenger Loci“ bezeichnet. Von wesentlich größerer Bedeutung ist jedoch, dass in allen kongenen Stämmen eine beträchtliche Kontamination vorliegt, die durch das den Differentiallocus flankierende Donor-Chromosomenfragment verursacht wird. Es ist deshalb wichtig zu wissen, dass kongene Stämme keineswegs koisogenen Stämmen entsprechen. Ein koisogener Stamm unterscheidet sich vom Partnerstamm lediglich bezüglich eines einzigen genetischen Locus. Deshalb können in koisogenen Stammsystemen gefundene phänotypische Unterschiede eindeutig auf den Differentiallocus zurückgeführt werden. Im Gegensatz dazu unterscheidet sich ein kongener Stamm vom Rezipienteninzuchtstamm nicht nur bezüglich des Differentiallocus, sondern auch bezüglich der Passenger Loci sowie bezüglich einer Vielzahl von Donorstammallele, die sich in dem den Differentiallocus flankierernden DonorChromosomensegment befinden. Deshalb müssen phänotypische Unterschiede, die in kongenen Stammsystemen beobachtet wurden, nicht notwendigerweise durch das Differentialallel 61 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg verursacht sein; sie können ebenfalls die Folge der residualen Kontamination durch Donorstammallele darstellen. Situation der Geschlechtschromosomen bei kongenen Stämmen Ein Faktor, der bei der Herstellung kongener Stämme berücksichtigt werden muss, ist die spezielle Situation der Geschlechtschromosomen. Wenn sich der Differentiallocus auf einem Autosom befindet, muss die Einführung beider Heterosomen des Rezipienten-Inzuchtstammes durch sorgfältige Auswahl des Geschlechts der Verpaarungspartner, die zum Outcrossing und Backcrossing verwandt werden, gewährleistet werden. Während beim initialen Outcross männliche Tiere des Rezipienteninzuchtstammes mit Donorstammweibchen verpaart werden, werden in den nachfolgenden Backcrossen Rezipientenstammweibchen mit männlichen Trägern des Differentiallocus angepaart. Diese Geschlechterkombination garantiert einerseits, dass das Y-Chromosom des Rezipientenstamms beim initialen Outcross in den kongenen Stamm eingeführt wird und bei allen nachfolgenden Backcrossen erhalten bleibt. Andererseits gewährleistet die Auswahl männlicher Trägertiere des Differentiallocus zur Durchführung der weiteren Backcrosse zum Rezipienten-Inzuchtstamm, dass der kongene Stamm nichtrekombinierte X-Chromosomen des Rezipientenstammes erhält. Wenn der Differentiallocus, der auf einen neuen kongenen Stamm übertragen werden soll, sich auf einen X-Heterosom befindet, muss das Backcrossing durchgeführt werden, indem weibliche Trägertiere des Differentiallocus mit Männchen des Rezipienteninzuchtstamms angepaart werden. Diese Modifikation des Zuchtschemas ermöglicht meiotische Rekombinationen zwischen Donor- und Rezipientenstamm X-Chromosomen. Würde das Zuchtschema für autosomal-gebundene Differentialloci angewandt werden, um X-chromosomal gebundene Allele zu übertragen, so würden die resultierenden Tiere das gesamte X-Chromosom des Donorstamms tragen. Solche Stämme werden als konsomisch bezeichnet. Die Etablierung eines konsomischen Stammes ist in solchen Fällen unvermeidbar, in denen ein Y-chromsomal gebundener Differentiallocus auf einen neuen Rezipientenstamm übertragen werden soll. 3.6 Sogenannte “Speed-kongene“ Stämme “Konventionelle“ kongene Stämme werden erzeugt, indem Trägertiere des Differentiallocus für mindestens 10 aufeinander folgende Generationen auf einen Rezipienteninzuchtstamm gekreuzt werden. Da die Generationszeit von Maus und Ratte etwa 3 Monate beträgt, beansprucht die Erzeugung eines konventionellen kongenen Stamms folglich eine Zeitspanne von ca. 3 Jahren. Dieser beträchtliche Zeitfaktor spornte zu Überlegungen an, wie kongene Stämme durch den 62 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Einsatz zusätzlicher Selektionskriterien eventuell in kürzerer Zeit erzeugt werden könnten. Das solchen Überlegungen zugrunde liegende Konzept besteht darin, nicht nur positiv auf die Transmission der Differentialregion, sondern zusätzlich negativ gegen die Übertragung unerwünschter Donorgene zu selektieren. Diese zusätzliche negative Selektion erfordert eine genügend große Anzahl genetischer Polymorphismen zwischen Donor- und Rezipientenstamm. Die Polymorphismen müssen zusätzlich so beschaffen sein, dass sie schnell und ökonomisch bestimmt werden können. Mit der Entdeckung von Mikrosatellitenmarkern (Miesfeld et al, 1981, Hamada et al, 1982) konnte ein genomisches Element ausgemacht werden, das all die oben aufgeführten Kriterien erfüllt. Mikrosatelliten, die auch als “Simple Sequence Repeats (SSR)” bezeichnet werden, bestehen aus Tandem-Wiederholungen von DNA-Grundmotiven, die aus 2 bis 4 Basenpaaren aufgebaut sind. Mikrosatelliten finden sich sehr häufig in allen Säugergenomen und zeigen einen extremen intraspezifischen Polymorphismus, der durch die Anzahl an Wiederholungen des zugrundeliegenden DNA-Motivs charakterisiert ist. Wichtigerweise können Mikrosatelliten-Polymorphismen sehr leicht durch PCR-Amplifikation des gesamten Locus detektiert werden. Dazu werden Primer eingesetzt, die homolog zu den spezifischen DNA-Sequenzen sind, die den Locus flankieren. Variationen in der Länge der PCRProdukte, die als “Simple Sequence Length Polymorphisms (SSLPs)” bezeichnet werden, können leicht durch Gelelektrophorese nachgewiesen werden. Mikrosatelliten haben sich als ein ideales genetisches Werkzeug herausgestellt, um die Erzeugung kongener Stämme zu beschleunigen. Mittels Computersimulationen (Weil et al, 1997, Markel et al, 1997) konnte gezeigt werden, dass durch den Einsatz selektiver Zuchtstrategien, die auf der Auswertung von Mikrosatelliten-Polymorphismen basieren, kongene Nagerstämme in deutlich weniger Generationen hergestellt werden können, als dies beim Backcrossing ohne negative Selektion der Fall wäre. Lander and Schork (1994) haben für derarte beschleunigt hergestellte kongene Stämme den Terminus “Speed-Kongene“ eingeführt. Während “speed-kongene“ Mausstämme heute bereits routinemäßig erzeugt werden (Serreze et al, 1996), ist die Herstellung “speed kongener“ Rattenstämme noch unüblich. Die Technik wird sich jedoch in demselben Ausmaß bei der Ratte durchsetzen, in dem geeignete MikrosatellitenMarker für diese Spezies charakterisiert werden. Kürzlich haben James and Lindpaintner (1997) eine Vielzahl von Internetadressen publiziert, in denen detailierte Informationen über RattenMikrosatelliten verfügbar sind. 63 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 3.7 Segregierende Inzuchtstämme Koisogene und kongene Stämme werden häufig durch Bruder x Schwester Inzüchtung propagiert. Manchmal führt jedoch die Homozygosität des interessierenden Differentialgens solcher Stämme zur Beeinträchtigung der Fertilität oder Lebensfähigkeit. In diesen Fällen kann der Stamm ebenfalls durch Vollgeschwister-Verpaarung geführt werden; das Differentialgen wird jedoch in einen heterozygoten Status gezwungen. Heterozygosität kann einerseits entweder durch Backcrossing oder durch Intercrossing erzwungen werden. Beim Backcrossing werden heterozygote und homozygote Träger des Differentialgenes untereinander gepaart; beim Intercrossing werden heterozygote Träger gekreuzt. Ein Beispiel eines segregierenden Inzuchtstammes sind kongene Mäuse, die das rezessive nu-Allel tragen, das eine Immunodefizienz (T-Zelldefekt) induziert. Da nu/nu Weibchen häufig Probleme bei der Jungenaufzucht haben, wird dieser Stamm in vielen Fällen derart propagiert, dass homozygote nu/nu Männchen mit heterozygoten nu/+ Weibchen verpaart werden. 3.8 Hybriden Hybriden werden erzeugt, indem Angehörige zweier unterschiedlicher Inzuchtstämme miteinander verpaart werden (Outcrossing). Folglich tragen Hybriden je einen haploiden Chromosomensatz von jedem Parentalstamm. Da das X- bzw. das Y-Chromosom männlicher Hybriden ausschließlich von maternalen bzw. paternalen Parentalstammm abstammt, ist bei Hybriden anzugeben, welcher Inzuchtstamm als paternaler bzw. maternaler Elternstamm verwandt wurde. Das spezifische Genom eines F1-Hybriden kann nur erzeugt werden, indem die parentalen Inzuchtstämme untereinander verpaart werden. Folglich ist es erforderlich, dass die zur Herstellung von Hybriden erforderlichen Parentalstämme ständig zur Verfügung stehen. Werden F1-Hybriden untereinander verpaart (Intercrossing), führen zufällige Segregation und unabhängige Vererbung heterozygoter Loci zu F2-Tieren, die im Gegensatz zum F1-Hybriden nicht mehr genetisch einheitlich sind. Ingezüchtete Tiere und Hybriden zeigen beide die Eigenschaft der genetischen Uniformität (Isogenität). Im Gegensatz zum hohen Ausmaß an Homozygosität, das für ingezüchtete Tiere charakteristisch ist, zeigen Hybriden jedoch ein starkes Maß an Heterozygosität. Für eine Vielzahl von Merkmalen und Spezies zeigen ingezüchtete Tiere eine stärkere phänotypische Variation im Vergleich zu nicht-ingezüchteten Individuen (Livesay, 1930, Hyde, 1973). Bezüglich solcher Merkmale stellen Hybriden eine geeignete Alternative zu den Inzuchttieren dar, da sie die Faktoren der genetischen Einheitlichkeit und der geringeren Merkmalsvariabilität kombinieren. Ein anderer Grund für den verbreiteten Einsatz von Hybriden in der 64 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg biomedizinischen Forschung liegt in ihrer hohen Viabilität und Fertilität im Vergleich zu ingezüchteten Tieren. 3.9 Rekombinante Inzuchtstämme Das Zuchtschema zur Erzeugung rekombinanter Inzuchtstämme (RI) beginnt mit einem Outcrossing von zwei bekannten Inzuchtstämmen, die als Progenitorstämme bezeichnet werden. Die resultierenden F1-Hybriden werden untereinander verpaart (Intercrossing), um eine große Anzahl von F2-Tieren zu erzeugen. Die F2-Tiere werden nun jeweils in zufälliger Weise paarweise miteinander verpaart. Jedes Paar dient dabei als Begründer eines neuen Inzuchtstammes. Folglich müssen die Nachkommen jedes gesetzten F2-Paares getrennt gehalten werden und zwei dieser Tiere werden in zufälliger Weise ausgesucht, um die erste Generation einer konsekutiven Bruder x Schwester Inzüchtung zu begründen. Zwanzig aufeinanderfolgende Generationen Vollgeschwisterverpaarung müssen mit den Nachkommen jedes einzelnen F2Paares durchgeführt werden, um den resultierenden Stamm als RI-Stamm bezeichnen zu können. Das beschriebene Zuchtschema wird für eine bestimmte Kombination an Progenitorstämmen eine breite Palette neuer RI-Stämme erzeugen. Unterschiedliche RI-Stämme, die mit denselben Progenitorstämmen erzeugt wurden, werden demselben RI-Stammset zugesprochen. Jeder Stamm eines bestimmten RI-Sets wird vielfach rekombinierte Chromosomen tragen, die jeweils aus Fragmenten beider Progenitorstämme zusammengesetzt sind. Wichtigerweise trägt jeder einzelne Stamm des RI-Sets ein einheitliches Muster an chromosomalen Rekombinationen, das bei der weiteren Propagierung des Stammes durch Vollgeschwisterpaarung stabil vererbt wird. Es ist das Verdienst von Donald Bailey, die enorme Bedeutung rekombinant ingezüchteter Stämme für genetische Analysen erkannt zu haben (Bailey, 1971, Bailey 1981). Das wichtigste Einsatzgebiet von RI-Stämmen liegt in der Bestimmung von chromosomalen Positionen sowie in Linkage-Analysen. Um den genauen Genlocus eines neu klonierten Gens zu bestimmen (mapping) werden die Progenitorstämme existierender RI-Sets daraufhin untersucht, ob ein Polymorphismus des interessierenden Genes vorliegt. Gelingt es, für die Progenitoren eines RIsets alternative Allele zu diskriminieren, so werden alle RI-Stämme dieses Sets typisiert. Prinzipiell sollten 50% der RI-Stämme das eine und 50% das andere Allel tragen. Das Resultat dieser Analyse wird als Stammverteilungsmuster (strain distribution pattern = SDP) des spezifischen Locus bezeichnet. Das SDP eines einzelnen Locus ist noch nicht informativ. Je mehr SDPs jedoch für ein bestimmtes Set von RI-Stämmen vorliegen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein neues Gen kartiert werden kann, indem das Locus-spezifische SDP mit dem von bekannten Genen verglichen wird. Geeignete Computerprogramme zur Analyse 65 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg solcher Fragestellungen sind verfügbar (Manly, 1993). Werden die SDPs zweier definierter Loci zur Durchführung einer Linkage-Analyse miteinander verglichen, so wird das Resultat üblicherweise durch die Begriffe Konkordanz und Diskordanz beschrieben. Zwei unterschiedliche genetische Loci werden innerhalb eines bestimmten RI-Stammsets als konkordant angesehen, wenn diese Stämme ausschließlich Allele des einen Progenitorstammes tragen. Trägt ein bestimmter RI-Stamm Allele beider Progenitoren, so werden diese Loci als diskordant bezeichnet. Für eine bestimmte Kombination nicht-verbundener Gene sollten jeweils 50% der RI-Stämme eines bestimmten Sets Konkordanz bzw. Diskordanz aufweisen. Andererseits sollten bei zwei Loci, die sehr nahe auf einem Chromosom zusammenliegen, etwa 100% der RI-Stämme eines bestimmten Sets Konkordanz und fast keine Stämme Diskordanz aufweisen. Für Loci, die weniger nahe beieinanderliegen, sollten sich dazwischenliegende Werte für Konkordanz und Diskordanz ergeben. Die Termini N und i bezeichnen die Gesamtzahl an RI-Stämmen, die auf Diskordanz untersucht wurden sowie die Anzahl an tatsächlich diskordanten Stämmen. Der Anteil R = i/N bezeichnet die Diskordanzebene, die in einem oder mehreren Sets von RI-Stämmen ermittelt wurde. Wichtigerweise reflektiert die Diskordanzebene, die für zwei bestimmte Loci in RI Sets ermittelt wurde, die mittlere Entfernung der beiden Loci. Nach Haldane and Weddington (1931) kann die Wahrscheinlichkeit für eine Rekombination zwischen zwei verbundenen Loci r, die ja ein direktes Maß für den genetischen Abstand der beiden Loci darstellt, nach folgender Formel errechnet werden: r = R / (4-6R) Diese Formel erlaubt die direkte Abschätzung des Abstandes zweier genetischer Loci (in cM/100) durch die Bestimmung des Diskordanzanteils R, der in einem oder in mehreren Sets von RI-Stämmen auftritt. Zur weiteren Information über RI-Stämme empfehlen wir die hervorragende Publikation von Silver (1995). 3.10 Ausgezüchtete Stocks (Auszuchtstämme) Bei Auszuchtstämmen soll eine breite genetische Variabilität aufrechterhalten und so die genetische Situation einer natürlichen Population nachgeahmt werden. Ausgezüchtete Tiere werden üblicherweise eingesetzt, um pharmakologische Wirkungen von Testsubstanzen zu evaluieren sowie das toxikologische Potential von Chemikalien zu prüfen. Ausgezüchtete Stämme können ebenfalls als Ausgangsmaterial für Selektionsexperimente dienen. Bei der Zucht von Auszuchtstämmen müssen folgende Punkte berücksichtigt werden: 66 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 1) Auszuchtstämme müssen als geschlossene Population propagiert werden. Das unkontrollierte Einbringen neuer Tiere und somit neuer genetischer Information in solche Populationen ist nicht zulässig. 2) Der Verlust von Allelen aus dem ursprünglichen Genpool des Auszuchtstamms muss auf ein minimales Maß reduziert werden. 3) Innerhalb eines Auszuchtstamms muss die Bildung von Sublinien mit deutlichen Unterschieden der Allelfrequenzen vermieden werden. Das Ausmaß, in dem Allelverlust und Sublinienbildung vermieden werden können, wird durch folgende Parameter bestimmt (Rapp, 1972): Populationsgröße: Der Faktor, der primär für die Abnahme der durchschnittlichen Heterozygosität verantwortlich ist, ist die sogenannte effektive Populationsgröße. Diese wird definiert als die Anzahl an Zuchttieren, die tatsächlich Nachkommen für die nächste Zuchtgeneration liefern. Durch die Anwendung von Computersimulationen konnte Eggenberger (1973) zeigen, dass eine effektive Populationsgröße von 400 Tieren erforderlich ist, um den Verlust von Allelen aus dem Genpool eines Auszuchtstamms auf ein zu vernachlässigendes Maß zu reduzieren. Es sollte an dieser Stelle erwähnt werden, dass ein einmal in einem ausgezüchteten Genepool stattgefundener Allelverlust nicht durch Zuchtmaßnahmen kompensiert werden kann. Deshalb ist die Sanierung des Hygienestatus kontaminierter Auszuchtstämme durch die Technik des Embryotransfers aus genetischer Sicht kritisch zu bewerten. Da die Anzahl an übertragenen Embryonen meist limitiert ist, ist bei solchen Anlässen häufig ein Flaschenhalseffekt der Populationsgröße zu beobachten, der zu einer kritisch zu beurteilenden Zunahme der durchschnittlichen Homozygosität des Stammes führt. Generationenfolge: Da der Verlust von Allelen aus dem Genpool eines Auszuchtstamms beim Generationenwechsel stattfindet, sollten die Zuchtpaare so selten wie möglich ausgetauscht werden. Durch diese Maßnahme kann der Prozess der kontinuierlichen Abnahme der durchschnittlichen Heterozygosität der Auszucht-Population signifikant abgebremst werden. Auswahl der Zuchttiere: Die künstliche Selektion auf spezifische Phänotypen muss bei der Zucht von Auszuchtstämmen strikt vermieden werden (Eggenberger, 1973). Falls starke Selektionskräfte wirken, werden innerhalb weniger Zuchtgenerationen bestimmte Allele im Genpool des Auszuchtstamms fixiert. Diese Regel gilt auch bezüglich des Zuchterfolgs und der Wachstumsgeschwindigkeit. Obwohl eine Selektion bei diesen Parametern aus ökonomischer Sicht natürlich sehr attraktiv ist, darf dies keine Zielsetzung bei der Zucht eines standardisierten Auszuchtstamms sein. 67 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Zuchtsystem: In der Vergangenheit wurden eine Vielzahl von Zuchtsystemen auf ihre Tauglichkeit überprüft, ein hohes Maß an durchschnittlicher Heterozygosität innerhalb einer Population zu bewahren. Bei der randomisierten Zucht oder Zufallszucht werden neue Zuchttiere in zufälliger Weise aus dem Nachkommenpool ausgesucht. Dies bedeutet, dass jedes Tier eine gleich große Chance auf Anpaarung mit einem anderen Tier der Population hat (Falconer, 1989). Die Verpaarung von nahen Angehörigen kann dabei prinzipiell nicht vermieden werden, was jedoch zu einem starkem Inzucht-bedingten Heterozygositätsverlust der Population führt. Aus diesem Grunde kann die Zufallsverpaarung nicht als Zuchtverfahren zum Propagieren von Auszuchtstämmen empfohlen werden. Das Zuchtsystem der Pedigrierung basiert auf der maximalen Vermeidung von Inzucht durch die Verpaarung wenig verwandter Tiere (Wright, 1921). Diese pedigrierten Systeme erfordern Kenntnisse über den Verwandtschaftsgrad der Paarungspartner; folglich muss ein Stammbaum (Pedigree) der Kolonie geführt werden, was ein sehr arbeitsintensives Unterfangen darstellt. Es hat sich gezeigt, dass pedigrierte Zuchtsysteme zwar eine geringe initiale Verlustrate der durchschnittlichen Heterozygosität aufweisen; dass die Homozygotierate der Population jedoch mit steigender Generationenzahl deutlich zunimmt. Deshalb sind pedigrierte Zuchtsysteme nicht für Auszuchtstämme geeignet. Als zur Minimierung Zuchtverfahren haben des sich Heterozygositätsverlusts sogenannte von Auszuchtstämmen Rotationszuchtsysteme erwiesen. Bei optimale diesen Zuchtverfahren werden die Zuchtpartner nicht nach dem Prinzip der Randomisierung oder Pedigrierung ausgewählt, sondern mit Hilfe eines mathematischen Schemas festgelegt. Als sehr simples Rotationszuchtverfahren kann das sogenannte “circular-pair-mating” System (Kimura and Crow, 1963) angesehen werden, das in der nachfolgenden Tabelle 3.1 erläutert wird. 68 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg n (Anzahl der Zuchtpaare) 1 2 3 4 4/1 1/2 2/3 3/4 F2 etc 4/1 1/2 2/3 3/4 5/1 1/2 2/3 3/4 4/5 F2 etc 5/1 1/2 2/3 3/4 4/5 6/1 1/2 2/3 3/4 4/5 5/6 F2 etc 6/1 1/2 2/3 3/4 4/5 5/6 4 F1 5 6 7 8 (wie F1) 5 F1 (wie F1) 6 F1 (wie F1) Tabelle 3.1 “Circular pair mating” nach Kimura and Crow (1963) Dieses Zuchtsystem arbeitet mit Zuchtpaaren, die ständig (permanent) verpaart bleiben. Jeder Zuchtkäfig erhält eine Nummer n. Die Anzahl an Zuchtpaaren bzw. Zuchtkäfigen wird beim Generationenwechsel konstant gehalten. Das Zuchtschema ist für 4 (obere 2 Zeilen), 5 (mittlere 2 Zeilen) und 6 (untere 2 Zeilen) Zuchtpaare aufgeführt. F charakterisiert die jeweilige Generation. Die Felder der Tabelle bestehen aus Kombinationen von Käfignummern. Dabei spezifiziert die erste bzw. zweite Zahl die Nummer der Zuchtkäfige der vorhergehenden Generation, aus denen beim Generationenwechsel die neuen Männchen bzw. Weibchen zu rekrutieren sind. So bedeutet beispielsweise die in der Tabelle fett und unterstrichen dargestellt Zahlenkombination 4/1, dass das Zuchtpaar 1 der Generation F2 rekrutiert wird, indem ein männlicher Nachkomme aus dem Zuchtkäfig 4 der vorherigen Generation mit einem weiblichen Nachkommen aus dem Zuchtkäfig 1 der vorherigen Generation verpaart wird. Obwohl das circular-pair-mating System durchaus praktikabel ist, wird es selten eingesetzt, um Auszuchtpopulationen zu propagieren. Rotationszuchtsysteme, die üblicherweise zur Zucht von Auszuchtstämmen eingesetzt werden, sind das System nach Poiley (Poiley, 1960), das System nach Robertson (Falconer 1967), das System nach Falconer (Falconer 1967) und das HanRotationssystem (Rapp, 1972). Diese vier Systeme sind dadurch charakterisiert, dass die Auszuchtpopulation in eine Anzahl gleich großer Blöcke unterteilt wird. Während bei den 69 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg anderen drei Systemen die Anzahl an Blöcken frei gewählt werden kann, erlaubt das System von Robertson nur die Auswahl von 4 oder 8 oder 16 oder 32 etc Blöcken. Die Gesamtanzahl an Blöcken wird für alle nachfolgenden Generationen konstant gehalten. Ein einzelner Block besteht aus einer gleichgroßen Anzahl an männlichen und weiblichen Zuchttieren, wie z.B. ein einzelnes Zuchtpaar oder üblicherweise einer Vielzahl von Zuchtpaaren. Um Zuchttiere für die nächste Generation zur Verfügung zu stellen, muss die Nachkommenschaft eines Blocks streng von den Nachkommen eines anderen Blocks getrennt werden. Die einzelnen Rotationszuchtsysteme legen nun Regeln fest, wie beim Übergang von einer Zuchtgeneration auf die nachfolgende neue Zuchttiere für einen bestimmten Zuchtblock aus der Nachkommenschaft der vorgehenden Blockgeneration zu rekrutieren sind. In der nachfolgenden Tabelle 3.2 wird das Han-Rotationssystem vorgestellt. Den an den Rotationszuchtsystemen nach Poiley, Robertson und Falconer interessierten Leser verweisen wir auf Zimmermann et al. (1990). m (Zuchtblöcke) 5 F 1 2 3 4 5 6 F1 5/1 1/2 2/3 3/4 4/5 F2 4/1 5/2 1/3 2/4 3/5 F3 2/1 3/2 4/3 5/4 1/5 F4 3/1 4/2 5/3 1/4 2/5 F1 6/1 1/2 2/3 3/4 4/5 5/6 F2 5/1 6/2 1/3 2/4 3/5 4/6 F3 3/1 4/2 5/3 6/4 1/5 2/6 7 8 F5 (wie F1) 6 F4 (wie F1) Tabelle 3.2 Han-Rotationssystem nach Rapp (1971) Das System ist für m = 5 Blöcke (obere 4 Zeilen) und m = 6 Blöcke (untere 3 Zeilen) dargestellt. F charakterisiert die jeweilige Zuchtgenerationen. Die Zellen der Tabelle gibt Kombinationen von Blocknummern wieder. Die erste bzw. die zweite Nummer der Zahlenkombination spezifiziert, von welchen Blöcken der vorhergehenden Generation männliche bzw. weibliche Zuchttiere zu rekrutieren sind. So bedeutet beispielsweise die in der Tabelle fett und unterstrichen dargestellte Zahlenkombination 6/2, dass der Zuchtblock 2 der Generation F2 rekrutiert wird, indem 70 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg männliche Nachkommen des Zuchtblocks 6 der vorherigen Generation mit weiblichen Nachkommen des Zuchtblocks 2 der vorherigen Generation verpaart werden. Eggenberger (1973) konnte zeigen, dass das Rotationszuchtsystem von Poiley, das System von Robertson, das System von Falconer und das Han-Rotationssystem in gleicher Weise geeignet sind, um ein hohes Maß an durchschnittlicher Heterozygosität in Auszuchtstämmen zu konservieren. Das Rotationssystem nach Poiley kann jedoch nicht empfohlen werden, da es zur Bildung von Sublinien führt. 3.11 Embryotransfer bei der Spezies Maus In modernen Maus- und teilweise auch in Rattenhaltungen spielt die Technik des Embryotransfers eine herausragende Rolle (Hogan et al., 1994). Bei dieser Methode werden von Spendertieren Embryonen gewonnen, die dann in vitro zur Durchführung embryonaler Manipulationen zur Verfügung stehen. Die für die biomedizinische Forschung wohl wichtigste embryonale Manipulation besteht darin, gentechnische Veränderungen in murine Embryonen einzubringen. Aus solchen Experimenten resultieren entweder transgene Tiere oder sogenannte „knock-out“ bzw. „knock-in“ Mäuse“. Da es nicht möglich ist, die Embryonen nach erfolgter Manipulation in vitro zu einem lebensfähigen Tier zu kultivieren, müssen sie zur Weiterentwicklung wieder in dieselbe Umgebung zurückgebracht werden, der sie auch entnommen wurden: den weiblichen Reproduktionstrakt. Bei den Spezies Maus und Ratte erfolgt der Embryotransfer auf scheinträchtige (pseudogravide) Empfängerweibchen. Der Transfer erfolgt bei diesen Spezies im Rahmen eines operativen Eingriffs, bei dem die Bauchhöhle eröffnet wird. Da die Spezies Maus in der biomedizinischen Forschung eine herausragende Rolle spielt, werden nachfolgend die Technik und die Anwendungsgebiete des Embryotransfers für diese Spezies aufgeführt. Gewinnung von Embryonen: Zur Gewinnung von Mausembryonen sind weibliche Spendertiere und zeugungsfähige (fertile) Böcke notwendig. Die Spenderweibchen werden üblicherweise mit Hormonen behandelt, um einerseits zuverlässig eine Ovulation auszulösen (Zyklussynchronisation) und um andererseits eine möglichst erhöhte Ovulationsrate („Superovulation“) auszulösen. Häufig werden noch nicht geschlechtsreife Mausweibchen mit Hormonen behandelt. Zur Hormonbehandlung kommen Substanzgemische zum Einsatz, die als PMSG (pregnant mare serum gonadotrophin) und HCG (human chorionic gonadotrophin) bezeichnet werden. PMSG enthält vorwiegend FollikelStimulierendes-Hormon (FSH), HCG vorwiegend 71 Luteinisierungs-Hormon (LH). Zur Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Hormonbehandlung werden die Tiere zunächst mit PMSG und 48 Stunden später mit HCG behandelt. Dabei werden jeweils 5-10 Einheiten (Units) der Hormonpräparate intraperitoneal verabreicht. Die Injektionszeitpunkte müssen mit dem Licht/Dunkel-Rhythmus der Tierhaltung abgestimmt werden. Die Verabreichung erfolgt etwa zur Mitte der Helligkeitsperiode. Nach der HCG-Injektion werden die Weibchen mit den fertilen Männchen verpaart. In der kommenden Dunkelperiode erfolgen Ovulation und Begattung. Die Begattung kann anhand eines sogenannten Vaginalpfropfes erkannt werden. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass das Ejakulat von Nagetieren aufgrund der besonderen Zusammensetzung der Sekrete der akzessorischen Geschlechtsdrüsen in der weiblichen Scheide koaguliert und temporär einen Vaginalpfropf bildet. Der erste Tag nach der Dunkelperiode, in der Ovulation und Begattung stattgefunden haben, wird üblicherweise als Tag 0,5, der zweite als Tag 1,5 u.s.w. bezeichnet. An den Tagen 0.5 bis 2.5 der Trächtigkeit (Gravidität) können die Embryonen aus dem Eileiter (Ovidukt) gespült werden, wobei sich die Embryonen an Tag 0,5 bis zum 1-Zellstadium, am Tag 1,5 bis zum 4-Zellstadium und am Tag 2,5 bis zum 8-Zellstadium entwickeln. An den Tagen 3,5 und 4,5 können die Embryonen aus der Gebärmutter (Uterus) gewonnen werden. Solche Embryonen haben ein fortgeschritteneres Entwicklungsstadium (Morula, Blastozyste) erreicht. Zur Embryonengewinnung müssen die Spendermäuse getötet werden. Die Stammeszugehörigkeit der Spendertiere richtet sich nach der Fragestellung des jeweiligen Experiments. Zur Herstellung von transgenen Tieren durch DNA-Injektion in 0,5 Tage alte Embryonen werden üblicherweise FVB-Inzuchttiere oder (B6 x DBA/2)F1 Hybriden herangezogen. Zur Herstellung von Knockout-Tieren werden meist B6-Embryonen eingesetzt. Übertragung von Embryonen auf Empfängerweibchen: Um geeignete Empfängerweibchen für Embryotransfers bei der Maus zur Verfügung zu stellen, sind scheinträchtige (pseudogravide) Empfängerweibchen und zeugungsunfähige (sterile oder vasektomierte) Böcke notwendig. Als Empfängerweibchen bei Embryotransfers kommen ganz allgemein nur solche Weibchen in Frage, deren Geschlechtsorgane sich in einem geeigneten Stadium befinden. Im Maussystem kann die Weiterentwicklung der Embryonen gewährleistet werden, indem pseudogravide Tiere als Empfänger eingesetzt werden. Hormon-behandelte Mausweibchen stellen ungeeignete Embryonenempfänger, da diese Behandlung zu einer Hyperstimulation des weiblichen Genitaltrakts führt und die embryonale Implantation beeinträchtigt. Scheinträchtige Mäuse werden erzeugt, indem Weibchen mit natürlichem Zyklus mit vasektomierten Männchen verpaart werden. Nur solche Weibchen, die sich im Östrus befinden tolerieren die Begattung. Da die Zykluslänge bei der Maus 4-5 Tage und die Östruslänge ca. 1 Tag betragen, befinden sich ca. 20 – 25% einer Weibchenpopulation im 72 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Östrus. Bei östrischen Weibchen erfolgen Ovulation und Begattung in der Dunkelperiode nach Verpaarung. Die erfolgreiche Begattung kann wiederum am Vorhandensein eines VaginalPropfes erkannt werden. Der erste Tag nach der Dunkelperiode, in der Ovulation und sterile Begattung stattgefunden haben, wird als Tag 0,5 der Pseudogravidität bezeichnet. Beim Embryotransfer werden nur dann gute Angangsraten erzielt, wenn als Empfängerweibchen Tiere bestimmter Stämme eingesetzt werden. Als geeignet haben sich Auszuchtweibchen (z.B. NMRI) sowie (B6 x DBA/2)F1 Hybriden erwiesen. Erzeugung vasektomierter Männchen Zur Vasektomie werden die Samenleiter des Männchens durchtrennt. Dazu muss die Bauchhöhle eröffnet werden. Da die Hoden nicht entfernt werden, wird unverändert männliches Sexualhormon, das Testosteron, gebildet. Die Samenflüssigkeit vasektomierten Männchen ist lediglich insofern verändert, als der Spermienanteil fehlt; die Libido wird durch den Eingriff nicht dauerhaft gestört. Nach der Vasektomie benötigen die Männchen jedoch eine mehrwöchige Erholungszeit, bis sie sich vollständig vom Eingriff erholt haben und wieder Interesse an Weibchen zeigen. Auch bei den vasektomierten Männchen ist die Stammeszugehörigkeit nicht gleichgültig. Die Verwendung von Auszuchttieren wie NMRI führt meist zu Problemen, da die Tiere frühzeitig verfetten. Als geeigneter haben sich (B6 x DBA/2)F1 Hybriden erwiesen. Abstimmung von Spender- und Empfängerseite (Synchronisation des Embryotransfers): Mausembryonen, die 0,5, 1,5 oder 2,5 Tage alt sind, werden in den Eileiter (Ovidukt) von 0,5 Tage scheinträchtigen Ammen übertragen (Ovidukttransfer). Mausembryonen, die 3,5 oder 4,5 Tage alt sind, werden in die Gebärmutter (Uterus) von 2,5 Tagen scheinträchtigen Ammen übertragen (Uterustransfer). Die Einhaltung der aufgeführten Synchronisation ist sehr wichtig, um optimale Effizienzen zu erreichen. Die Transferkonstellation, die durchgeführt wird, ist abhängig von der Zielsetzung des Experiments. So werden zur Herstellung transgener Mäuse Embryonen an Tag 0,5 der Gravidität gewonnen, manipuliert (DNA-Injektion in den Pronukleus) und anschließend in Tag 0,5 scheinträchtige Weibchen übertragen. Zur Herstellung von „knock-in“ oder „knock-out“ Mäusen werden Embryonen an Tag 3,5 der Gravidität gewonnen, manipuliert (Injektion von gentechnisch veränderten embryonalen Stammzellen) und anschließend in Tag 2,5 scheinträchtige Weibchen übertragen. Zur Sanierung des Hygienestatus von Mausvarianten via Embryotransfer werden die Embryonen an Tag 1,5 akquiriert und in Tag 0,5 scheinträchtige Weibchen transferiert. Zur Kryokonservierung von Mausvarianten in Embryonenform werden die Embryonen an Tag 1.5 entwickelt und weggefroren. Nach 73 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg erfolgreichem Auftauen werden diese Embryonen in Tag 0,5 pseudogravide Empfänger übertragen. Embryotransfer Beim Ovidukttransfer werden die Embryonen mit einer feinen Glaskapillare in die natürliche Öffnung des Eileiters eines Empfängertiers übertragen. Embryonen, die aus der Gebärmutter des Spenders gewonnen wurden, werden auch in die Gebärmutter der Amme übertragen. Hierzu wird die Gebärmutter mit einem feinen Instrument punktiert und die Embryonen mit Hilfe einer Glaskapillare übertragen. In der Regel werden diese Eingriffe beidseits durchgeführt, d.h. es werden Embryonen in linke(n) und rechte(n) Eileiter bzw. Gebärmutter transferiert. Die Anzahl der übertragenen Embryonen wird so gewählt, dass eine Wurfgröße von etwa 10 Tieren (in der Regel) nicht überschritten wird. 3.12 Anwendungsgebiete des Embryotransfers bei der Spezies Maus Embryotransfer als Maßnahme der Sanierung des Hygienestatus Zur Sanierung des Hygienestatus stehen prinzipiell zwei Methoden zur Auswahl. Einerseits können geburtsreife Jungmäuse einer kontaminierten Mutter unter sterilen Bedingungen durch Kaiserschnitt entwickelt werden (die Mutter wird bei diesem Vorgehen getötet). Die durch Kaiserschnitt entwickelten Jungtiere werden dann Ammen eines geeigneten Hygienestatus untergelegt. Neben dem Kaiserschnitt ist auch der Embryotransfer eine geeignete Methode, um einen Mäusestamm aus einer unhygienischen Tierhaltung in eine SPF- oder GnotobiotikTierhaltung zu überführen. Dazu werden Embryonen des kontaminierten Stammes gewonnen und unter sterilen Bedingungen auf ein Empfängerweibchen der Gnotobiotik- oder SPFTierhaltung übertragen. Kryokonservierung und Embryobanking Mäuse- und Ratten-Präimplantationsembryonen können unproblematisch in einer Art und Weise eingefroren werden, die mit hoher Effizienz eine Revitalisierung erlaubt (DaCruz, 1991). In Flüssigstickstoff eingelagerte Embryonen (Embryonenbank) benötigen wenig Platz sind vermutlich unbegrenzt haltbar. Mit Hilfe der Kryotechnik können „Backups“ von Mausvarianten hergestellt werden, die es erlauben, Stämme im Falle mikrobiologischer bzw. genetischer Kontaminationen auf adäquatem Hygieneniveau bzw. in der ursprünglichen Form zu reetablieren. Die Kryotechnik ermöglicht weiterhin, temporär nicht benötigte Mäuse- oder 74 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Rattenstämme ausschließlich in Embryonenform zu bewahren. In diesem Fall ist die Aufrechterhaltung einer Zuchtkolonie nicht mehr erforderlich; mithin kann die Kryotechnik dazu beitragen, Haltungsressourcen effizienter zu nutzen. Herstellung transgener Tiere Durch die Anwendung molekulargenetischer Methoden ist es heute unproblematisch möglich, neue funktionsfähige Gene (Transgene) in vitro zu erzeugen. Werden solche DNA-Konstrukte in geeigneter Form (linearisiert, geeigneter Puffer, geeignete Konzentration) in den Vorkern (Pronukleus) von 1-zelligen Maus- oder Rattenembryonen mikroinjiziert, so kommt es bei etwa 10 bis 40 % der derart manipulierten Embryonen zu einer stabilen Integration der TransgenDNA in das Genom der Empfängertiere. Das chromosomale Integrationsereignis ist durch folgende Merkmale charakterisiert: -Die Transgen-Integration findet i. d. R. an einer einzigen Integrationsstelle des Mausgenoms statt. Der chromosomale Ort der Transgen-Integration ist nicht vorhersagbar, d. h. die Integration erfolgt zufällig an einem beliebigen Ort des Mausgenoms. -Es kommt i. d. R. zur Integration mehrerer Kopien des Transgens; bei Integration von mehrerer Kopien weisen diese i. d. R. eine head-to-tail Anordnung auf. Somit integriert zumeist ein Transgen-Konkatamer in das Mausgenom. Die Kopienzahl von Transgenen kann zwischen 1 und mehreren Hundert variieren. Das charakteristische Integrationsereignis, das in einem bestimmten manipulierten Embryo stattfindet (charakterisiert durch einen spezifischen Integrationsort und eine bestimmte Kopienzahl) wird nach Weiterentwicklung des transgenen Embryos zur Geschlechtsreife stabil nach Mendelschen Regeln vererbt. Jeder Embryo, bei dem eine Transgen-Integration stattgefunden hat, begründet mithin einen eigenen Tierstamm. Es muss berücksichtigt werden, dass die Expression einer Transgensequenz in sehr starker Weise vom spezifischen Integrationsort und der Kopienanzahl beeinflusst. Hinzu kommt, dass durch die Transgenintegration eventuell die Funktion eines murinen Genes beeinträchtigt werden kann (Insertionsmutagenese). Diesen Fakten muss dadurch Rechnung getragen werden, dass mit einem spezifischen Transgenkonstrukt mehrere transgene Stämme erstellt werden. Sofern mehrere der etablierten Stämme einen spezifischen Effekt zeigen, kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass dieser auf der Transgenität beruht. 75 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Herstellung von „knock-in“ und „Knock-out“ Tieren (derzeit nur bei der Spezies Maus verfügbar) Die Voraussetzung für die Herstellung von sogenannten knock-out und knock-in Tieren wurden durch die Entdeckung der homologen DNA-Rekombination und der Entwicklung embryonaler Stammzellen geschaffen. Embryonale Stammzellen (ESC) werden aus frühen Embryonen (Präimplantationsembryonen) gewonnen und können in vitro propagiert werden. Sie besitzen die Fähigkeit, sich in jeden beliebigen Zelltyp (z.B. Herzzellen, Muskelzellen, Knorpelzellen, aber auch Keimzellen) differenzieren zu können, die als Pluripotenz bezeichnet wird. Dabei kann die Differenzierung der ESC durch Faktoren der Zellkultur entweder unterdrückt oder in Gang gesetzt werden. Werden undiffernzierte ESC in Embryonen, meist des Blastozystenstadiums, injiziert, beteiligen sie sich an der Organogenese. Dabei entstehen sogenante chimäre Tiere, die von zwei unterschiedlichen Zelltypen gebildet werden, und zwar solchen, die sich aus den ESC gebildet haben, und solchen, die vom Empfängerembryo abstammen. Über die Herstellung von chimären Tieren kann das genetische Material der ESC in die Keimbahn von Tieren eingebracht werden. Bei der homologen Rekombination kommt es zu einem DNA-Austausch zwischen identischen DNA-Bereichen (homologe Sequenzen). Wird also ein DNA-Konstrukt, welches homologe und nicht-homologe Sequenzen umfasst, in eine Zelle eingebracht, so kann es zu einer homologen Rekombinationsereignis kommen, bei dem die nicht-homologen Sequenzen in das Zellgenom eingeschleust werden. So können gezielt Gene inaktiviert oder verändert werden (gene targeting, Joyner et al., 1993). Da homologe Rekombinationen sehr selten sind, muss das Targeting-DNAKonstrukt, welches zur Einleitung des Vorgangs in die Zellen eingeschleust wird, sogenannte Marker enthalten, die eine Vorselektion solcher Zellen erlauben, bei denen das gewünschte homologe Rekombinationsereignis tatsächlich stattgefunden hat. Indem embryonale Stammzellen für homologe Rekombinationsexperimente eingesetzt werden, können gentechnisch veränderte Tiere generiert werden, bei denen spezifische Gene gezielt verändert wurden. Hierbei wird ein DNA-Konstrukt, mit dem das gewünschte Zielgen verändert werden soll, in vitro in die Zellen eingebracht (übliche Methode: Elektroporation). Mit Hilfe bestimmter Selektionstechniken kann nun in vitro festgestellt werden, welche ESC-Zellklone die gewünschte spezifische gentechnische Veränderung tragen. Diese Stammzellen werden in Empfängerembryonen injiziert. Die embryonalen Stammzellen und die Empfängerembryonen werden dabei so gewählt, dass unterschiedliche Fellfarbengene getragen werden. So können chimäre Tiere, bei denen sich die gentechnisch veränderten ESC an der Organogenese beteiligt haben, an der Zweifarbigkeit des Fells erkannt werden. Die Mehrzahl der heute bei der Spezies 76 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Maus verfügbaren ESC stammen vom Inzuchtstamm 129 ab, der Träger des dominanten agoutiFellfarbenallels ist. Gentechnisch veränderte ESC des Stamms 129 werden üblicherweise in Blastozysten des Inzuchtstammes C57BL/6, der das non-agouti-Fellfarbenallel trägt, injiziert. Die resultierendem Fellfarben-chimären Tiere werden dann auf C57BL/6 Tieren zurückgekreuzt. So können diejenigen Nachkommen der Fellfarbenchimären, die die gentechnische Veränderung in heterozygoter Weise tragen, wiederum anhand der Fellfarbe von den nicht gentechnisch veränderten Wurfgeschwistern unterschieden werden. Durch homologe Rekombination können Tierstämme erstellt werden, bei denen spezifische Gen entweder inaktiviert (knock-out) oder verändert (knock-in) wurden. Da Knock-out-Allele üblicherweise einen rezessiven Erbgang aufweisen, kommt es bei den heterozygoten gentechnisch veränderten Chimärennachkommen in der Regel noch nicht zur Ausbildung des Gendefekts. Meist wirkt sich die genetische Inaktivierung erst bei homozygoten Trägertieren aus. Bewertung der Generierung gentechnisch veränderter Tiere nach Deutschem Tierschutzgesetz (TSchG) Im § 7 des Tierschutzgesetzes werden Tierversuche in folgender Weise definiert: „Tierversuche im Sinne dieses Gesetzes sind Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken 1. an Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden, oder Schäden für diese Tiere oder 2. am Erbgut von Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für die erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere verbunden sein können“ Diese Formulierung stellt klar, dass Eingriffe am Genom von Tieren dann Tierversuche darstellen, wenn sie zu Versuchszwecken durchgeführt werden und mit Schmerzen, Leiden oder Schäden der erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere (Nachkommen) verbunden sind. Selbstverständlich fallen alle Eingriffe an den zur Herstellung gentechnisch veränderter Tierstämme erforderlichen Embryonenspendern und Embryonenempfängern unter die Genehmigungspflicht. Eine gewisse Unsicherheit besteht jedoch bezüglich der neu generierten gentechnisch veränderten Tiere selbst. Da vor Beginn des Experiments nur schwer sicher ausgeschlossen werden kann, dass eine spezifische gentechnische Veränderung möglicherweise zu Schmerzen, Leiden oder Schäden der Trägertiere führt, werden üblicherweise die erste und zweite Generation neu hergestellter gentechnisch veränderter Tiere in den Schutzbereich der gesetzlichen Vorschriften über Tierversuche gestellt. Dabei geht der Gesetzgeber davon aus, dass diese beiden ersten Tiergenerationen dazu genutzt werden zu eruieren, ob eine Belastung der Trägertiere durch die spezifische gentechnische Veränderung vorliegt. Die Weiterzucht der 77 Zucht und Genetik Dr. med. vet. Kurt Reifenberg gentechnisch veränderten Tiere über die 2. Generation hinaus wird üblicherweise nicht mehr als Tierversuch sondern als Zuchtmaßnahme zum Erhalt des Tierstamms gewertet. Hierfür gelten die Bestimmungen des siebenten Abschnitts des Deutschen Tierschutzgesetzes Gesetzes, die sich auf die Zucht, die Haltung und den Handel von Wirbeltieren zu Versuchszwecken beziehen. In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass die Zucht und Haltung von Tieren einem behördlichen Erlaubnisvorbehalt (§11 TSchG) unterliegen. Weiterhin muss darauf hingewiesen werden, dass „es verboten ist, Wirbeltiere zu züchten oder durch bio- oder gentechnische Maßnahmen zu verändern, wenn damit gerechnet werden muss, dass bei der Nachzucht, den biooder gentechnisch veränderten Tieren selbst oder deren Nachkommen erblich bedingt Körperteile oder Organe für den artgemäßen Gebrauch fehlen oder untauglich oder umgestaltet sind und hierdurch Schmerzen, Leiden oder Schäden auftreten“. Zudem „ist es verboten, Wirbeltiere zu züchten oder durch bio- oder gentechnische Maßnahmen zu verändern, wenn damit gerechnet werden muss, dass bei den Nachkommen a) mit Leiden verbundene erblich bedingte Verhaltensstörungen oder mit Leiden verbundene erblich bedingte Aggressionssteigerungen auftreten oder b) jeder artgemäße Kontakt mit Artgenossen bei ihnen selbst oder einem Artgenossen zu Schmerzen oder vermeidbaren Leiden oder Schäden führt oder c) deren Haltung nur unter Bedingungen möglich ist, die bei ihnen zu Schmerzen oder vermeidbaren Leiden oder Schäden führen. 3.13 Literatur Armstrong, D. T. and Opavsky, M. A. (1988). Superovulation of immature rats by continuous infusion of follicle stimulating hormone. Biol. Reprod. 39, 511-518 Bailey, D. W. (1971). Recombinant inbred strains, an aid to finding identity, linkage, and function of histocompatibility and other genes. Transplantation 11, 325-327 Bailey, D. W. (1977). 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Da sich dadurch die Aussagekraft und Reproduzierbarkeit tierexperimenteller Studien erhöht, liegt die Standardisierung von Tierversuchen einerseits ganz im Interesse der Tierexperimentatoren. Andererseits stellt sie aber ebenfalls eine eindeutige Forderung des Deutschen Tierschutzgesetzes dar. Ansätze zur Standardisierung von Tierversuchen können sich mit den Versuchstieren selbst beschäftigen (endogene Faktoren) oder können auf die Haltungsbedingungen der Tiere (exogene Faktoren) abzielen. Es können endogene und exogene Parameter unterschieden werden, die einen Einfluss auf Tierversuche nehmen können.: Endogene Faktoren sind Geschlecht, Zyklusstand, Gravidität und Laktation sowie Alter und Genotyp der Versuchstiere. Alle endogenen Faktoren können prinzipiell vom Experimentator durch sorgfältige Auswahl der Versuchstiere kontrolliert werden. Dabei ist anzumerken, dass die Standardisierung des Zyklusstandes weiblicher Tiere nur in den seltensten Fällen praktiziert wird und dass der Einsatz gravider oder laktierender Tiere für Tierversuche nur legitim ist, wenn eben diese physiologischen Zustände Bestandteil einer wissenschaftlichen Fragestellung sind. Da der Standardisierung des Genotyps der Versuchstiere eine herausragende Bedeutung zukommt, wird diesem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet. Exogene Faktoren mit Einfluss auf Tierversuche sind die Haltungssysteme, Fütterung und Tränkung, Klima (Temperatur, Feuchte, Schadgase), Beleuchtung (Helligkeit, Licht-DunkelSchema) und mikrobiologischer Status der Versuchstiere. Auf die exogenen Tierversuchsfaktoren hat der Experimentator zumeist keinen Einfluss; diese werden vielmehr vom Tierhausmanagement vorgegeben. Es ist heute allgemein üblich, das Klima und in gewissem Umfang auch die Beleuchtung der Tierräume zu standardisieren. Die Haltungssysteme von Versuchstieren sowie die Versuchstierfütterung und -tränkung unterliegen in der Regel keiner Standardisierung. Da dem mikrobiologischen Status der Versuchstiere eine herausragende Bedeutung zukommt; wird dieses Thema an anderer Stelle gesondert behandelt. 4.2 Haltungssysteme Das Deutsche Tierschutzgesetz fordert, Tiere entsprechend ihrer Art und ihrer Bedürfnisse verhaltensgerecht unterzubringen. Dies impliziert, dass Versuchstiere in solchen Käfigen zu halten sind, die alle natürlichen Bewegungsmuster der Versuchstiere erlauben. Die Haltung von 83 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Tieren in Käfigen, in denen ein Aufrichten oder Strecken des Körpers nicht möglich ist, ist tierschutzrechtlich unzulässig. An Käfigelemente, die der Aufnahme von Versuchstieren dienen, sind jedoch weitergehende Anforderungen zu stellen. So sollten die Systeme vorzugsweise aus Kunststoffen hergestellt sein, da dadurch eine gute Temperaturisolation gewährleistet wird. Zudem müssen die Käfige eine geringe Verletzungsgefahr für Personal und Tiere darstellen und ergonomischen Kriterien genügen (geringes Gewicht, leichte Wechselbarkeit, gute Stapelbarkeit). Schließlich müssen die Käfige aus hygienischen Gründen leicht zu reinigen und zu desinfizieren sein (glatte Oberfläche, Beständigkeit gegen Desinfektionsmittel, eventuell geeignet für thermische Verfahren) Die Haltung von Mäusen und Ratten erfolgt üblicherweise in transparenten Kunststoffkäfigen, in die Einstreumaterial zur Absorption von Urin eingebracht wird. Als Einstreu wird üblicherweise Holz- oder Cellulosegranulat verwandt. Prinzipiell wird die Einzelhaltung von Mäusen und Ratten heute kritisch gesehen. Bei der Gruppenhaltung männlicher Mäuse ist allerdings Vorsicht geboten, da Mausböcke untereinander sehr aggressiv sind. Da Rattenböcke untereinander nur geringe aggressive Tendenzen zeigen, ist deren Gruppenhaltung in der Regel unproblematisch möglich. Die Haltung von Meerschweinchen und Kaninchen erfolgt zumeist in Kunststoffkäfigen, deren Boden perforiert ist und unter die jeweils eine Kotwanne geschoben wird. Die Kotwanne dient der Entmistung. Alternativ kann die Entmistung der Kaninchenkäfige auch durch eine Bandfolie erfolgen, die von einer Rolle abgespult wird (Bandentmistung). Es stehen Kaninchenkäfige zur Verfügung, die sowohl eine Einzelhaltung als auch -durch Verbunddie Bildung größerer Käfigkompartimente und somit die Haltung in größeren Tiergruppen erlauben. Alternativ zur Käfighaltung können Kaninchen auch gruppenweise in Boxen gehalten werden, die direkt auf dem Boden des Tierraums aufgestellt werden (Bodenhaltung). Bei der Haltung von Meerschweinchen und weiblichen Kaninchen ist eine Gruppenhaltung zu empfehlen. Die Gruppenhaltung männlicher Kaninchen ist kritisch zu bewerten, da die Rammler untereinander sehr aggressiv sind. Die gesetzlichen Anforderungen an Tierhaltungsräume und Tierkäfige sind in der „Richtlinie des Rates vom 24. November 1986 zur Annäherung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere (86/609/EWG)“ spezifiziert. Dieses Werk wird auch als sogenannte Eurorichtlinie bezeichnet. Die Eurorichtlinie werden derzeit überarbeitet. Zwar existiert bereits eine „endgültige Entwurfsversion“ der neuen Eurorichtlinie, diese Regelung ist jedoch noch nicht offiziell in Kraft getreten. Da mit der Verabschiedung der neuen Eurorichtlinie jedoch in Bälde zu rechnen ist, sind nachfolgend die Anforderungen der „endgültigen Entwurfsversion“ der 84 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg modifizierten Eurorichtlinie wiedergegeben. Dabei sind lediglich die Angaben für die Spezies Maus, Ratte, Meerschweinchen und Kaninchen wiedergegeben. 85 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 4.3 Richtlinien für Maushaltung: Mindesthöhe eines Käfigs: 12 cm Mindestfläche eines Zuchtkäfigs für ein Zuchtpaar oder ein Zuchttrio: 330 cm2 zusätzlich pro weiterem Zuchtweibchen: 180 cm2 Mindestflächen bei Zuchtvorratstieren die in einem Käfig von mindestens 1500 cm2 gehalten werden: pro Tier von < 20 g 40 cm2 die in einem Käfig von mindestens 950 cm2 gehalten werden: pro Tier von < 20 g 30 cm2 Mindestfläche eines Käfigs bei Experimentalvorrats- und Experimentalhaltung: 330 cm2 Mindestflächen pro Tier bei Experimentalvorrats- und Experimentalhaltung: 86 < 20 g 60 cm2 21-25 g 70 cm2 26-30 g 80 cm2 > 30 g 100 cm2 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 4.4 Richtlinien für Rattenhaltung: Mindesthöhe eines Käfigs: 18 cm Mindestfläche eines Zuchtkäfigs für ein Zuchtweibchen: 800 cm2 zusätzlich pro weiterem Zuchttier: 400 cm2 Mindestflächen pro Tier bei Zuchtvorratstieren, die in einem Käfig von mindestens 1500 cm2 gehalten werden : <50 g 100 cm2 51-100 g 125 cm2 101-150 g 150 cm2 151-200 g 175 cm2 Mindestflächen pro Tier bei Zuchtvorratstieren, die in einem Käfig von mindestens 2500 cm2 gehalten werden: < 100 g 100 cm2 101-150 g 125 cm2 151-200 g 150 cm2 Mindestfläche eines Käfigs bei Experimentalvorrats- und Experimentalhaltung: bis 600 g 800 cm2 > 600 g 1500 cm2 Mindestflächen pro Tier bei Experimentalvorrats- und Experimentalhaltung: 87 < 200 g 200 cm2 201-300 g 250 cm2 301-400 g 350 cm2 401-600 g 450 cm2 > 600 g 600 cm2 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 4.5 Richtlinien für Meerschweinchenhaltung Mindesthöhe eines Käfigs: 23 cm Mindestfläche eines Zuchtkäfigs: für ein Zuchtpaar mit Jungtieren: 2500 cm2 pro weiterem Zuchtweibchen zusätzlich: 1000 cm2 Mindestfläche eines Käfigs bei Vorrats- und Experimentalhaltung: bis 450 g 1800 cm2 > 450 g 2500 cm2 Mindestflächen pro Tier bei Vorrats- und Experimentalhaltung: 88 < 200 g 200 cm2 201-300 g 350 cm2 301-450 g 500 cm2 451-700 g 700 cm2 > 700 g 900 cm2 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 4.6 Richtlinien für Kaninchenhaltung Mindestkäfigflächen und Mindestkäfighöhen eines einzelnen Tiers oder eines sozial harmonisierenden Duos eines Alters > 10 Wochen: Gewicht Fläche Höhe 2 45 cm 3 - 5 kg 2 4200 cm 45 cm > 5 Kg 5400 cm2 60 cm < 3 kg 3500 cm Mindestabmessungen der Käfigfläche, der Nestboxfläche und der Käfighöhe eines einzelnen Zuchtweibchens samt Jungtieren: Gewicht Käfigfläche Nestboxfläche Höhe < 3 kg 3500 cm2 1000 cm2 45 cm 2 2 45 cm 2 60 cm 3 - 5 kg > 5 kg 4200 cm 2 5400 cm 1200 cm 1400 cm Maximale Anzahl an Tieren eines Alters < 7 Wochen pro Käfig einer Fläche von mindestens 4000 cm2 und einer Höhe von mindestens 40 cm: 5 pro zusätzlichem Tier eines Alters < 7 Wochen zusätzlich 800 cm2 Maximale Anzahl an Tieren eines Alters von 8 - 10 Wochen pro Käfig einer Fläche von mindestens 4000 cm2 und einer Höhe von mindestens 40 cm: 3 pro zusätzlichem Tier eines Alters 8 - 10 Wochen zusätzlich 1200 cm2 Bei Kaninchenhaltung wird dringend der Einsatz von erhöhten Liegebrettern empfohlen. Auf den Einsatz dieser Haltungselemente kann verzichtet werden, wenn experimentelle oder veterinärmedizinische Gründe dafür bestehen. In diesem Fall sollten die oben aufgeführten Käfigflächen bei Einzelhaltung um 33% und bei gemeinsamer Haltung von mindestens 2 Kaninchen um 60% erhöht werden. Für Fläche und Höhe der Liegebretter gelten folgende Empfehlungen: Alter (Wochen) < 10 > 10 Abmessung der Liegebretter (cm Körpergewicht x cm) 55 x 25 <3 55 x 25 3 - 5 kg 55 x 30 > 5 Kg 60 x 35 89 Höhe der Liegebretter (cm) 25 25 30 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 4.7 Fütterung Die Fütterung von Versuchstieren muss einerseits die ausreichende energetische Versorgung der Tiere gewährleisten. Darüber hinaus müssen die Futtermittel so zusammen gesetzt sein, dass die Entstehung von Mangelkrankheiten sicher verhindert wird. Zur Bearbeitung entsprechender wissenschaftlicher Fragestellungen kann es notwendig sein, Futtermittel einzusetzen, die zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Versuchstiere führen. Dies darf jedoch nur im Rahmen genehmigter Tierversuchsverfahren erfolgen. Viele Tierexperimentatoren nehmen fälschlicherweise an, die Zusammensetzung der Versuchstierfuttermittel sei standardisiert. Dabei handelt es sich jedoch um einen Trugschluss; es existieren weder nationale noch internationale Richtlinien für die Herstellung von Versuchstierfutter. Der hauptsächliche Grund für die fehlende Standardisierung von Versuchstierfuttermitteln liegt in der stark wechselnden Qualität der Ausgangsstoffe, die aus ökonomischen Gründen üblicherweise für die Herstellung verwandt werden. Bei der Fütterung von Versuchstieren werden vorzugsweise Alleinfuttermitteln eingesetzt. Alleinfuttermittel können die artgerechte Ernährung der Tiere prinzipiell alleine, d. h. ohne den Einsatz weiterer Futtermittel, gewährleisten. Versuchstierarten wie Mäuse, Ratten, Hamster und Schweine können als omnivore Spezies unproblematisch ausschließlich mit Alleinfuttermitteln ernährt werden. Alleinfuttermittel werden nach der Reinheit der zur Herstellung verwandten Ausgangsstoffe unterschieden: • Alleinfuttermittel auf der Basis von Getreide (=non-purified diet, =cereal-based diet): Alleinfutter auf der Basis von Getreide werden mit Abstand am häufigsten zur Fütterung von Versuchstieren eingesetzt. Diese Futtermittel sind aus unterschiedlichen Getreiden zusammengesetzt, die gemahlen, gemischt und gepresst werden. Futtereigenschaften wie Energie-, Protein- Kohlenhydrat-, Fett-, Mineral- und Vitamingehalt können durch die Zusammensetzung der Ausgangsmaterialien in gewisser Weise variiert werden. Die Qualität von Alleinfuttermitteln auf der Basis von Getreide wird kontrolliert, indem die Futterzusammensetzung im Rahmen einer sogenannten Weenderanalyse bestimmt wird. Bei dieser Analyse werden Rohwasser, Rohasche, Rohfett, Rohprotein, Rohfaser und Stickstofffreie Extraktstoffe (=Kohlenhydrate excl. Rohfaser) auf ökonomische Weise gemessen. Das Adjektiv „Roh-“ besagt dabei, dass die Weenderanalyse keine chemisch exakte Bestimmung der aufgeführten Inhaltsstoffe leistet, sondern dass durch die Analyse bestimmte Stoffgruppen zusammengefasst werden. So erfolgt beispielsweise die Bestimmung des Rohproteins bei der Weenderanalyse über die Quantifizierung des Stickstoffgehalts des Futtermittels. Dabei wird bewusst in Kauf genommen, dass auch bestimmte Nicht-Proteine 90 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Stickstoff enthalten. In Abhängigkeit von Charge, Lagerungsart und -dauer sowie vom Verarbeitungsverfahren können bei Alleinfuttermitteln auf der Basis von Getreide starke Schwankungen der wertbestimmenden Anteile auftreten. Zudem können diese Futtermittel stark mit Toxinen oder Mikroorganismen belastet sein. Alleinfuttermittel auf der Basis von Getreide können offen oder geschlossen formuliert sein. Bei offener Formulierung können ganz unterschiedliche Ausgangskomponenten zur Futtermittelherstellung verwandt werden; bei geschlossener Formulierung finden stets die gleichen Ausgangskomponenten, jedoch in unterschiedlichen Mengen, Verwendung. • Alleinfuttermittel aus reinen Komponenten (=purified diet):•Diese Futtermittel bestehen aus isolierten Proteinen (z.B. Kasein, extrahiertes Sojaprotein), aufgereinigten Kohlenhydraten (z.B. Mais-, Reis-, Kartoffelstärke) und pflanzlichen Ölprodukten. Alleinfuttermittel aus reinen Komponenten zeigen nur geringe Schwankungen der wertbestimmenden Anteile. Darüber hinaus weisen sie keine oder nur geringfügige Belastungen mit Toxinen oder Mikroorganismen auf. Aus ökonomischen Gründen bleibt ihr Einsatz jedoch Spezialanwendungen vorbehalten. • Chemisch definierte Alleinfuttermittel (=chemically defined diet): Diese Alleinfuttermittel werden aus synthetisch hergestellten Aminosäuren, Zuckern, isolierten Fettsäuren und Mineralstoff- und Vitaminvormischungen mit jeweils hohen Reinheitsgraden zusammengemischt. Die Verwendung bleibt speziellen Fragestellungen vorbehalten. Während bestimmte Versuchstierarten ganz unproblematisch mit Alleinfuttermitteln auf der Basis von Getreiden ernährt werden können, stellen andere Tierspezies höhere Anforderungen. So sind beispielsweise reine Pflanzenfresser (herbivore Spezies) auf einen hohen Anteil strukturierter Rohfaser (vorwiegend Zellulose) in der Nahrung angewiesen. Der ausschließliche Einsatz von Alleinfuttermitteln auf der Basis von Getreide kann bei Pflanzenfressern deshalb zu Gesundheitsproblemen führen. Bei der Fütterung von Pflanzenfressern kommen deshalb sogenannte Ergänzungsfuttermittel zum Einsatz. Ergänzungsfuttermittel dienen dazu, zusammen mit einem anderen Futtermittel, wie einem Einzelfuttermittel, oder in Kombination miteinander den tierischen Nährstoffbedarf zu decken. Dabei können folgende Ergänzungsfuttermittel unterschieden werden: • Rauhfutter: Dabei handelt es sich um Ergänzungsfuttermittel, die einen hohen Anteil strukturierter Rohfaser enthalten (Heu, Stroh). Bei Pferden und Wiederkäuern (Rinder, Schafe, Ziegen) ist die Zufütterung von Rauhfutter zwingend erforderlich, bei Kaninchen und Meerschweinchen wird sie dringend empfohlen. 91 Pflege und Haltung • Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Saftfutter: Dabei handelt es sich um Ergänzungsfuttermittel, die durch einen hohen Wassergehalt gekennzeichnet sind (z. B. Kohl, Mohrrüben, Äpfel, Rüben, Kartoffeln). Saftfutter werden häufig bei der Fütterung landwirtschaftlicher Nutztiere eingesetzt. Dabei ist sorgfältig auf Verderb der Saftfuttermittel zu achten. • Ergänzungsfuttermittel auf Getreidebasis (z. B. Hafer, Haferflocken, Getreideschrote). Auch dieser Typ von Ergänzungsfuttermittel wird häufig bei der Fütterung landwirtschaftlicher Nutztiere eingesetzt. Tierische Alleinfuttermittel können auf unterschiedliche Weise technisch präpariert werden: • Mehle: Der Einsatz von Mehlen ist insbesondere bei Nagetieren kritisch zu sehen, da die Tiere das Material leicht zerstreuen können. Zudem besteht die Gefahr der Entmischung des Mehls. • Breie: Breie werden wegen des rasch eintretenden mikrobiologischen Verderbs eher selten bei Versuchstieren eingesetzt. Kommen Sie dennoch zum Einsatz, muss eine sorgfältige Hygieneüberwachung stattfinden. Statt Breien können auch eingeweichte Futterpellets eingesetzt werden. • Pellets: Bei dieser Futterpräparation werden die Ausgangsmaterialien mit Wasserdampf behandelt und über einen Zeitraum von 30 Sekunden bei Temperaturen von ca. 75 0C - 80 0C zusammengepresst. Die thermische Behandlung entspricht einem Niederpasteurisierungsverfahren (high temperature – short time). Der Einsatz von Futterpellets ist bei Versuchstieren, insbesondere bei Nagetieren und Kaninchen, sehr stark verbreitet. Futterpellets sind in der Regel mikrobiologisch stark belastet. Dies kann zur Gefährdung des Hygienestatus von Versuchstieren führen. Pellets können jedoch durch Autoklavierung beispielsweise bei 121 0C über einen Zeitraum von 20 Minuten sterilisiert werden. Bei der thermischen Behandlung kommt es zu starken Vitaminverlusten. Thermisch zu behandelndes Futter muss deshalb besonders mit Vitaminen angereichert sein („Übervitaminisierung“ oder „fortified“). Übervitaminisierte Futtermittel müssen vor der Verfütterung autoklaviert werden, da sie ansonsten zu Hypervitaminosen führen können. Futterpellets haben eine sehr harte Konsistenz, die durch die Autoklavierung noch zusätzlich erhöht sich. • Extrudiertes Futter: Beim Extrudieren wird das Futterausgangsmaterial ca. 10 Sekunden lang auf eine Temperatur von 130 - 160 0C erhitzt. Diese thermische Behandlung entspricht einem Ultra-Hochtemperatur-Verfahren. Die entstehenden Futterkügelchen sind zwar nicht steril, aber deutlich geringer mikrobiologisch belastet als Futterpellets. Extrudiertes Futter kann 92 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg nicht mehr autoklaviert werden. Die Wahrscheinlichkeit, mit extrudiertem Futter einen SPFTierhaltungsbereich mit Tier-pathogenen Mikroorganismen zu kontaminieren, ist jedoch extrem gering. Da extrudiertes Futter spezifisch leichter als pelletiertes Futter ist, muss bei ad libitum Fütterung häufiger nachgefüttert werden. Zudem sind extrudierte Futtermittel deutlich weicher als Futterpellets, weshalb bei ad libitum Gabe extrudierter Futtermittel an Versuchstiere stärkere Gewichtszunahmen und raschere Verfettung im Vergleich zur Pelletfütterung zu beobachten sind. Bei der Fütterung von Versuchstieren können unterschiedliche Techniken zum Einsatz kommen: • Ad libitum Fütterung: Bei dieser Fütterungsart haben die Tiere zu jedem Zeitpunkt Zugang zum Futter. Ad libitum Fütterung führt prinzipiell zur raschen Verfettung der Tiere, sie ist jedoch aus ökonomischen Gründen, insbesondere bei Labornagern, weit verbreitet. Bei ad libitum Fütterung nehmen die Tiere in ihrer Aktivitätsperiode deutlich mehr Futter auf als in der Inaktivitätsperiode. So nehmen ad libitum gefütterte nachtaktive Labornager beispielsweise mehr Futter in der Dunkelperiode als in der Helligkeitsphase auf. • Zeitbegrenzte Fütterung: Bei dieser Fütterungsart können die Versuchstiere über definierte Zeiträume soviel Futter zu sich nehmen, wie sie möchten. Die zeitbegrenzte Fütterung wird üblicherweise nur im Rahmen von Tierversuchen und nicht zur Routinefütterung eingesetzt. • Beschränkte Fütterung: Bei beschränkter Fütterung wird die Futteraufnahme quantitativ begrenzt. Dabei darf die Mengenbeschränkung kein Ausmaß annehmen, welches zu Unterernährung oder Mangelsituationen führt. Vielmehr soll bei der beschränkten Fütterung eine definierte energetische Grenze oder eine definierte Nährstoffquantität nicht überschritten werden. Die beschränkte Fütterung kann zum Ausgleich der Futteraufnahme unterschiedlicher Tiere (Kontrolltiere versus Testtiere) herangezogen werden. • Paarfütterung: Die Paarfütterung ist eine spezielle Form der beschränkten Fütterung. Dabei wird zunächst jedem Tier einer Versuchsgruppe genau ein Partner aus der Behandlungsgruppe zugeordnet. Die Kontrolltiere erhalten jeweils genau die gleiche Futtermenge und -qualität, die ihr Partner aus der Versuchsgruppe einen Tag zuvor verspeist hat. Durch die Paarfütterung kann die Futteraufnahme von Kontroll- und Behandlungsgruppe genau ausgeglichen werden. 4.8 Tränkung Den Versuchstieren ist jederzeit sauberes Trinkwasser zur Verfügung zu stellen. Da Trinkwasserentzug sehr rasch zum Tod führt, muss der Kontrolle der Trinkwasserversorgung der 93 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Versuchstiere größte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Darüber hinaus ist die Verkeimung des Trinkwassers durch geeignete Maßnahmen zu verhindern Die Verabreichung des Trinkwassers an die Versuchstiere kann entweder über Flaschen oder über automatische Tränkesysteme erfolgen. Eine Flaschentränkung wird üblicherweise bei Nagetieren und Kaninchen eingesetzt. Hierbei ist zu beachten, dass sämtliche Flaschen und Tränkenippel in angemessenen regelmäßigen Abständen zerlegt, gereinigt und desinfiziert/sterilisiert werden. Üblicherweise werden alle Trinkwasserflaschen ca. einmal wöchentlich durch saubere und desinfizierte/sterilisierte Flaschen mit frischem Tränkewasser ersetzt. Selbstverständlich sind alle leeren oder fast leeren Wasserflaschen oder solche, die sichtbar verschmutztes Trinkwasser enthalten, unverzüglich zu wechseln. Automatische Tränkevorrichtungen werden üblicherweise bei größeren Tierspezies wie Ziegen, Schafen oder Schweinen eingesetzt. Die automatischen Systeme sind regelmäßig zu überprüfen, zu warten und zu durchspülen, damit Defekte und eine Verkeimung des Wassers vermieden werden. Zur Tränke von Versuchstieren können folgende Wasserqualitäten eingesetzt werden: • Demineralisiertes Wasser (frei von Mineralstoffen): Ein Teil der Versuchstierkundler steht der Tränkung von Versuchstieren mit demineralisiertem Trinkwasser kritisch gegenüber, da Mineralmangelsituationen der Versuchstiere befürchtet werden. Es muss jedoch angemerkt werden, dass sich in der Literatur keinerlei Hinweise zur Unterstützung dieser Hypothese finden. Darüber hinaus wird demineralisiertes Trinkwasser in einer Vielzahl von Tierhaltungen eingesetzt, ohne dass bisher Mangelerkrankungen der Versuchstiere beschrieben worden wären. Demineralisiertes Trinkwasser kommt in solchen Tierhaltungen zum Einsatz, in denen das Wasser routinemäßig aus hygienischen Gründen autoklaviert wird. Durch den Einsatz von demineralisiertem Wasser kann die Bildung von freiem Kalk bei der thermischen Behandlung vermieden werden. Kalkrückstände im Trinkwasser sind sehr gefürchtet, da sie die Tränkenippel der Wasserflaschen verstopfen und so zum Verdursten der Tiere führen können. • Entkalktes Wasser (Austausch von Ca 2+ und Mg 2+ Ionen durch Na + Ionen): Gegen den Einsatz von entkalktem Wasser zur Tränkung von Versuchstieren bestehen keine versuchstierkundlichen Bedenken. Wie demineralisiertes Wasser wird auch entkalktes Wasser in solchen Tierhaltungen eingesetzt, in denen das Trinkwasser aus hygienischen Gründen autoklaviert werden muss. • Übliches Trinkwasser (Leitungswasser): Bei der Verwendung von dieser Wasserqualität sind die üblichen quantitativen und qualiatativen regionalen Schwankungen der Mineralgehalte (z. B. Kalk- und Eisengehalt) zu berücksichtigen. 94 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 4.9 Klima In Versuchstierhaltungen muss zwischen dem Klima im Raum selbst (=Raumklima) und dem Klima im einzelnen Tierhaltungskäfig (Mikroklima) unterschieden werden. Raumklima und Mikroklima können sich durchaus in gewissen Grenzen unterscheiden. Die Standardisierung des Raumklimas von Tierhaltungen bezüglich Temperatur, Luftfeuchte und Raumluftrate stellt eine tierschutzrechtliche Forderung dar. In diesem Zusammenhang wird von einer Klimakonstanz der Tierhaltungsräume gesprochen. Der Klimakonstanz kommt eine große tierexperimentelle Bedeutung zu, da bekannt ist, dass die Ergebnisse beispielsweise von pharmakologischen und toxikologischen Tierexperimenten in starker Weise von der Haltungstemperatur der Tiere abhängen. Im Einzelnen legt der Gesetzgeber folgende Klimaanforderungen an Tierhaltungsräume fest: • Temperatur der Tierhaltungsräume: o 22 - 24 oC (bei Maus-, Ratten-, Hamster-, Gerbil- oder Meerschweinchenhaltung) o 15 - 21 oC (bei Kaninchen-, Frettchen- oder Hühnerhaltung) o 10-24 oC (bei Schweine-, Ziegen-, Schaf-, Rinder- oder Pferdehaltung) • Relative Luftfeuchte: 55 % +/- 10 %. Eine relative Luftfeuchte von weniger als 40 % und mehr als 70 % sollte über längere Zeiträume in Tierhaltungsräumen vermieden werden, da sie zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Versuchstiere führen kann. • Luftaustauschrate: 15-20 pro Stunde. Durch das Belüftungssystem von Tierräumen sollen Frischluft zugeführt und Gerüche, Schadgase, Staub und Krankheitserreger jeglicher Art soweit wie möglich abgeführt werden. Das Belüftungssystem dient auch zur Beseitigung überschüssiger Wärme und Feuchtigkeit. Unter bestimmten Bedingungen, wenn die Belegungsdichte gering ist, können in Tierhaltungsräumen 8 bis 10 Luftwechsel pro Stunde ausreichen oder es kann eventuell sogar auf eine Zwangslüftung verzichtet werden. Unter anderen Bedingungen könnte eine wesentlich höhere Luftaustauschrate erforderlich sein. Das Belüftungssystem von Tierhaltungsräumen sollte so ausgelegt sein, dass schädliche Zugluft vermieden wird. • Die Klimaanlagen von Tierhaltungsräumen sind an ein elektronisches Überwachungssystem anzuschließen, so dass bei Lüftungsausfall unverzüglich geeignete Gegenmaßnahmen ergriffen werden können, um gesundheitliche Schäden der Versuchstiere zu vermeiden. 95 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 4.10 Beleuchtung Bei der Gestaltung der Beleuchtung von Tierräumen ist einerseits der Licht-Dunkel-Rhythmus und andererseits die Helligkeit zu beachten. Die Kontrolle dieser Parameter ist nur möglich, wenn die Versuchstierräume entweder ohne Fenster sind, was üblicherweise auch der Fall ist, oder wenn die Fenster verdunkelt werden. Bei den meisten Versuchstierspezies wird ein LichtDunkel-Rhythmus von 12 Stunden Helligkeitsphase und 12 Stunden Dunkelphase eingestellt. Es gibt jedoch auch Ausnahmen. So ist beispielsweise zur Zucht von Hamstern oder Meerschweinchen (Langtagzüchter!) eine längere Helligkeitsperiode (üblicherweise 14 Stunden) zu wählen. Für die Durchführung von Tierpflegearbeiten muss aus Gründen des Arbeitsschutzes eine ausreichende Helligkeit gewährleistet sein. Üblicherweise wird hierfür ein Helligkeitswert von ca. 500 Lux etabliert. Dieser Wert kann jedoch bei nachtaktiven Tieren wie Mäusen, Ratten oder Hamstern, insbesondere bei albinotischen Stämmen, bereits zu Augenschädigungen (phototoxische Retinopathie) führen. Deshalb sollte bei solchen Tieren für eine dunkle Rückzugsmöglichkeit im Käfig gesorgt werden. Zusätzlich kann die Raumhelligheit während der Abwesenheit des Personals mittels eines Dimmers auf Werte von ca. 200 – 300 Lux herabgesetzt werden. 4.11 Geräusche, Lärm Lärm ist ein wichtiger Störfaktor im Tierlaboratorium. Dabei muss berücksichtigt werden, dass viele Versuchstierspezies (z. B. Maus und Ratte) Frequenzen oberhalb der menschlichen Hörschwelle von ca. 20.000 Hz wahrnehmen können. Um Störungen des Verhaltens zu vermeiden, sind laute Arbeitsplätze und technische Einrichtungen, insbesondere wenn von diesen dabei Ultraschallwellen emittiert werden (z. B. Waschmaschinen, Computermonitore), von der Tierhaltung fernzuhalten. Im leeren Tierraum sollten die durch die technischen Einrichtungen wie raumlufttechnische Anlagen usw. erzeugten Geräusche möglichst 52 dB (A) nicht überschreiten. Gedämpfte Musik hingegen und Gegensprechanlagen zeigen keinen ungünstigen Effekt auf das Verhalten der Versuchstiere. Durch den Einsatz von Filtertopkäfigen wird eine Dämpfung von Lärm und Geräuschen des Tierraums erreicht. Andererseits können bei IVC-Systemen mit direkter Anbindung der Käfige an ein Lüftungssystem eventuell Ventilatorengeräusche zu den Tieren übertragen werden. 4.12 Angereicherte Tierhaltungsumgebung („Environmental Enrichment“) Im § 1 des Deutschen Tierschutzgesetzes wird der Schutz des Wohlbefindens von Tieren gefordert. Das animale Wohlbefinden kann nur in einer Umgebung gewährleistet werden, die den Tieren entsprechende Anreize bietet. In diesem Zusammenhang wird von einer 96 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg angereicherten Umgebung („environmental enrichment“) gesprochen. Das „environmental enrichment“ beinhaltet die Ermöglichung sozialer Aktivitäten, d.h. eine Gruppenhaltung von Tieren ist einer Einzelhaltung vorzuziehen. Sofern die Einzelhaltung unabdingbar ist, sollte auf visuelle, akustische oder olfaktorische Kontaktmöglichkeiten geachtet werden. Über soziale Aktivitäten hinaus kann eine Umgebungsanreicherung durch Futtersuche, durch die passive Ermöglichung bzw. Begünstigung physischer Aktivitäten oder durch aktive Herbeiführung geeigneter tierischer Verhaltensweisen erreicht werden. Die Notwendigkeit zur Anreicherung der Umgebung von Versuchstiere wird von der Mehrzahl der Versuchstierkundler anerkannt. Zur Bewertung von unterschiedlichen Umgebungsanreicherungen stehen prinzipiell verhaltensbiologische und stressphysiologische Ansätze zur Verfügung. Bei den verhaltensbiologischen Ansätzen kann einerseits das Verhalten von Versuchstieren mit dem von Artgenossen verglichen werden, die unter „semiwild“ Bedingungen gehalten werden. Zeigen die Versuchstiere Einschränkungen ihres Verhaltensrepertoires in Vergleich zur „semiwild“ Kontrolle, so ist dies ein Hinweis auf ein eingeschränktes Wohlbefinden, welches durch Anreicherungsmaßnahmen zu kompensieren ist. Alternativ können Tiere vor die Wahl gestellt werden, sich in verschieden ausgestatteten Arealen aufzuhalten (Wahlverhalten). In Arealen, die stärker gemieden werden, wird von einem beeinträchtigten Wohlbefinden der Tiere ausgegangen. Eine sehr elegante, aus der Marktpsychologie stammende Methode der verhaltensbiologischen Beurteilung von Umgebungsanreicherungen stellt die Bestimmung der „Elastizität der Nachfrage“ dar. Hierbei müssen die Tiere Arbeit verrichten, um in den Genuss einer bestimmten angereicherten Umgebung zu kommen. Die Methode hat im Gegensatz zum „semiwild“- und Wahlverhaltenansatz den Vorteil, dass sie präziser zwischen Umgebungsanreicherungen diskriminieren kann, die für das Wohlergehen essentiell sind bzw. Luxus darstellen. Im ersten Fall wird die sukzessive Erschwerung des Zutritts zum angereicherten Areal einen geringen Einfluss auf die Nutzung haben, d. h. es wird gegebenenfalls sehr stark dafür gearbeitet, um in das angereicherte Areal zu gelangen. In dieser Situation wird von einer geringen Nachfrageelastizität gesprochen. Im anderen Fall wird die Erschwerung des Zutritts einen deutlichen Einfluss auf die Arealnutzung haben, d. h. bei entsprechend starkem Arbeitsaufwand wird die angereicherte Umgebung kaum noch genutzt, die Nachfrage nach dem angereicherten Areal unterliegt offensichtlich einer starken Elastizität. Bei stressphysiologischen Ansätzen zur Beurteilung von Umgebungsanreicherungen von Versuchstieren wird gemessen, ob das zu testende Areal eine Stressreaktion der Tiere induziert. Ist dies der Fall, so wird von einem beeinträchtigten Wohlbefinden der Versuchstiere im Testareal ausgegangen. 97 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg In der bereits erwähnten „endgültigen Entwurfsversion“ der modifizierten Eurorichtlinie finden sich folgende Angaben über die Umgebungsanreicherung von Versuchstiershaltungen: 1. Bei Tierarten mit geselligem Zusammenleben soll eine Gruppenhaltung praktiziert werden, solange die Gruppen stabil und harmonisch sind. Solche Gruppen können auch bei der Haltung männlicher Mäuse, adulter Hamster und Gerbils erreicht werden, wenn auch teilweise mit Schwierigkeiten, weil innerhalb der Gruppenmitglieder aggressives Verhalten auftreten kann. 2. Tiere können in solchen Fällen einzeln gehalten werden, in denen ansonsten die Gefahr nachteiliger Effekte oder einer Schädigung besteht. Das Auseinanderreißen stabiler harmonischer Gruppen sollte vermieden werden, da dies zu starken Stressreaktionen führen kann. 3. Die Käfige und deren Anreicherung sollen so gestaltet sein, dass den darin gehaltenen Tieren ein normales Verhalten ermöglicht wird. 4. Einstreu- und Nestbaumaterial sowie Rückzugsmöglichkeiten stellen wichtige Ressourcen für Nagetiere dar, die sich in der Zucht, in der Vorratshaltung oder in der Experimentalhaltung befinden. Diese Mittel sollten den Versuchstieren nur dann vorenthalten werden, wenn ein experimenteller oder veterinärmedizinischer Grund gegeben ist. Das Nestbaumaterial sollte so beschaffen sein, dass die Tiere es selbst manipulieren und ein Nest herstellen können. Alternativ zum Nestbaumaterial können den Tieren Nestboxen zur Verfügung gestellt werden. Das Einstreumaterial dient primär der Absorption von Urin, wird aber auch von den Versuchstieren genutzt, um Urinmarkierungen zu hinterlassen. Nestbaumaterial ist wichtig für Mäuse, Ratten, Hamster und Gerbils; Nestboxen für Meerschweinchen, Hamster und Ratten. Meerschweinchen sollten immer mit manipulierbarem Material wie Heu zum Kauen und als Versteckmöglichkeit versehen werden. 5. Holzstöckchen zum Kauen und Nagen sollten bei allen Nagetierarten als Anreicherungsmaterial in Betracht gezogen werden. 6. Viele Nagetierarten versuchen, ihren Käfig in Areale zum Fressen, zum Ruhen, zum Urinieren und Koten sowie zum Futtersammeln zu unterteilen. Die Unterteilung muss nicht auf physische Barrieren sondern kann auf Geruchsmarkierungen beruhen. Um die Komplexität der Umgebung darüber hinaus anzureichern, wird der Einsatz von Schläuchen, Häuschen oder Klettergestellen empfohlen. 7. In der Kaninchenhaltung kann eine Umgebungsanreichung durch Ballaststoffe, Heublöcke, Kaustöckchen und durch die Bereitstellung von Rückzugsmöglichkeiten erreicht werden. Bei 98 Pflege und Haltung Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Bodenhaltung von Kaninchen in Gruppen sollten Sichtbarrieren und Rückzugsmöglichkeiten sowie Ausblickeinrichtungen bereitgestellt werden. 4.13 Gesundheitskontrolle In jeder Tierhaltung muß eine regelmäßige Betreuung des Tierbestands sowie eine Überwachung der Unterbringung und Pflege vorzugsweise durch tierärztliches Personal oder alternativ durch andere sachkundige Personen stattfinden. 4.14 Transport von Tieren Für Tiere stellen Transporte eine starke Belastung dar. In Deutschland müssen Tiertransporte den Anforderungen der Verordung zum Schutz von Tieren beim Transport (Tierschutztranportverordnung) genügen. Wer Versuchstiere aus sogenannten Drittländern (entspricht etwa den nicht zur EG gehörenden Ländern wie z. B. USA) einführen will, bedarf der Genehmigung durch die zuständige Behörde (Importerlaubnis). Selbstverständlich muss der Empfänger vor dem Tiertransport ein Hygienezeugnis vom Empfänger einholen (siehe Manuskript „Hygiene in Versuchstierhaltungen“). Zudem müssen Sender und Empfänger die Bedingungen und das Timing des Transports abstimmen. Kranke Versuchstiere dürfen nicht transportiert werden. Die Transportbehältnisse müssen so beschaffen sein, dass den Tieren genügend Raum zur Verfügung steht, dass sich die Tiere nicht verletzen können, dass Schutz vor schädlichen Witterungseinflüssen geboten ist und dass eine ausreichende Lüftung gewährleistet ist. Die Transportmittel sind an gut sichtbarer Stelle der Außenseite mit der Angabe „lebende Tiere“ oder einer gleichbedeutenden Angabe zu versehen. Es ist sicherzustellen, dass beim Transport von Tieren eine sogenannte Transporterklärung mitgeführt wird, die Angaben über Herkunft und Eigentümer der Tiere, über Versandort und Bestimmungsort sowie über Tag und Uhrzeit des Verladebeginns enthält. 4.15 Weiterführende Literatur Van Zutphen LFM, Baumans V, Beynen AC (eds) (1995) Grundlagen der Versuchstierkunde, Gustav Fischer, Stuttgart, Jena, New York Weiss J, Maeß J, Nebendahl K (eds) (2003) Haus- und Versuchstierpflege, Enke, Stuttgart 99 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 5. Hygiene in Versuchstierhaltungen 5.1 Bedeutung des mikrobiologischen Status von Versuchstieren Dem Hygieneniveau von Versuchstieren kommt eine herausragende Bedeutung zu, da interkurrente Infektionen, die während der Experimentalphase auftreten, die wissenschaftliche Aussagekraft der Tierversuche in erheblichem Umfang einschränken (Baker, 1998). Versuchstierkundliche Hygienedefizite sind tierschutzrechtlich relevant und widersprechen guter wissenschaftlicher Praxis. Hohe mikrobiologische Qualitätsniveaus können in der Regel nur in solchen Versuchstierhaltungen langfristig gehalten werden, die entsprechende bauliche Voraussetzungen (z.B. Sterilfiltration der Zuluft, Sterilisation der Käfigmaterialien in Durchfahrautoklaven, Personalschleusen) erfüllen und bei denen geeignete Hygieneregeln in konsequenter Weise befolgt werden. Bei der Planung von Versuchstierhaltungen muss berücksichtigt werden, dass das bauliche Konzept ganz maßgeblich über den Hygienestatus entscheidet. 5.2 Mikroflora von Versuchstieren Säugetiere sind physiologischerweise mit einer Vielzahl unterschiedlicher apathogener Mikroorganismen (mehrere 100 verschiedene Spezies, vorzugsweise Bakterien) besiedelt, die in ihrer Gesamtheit als autochthone Flora bezeichnet wird. Die autochthone Flora siedelt auf Haut und Schleimhäuten und macht einen signifikanten Anteil des Darminhaltes aus. Alle Vertreter der animalen autochthonen Flora sind nicht pathogen, d.h. diese Mikroorganismen können dem Trägertier keinen Schaden zufügen. Über die autochthone Flora hinaus können Versuchstiere aber ebenfalls mit solchen Mikroorganismen besiedelt sein, die obligatorisch oder bei entsprechender Gelegenheit wie z.B. einer Immunsuppression (opportunistische Erreger) Krankheiten verursachen können. Mikroorganismen, die in ihren Trägertieren Krankheiten induzieren können, werden als pathogen bezeichnet. Die mikrobiologische Standardisierung von Versuchstieren kann daraufhin abzielen, die gesamte autochthone Flora zu eliminieren oder kann lediglich das Ziel verfolgen, die jeweilige Palette Spezies-spezifischer pathogener Mikroorganismen zu kontrollieren (van Zutphen et al., 1995). 5.3 Versuchstierkundliche Hygieneniveaus Entsprechend der Unterscheidung in autochthone Flora und pathogene Mikroorganismen können bei Versuchstieren folgende Hygienestufen unterschieden werden (van Zutphen et al., 1995, Weiss et al., 2003): 100 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg -Gnotobiotische Tiere: Gnotobiotische Tiere tragen weder eine autochthone Flora noch pathogene Organismen. Bei gnotobiotischen Tieren, und nur bei solchen Tieren, kann von einer mikrobiologischen Standardisierung gesprochen werden. -Spezifiziert Pathogen Freie (SPF) Tiere: Bei SPF-Tieren liegen keinerlei Informationen über die Zusammensetzung der komplexen autochthonen Flora vor. Aus diesem Grunde kann bei SPF-Tieren auch nicht von einer mikrobiologischen Standardisierung gesprochen werden. Von einem SPF-Hygienestatus wird dann gesprochen, wenn regelmäßig bestimmt wird, welche pathogenen Mikroorganismen die Versuchstiere tragen. Bei der überwiegenden Anzahl von Tierversuchen wird der Einsatz von SPF-Versuchstieren gefordert. Dabei ist anzumerken, dass SPF-Tiere in den wenigsten Fällen völlig frei von pathogenen Mikroorganismen sind; in diesem Sonderfall spricht man von einem spezifisch Pathogen-freien Hygienestatus. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle werden SPF-Tiere ein spezifiziert Pathogen-freies Hygieneniveau aufweisen sein, d.h. es ist genau bekannt, welche pathogenen Mikroorganismen vorhanden sind. -Konventionelle Tiere: Bei konventionellen Tieren liegen weder Informationen über die autochthone Flora vor, noch ist bekannt, welche pathogenen Organismen die Tiere tragen. 5.4 Gnotobiotische Tierhaltung Von einer gnotobiotischen Tierhaltung wird gesprochen, wenn die mikrobiologische, insbesondere die bakterielle, Besiedlung der Versuchstiere genau bekannt ist. Es werden keimfreie und assoziierte Gnotobioten unterschieden. Keimfreie Gnotobioten Gnotobiotische Tiere können einerseits völlig keimfrei sein. Keimfreie Gnotobioten hatten noch nie Kontakt mit einem viralen, bakteriellen oder parasitologischen Mikroorganismus, d.h. es fand noch nie eine Interaktion des Versuchstiers mit einer mikrobiologischen Lebensform oder einem Virus statt. Keimfreie Tiere weisen physiologische und anatomische Besonderheiten auf. So ist der Blinddarm (Caecum) deutlich vergrößert und die Darmwand verdünnt (hypotroph). Auch der Darminhalt zeigt eine besondere Konsistenz auf; er ist flüssiger und weicher und zeigt ein verändertes Redoxpotential im Vergleich zu nicht keimfreien Tieren. Die mit der Keimfreiheit verbundenen anatomischen und physiologischen Besonderheiten führen häufig zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen; insbesondere der vergrößerte Blinddarm führt zu einer deutlichen Verkürzung der Lebenserwartung keimfreier Tiere. 101 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Assoziierte Gnotobioten Um die aufgeführten physiologischen und anatomischen Besonderheiten keimfreier Tiere zumindest teilweise auszugleichen, werden keimfreie Tiere häufig assoziiert. Dies bedeutet, dass die keimfreien Tiere mit einem qualitativ genau bekannten Bakterienspektrum besiedelt werden. Zur Assoziierung werden fakultativ oder obligat anaerobe Mikroorganismen (z.B. Laktobazillen oder Sporenbildner) eingesetzt. Die Flora, die zur Assoziierung eingesetzt wird, umfasst in der Regel nur wenige Bakterienspezies. Bei Assoziierung der Versuchstiere mit 1 bzw. 2 bzw. 3 Bakterienspezies spricht man von mono-, di- oder tri-assoziierten Tieren. Zum Teil werden jedoch auch sehr komplexe aus ca. 10 Bakterienspezies zusammengesetzte Bakterienfloren (z.B Schaedlerflora, Wensinck-Flora) zur Assoziierung eingesetzt. Solche komplexen Floren sind in der Lage, eine Besiedelung der Tiere mit weiteren Bakterienspezies in gewissem Umfang zu verhindern. Man bezeichnet sie deshalb auch als „colonization resistent flora (CRF)“ Assozierte Gnotobioten können nicht eigenständig entwickelt werden, sondern müssen immer aus keimfreien Tieren hergeleitet werden. Technik der Herstellung von gnotobiotischen Tieren Aus unterschiedlichen Gründen gelang es nicht bei allen Versuchstierspezies, keimfreie Tiere zu erzeugen. Bei den Spezies Maus und Ratte ist die Entwicklung keimfreier Tiere jedoch gelungen. So werden heute eine Vielzahl keimfreier Maus- und Rattenstämme gehalten. Die ersten keimfreien (Baby-) Tiere wurden dabei durch Hysterektomie (Kaiserschnitt) unter sterilen Bedingungen entwickelt und „mit Hand“ aufgezogen. Auf diese aufwendige Art der Herstellung keimfreier Tiere ist man heute nicht mehr angewiesen. Da zahlreiche versuchstierkundliche Einrichtungen über keimfreie Mäuse und Ratten verfügen, können diese Tiere genutzt werden, um neue Tierstämme auf keimfreies Niveau zu heben. Dazu werden die auf keimfreies Niveau zu verbringenden Tiere entweder in Embryonenform (Embryotransfer) oder unmittelbar vor der zu erwartenden Geburt als Baby (Hysterektomie) in das keimfreie Milieu eingeschleust. Bei Einschleusung von Embryonen werden diese im keimfreien Milieu auf Empfängertiere übertragen und von diesen ausgetragen. Bei Einschleusung von Babies übernehmen keimfreie Ammen die Jungenaufzucht. Tierexperimentelle Nutzung gnotobiotischer Tiere Trotz des erheblichen technischen Aufwands, der mit der gnotobiotischen Tierhaltung verbunden ist, ist dieses Hygieneniveau durchaus weit verbreitet. Allerdings ist die Palette gnotobiotisch verfügbarer Maus- und Rattenstämme wenig breit. Die gnotobiotische Technik wird zur tierexperimentellen Untersuchung immunsuppressiver Therapieformen und zur Erforschung der intestinalen Ökologie eingesetzt. Auch die Haltung stark immungeschwächter Tiere wie z.B. von 102 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg SCID-Mäusen (severe combined immunodeficiency: kombinierter B- und T-Zellmangel) erfolgt unter gnotobiotischen Bedingungen am sichersten. Technik der gnotobiotischen Versuchstierhaltung Der gnotobiotische Hygienestatus kann nur durch eine absolute Barriere gewährleistet werden. Bei absoluten Barrieren wird die Tierhaltung so hermetisch von der Umgebung abgetrennt, dass das Eindringen von Mikroorganismen sicher verhindert wird. Als absolute Barriere werden üblicherweise Isolatoren aus luftdichten, transparenten, flexiblen PVC-Hüllen eingesetzt. Damit die Tiere innerhalb der Isolatoren hantiert werden können, müssen Handschuhe in luftdichter Weise in die Hülle integriert sein. Der Isolator muss weiterhin über eine Be- und Entlüftung verfügen. Die Belüftung erfolgt aktiv über einen Ventilator, die Entlüftung erfolgt passiv. Hierdurch entsteht im Isolator ein Überdruck gegenüber der Umgebung; diese Druckverhältnisse sind sehr wichtig zur Aufrechterhaltung des gnotobiotischen Hygienestatus. Selbstverständlich muss die Zuluft vor Einleitung in den Isolator sterilfiltriert werden. Um bei Lüftungsausfällen den Rückstrom unsteriler Luft über das Abluftsystem in den Isolator zu verhindern, wird die Abluft durch eine „Falle“ geleitet (Abluftfalle), die eine Umkehr der Strömungsrichtung der Abluft sicher verhindert. Alle Versorgungsmaterialien (Futter, Wasser), die in den Isolator eingebracht werden, werden zunächst in Zylindern durch Autoklavierung sterilisiert und dann unter sterilen Bedingungen in den Isolator eingeschleust. Die Materialschleuse stellt somit ebenfalls einen essentiellen Teil der Keimfrei-Isolatortechnik dar. Die Sterilisierung der Schleuse erfolgt chemisch durch Peressigsäure; vor Schleusenöffnung wird die Säure durch sterile Belüftung entfernt. Das Peressigsäure Sterilisationsverfahren wird ebenfalls benutzt, um die Isolatoren vor der Inbetriebnahme zu entkeimen. 103 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 2 5 3 4 1 Abbildung 5.1: Isolator aus transparenter, flexibler PVC-Hülle zur Haltung gnotobiotischer Tiere Der Ventilator 1 versorgt den Isolator über den Sterilfilter 2 mit Frischluft. In die Isolatorhülle sind Handschuhe (3), eine Materialschleuse (4) sowie eine Abluftfalle integriert. Die Abbildung wurde freundlicherweise von der Firma Scanbur, Dänemark, zur Verfügung gestellt. 5.5 Spezifisch bzw. spezifiziert Pathogen-freie (SPF) Tierhaltung Obwohl nur die gnotobiotische gewährleistet, ist diese Tierhaltung Haltungsform eine technisch mikrobiologische und personell zu Standardisierung aufwendig, um tierexperimentelle Studien regelmäßig auf diesem Hygieneniveau durchführen zu können. Die Haltung der überwiegenden Mehrzahl von Versuchstieren erfolgt deshalb gemäß des sogenannten SPF-Hygienekonzepts. In SPF-Versuchstierhaltungen muss regelmäßig auf die Präsenz pathogener Mikroorganismen untersucht werden. Dabei existieren Empfehlungen der FELASA (Federation of European Laboratory Animal Science Associations) bezüglich der Spezies-spezifischen Palette der pathogenen Erreger, bezüglich der Untersuchungsintervalle, 104 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg bezüglich der Untersuchungsmethodik sowie bezüglich des Probenumfangs zur Konstatierung des SPF-Status (Nicklas et al. 2001). Es muss jedoch als problematisch bewertet werden, dass die akkurate Einhaltung der FELASA-Empfehlungen zur Zeit nicht von unabhängigen Instanzen kontrolliert wird. Vielmehr liegt es im Ermessen des Tierhaltungs-Managements, ob überhaupt, und falls ja wie genau, die zur Deklaration des SPF-Status erforderlichen Untersuchungen auch tatsächlich durchgeführt werden. SPF-Tierhaltungen müssen in der Lage sein, ein Hygienezeugnis zu erstellen, aus dem hervorgeht, welche pathogenen Mikroorganismen im Tierhaltungsbereich anzutreffen sind und welche eben nicht. Aus den aufgeführten Gründen steht und fällt die Zuverlässigkeit solcher Zertifikate mit der Integrität des jeweiligen Tierhaltungsmanagements. Gründe für die starke Verbreitung des SPF-Hygienekonzepts Die überwiegende Mehrzahl von Tierversuchen wird an spezifiziert Pathogen-freien Versuchstieren durchgeführt. Hierfür können nachfolgende Gründe angeführt werden: -Sehr virulente tierpathogene Mikroorganismen können durchaus zu Infektionskrankheiten bei Versuchstieren und auch zu Tierverlusten führen. So wurden beispielsweise vor wenigen Jahrzehnten ganze Maushaltungsbereiche durch epidemische Ausbrüche muriner Pocken hinweggerafft. Die „Killer“ unter den Versuchstierkeimen sind heute allerdings aufgrund entsprechender Bekämpfungsmaßnahmen eher selten geworden. Die in der heutigen Zeit überwiegend anzutreffenden Versuchstierinfektionen verlaufen zumeist klinisch inapparent. -Unter Stressbedingungen (bedingt durch z.B. tierversuchsbedingte Belastungen oder suboptimale Haltungsbedingungen) können auch ansonsten harmlose Versuchstierpathogene Erreger zu klinisch apparenten Erkrankungen führen. -Viele Versuchstier-pathogene Erreger können die Ergebnisse von Tierversuchen beeinträchtigen. So ist bekannt, dass z.B. tierische Verhaltensweisen, Wachstumsraten, Organgewichte, oder Immunreaktionen durch interkurrente Infektionen der Versuchstiere mit tierpathogenen Erregern beeinflusst werden. -Bestimmte Versuchstier-pathogene Erreger können zur Kontamination biologischer Materialien (wie Gewebekulturen, Zellinien, transplantable Tumoren, biologische Produkte etc.) führen und die Qualität dieser Produkte maßgeblich beeinträchtigen. -Einige Versuchstier-pathogene Erreger können Zoonosen verursachen und stellen somit eine Gefährdung des tierpflegerischen oder wissenschaftlichen Personals dar (z.B. LCMV, Hantan, Listeria). Es muss jedoch angemerkt werden, dass das Auftreten gefährlicher Zoonose-Erreger in Versuchstierhaltungen in der heutigen Zeit nur eine untergeordnete 105 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Rolle spielt. Bei der Heimtierhaltung besteht ein deutlich größeres Risiko der Übertragung von Infektionskrankheitserregern vom Tier auf den Mensch. Technische, bauliche und organisatorische Umsetzung des SPF-Hygienekonzepts Das SPF-Hygienekonzept wird in erster Linie durch eine Barrierentechnik realisiert. Dabei wird ein einzelner oder i. d. R. eine Gruppe von Tierhaltungsräumen durch eine Hygienebarriere von der Umgebung abgeschottet. Die Hygienebarriere umfasst dabei folgende Komponenten: -Lüftungsbarriere: Die Zuluft von SPF-Tierhaltungen wird i.d.R durch Schwebstofffilter von Kleinstpartikeln gereinigt. Schwebstofffilter können Kontaminationen der Zuluft mit Bakterien, Viren oder Pilzen sehr sicher abfangen. -Materialbarriere: Für die Tierversorgung notwendige Versorgungsmaterialien wie frische Käfige und Futter werden i.d.R. vor Einschleusung in den SPF-Tierhaltungsbereich behandelt. Dies erfolgt üblicherweise durch einen in die Barriere integrierten Durchfahrautoklaven. Das Autoklavierungsprogramm wird so gewählt, dass zumindest eine sichere Desinfektion der Käfighaltungseinrichtungen gewährleistet ist. In vielen Fällen wird sogar eine Sterilisierung des Materials durchgeführt, obwohl dies prinzipiell nicht zwingend erforderlich wäre. Die Materialbarriere umfasst ebenfalls die mikrobiologische Kontrolle des für die Tiere erforderlichen Trinkwassers. Häufig wird gewöhnliches Leitungswasser zum Tränken der Tiere eingesetzt. Die Kontaminationsgefahr, die von gewöhnlichem Trinkwasser für Versuchstiere ausgeht, ist in Deutschland als äußerst gering einzustufen; da solches Wasser einer standardisierten intensiven mikrobiologischen Qualitätskontrolle unterliegt (Trinkwasserverordnung). In vielen Fällen wird das in SPF-Tierhaltungen zur Tiertränke eingesetzte Wasser zusätzlich desinfiziert oder gar sterilisiert. Zur TrinkwasserDesinfektion werden meist die Methoden der UV-Bestrahlung, Azidifizierung, Chlorierung oder Ozonierung verwandt eine -Sterilisierung kann durch Autoklavierung erreicht werden. -Personalbarriere: Ganz allgemein ist der Personalzutritt zu SPF-Tierhaltungen auf das unerläßliche Maß zu reduzieren. Der Zutritt zu SPF-Tierhaltungen erfolgt über Personalschleusen, in denen Schutzkleidung angelegt wird. Zum Teil erfolgt der Zutritt durch Luftduschen, die Staubpartikel und die daran eventuell gebundenen Mikroorganismen vom Personal entfernen. Bei einem Teil der SPF-Anlagen kann der Zutritt erst nach einem obligatorischen Duschvorgang erfolgen. Der Nutzen dieses „Zwangseinduschens“ ist jedoch umstritten, da hierdurch lediglich eine Keimreduktion jedoch keine Desinfektion erreicht wird. -Tierzugangsbarriere: Die Aufnahme neuer Tierstämme in SPF-Tierhaltungen kann selbstverständlich nicht unkontrolliert erfolgen. Zu groß ist die Gefahr, dass durch solche Vorgänge neue Tierpathogene die Hygienebarriere überwinden. Prinzipiell gilt, dass in eine 106 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg SPF-Tierhaltung nur Tiere einer anderen SPF-Tierhaltung aufgenommen werden können. Gemäß des SPF-Hygienekonzepts muss die den Tierstamm abgebende Tierhaltung in der Lage sein, ein mikrobiologisches Zeugnis über pathogene Mikroorganismen zu erstellen. Das Management der den Tierstamm aufnehmenden Tierhaltung kann nun entscheiden, inwiefern es dem mikrobiologisches Zeugnis vertraut und inwiefern der angegebene Hygienestatus kompatibel zur eigenen Haltung ist. Üblicherweise werden Neuzugänge mit verlässlichen und günstigen Hygienedaten quarantänisiert und erst nach der Verifizierung des hygienischen Status erfolgt eine Aufnahme in den SPF-Bereich. Bei ungünstigem Hygienezeugnis wird eine Sanierung des Hygienestatus des Tierstamms durch Embryotransfer durchgeführt. Dabei wird der Tierstamm in Form von Embryonen, die sich noch nicht in die Gebährmutter eingenistet haben (Präimplantationsembryonen), in den SPFBarrierenbereich eingeschleust und dort auf geeignete Empfängertiere übertragen. Durch den Embryotransfer kann die Einschleppung von Tier-pathogenen Erregern in einen SPFHaltungsbereich am sichersten unterbunden werden. 1 2 3 4 5 6 7 8 11 10 12 13 14 15 9 16 17 18 19 Abbildung 5.2: Plan einer SPF- Barrierentierhaltung Die Räume 3-8 dienen der Tierhaltung. In Raum 2 wird das Trinkwasser der Tiere angesäuert, in Flaschen abgefüllt und gelagert. In Raum 12 werden Embryotransfers zum Einschleusen neuer Tierstämme in die Tierhaltung durchgeführt. Raum 13 dient zu Dokumentationszwecken. In Raum 14 ist ein Durchfahrautoklav und in Raum 15 eine H2O2-Materialschleuse zum Einschleusen von Material in den Tierhaltungsbereich etabliert. Die Räume 16 und 18 stellen Personalschleusen dar, in Raum 17 sind WCs untergebracht. In Raum 9 befindet sich die Spülküche, die mit einer Bandspülmaschine ausgestattet ist. Die Schleuse 11 dient dem Ausschleusen von verschmutzten Materialien in die Spülküche. Der Flur 1 stellt in erster Linie den Fluchtweg dar. In Flur 10 werden die sterilisierten Versorgungsmaterialien für die Tierhaltung entnommen und auch gelagert. Flur 19 dient zur Beschickung von Autoklav und H2O2-Schleuse. 107 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Die Räume 14-18 stellen die Hygienebarriere dar. Durch die Barriere geschützt werden die Tierräume 3-8, der reine Lagerflur 10, das Embryotransferlabor 12 und die Dokumentation 13. Der Planausschnitt wurde freundlicherweise von der Firma Doranth und Post Architekten, Deutschland, zur Verfügung gestellt. Zusätzliche Absicherung des Hygienestatus von SPF-Tierhaltungen durch den Einsatz von Mikroisolatorkäfigen Bei vielen SPF-Tierhaltungen erfolgt die Absicherung des Hygieneniveaus ausschließlich durch die Hygienebarriere. In der Vergangenheit hat sich jedoch gezeigt, dass SPF-Barrieren häufig durch pathogene Erreger überwunden wurden. Bei diesen Kontaminationsfällen kam es, nachdem die Hygienebarriere erst einmal überwunden war, zu einer raschen und vollständigen Durchseuchung des gesamten durch die Barriere geschützten Tierbestands. Es wurden deshalb Überlegungen angestellt, wie SPF-Bereiche über den Barrierenschutz hinaus hygienisch abgesichert werden könnten. Diese Anstrengungen führten zur Entwicklung von Mikroisolatorkäfigen. Übliche Nagetierkäfige bestehen aus einer luftdichten Käfigschale, die von einem Gitterdeckel verschlossen wird. Durch den Gitterdeckel kann ein freier Austausch von Partikeln zwischen Käfiginnerem und Umgebung stattfinden. Auf diesem Weg gelangen Partikel direkt von einem Käfig zum anderen und führen zu einer raschen Ausbreitung von Infektionen. Bei Mikroisolatorkäfigen wird der freie Partikelaustausch zwischen Käfigen unterbunden. Bei SPF-Tierhaltungen mit Mikroisolatorkäfigen ist prinzipiell jeder einzelne Käfig ein eigenes Hygienekompartiment. Im Gegensatz dazu stellen bei SPF-Barrierenhaltungen ohne Mikroisolatorkäfige die Gesamtheit aller hinter der Barriere gelegenen Käfige das Hygienekompartiment dar. Der Hygieneschutz von Mikroisolatorkäfigen kommt insbesondere dann zur vollen Geltung, wenn alle Manipulationen an Tieren nicht offen, sondern unter Sicherheitswerkbänken oder speziellen Umsetzstationen durchgeführt werden. Sicherheitswerkbänke (der Klasse II) und Umsetzstationen bieten durch einen vertikalen laminaren Strom steriler Luft einen mikrobiologischen Objekt- und Personenschutz. Durch den Einsatz von Mikroisolatorkäfigen in Kombination mit Sicherheitswerkbänken und Umsetzstationen erhalten SPF-Tierhaltungen eine mächtige Hygieneunterstützung. Zum einen können sie verhindern, dass pathogene Erreger, die die Barriere durchbrochen haben, an den Tierbestand gelangen und zu Infektionen der Versuchstiere führen. Zum anderen ist bei bereits erfolgter mikrobiologischer Kontamination von Versuchstieren die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Erreger so stark herabgesetzt, dass bei gutem Tierhaltungsmanagement prinzipiell die Möglichkeit besteht, die Kontamination durch gezielte Eliminierung infizierter Tiere und nicht durch die sehr aufwendige erneute Etablierung der SPF-Anlage zu beseitigen. Den gravierenden Vorteilen von Mikroisolatorkäfigen stehen ihre hoher Anschaffungs- und Unterhaltskosten sowie 108 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg der durch das Umsetzen der Tiere unter speziellen Umsetzstationen personelle Mehraufwand entgegen. Da beim Einsatz von Mikroisolatorkäfigen prinzipiell der einzelne Käfig zur Hygieneeinheit wird, gestaltet sich Kontrolle des Hygienestatus von SPF-Anlagen mit solchen Käfigsystemen als problematisch. Es können zwei unterschiedliche Typen von Mikroisolatorkäfigen unterschieden werden, Filtertopkäfige und individuell ventilierte Käfige (IVCs). Bei Filtertopkäfigen ist das Käfiggitter von einer Haube abgedeckt, in die ein Grobfilter integriert ist. Der Grobfilter verhindert den Partikelaustausch zwischen Käfiginnerem und der Umgebung sehr effizient und bewirkt somit eine beträchtliche Erhöhung des Hygieneschutzes. Der Grobfilter behindert aber auch den Luftaustausch, so dass aus Filtertopkäfigen Schadstoffe wie NH3 oder H2S, die durch mikrobielle Zersetzung aus tierischen Ausscheidungen entstehen, wesentlich schlechter abgeführt werden, als dies bei ungefilterten „offenen“ Käfigen der Fall ist. Die Haltung von Tieren in Filtertopkäfigen geht deshalb häufig mit intermittierend hohen Schadstoffkonzentrationen einher. Dabei ist die Schadstoffkonzentration zum Zeitpunkt des Einbringens der Tiere in einen frischen Käfig gering und steigt bis zum folgenden Käfigwechsel allmählich an. Zur zumindest teilweisen Kompensation dieses Effekts werden Filtertopkäfige meist zweimal wöchentlich oder noch häufiger umgesetzt. Beim Umsetzen werden die Tiere von den verschmutzten in frische Käfige transferiert. Abbildung 5.3: Filtertopkäfig Der Käfig besteht aus der Käfigschale aus transparentem Kunststoff, dem Gitterdeckel, in den eine Raufe zur Aufnahme von Futter und Wasserflasche eingearbeitet ist, und der Haube, in die ein Grobfilter integriert ist. In den letzten Jahren hat sich ein völlig neuartiges System von Mikroisolatorkäfigen stark verbreitet. Dabei handelt es sich um IVC-(individually ventilated cage) Systeme. Bei IVC109 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Systemen wird jeder einzelne Käfig individuell ventiliert. Dazu erforderliche Zu- und Ableitungslüftungskanäle sind direkt in das Käfighaltungsgestell integriert. Die Ventilatoren (meist Zu- und Abluftventilator) befinden sich in einer separaten Lüftungseinheit, die entweder in das Tierhaltungsgestell integriert oder davon getrennt aufgestellt ist. Die Zuluft zum IVC wird sterilfiltriert. Bei der individuellen Ventilation der Käfige wird in der Regel eine ca. 50-fache stündliche Käfigluftwechselrate eingestellt. Hierdurch werden die im Käfige durch mikrobielle Zersetzung tierischer Ausscheidungen entstehenden Schadstoffe hocheffizient abgeführt. Wird die Abluft des IVC-Gestells direkt in das Abluftsystem des Tierhaltungsraums eingeleitet, werden auch die Konzentrationen von Schadgasen im Tierhaltungsraum deutlich reduziert. Deshalb kann in solchen Fällen die für Tierhaltungsräume üblicherweise geforderte 15-18-fache Raumluftwechselrate auf eine ca 8-fache Rate heruntergesetzt werden. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass die Tierraumlüftung nicht nur zur Ableitung von Schadstoffen sondern ebenfalls zur Temperaturkontrolle dient. Neuere Tierhaltungskonzepte sehen vor, die Belüftung der IVC-Einheiten nicht mehr durch einzelne, im Tierhaltungsraum aufzustellende, dezentrale Ventilatoren zu erreichen, sondern die IVCs zentral an die Gebäude-Belüftung anzuschließen. Die Zeit wird zeigen, ob sich das Konzept der zentralen IVC-Anbindung durchsetzen kann. Die Vorteile der IVC-Haltung liegen -ähnlich wie beim Einsatz von Filtertopkäfigen- in der besseren mikrobiologischen Abschirmung. Während es bei den lediglich passiv ventilierten Filtertopkäfigen jedoch zu einer Akkumulation von Schadstoffen im Käfig kommen kann, kann dieses Problem beim aktiv ventilierten IVC-Gestell nicht auftreten. Das Mikroklima in IVCKäfigen ist sogar besser als das von „offenen“ Haltungssystemen, bei denen ein passiver Luftaustausch durch die Käfiggitter erfolgt. So können bei offenen Haltungssystemen, bei denen üblicherweise einmal wöchentlich die Käfigeinstreu gewechselt wird, in Abhängigkeit von der Käfigbelegung durchaus kurz vor dem Umsetzen erhöhte NH3–Konzentrationen auftreten. Im Gegensatz dazu werden bei IVC-Haltung auch kurz vor dem Umsetzen der Tiere keine erhöhten Schadstoffkonzentrationen beobachtet. Zum Teil wird deshalb erwogen, IVC-Käfige nur alle 14 Tage zu wechseln. 110 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 7 4 8 5 2 3 1 Abbildung 5.4: Schema der Luftführung in einem IVC-Käfig Der IVC-Käfig besteht wie der Filtertopkäfig aus der Käfigschale aus transparentem Kunststoff (1), dem Gitterdeckel (2), in den eine Raufe zur Aufnahme von Futter und Wasserflasche (3) eingearbeitet ist, und der Haube (4). Allerdings wird der Käfig über die Zuluftöffnung 7 und die Abluftöffnung 8 aktiv ventiliert. Der in die ansonsten geschlossene Haube integrierte Grobfilter 5 sichert die Käfigventilation bei Ausfall des Ventilationssystems des Käfigs. Die Abbildung wurde freundlicherweise von der Firma Tecniplast Deutschland GmbH, Deutschland, zur Verfügung gestellt. Inbetriebnahme von SPF-Tierhaltungseinheiten Vor der Inbetriebnahme von SPF-Tierhaltungen ist eine gründliche Raumdesinfektion unbedingt erforderlich. Unter optimalen Bedingungen werden die Tierhaltungsräume mit Formaldehyd oder mit „trockenem“ H2O2 begast. Beide Methoden sind hocheffizient, prinzipiell kann eine Raumsterilisierung erreicht werden. Bei der Durchführung von Raumbegasungen mit Formaldehyd stellt sich jedoch das Problem des Aufwands der Legalisierung. Hierfür sind entsprechend geschulte Personen (Befähigungsscheininhaber) sowie eine behördlich ausgestellte spezielle Begasungserlaubnis erforderlich. Raumbegasungen mit H2O2 erfordern einen geringeren Legalisierungsaufwand, hier erweisen sich jedoch die hohen Anschaffungskosten des Superoxid-Generators von Nachteil. Als Alternative zu Raumbegasungen können die Tierhaltungsräume auch durch Dampfbestrahlung und/oder Scheuerwischdesinfektion desinfiziert werden. Zur „lege artis“ Inbetriebnahme von SPF-Tierhaltungen werden keimfreie 111 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Tiere mit einer komplexen Colonization-Resistant-Flora (CRF) wie der Schädler- oder der Wensinck-Flora assoziiert. Die CRF-assoziierten Tiere dienen nun als Empfängertiere bei Embryotransfers zur Einbringung weiterer Stämme in die SPF-Kolonie. Obwohl die CRFAssoziierung eine Besiedelung mit weiteren Bakterien verzögern soll, ist die Akquirierung weiterer Bakterienspezies im Laufe der Jahre unausweichlich. Die Initiierung einer SPF-Kolonie auf CRF-Niveau ist jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Meist werden SPF-Tierhaltungen aufgebaut, indem SPF-Tiere aus anderen Kolonien bezogen werden und diese dann als Empfängertiere bei der Einbringung weiterer Stämme in die SPF-Anlage mittels Embryotransfer dienen. Möglichkeiten der Kontamination von SPF-Tierhaltungsbereichen In Anbetracht des beträchtlichen Aufwands, der damit verbunden ist, einmal kontaminierte SPFBereiche wieder zu sanieren, sollten alle Anstrengungen unternommen werden, den Hygienestatus von Tierhaltungen möglichst langfristig zu bewahren. Voraussetzung hierfür ist genaue Kenntnis möglicher Kontaminationsrouten. -Kontamination durch das Einbringen Pathogen-belasteter Versuchstiere Dieser Kontaminationsmodus ist der sicherlich häufigste von allen. Der Kontaminationsweg kommt zum tragen, wenn die Tierzugangskontrolle nicht gründlich genug durchgeführt wird. Gründe hierfür liegen häufig im Tierhaltungsmanagement (fehlende oder zu wenig stringente Eingangskontrolle). In diesem Zusammenhang muss nochmals betont werden, dass die Möglichkeit in Betracht gezogen werden muss, dass mikrobiologische Zeugnisse fremder Institutionen nicht in vollem Umfang der Wahrheit entspricht. Letztendlich kann nur das kategorische Einbringen neuer Tierstämme im Rahmen von hygienisch einwandfrei durchgeführten Embryotransfers SPF-Bereiche relativ sicher vor diesem Infektionsweg schützen. Zumindest sollten zu importierende Tiere mit vermeintlich günstigem Hygienezeugnis zur Verifikation des Hygienestatus quarantänisiert werden. -Kontamination durch die Verwendung biologischer Materialien: Auch dieser Kontaminationsweg ist häufig zu beobachten. Versuchstiere dienen als Lieferanten von Seren, Ascitesflüssigkeit, Organen, Mikroorganismen, Tumoren, Zellen etc. Dieses biologische Material kann Viren, Mykoplasmen und intrazelluläre Bakterien enthalten, die tierpathogen sind. Bei Einbringung solcher kontaminierter Materialien in Tierhaltungen (z.B. im Rahmen tierexperimenteller Nutzung) kann dies zur Kontamination des Tierhaltungsbereichs führen. Der Infektionsweg kann einerseits unterbunden werden, indem die Präsenz infektiöser Mikroorganismen in biologischen Materialien im AP-Test (Antibody Production Test) oder durch Anwendung 112 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg molekulargenetischer Methoden sicher evaluiert wird. Andererseits hat sich in der Vergangenheit bewährt, die Zucht und die experimentelle Nutzung von Versuchstieren in unterschiedlichen Barrierenbereichen durchzuführen. Durch dieses Vorgehen können kontaminierte Experimentalhaltungsbereiche relativ leicht nach Keulung oder Auslagerung des kontaminierten Tierbestands und der Reinigung und Desinfektion des Bereichs mit Tieren der Zuchtbereiche repopuliert werden. -Kontamination durch das Personal Dieser Kontaminationsweg kommt dann zum tragen, wenn die Personalbarriere leck ist. Ursache hierfür kann fehlerhaftes Management (ungenügende Personalbarrierenmaßnahmen, ungenügende Information des Personals, Auswahl unzuverlässigen Personals, zu geringe Autorität des Managements) sein. Häufig setzen sich aber tierexperimentelle Nutzer ganz bewusst über Hygieneregeln hinweg. Das Personal kann entweder direkt mit tierpathogenen Mikroorganismen wie Salmonella sp., Mycobacterium tuberculosis, Pneumocystis carinii oder Staphylococus sp. besiedelt sein und so eine mikrobiologische Gefährung der Tierhaltungen darstellen. Wesentlich häufiger dient das Personal jedoch als Vektor für Mikroorganismen. Es ist deshalb sehr wichtig, eindeutige Hygienemaßnahmen für den Personalwechsel zwischen Tierhaltungen unterschiedlicher Hygieneniveaus zu etablieren. Da in mikrobiologischen Laboratorien und insbesondere in versuchstierkundlichen Diagnostiklabors häufig mit tierpathogenen Mikroorganismen hantiert wird, sollte Tierpflegepersonal zu solchen Räumen keinen Zutritt haben. In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass Heimtiere häufig ein gefährliches Erregerreservoir für Labornager darstellen. Dem Tierpflege- und tierärztlichen Personal sollte die Haltung bestimmter Haustiere (Nager und Kaninchen) deshalb verboten werden. -Kontamination durch Materialien und Gerätschaften Dieser Kontaminationsweg spielt nur dann eine Rolle, wenn die Materialbarriere Lecks aufweist. Dies kann dann auftreten, wenn die in die Barriere integrierten Geräte zur Desinfektion oder Sterilisation von Materialien (wie Autoklaven oder Desinfektionsmittelschleusen) Defekte aufweisen oder fahrlässigerweise umgangen werden. In diesem Zusammenhang ist auf die regelmäßige Wartung dieser Geräte und auf die Belehrung des Personals hinzuweisen. -Kontamination durch die Zuluft Auch Lecks in der Lüftungsbarriere können zur Kontamination von SPF-Tierhaltungen führen. Dieser Infektionsmodus kann insbesondere dann eine Rolle spielen, wenn die Zuluft von SPF-Tierhaltungen keine Einzelanlagen darstellen. Auch bei Koexistenz von 113 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg SPF-Tierhaltungen und kontaminierten Tierhaltungsbereichen in unmittelbarer räumlicher Nähe muss auf diesen Infektionsweg geachtet werden. -Kontamination durch Wildnager oder Gliedertiere Wildnager haben in der Vergangenheit bereits sehr häufig zu mikrobiologischen Kontaminationen von SPF-Tierhaltungen geführt. Aus diesem Grund, aber auch, um genetische Kontaminationen zu vermeiden, müssen SPF-Tierhaltungen so konstruiert sein, dass das Eindringen von Wildnagern sicher ausgeschlossen ist. Inwiefern Gliedertiere als Vektoren für tierpathogene Erreger dienen können, ist nur schwer abschätzbar. Aus allgemeinen hygienischen und tierschutzrechtlichen Erwägungen sollten SPF-Tierhaltungen aber so konstruiert sein, dass Gliedertiere nicht oder nicht leicht eindringen können. Bei Befall sind unverzüglich Gegenmaßnahmen einzuleiten. Sanierung des Hygieneniveaus kontaminierter SPF-Tierhaltungen Die überwiegende Mehrzahl an SPF-Tieren wird heute in klassischen Barriereneinheiten ohne Mikroisolatorkäfige gehalten. In solchen Anlagen sind relativ häufig Hygieneeinbrüche zu beobachten. Ist der Kontaminationsfall eingetreten, muss entschieden werden, ob und, falls ja, welche Sanierungsmaßnahmen zur Anwendung kommen. Ganz allgemein hat sich gezeigt, dass durch therapeutische Interventionen (wie beispielsweise der Einsatz von Antibiotika zur Eliminierung von bakteriellen Infektionen oder der Einsatz von Antiparasitika zur Beseitigung parasitärer Organismen) nur selten die Beseitigung einer Kontamination erreicht werden kann. Sehr effizient lassen sich Tierhaltungs-Kontaminationen dadurch bekämpfen, dass der gesamte kontaminierte Tierbestand gekeult oder ausgelagert wird, alle hinter der Barriere befindlichen Räume gründlich gereinigt und desinfiziert werden und die Tierhaltung anschließend wieder mit SPF-Tieren repopuliert wird. Diese Vorgehensweise ist jedoch sehr zeitaufwendig und impliziert eine temporäre Räumung der Tierhaltung. 5.6 Konventionelle Tierhaltung Bei konventionellen Tierhaltungen liegen keinerlei Angaben zur Keimbesiedlung des Versuchstiers vor. Folglich kann bei konventionellen Versuchstieren nie ausgeschlossen werden, dass sie mit tier- oder human-pathogenen Mikroorganismen infiziert sind. Konventionelle Versuchstiere stellen somit immer ein hygienisches Risikopotential dar. Insbesondere können konventionelle Tierhaltungen als Infektionsquellen für Tierhaltungen mit höherem Hygieneniveau dienen. Die Wahrscheinlichkeit der Infektion konventioneller Versuchstiere mit Zoonoseerregern und die damit einhergehende potentielle Gefährdung des Betreuungspersonals kann in der heutigen Zeit als geringgradig eingestuft werden. In konventionellen Tierhaltungen, die nachweislich mit tierpathogenen Erregern kontaminiert sind, müssen Tiererkrankungen oder 114 Hygiene Dr. med. vet. Kurt Reifenberg –ausfälle nicht zwangsweise wesentlich häufiger vorkommen als in SPF-Tierhaltungsbereichen. Häufig handelt es sich bei den Erregern um Opportunisten, die keine Krankheitssymptome hervorrufen, solange keine zusätzlichen Stressoren wirksam sind. Werden solche Tiere jedoch im Rahmen von Tierversuchen zusätzlich belastet, so ist mit Erkrankungen und Todesfällen zu rechnen, die durch Infektionskrankheiten verursacht sind. Zudem wird die Aussagekraft der wissenschaftlichen Experimente beeinträchtigt sein. Aus diesen Gründen sind konventionelle Tierhaltungen in der heutigen Zeit eher kritisch zu bewerten. Nachweislich mit pathogenen Erregern verseuchte konventionelle Tierhaltungen sollten deshalb einer Hygienesanierung unterzogen werden und es sollte ein SPF-Hygieneniveau etabliert werden. Die Nutzung konventioneller Versuchstiere sollte sich auf Experimente mit geringer oder fehlender Belastung (z.B. Zuchtexperimente) beschränken. Aus externen Tierhaltungen erhaltene konventionelle Tiere sind wegen des nicht auszuschließenden Infektionsrisikos mit größter Vorsicht zu behandeln. Werden solche Tiere überhaupt angenommen, so müssen sie in einem abgeschirmten Bereich quarantänisiert werden. Die Quarantäne sollte in einem Isolator- oder einem Mikroisolatorkäfigsystem mit negativem Druck erfolgen. Durch geeignete Hygienemaßnahmen muss die Verschleppung potentiell vorhandener Keime sicher ausgeschlossen werden. Erst nach Bestimmung des mikrobiologischen Status kann über den Verbleib konventioneller Tiere bestimmt werden. Häufig befinden sich konventionelle Versuchstierhaltungen in Gebäuden, die über keine besonderen baulichen Ausrüstungen wie Autoklav, Personalschleusen, Materialschleusen u.s.w. verfügen. Aber auch baulich und technisch besser ausgerüstete Tierhaltungen sind zum konventionellen Typ zu rechnen, wenn die regelmäßige Bestimmung des Hygienestatus unterbleibt. 5.7 Literatur Baker DG (1998) Natural pathogens of laboratory mice, rats, and rabbits and their effects on research. Clin Microbiol Rev 11: 231-266 Nicklas W, Baneux P, Boot R, Decelle T, Deeny AA, Fumanelli M, Illgen-Wilcke B (2001) Recommendations for the health monitoring of rodent and rabbit colonies in breeding and experimental units. Laboratory Animals 36: 2042 Van Zutphen LFM, Baumans V, Beynen AC (eds) (1995) Grundlagen der Versuchstierkunde, Gustav Fischer, Stuttgart, Jena, New York Weiss J, Maeß J, Nebendahl K (eds) (2003) Haus- und Versuchstierpflege, Enke, Stuttgart 115 Schmerzen, Leiden, Schäden Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 7.1 Schmerzen, Leiden, Schäden Der §1 des Deutschen Tierschutzgesetzes (TSchutzG) lautet: „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Die im §1 TSchutzG benutzten Begriffe „Wohlbefinden“, „Schmerzen“, „Leiden“ und „Schäden“ dienen in erster Linie der Beschreibung menschlicher Wahrnehmungen und Erfahrungen. Die Verwendung der Begriffe im Deutschen Tierschutzgesetz macht zwingend eine Übertragung dieser Begriffe auf Tiere erforderlich, was ein ausgesprochen heikles Unterfangen darstellt. Nachfolgend werden Definitionen der im §1 des Deutschen Tierschutzgesetzes aufgeführten Begriffe „Wohlbefinden“, „Schmerzen“, „Leiden“ und „Schäden“ aufgeführt, die durch den Deutschen Gesetzgeber zur Anwendung kommen. Es sei darauf hingewiesen, dass in der versuchstierkundlichen Wissenschaft zum Teil andere Definitionen kursieren. Auf deren Darstellung wurde jedoch bewusst verzichtet, da sie hierzulande zum Teil nicht juristisch übernommen wurden. 7.1.1. Wohlbefinden Unter Wohlbefinden wird nach Lorz / Metzger (1999) ein Zustand physischer und psychischer Harmonie des Tieres in sich und -entsprechend seinen angeborenen Lebensbedürfnissen- mit der Umwelt verstanden. Regelmäßige Anzeichen von Wohlbefinden sind „Gesundheit“ und ein natürliches, in jeder Beziehung der jeweiligen Tierart „entsprechendes Verhalten“. Die von Lorz / Metzger (1999) eingeführte Definition des tierischen Wohlbefindens muss als gelungen gelten. Zwar ist der „Zustand physischer und psychischer Harmonie des Tieres“ nicht objektiv zu greifen, aber als Indikatoren des Wohlbefindens werden wichtigerweise die Parameter „Gesundheit“ und „Verhalten“ eingeführt. Körperliche Gesundheit und Normalverhalten können unproblematisch von Experten (Tierärzte, Ethologen) charakterisiert werden. Tatsächlich dient derzeit auch die Aufrechterhaltung der tierischen Gesundheit und die Gewährleistung eines normalen Verhaltens als wichtigstes Beurteilungskriterium bei der Prüfung der „Artgerechtheit“ von Tierhaltungssystemen. 116 Schmerzen, Leiden, Schäden Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 7.1.2. Schmerzen Die von der „International Association for the Study of Pain (1979)“ veröffentlichte und zwischenzeitlich in der Fachliteratur allgemein anerkannte Definition von Schmerz lautet: "Schmerz ist eine unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die im Zusammenhang steht mit tatsächlicher oder potentieller Schädigung oder in Form einer solchen Schädigung beschrieben wird". Diese Schmerzdefinition wird auch vom Deutschen Gesetzgeber akzeptiert. Ihr liegt folgender Mechanismus zugrunde: Bestimmte mechanische, chemische, thermische, elektrische oder andere Einflüsse, die über eine ausreichende Intensität verfügen, um tatsächliche oder potentielle Verletzungen oder Gewebeschäden hervorzurufen, stellen in der Regel die Auslöser von Schmerzen dar. Schmerzen können allerdings auch ohne direkte Auslöser entstehen (z. B. Phantomschmerzen). Durch die schmerzhaften Reize werden spezifische neuronale Rezeptoren, sogenannte Nocizeptoren, aktiviert. Die nocizeptiven Reize werden dem Zentralen Nervensystem zugeführt und führen dort zur Erfahrung des Schmerzes. Nach den Erkenntnissen von Physiologie und Psychologie ist für die Schmerzerfahrung notwendig, dass eine Wahrnehmung erzeugt wird, was wiederum erfordert, dass ein Bewusstsein vorhanden ist d.h. es muss eine funktionstüchtige Hirnrinde verfügbar sein. Zur Festlegung einer Schmerzempfindung bei Tieren hat das „Committtee on pain and distress in laboratory animals“ folgende Kriterien benannt: -Anatomische und physiologische Ähnlichkeiten bei Schmerzaufnahme, -weiterleitung und –verarbeitung mit dem Menschen -Meidung von Reizen, die vermutlich schmerzauslösend sind -Feststellbare Wirksamkeit schmerzhemmender Substanzen Je mehr der aufgeführten Kriterien erfüllt werden, desto legitimer ist die Annahme, dass im tierischen System tatsächlich eine Schmerzempfindung vorliegt. Bei Säugtieren und Vögeln kann heute niemand mehr ernsthaft bestreiten, dass eine Schmerzempfindung möglich ist. Im Gegensatz dazu war jedoch die Schmerzfähigkeit von Fischen für lange Zeit umstritten. Neuere wisssenschaftliche Erkenntnisse insbesondere über das Meideverhalten und die Wirksamkeit schmerzhemmender Substanzen belegen jedoch die Schmerzfähigkeit von Fischen. So gehen beispielsweise nur sehr wenige Forellen, die schon einmal geangelt und dann wieder freigelassen wurden, erneut an einen Angelköder. Auch zeigen Morphium-behandelte Fische ein deutlich reduziertes Abwehrverhalten gegenüber potentiellen Schmerzreizen. Andererseits verfügen Fische nicht über einen Neocortex, in dem bei höheren Wirbeltieren die Schmerzverarbeitung stattfindet. Es wird angenommen, dass bei primitiven 117 Schmerzen, Leiden, Schäden Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Wirbeltieren die Schmerzemmpfindung in anderen Gehirnteilen erfolgt. Unabhängig von allen wissenschaftlichen Details ist jedoch die derzeitige juristische Einschätzung entscheidend: der Gesetzgeber unterstellt derzeit bei allen Wirbeltieren eine Schmerzfähigkeit. Noch schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie die Schmerzfähigkeit wirbelloser Tiere wissenschaftlich zu beurteilen ist. Zu dieser Thematik existiert derzeit nur wenig Fachwissen. Auch hier ist die juristische Einstufung entscheidend und diese besagt derzeit, dass der Gesetzgeber bei Cephalopoden (Kopffüßler) und Dekapoden (Zehnfußkrebse) eine Schmerzfähigkeit unterstellt und bei den anderen wirbellosen Tieren eben nicht. 7.1.3. Leiden Die Definition von tierischem Leiden bereitet prinzipiell erhebliche Schwierigkeiten. An dieser Stelle wiedergegeben wird eine „negative Definition“ des Bundesgerichtshofs, bei der es sich um eine juristische Auslegung handelt, die nicht der Human- oder Tiermedizin entstammt. Die Definition des Bundesgerichtshofs spiegelt jedoch wichtigerweise die Einschätzung des Deutschen Gesetzgebers wieder: „Leiden sind alle nicht bereits vom Begriff des Schmerzes umfassten Beeinträchtigungen im Wohlbefinden, die über ein schlichtes Unbehagen hinausgehen und eine nicht ganz unwesentliche Zeitspanne fortdauern.“ Auch hier handelt es sich um eine negative Definition, die im Prinzip besagt, dass all das zum Leiden zu rechnen ist, was nicht weh tut aber trotzdem unangenehm ist. In entsprechenden Urteilen hat der Verwaltungsgerichtshof festgelegt, dass die Beeinträchtigung des tierischen Wohlbefindens, die als Leiden zu bezeichnen ist, nicht unbedingt körperlicher Natur sein muss, sondern auch das „seelische“ Wohlbefinden der Tiere betreffen kann. Gemäß Bundesgerichtshof stellt zudem nicht jedwede Beeinträchtigung des Wohlbefindens von Tieren Leiden dar, sondern es gelten zwei Einschränkungen: einerseits reicht ist eine bloße Augenblicksempfindung des Tieres nicht aus und andererseits ist auch ein „schlichtes Unbehagen“ (hierunter werden die Vorstufen von Angst oder ähnlicher Empfindungen verstanden) nicht genug. Als Faktoren, die tierisches Leiden induzieren können, sind beispielsweise Mängel bei der Grundversorgung (inadäquate Futter- und Wasserversorgung, mangelhafte Käfigreinigung, schlechte Gesundheitskontrolle) und nicht-artgerechte Haltung (normales Verhaltensrepertoire nicht auslebbar) zu nennen. Bei Säugetieren, die aufgrund eines hoch entwickelten limbischen 118 Schmerzen, Leiden, Schäden Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Systems nachweislich starke Emotionen entwickeln können, sind negative Emotionen wie Angst, Wut oder Panik als Leidensfaktoren aufzuführen. 7.1.4. Schäden Nach Lorz / Metzger (1999) liegt ein Schaden dann vor, wenn der körperliche oder geistige Zustand eines Tieres vorübergehend oder dauernd negativ beeinflusst wird. Schaden ist somit jede Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Unversehrtheit. Lorz / Metzger (1999) geben folgende Beispiele für Schäden: Abmagerung, Übergewicht, Amputation, Verletzung, Störung der Bewegungsfähigkeit, Störung des Verhaltens, Gesundheitsschäden, Gleichgewichtsstörung, reduzierte Leistungsfähigkeit, Unfruchtbarkeit, etc. 7.1.5. Erkennen tierischer Schmerzen, Leiden oder Schäden Bei Hau und van Hoosier (2003) werden basierend auf einem OECD-Bericht klinische Zeichen aufgeführt, die bei (Versuchs)tieren auf Schmerzen, Leiden oder Schäden hinweisen. Die nachfolgende Auflistung orientiert sich an dieser Publikation: • Augenveränderungen: „getrübter Blick“, Ausfluss • Fellveränderungen: struppiges Fell, Haare aufgestellt, vernachlässigte Fellpflege • Abnahme des Körpergewichts • Blutungen und Verletzungen: Blutungen aus Körperöffnungen, Blut in Kot oder Urin, Wunden, Frakturen • Bewegungsanomalien: unkoordinierte Bewegungen, Krämpfe, Lahmheit, Lähmungen, geschwollene Gelenke, gestörte Reflexe, Zittern • Verhaltensanomalien: Stereotypien, verstärkte Aggression, verstärkte Ängstlichkeit, Automulitation, Apathie, Inaktivität, Urin trinken, Kot aufnehmen (Beachte: die Aufnahme von Kot ist bei bestimmten Spezies normal: z.B. Kaninchen), Koma, fehlende Fellpflege oder inadäquates Sozialverhalten • Ungewöhnliche Vokalisationen (Schmerzschreie, Angstschreie) • Reproduktionsanomalien: Zuchtbeeinträchtigung, Abort, Agalaktie, Mastitis, Vaginalprolaps • Pathologische Körpertemperatur • Störungen der Respirationsorgane: Husten, Schnupfen, Aufbuckeln, Pathologische Atemfrequenz • Störungen der Verdauungsorgane: Speicheln, Diarrhoe, Obstipation, gestörter Urinabsatz (Anurie, Polyurie), aufgeblähtes Abdomen, eingefallener Bauch, 119 Schmerzen, Leiden, Schäden Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Rektumprolaps, gestörtes Fressverhalten (Polyphagie, Inappetenz), gestörtes Trinkverhalten, Erbrechen • Störungen der Sensibilität: Analgesie, Hyperästhesie • Stellungsanaomalien: Lordose, Kyphose, Skoliose • Hautveränderungen: Gelbsucht, Anämie • Kreislaufprobleme: pathologische Herzfrequenz, Ödeme 7.1.6. Literatur: 1. Baumans V, Brain PF, Brugere H, Clausing P, Jeneskog T and Perretta G (1994) Pain and distress in laboratory rodents and lagomorphs Laboratory Animals28: 97-112 2. Hau J und van Hoosier GL, Handbook of Laboratory Animal Science - Volume I - Essential principles and practices; CRC; New York, 2003 3. Hirt A, Maisack C, Moritz J, Tierschutzgesetz, Verlag Franz Vahlen, München, 2003 4. Lorz, Metzger (1999) Tierschutzgesetz, Kommentar, München 120 Anästhesie bei Versuchstieren Dr. med. vet. Kristianna Becker 7.2. ANÄSTHESIE BEI VERSUCHSTIEREN - Dr. Kristianna Becker – 7.2. Narkose und Schmerzausschaltung bei kleinen Versuchstieren Rechtsvorschriften zur Durchführung von Narkosen an Tieren: 1. Tierschutzgesetz vom 25.05.1998 (§§5,9) 2. Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz)vom 01.11.2002 (§§1,2,3,5) 3. Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln vom 28.03.2000 (§§ 1,2,4,5) 4. Verordnung über tierärztliche Hausapotheken (TÄHAV) vom 10.08.2001 Um Betäubungsmittel zu wissenschaftlichen Zwecken beziehen zu können, bedarf es einer Erlaubnis des: Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte - Bundesopiumstelle – Friedrich-Ebert-Allee 38, 53113 Bonn! 7.2.1. Definitionen Narkose: Eine Narkose ist ein durch Zufuhr von Narkosesubstanzen induzierter reversibler Zustand, in dem chirurgische, diagnostische oder therapeutische Eingriffe bei erloschenem Bewusstsein ohne Schmerzempfindungen oder Abwehrreaktionen durchführbar sind. Daraus ergeben sich die Hauptanforderungen an eine Narkose: 1. Bewusstseinsverlust 2. Analgesie (Ausschaltung der Schmerzempfindung) 3. Muskelrelaxation 4. vegetative Blockade/ Parasymphatolyse (Ausschaltung von Reaktionen des autonomen Nervensystems) 5. geringe Ausbildung von Nebenwirkungen Anästhesie: "Empfindungslosigkeit" Diese Empfindungslosigkeit muss nicht zwingend mit einem Bewusstseinsverlust verbunden sein. Bspl.: Oberflächen-, Lokal-, Regional-, Allgemeinanästhesie ... 121 Anästhesie bei Versuchstieren Dr. med. vet. Kristianna Becker Analgesie: (Aufhebung der zentralen Schmerzempfindung) Die Analgesie ist i.d.R. nicht mit einem Bewusstseinsverlust verbunden. 7.2.2. Narkosevorbereitung Bei der Vorbereitung einer Narkose sind Aspekte zu berücksichtigen, die sowohl das Tier selbst als auch sein Umfeld betreffen. Eine gut durchdachte Narkosevorbereitung kann das Auftreten von Komplikationen während der Narkose deutlich reduzieren. Narkose: y Auswahl der geeigneten Narkose für den jeweiligen Eingriff: (kurze ↔ lange Dauer; wenig ↔ stark schmerzhaft; Injektionsnarkose ↔ Inhalationsnarkose; Spontanatmung ↔ Beatmung) y Auswahl der geeigneten Narkosemittel (Berücksichtigung spezifischer Nebenwirkungen, Wirkung bei der jeweiligen Tierart muss gesichert sein) y Prämedikation bei kleinen Versuchstieren eher unüblich Umfeld: y Akklimatisation (i.d.R. 10-14 Tage, im Einzelfall 6 Monate) y Handling y Tageszeit (Tag/Nacht-Rhythmus vieler Versuchstierarten!) y Futterentzug (ist zu vermeiden, da bei kleinen Versuchstieren durch Nüchternsetzen die Gefahr der Entwicklung einer Hypoglykämie und Azidose besteht, welche zu massiven Problemen während der Narkose und in der Aufwachphase führen können) Tier: y Bestimmung des aktuellen Gewichtes!!! (sehr wichtig für exakte Dosierung, Verlaufskontrolle) y Alter, Geschlecht, Art, Stamm 122 Anästhesie bei Versuchstieren Dr. med. vet. Kristianna Becker y Gesundheitszustand (kurze Überprüfung vor Narkose, um z.B. respiratorische Probleme auszuschließen) 7.2.3 Applikationsmöglichkeiten einer Narkose Zur Verabreichung von Narkosesubstanzen stehen unterschiedliche Verfahren zur Verfügung: Injektion: intramuskulär, intraperitoneal (intravenös, subkutan) Inhalation: Kammer, Maske, Tubus Sonstige: oral, rektal, perkutan 7.2.4 Injektionsnarkose Zur Injektionsnarkose verwendete Substanzen gehören unterschiedlichen Wirkstoffgruppen an, die im folgenden kurz dargestellt werden. Hypnotika = Schlaf herbeiführende Substanzen, bewirken selbst keine Hemmung der Schmerzempfindung dosisabhängige Wirkung: Sedation - Hypnose - Narkose - Koma - Tod Bspl.: Barbiturate (Pentobarbital), Chloralhydrat, Propofol Analgetika = Schmerzmittel Aufhebung der Schmerzempfindung auf zentraler Ebene, keine oder nur geringe sedative Wirkung Bspl.: Opioide (Morphin, Fentanyl, Dipidolor...), Ketamin Sedativa = "Beruhigungsmittel" allgemeine Erregbarkeitsminderung des zentralen Nervensystems ohne deutliche Herabsetzung lebenswichtiger Funktionen Bspl.: Benzodiazepine (Diazepam, Midazolam), Phenothiazine (Acepromazin), α2-Agonisten (Xylazin, Medetomidin) Muskelrelaxantien = Substanzen, die zur Erschlaffung bzw. Lähmung der quergestreiften Muskulatur führen (künstl. Beatmung erforderlich) Beachte: Narkoseüberwachung wird fast unmöglich, aus Tierschutzgründen sind Muskelrelaxantien daher abzulehnen Bspl.: Curare, Atracurium 123 Anästhesie bei Versuchstieren Dr. med. vet. Kristianna Becker Parasymphatolytika = Substanzen, die einen hemmenden Einfluss auf das parasymphatische Nervensystem haben, welches durch Narkosemittel selbst (Opioide) oder durch Manipulationen (Intubation) stimuliert werden kann Folge einer Stimulation: Bradykardie, Bronchosekretion, Salivation Bspl.: Atropin, Glykopyrrolat 7.2.5 Beispiele häufig eingesetzter Substanzen zur Injektionsnarkose Hypnotika Pentobarbital (Narcoren©) Wirkung: s. allgemeine Wirkung Hypnotika Nebenwirkungen: leichte – mäßige Herzkreislaufdepression, starke Atemdepression, Herabsetzung der Körpertemperatur Sonstige: Betäubungsmittelpflichtig! Kann bei der Ratte zur Mononarkose eingesetzt werden. Bei der Maus ist die Wirkung für eine Mononarkose zu unzuverlässig. Chloralhydrat, α- Chloralose Wirkung: s. allgemeine Wirkung Hypnotika Nebenwirkungen: gering ausgeprägt am Herzkreislaufsystem, Atem depression nur bei hohen Dosierungen, große Injektionsvolumina, gewebereizend, krampfreiche Aufwachphasen!aufgrund der Nebenwirkungen nur für Akutversuche einsetzen! Analgetika Opioide (z.B. Fentanyl) Wirkung: Analgesie, geringe bis keine sedative Wirkung, tierartspezifisch auch erregende Wirkung Nebenwirkungen: Stimulation des parasympathischen Nervensystems, Atemdepression Sonstige: Betäubungsmittelpflichtig! Ketamin Wirkung: "dissoziative Anästhesie", gute Analgesie (v.a. somatisch) Nebenwirkungen: Halluzinationen, Erhöhung des Muskeltonus, starke Atemdepression Sonstige: Sekretionssteigerung im Atemtrakt, Steigerung des Speichelflusses immer nur in Kombinationen mit Sedativa verwenden! 124 Anästhesie bei Versuchstieren Sedativa Dr. med. vet. Kristianna Becker α2-Adrenozeptoragonisten (Xylazin = Rompun©, Medetomidin = Domitor©) Wirkung: sehr gute Sedation und Muskelrelaxation, leichte Analgesie Nebenwirkungen: Abfall der Herzfrequenz, Blutdrucksenkung, gering bis mittelgradige Atemdepression, Herabsetzung der Körpertemperatur Sonstige: Erhöhung des Blutzuckerspiegels (Insulinfreisetzung v), Verstärkung der Urinausscheidung (ADH-Freisetzung v) Die Kombination von Ketamin mit Xylazin ist geeignet für sehr viele Versuchstierarten (s. Tabellen 5.1.1 bis 5.1.4) Benzodiazepine (Diazepam = Valium©, Midazolam = Dormicum©) Wirkung: Sedation, Anxiolyse, Muskelrelaxation Nebenwirkungen: Verstärkung der Nebenwirkungen der Kombinationspartner Sonstige: andere Wirkdauer und –intensität als beim Mensch Anwendung in Kombinationen mit Benzodiazepinen bei großen Versuchstieren gut möglich Um den Anforderungen an eine Narkose gerecht zu werden, kombiniert man i.d.R. verschiedene Substanzen miteinander, da keines der Narkosemittel alleine die Anforderungen an eine Narkose erfüllen kann. Mit der Kombination unterschiedlicher Substanzen versucht man, Wirkungen zu maximieren und Nebenwirkungen zu minimieren (z.B. Analgetikum + Sedativum). Beispiele für mögliche Injektionsnarkosen für kleine Versuchstiere sind in den Tabellen 5.1.1 bis 5.1.4 dargestellt. 7.2.6. Inhalationsnarkose Da eine Intubation bei kleinen Versuchstieren nicht ganz einfach ist, werden Inhalationsnarkosen oft nur mit sehr einfachen Mitteln durchgeführt, z.B. als Kammer- oder Maskennarkose. Dabei sind einige grundlegende Maßnahmen zu beachten: - zur eigenen Sicherheit unter einem Abzug arbeiten !!! - Tier nicht in direkten Kontakt mit dem flüssigem Inhalationsanästhetikum bringen - Kammernarkose: nur mit Inhalationsanästhetika mit einer großen therapeutischen Breite 125 Anästhesie bei Versuchstieren Dr. med. vet. Kristianna Becker verwenden, da eine exakte Dosierung nicht möglich ist - Maskennarkose: Gefahr der Ansammlung von Kohlendioxid in der Maske Beim Einsatz von Inhalationsanästhetika ist zu beachten, dass man immer unter einem Abzug oder mit einer Gasabsaugung arbeiten sollte, um selbst kein Anästhetikum einzuatmen. Bei dauerhafter Exposition haben fast alle Inhalationsanästhetika nicht unerhebliche Nebenwirkungen (Halothan ist z.B. lebertoxisch). 7.2.7 Beispiele für Inhalationsanästhetika: Äther der Einsatz von Äther wird sehr kontrovers diskutiert Vorteil: große therapeutische Breite durch langsames An- und Abfluten, gute Muskeleelaxation, geringe Kreislaufdepression, billig, in einfachen Apparaturen einsetzbar (Kammer, Open-drop) Nachteil: starke Atemdepression, starke Schleimhautreizung (Salivation, Bronchosekretion), Explosionsgefahr Halothan, Isofluran, Sevofluran sollten nur über spezielle Verdampfer verabreicht werden, da sonst die Gefahr einer Überdosierung sehr groß ist (Herz-Kreislauf-Stillstand schon bei 2-4 fachem der anästhetischen Dosis möglich) lediglich hypnotische Wirkung Nebenwirkung überwiegend am Herz-Kreislauf-System (Blutdruckabfall), Atemdepression Lachgas im Gegensatz zum Menschen wirkt Lachgas in den üblicherweise möglichen Dosierungen bei Tieren nicht analgetisch!! 126 Anästhesie bei Versuchstieren Dr. med. vet. Kristianna Becker 7.2.8 Komplikationen während der Narkose Das Hauptproblem während der Narkose bei kleinen Versuchstieren ist die Entstehung einer Hypothermie (Auskühlung). Diese ist für >50% der Todesfälle während der Narkose und in der Aufwachphase verantwortlich. Weitere Komplikationen entstehen durch die Atem- und Herzkreislaufdepression sowie durch die Austrocknung (Dehydration) während der Anästhesie. Atem- und Herzkreislaufdepression Jede Narkose führt zu einer Deprimierung von Atmung und Kreislauf, wobei i.d.R. das Atemzentrum stärker betroffen ist. Meist entwickelt sich eine Atemdepression schleichend und fällt erst dann auf, wenn es zur Apnoe mit anschließendem Herz-Kreislauf-Stillstand kommt. Vor allem respiratorisch vorgeschädigte Tiere (z.B. Ratten mit Pasteurellose) reagieren sehr empfindlich. Ursache atemdepressive Wirkung der zur Narkose verwendeten Substanzen Atemdepression ist erkennbar an: niedriger Atemfrequenz bei flacher Atmung (<40% des Ausgangswertes), Ausbildung einer Cyanose (Augen erscheinen dunkel; Nase, Schwanz bläulich verfärbt; Blut dunkel) Prophylaxe und Notfallmaßnahmen: Sauerstoffzufuhr z.B. über einen Schlauch manuelle Beatmung: Thoraxkompression (80 - 100X/min), Schwenken des Tieres um die Horizontale künstliche Beatmung durch einen auf die Nase aufgesetzten Schlauch/Spritze Herz-Kreislauf-Stillstand: Ursachen sind i.d.R. eine Atemdepression oder ein größerer Blutverlust Bekämpfung der Ursachen! Reanimation und Flüssigkeitssubstitution Das alleinige Spritzen von Medikamenten in einer Notfallsituation ist meist nicht ausreichend, da Medikamente bei einem kollabierten Kreislauf erst gar nicht an den Wirkort gelangen!!! Dehydration Ursachen: keine Flüssigkeitsaufnahme während der Narkose Narkosemittel, die die Diurese anregen (z.B. α2-Agonisten) Verdunstung von Flüssigkeit über eröffnete Körperhöhlen, Blutungen Folge: Kreislaufprobleme 127 Anästhesie bei Versuchstieren Maßnahme: Dr. med. vet. Kristianna Becker Flüssigkeitssubstitution z.B. Applikation von körperwarmer physiologischer NaCl-, Ringer- oder Vollelektrolytlösung in die Bauchhöhle oder auch subkutan Dosis: 10 - 20 ml/kg KG/h (Ratte 250g: 2,5 - 5ml/h) Hypothermie Darunter versteht man den Abfall der Körpertemperatur < 35°C. Dies kann während einer Narkose bei kleinen Versuchstieren sehr schnell eintreten (15-20 min!). Ursachen: fehlende Muskelaktivität Lagerung auf kalten Unterlagen, großzügiges Scheren und Desinfizieren niedrige Umgebungstemperaturen Narkosemittel (Hemmung der Thermoregulation im Gehirn, periphere Vasodilatation), z.B. durch Barbiturate oder α2-Agonisten Eröffnung von Körperhöhlen Folge: Hauptursache für Todesfälle Hypoventilation durch verringerte Stoffwechselaktivität → Hypoxämie, Hyperkapnie, Gewebshypoxie, metabolische Azidose Blutdruckabfall, Bradykardie, Temperatur < 30°C: Kammerflimmern, Herzstillstand Verlangsamung der Metabolisierung → Verlängerung der Aufwachphase langfristig: Wundheilungsstörungen Maßnahmen: regelmäßige Temperaturkontrolle während der Narkose Lagerung auf warmen Unterlagen, minimales Scheren und Desinfizieren zusätzliche Wärmeapplikation: Einwickeln in Alufolie oder in genoppte Plastikfolie, Heizkissen, Wärmelampen (Gefahr der Überhitzung beachten) Kurznarkosen für kurze Eingriffe, antagonisierbare Narkosen 7.2.9. Aufwachphase Das Tier sollte in einer ruhigen, evt. abgedunkelten Umgebung erwachen. Die Einstreu wird mit Zellstoff o.ä. abgedeckt, damit Einstreupartikel die Atemwege nicht verlegen können. Die Lagerung sollte so erfolgen, dass Verletzungen vermieden werden. Narkotisierte Tiere dürfen nicht zu wachen Artgenossen gesetzt werden, erst nach vollständigem Erwachen ist ein Zurücksetzen in die Gruppe möglich. Es kann hilfreich sein, abgezähltes und/oder 128 Anästhesie bei Versuchstieren Dr. med. vet. Kristianna Becker angefeuchtetes Futter direkt in den Käfig zu geben, um die Futteraufnahme zu erleichtern bzw. besser kontrollieren zu können. In regelmäßigen Abständen ist das Tier zu überwachen, hierbei ist insbesondere auf folgende Parameter zu achten: Atmung: regelmäßig, tief Kreislauf: Farbe der sichtbaren Schleimhäute, Venenfüllung, Puls (Nachblutungen) Temperatur: Auskühlung vermeiden, evt. zusätzliche Wärmeapplikation Schon während der Narkose aber spätestens in der Aufwachphase sollte mit einer adäquaten Schmerztherapie begonnen werden. 7.2.10. Narkoseüberwachung Das Tier sollte nach Applikation der Anästhetika in einer ruhigen, gewohnten Umgebung (eigener Käfig) einschlafen können.. Das Tier muss regelmäßig kontrolliert werden, ohne es dabei zu stören oder aufzuwecken. Wenn das anästhesierte Tier einen vollständig relaxierten Eindruck macht, kann es aus seinem Käfig herausgenommen und die Narkosetiefe überprüft werden. Ausfall vonReflexen während der Einschlafphase unkoordinierte Bewegungen Ausfall mit zunehmender Narkosetiefe Ausfall des Klammerreflexes Hinterkörper in Seitenlage Auflegen des Kopfes Ausfall des Umdrehreflexes Überprüfung der Narkosetiefe Umdrehreflex sollte nicht mehr vorhanden sein Lidreflex sollte gerade eben verschwunden sein Cornealreflex sollte noch gering vorhanden sein Pupillen-Licht-Reaktion muss noch vorhanden sein, ansonsten gefährlich tiefe Narkose Zwischenzehenreflex Hinweis auf die Ausbildung der Analgesie während der Narkose darf für schmerzhafte Eingriffe nicht mehr vorhanden sein Exophthalmus bei der Ratte Hinweis auf sehr tiefes Narkosestadium 129 Anästhesie bei Versuchstieren Atmung, Kreislauf Dr. med. vet. Kristianna Becker Frequenzänderungen beachten Überwachung der Narkose Atmung Erhöhung der Frequenz: Narkose zu flach, Tier wird wach Erniedrigung der Frequenz, Atmung flach: Narkose sehr tief Kreislauf Herzfrequenz erhöht: Narkose zu flach oder zu tief, Kreislaufprobleme z.B. aufgrund eines größeren Blutverlustes (Schock) Herzfrequenz erniedrigt: Einfluss von Narkosemitteln Temperaturkontrolle sehr, sehr wichtig, da aufgrund von Hypothermie die meisten Todesfälle während und nach einer Narkose auftreten weiterführende Maßnahmen: EKG, Blutdruckmessung, Pulsoximetrie u.a. aber: Geräte aus der Humanmedizin sind oft überfordert mit den hohen Frequenzen der kleinen Versuchstieren 7.2.11 Einteilung der Narkosestadien nach Guedel Anhand der erhobenen Befunde kann eine Einteilung der Narkose in unterschiedliche Stadien erfolgen. Ein grundlegendes Schema hierzu hat Guedel 1920 aufgrund der bei einer Inhalationsanästhesie mit Äther auftretenden klinischen Zeichen erarbeitet. Dieses Schema kann mit gewissen Einschränkungen auch auf Injektionsnarkosen bei Versuchstieren übertragen werden (z.B. Ketamin: einige Schutzreflexe können länger erhalten bleiben). Stadium I Stadium der Amnesie und Analgesie Beginn: Zufuhr des Anästhetikums Ende: Erlöschen des Bewusstseins Schmerzempfinden nimmt langsam ab Stadium II Exzitationsstadium Beginn: Erlöschen des Bewusstseins Ende: Beginn des Toleranzstadiums Erregung, unwillkürliche Muskelzuckungen, starke Reaktionen auf äußere Reize (z.B. laute Geräusche), Würgen, Erbrechen, Kot-, Urinabsatz Dieses Stadium ist besonders unerwünscht und sollte so rasch wie möglich durchlaufen werden 130 Anästhesie bei Versuchstieren Stadium III Dr. med. vet. Kristianna Becker Toleranzstadium Beginn: Ende des Exzitationsstadiums Ende: Aufhören der Spontanatmung wird nochmals in Unterstadien unterteilt, in der mit zunehmender Tiefe auch Operationen steigender Schmerzintensität möglich sind Atmung wird regelmäßiger als im Exzitationsstadium kein Lid- und Cornealreflex mehr Muskeltonus ist stark vermindert Stadium IV Stadium der Vergiftung Beginn: Stillstand der Atmung Ende: Zusammenbruch des Herz-Kreislauf-Systems Pupillen sind maximal weit und reagieren nicht auf Licht Abb. : Einteilung der Narkosestadien nach Guedel 131 7.2.12. Beispiele für mögliche Injektionsnarkosen bei kleinen Versuchstieren Tabelle 7.2.1: Injektionsnarkose Ratte - Beispiele Narkose Dosis + Applikationsart Chirurg. Toleranz Schlafdauer Nebenwirkungen Sonstige Bemerkungen Pentobarbital 40 - 60 mg/kg KG variabel, 120 - 240 min ausgeprägte Atemdepression als Nembutal nicht mehr auf dem intraperitoneal bis 45 min mäßige Kreislaufdepression Markt, nur noch als Narcoren zentral bewirkte Hypothermie (beachte: höhere Konzentration) deutliche Atemdepression bei intramuskulärer Injektion auf 2,5 - 5 mg/kg KG Xylazin mäßige Herzkreislaufdepression Volumen achten in einer Spritze mischen zentral bewirkte Hypothermie Nachinjektion: 1/3 der Ketamin- intramuskulär, intraperitoneal forcierte Diurese menge intramuskulär 240 - 300 min, ausgeprägte Atemdepression sehr rascher Wirkungseintritt Ketamin + Xylazin 100 mg/kg KG Ketamin + ca. 30 min 120 - 240 min Ketamin + 100 mg/kg KG Ketamin + Medetomidin 0,2 mg/kg KG Medetomidin bei Hypothermie ausgeprägte Kreislaufdepression sehr tiefe Narkose, sorgfältige in einer Spritze mischen deutlich länger zentral bewirkte Hypothermie Überwachung auch während der forcierte Diurese Aufwachphase notwendig ca. 120 min intramuskulär Nachinjektion: 1/3 der Ketaminmenge intramuskulär Vollständig 150 µg/kg KG Medetomidin © Eintritt nach variabel, da mittelgradige Atemdepression Antagonisierung: antagonisierbare (Domitor )+ 5 - 10 min vollständige mäßige Kreislaufdepression Atipamezol (Antisedan©) Anästhesie 2 mg/kg KG Midazolam ca. 60 min Antagonisierung der Hypothermie 750 µg/kg KG + Narkose möglich forcierte Diurese Flumazenil (Anexate©) (Dormicum© 15/3) + 5 µg/kg KG Fentanyl 0,2 mg/kg KG + (Fentanyl-Janssen) Naloxon (Narcanti©) in einer Spritze mischen 120 µg/kg KG intramuskulär in einer Spritze mischen, subkutan 132 Tabelle 7.2.2: Injektionsnarkose Meerschweinchen - Beispiele Narkose Dosis + Applikationsart Chirurg. Toleranz Schlafdauer Nebenwirkungen Sonstige Bemerkungen Ketamin + Xylazin 40 mg/kg KG Ketamin + 30 min 90 - 120 min deutliche Atemdepression individuell Analgesie nicht 5 mg/kg KG Xylazin mäßige Herzkreislaufdepression ausreichend für größere chirurgische in einer Spritze mischen zentral bewirkte Hypothermie Eingriffe intraperitoneal forcierte Diurese Vollständig 200 µg/kg KG Medetomidin + Eintritt nach 15 min variabel, da Antagonisierung: antagonisierbare 1 mg/kg KG Midazolam + ca. 30 min vollständige Atipamezol 1 mg/kg KG + Anästhesie 25 µg/kg KG Fentanyl Antagonisierung der Flumazenil 0,1 mg/kg KG + in einer Spritze mischen Narkose möglich Naloxon 300 µg/kg KG intraperitoneal in einer Spritze mischen, subkutan 133 Tabelle 7.2.3: Injektionsnarkose Maus – Beispiele Beachte: Die verschiedenen Mäusestämme bzw. –linien reagieren sehr unterschiedlich auf Narkosen. Daher ist es notwendig, die Dosierungen gegebenenfalls nach oben oder nach unten zu korrigieren. Narkose Dosis + Applikationsart Chirurg. Toleranz Schlafdauer Nebenwirkungen Sonstige Bemerkungen Ketamin + Xylazin 120 mg/kg KG Ketamin + ca. 20 - 30 min ca. 60 - 120 min deutliche Atemdepression oft nicht ausreichend für größere 16 mg/kg KG Xylazin abhängig von mäßige Herzkreislaufdepression chirurgische Eingriffe auf 10ml verdünnen, Dosis: Körpertemperatur zentral bewirkte Hypothermie 10 ml/kg = 0,1ml/10g forcierte Diurese intraperitoneal Ketamin + Xylazin + 65 mg/kg KG Ketamin Acepromazin ca. 15 - 30 min ca. 60 – 120 min deutliche Atemdepression 13 mg/kg KG Xylazin abhängig von mäßige Herzkreislaufdepression 2 mg/kg KG Acepromazin Körpertemperatur zentral bewirkte Hypothermie intraperitoneal Pentobarbital 40 - 50 mg/kg KG Wirkung forcierte Diurese sehr unterschiedlich 50 - 250 min intraperitoneal Wirkungsintensität und - dauer sehr Über - und Unterdosierungen leicht stark abhängig vom Stamm möglich Vollständig 500 µg/kg KG Medetomidin + Eintritt nach 10 - 20 variabel, da Antagonisierung: antagonisierbare 5 mg/kg KG Midazolam + min vollständige Atipamezol 750 µg/kg KG + Anästhesie 50 µg/kg KG Fentanyl ca. 75 min Antagonisierung der Flumazenil 0,5 mg/kg KG + in einer Spritze mischen (mit Wärme) Narkose möglich Naloxon 1200 µg/kg KG intraperitoneal ca. 180 min zusammen in einer Spritze mischen, (ohne Wärme) subkutan applizieren 134 Tabelle 7.2..4: Injektionsnarkose Kaninchen - Beispiele Narkose Dosis + Applikationsart Chirurg. Toleranz Schlafdauer Ketamin + Xylazin 40 - 50 mg/kg KG Ketamin + ca. 40 - 60 min Stehvermögen nach ca. deutliche Atemdepression, Intubation nicht immer möglich 120 min Apnoephasen möglich unbefriedigende Analgesie in einer Spritze mischen starker Blutdruckabfall Nachdosierung intravenös intramuskulär forcierte Diurese mit 1/3 der Initialdosis 4 - 6 mg/kg KG Xylazin Propofol Nebenwirkungen Sonstige Bemerkungen 6 - 12 mg/kg KG nach einmaliger schnelle Anflutung, keine Kumulation, intravenös Injektion ca. 10 min Intubation nur schwer möglich Vollständig 200 µg/kg KG Medetomidin + antagonisierbare Anästhesie sehr rasch variabel, da starke Atemdepression Antagonisierung: 1 mg/kg KG Midazolam + vollständige Apnoephasen möglich Atipamezol 1 mg/kg KG + 20 µg/kg KG Fentanyl Antagonisierung der Flumazenil 0,1 mg/kg KG + in einer Spritze mischen Narkose möglich, ohne Naloxon 300 µg/kg KG intramuskulär Antagonisierung ca. in einer Spritze mischen, subkutan 140 min 135 Anästhesie bei Versuchstieren Dr. med. vet. Kristianna Becker 7.2.13. Literaturliste Anästhesie bei Versuchstieren P. Flecknell: Laboratory Animal Anaesthesia. A practical introduction for research workers and technicians. Academic Press London, 1996, 2. ed. D.F. Kohn, S.K. Wixson, W.J. White, G.J. Benson (eds.): Anesthesia and analgesia in laboratory animals. Academic Press San Diego, 1997 W. Erhardt, J. Henke, T. Brill: Anästhesie beim Versuchstier (Säuger). in: H.P. Scheuber (Hrsg.): Handbuch über Möglichkeiten und Methoden zur Verbesserung, Verminderung und Vermeidung von Tierversuchen. Thomas Denner Verlag München, Stand Nov. 1996 W. Erhardt: Anästhesie beim Tier. Perioperative Überwachung. Postoperative Versorgung. in: L. Kronberger (Hrsg.): Experimentelle Chirurgie. Ferdinand Enke Verlag Stuttgart, 1992 A.P.M.G. Bertens, L.H.D.J. Booij, P.A. Flecknell, E. Lagerweij: Anästhesie, Analgesie und Euthanasie. in: L.F.M. van Zutphen, F. Baumans, A.C. Beynen (Hrsg.): Grundlagen der Versuchstierkunde. Gustav Fischer Verlag Stuttgart, 1995. C.J. Green: Animal Anaesthesia. Laboratory animal handbooks 8 Laboratory Animals Ltd London, 1979 W. Küpper: Schmerzausschaltung in der experimentellen Chirurgie bei Hund, Katze, Schwein, Schaf. Schriftenreihe Versuchstierkunde 11 Paul Parey Berlin, 1984 136 Anästhesie bei Versuchstieren Dr. med. vet. Kristianna Becker K. Gärtner, K. Militzer: Zur Bewertung von Schmerzen, Leiden und Schäden bei Versuchstieren. Schriftenreihe Versuchstierkunde 14 Paul Parey Berlin, 1993 Schweizer Gesellschaft für Versuchstierkunde: Tagungsbericht der SGV-Fortbildungstagung 25./26.11.1997: Anästhesie und Analgesie. 137 7.2.14. Belastungsmerkmale/Reaktionen auf Schmerzen bei kleinen Versuchstieren Beispiele für Reaktionen ausgewählter Versuchstierspezies auf akute und chronische Schmerzen, Leiden und Schäden [nach K. Gärtner, H. Militzer (1993) Zur Bewertung von Schmerzen, Leiden und Schäden bei Versuchstieren; Schriftenreihe Versuchstierkunde, Paul Parey Verlag, Berlin] MERKMAL MAUS RATTE MEERSCHWEINCHEN KANINCHEN HAMSTER ALLGEMEIN Abwehrreaktionen erhöht Beißen gesträubtes Fell gekrümmter Rücken Bauch schlaff oder aufgezogen Dehydration Gewichtsverlust Lider weit offen, halb oder ganz geschlossen Augen eingesunken Tränenfluss Lautäußerung aggressiv oder Rückzugsverhalten Selbstschädigung Gewichtsverlust gesträubtes Haarkleid gekrümmte Haltung Hypothermie Lider halb oder ganz geschlossen Augen eingesunken Tränenfluss evt. ″Brillenauge“ Atemfrequenz hoch Rasselgeräusche Nasenausfluss Lautäußerung widerstandsloses Stillhalten nach dem Erfassen gesträubtes Fell Teilnahmslosigkeit Teilnahmslosigkeit Hockhaltung frisst oder trinkt nicht bei Berührung durchdringende Schmerzlaute Gewichtsverlust gesteigerte Aggressivität Depression stark veränderte Schlafzeiten Augen eingesunken Tränenfluss Tränenfluss mit Hervortreten der Nickhaut Lichtscheue Atemfrequenz hoch trotz langanhaltender Bewegungslosigkeit bei schmerzhaften oder belastenden Reizen Rasselgeräusche Nasenausfluss Gewichtsverlust unsymmetrischer, regional nicht begrenzter Haarausfall schuppige Haut Dehydration Atemfrequenz hoch schleimig-eitriger Nasenausfluss Schwellung Bindehautentzündung Verklebungen Tränenfluss schon bei abakterieller Reizung Atemfrequenz hoch extreme Atembewegungen AUGEN ATMUNG Atemfrequenz hoch angestrengtes Atmen Atemgeräusche Nasenausfluss AUSSEHEN Fell gesträubt Gewichtsverlust Dehydration Flanken eingezogen (=Darm leer) Kotflecken, schmutzig kalte Körperoberfläche Frequenz kann erhöht oder reduziert sein DEFÄKATION URINIEREN Fell gesträubt Gewichtsverlust Dehydration Deckhaare struppig bleiche oder gelbe Hautfalbe ungeputztes Aussehen Wenig deutlich bei anhaltenden Schmerzen oder Leiden Obstipation oder Diarrhöe möglich Diarrhöe häufigeres Urinieren bei Blasen- oder Niereninfektionen 138 Erkrankungen am Aussehen nur schwierig zu erkennen! Sorgfältige Untersuchung auf Gewichtsverlust (Rückenmuskulatur) Dehydration Kotflecken auf Fell Rhythmus der Weichkotproduktion verändert Obstipation oder Diarrhöe Haut physiologisch schon mit stark verschiebbarer Unterhaut; Schwellung oder Dehydration schwierig festzustellen Kotbefleckte Perianalregionen, ”nasser Schwanz“; Hinweis auf Diarrhöe Anästhesie bei Versuchstieren Dr. med. vet. Kristianna Becker MERKMAL MAUS RATTE MEERSCHWEINCHEN KANINCHEN HAMSTER VERHALTEN Rückzugsverhalten, aber auch Aggressivität, vermehrte Neigung zum Beißen später teilnahmslos, Isolierung von der Gruppe Typisches Ausweichverhalten anfänglich gesteigert, später Verschwinden des Ausweichverhaltens bis zur Teilnahmslosigkeit Zunehmender Rückgang aller umweltbezogenen Reaktionen, Abwendung vom Licht Explorationsverhalten gestört Zunehmende Aggressivität beim Berühren reduziertes Verhalten trotz deutlicher Außenreize ANORMALE AKTIVITÄT Abwehrverhalten erhöht Automutilation Beißen in schmerzende Körperteilen Wälzen bei starken Bauchschmerzen Speichelabsonderung bei überlangen Zähnen Benagen des eigenen oder fremden Fells bei Schmerzen im Gastrointestinaltrakt Keine Futter- und/oder Wasseraufnahme Schlafzeiten während des Tages verändert zunehmende Trägheit bei Berührung, eingeschränktes Explorationsverhalten HALTUNG Aufgekrümmter Rücken häufig von Lichtquellen abgewandete Haltung Anfänglich erhöhte Aufmerksamkeit, aggressive Reaktionen und Tendenz zum Beißen bei Berührung, später Teilnahmslosigkeit, Rückzugverhalten Schlaf-/ Wach-/ Fressrhythmus zunehmend gestört reduziertes Explorationsverhalten Rückzug oder Aggressivität gegenüber Mensch/Artgenossen Automutilation Liegedauer verlängert Rücken aufgekrümmt mit Kopf in der Bauchgegend FORTBEWEGUNG Vorsichtiger unvollständiger Bewegungsablauf unsicherer Gang Hochfrequente Quieklaute bei Ergreifen, Abnahme bei zunehmender Schwäche LAUTÄUSSERUNG SONSTIGES Abkühlung der Körperoberfläche bei zunehmender Verschlechterung Gehemmte Fortbewegung, Lahmheit oder vorsichtiger Gang Hochfrequente Laute bei akuten Schmerzen, besonders bei Berührung, später Rückgang der Schmerzlaute auch bei anhaltenden Schmerzen Abkühlung der Körperoberfläche als Hinweis auf wesentliche Zustandsverschlechterung Aufgezogener Bauch und/oder Verlagerung des gewölbter Rücken bei Körpergewichtes nach vorn Schmerzen in der Bauchhöhle oder hinten bei wunden Pfoten bei Bauchschmerzen ungewohntes Strecken des Körpers, Kopfschiefhaltung Lahmheit, vorsichtiger Gang, Lähmungen nach Nachschleifen des Verletzungen der Wirbelsäule Hinterkörpers bei Schwäche (durch unsachgemäßes Handling) Lautäußerungen gehören zum Unter Normalbedingungen normalen Verhaltensrepertoire kaum Lautäußerungen gesunder Meerschweinchen, bei plötzlichen Schmerzen für Reduktion bei Schmerzen und kurze Zeit schrille LautLeiden äußerungen Zusammengerollte Lage zögernde und eingeschränkte Bewegungen bei Erkrankung der Bauchorgane Abkühlung Gewichtsverlust reduzierter Muskeltonus Abkühlung, Gewichtsverlust, nasser Schwanz, Diarrhöe, Schwellungen oder Ulzera an Lippen und Pfoten 139 Belastungen nur sehr schwer zu erkennen, da schmerzhafte Zustände oft ohne auffällige Reaktionen hingenommen werden Gehemmte Fortbewegung Evt. Quieklaute Anästhesie bei Versuchstieren Dr. med. vet. Kristianna Becker 7.2.15. Möglichkeiten der Schmerzausschaltung im Wachzustand modifiziert nach: 1. Grundlagen der Versuchstierkunde, Hrsg.: van Zutphen, Baumans, Beynen, Gustav Fischer Verlag 1995 2. Pain Management in Animals, Hrsg.: Flecknell u. Waterman-Pearson, WB Saunders, London 2000 3. K. Otto: Schmerztherapie bei Klein-, Heim- und Versuchstieren. Parey Buchverlag, Berlin 2001 4. GV-SOLAS, Ausschuss für Anästhesie und Analgesie: Schmerztherapie bei Versuchstieren Analgetikum Maus Ratte Meerschweinchen Kaninchen Nichtsteroidale Antiphlogistika Azetylsalicylsäure (Aspirin) 120 mg/kg p.o. alle 4 h 100 mg/kg p.o. alle 4 h 85 mg/kg p.o. alle 4 h 100 mg/kg p.o. alle 4 h Carprofen (Rimadyl)* 5 mg/kg s.c., p.o. alle 12 h 5 mg/kg s.c., p.o. alle 12 h 5 mg/kg s.c. alle 12 h 4 mg/kg IV, s.c. 1,5 mg/kg p.o. alle 12 h Diclofenac 14-100 mg/kg p.o. ? k.A. k.A. k.A. Flunixin (Finadyne) 2,5 mg/kg s.c. alle 12 h 2,5 mg/kg s.c. alle 12 h k.A. 1 mg/kg s.c. alle 12 h Metamizol (Novalgin) k.A. 200 mg/kg s.c. alle 6 h k.A. k.A. Phenacetin 200 mg/kg p.o. alle 4 h 100 mg/kg p.o. alle 4 h k.A. k.A. Phenylbutazon 31-250 mg/KG i.p. k.A. k.A. Opioide Buprenorphin (Temgesic)* 0,05-0,1 mg/kg s.c. alle 6-8 h 0,01-0,03 mg/kg s.c ./i.v. 0,1-0,25 mg/kg p.o. alle 6-12 h 0,05 mg/kg s.c. alle 6-12 h 0,01-0,05 mg/kg p.o. alle 6-12 h Butorphanol (Stadol) 1-2 mg/kg s.c. alle 4 h 0,051-2 mg/kg s.c. alle 2-4 h k.A. 0,1-0,5 mg/kg i.v., s.c. alle 4 h Morphin 10 mg/kg s.c. alle 2-4 h 2,5 mg/kg s.c. alle 2-4 h 2,5-10 mg/kg s.c. alle 4 h 2,5 mg/kg s.c. alle 2-4 h Nalbuphin (Nubain) 4-8 mg/kg s.c. alle 4 h 1-2 mg/kg s.c. alle 3 h k.A. 1-2 mg/kg i.v. alle 4-5h Pentazocin (Fortral) 10 mg/kg s.c. alle 3-4 h 10 mg/kg s.c. alle 4 h k.A. 5 mg/kg i.v. alle 2-4 h 10-20 mg/kg s.c. alle 4 h Pethidin 10-20mg/kg s.c. alle 2-3 h 10-20 mg/kg s.c. alle 2-3h k.A. k.A. k.A. = keine Angaben * = nur diese beiden Analgetika werden momentan als sehr gut wirksam eingeschätzt 140 Applikationen und Probenentnahmen 8. Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Applikationen und Probenentnahmen 8.1. Blutentnahmen bei Versuchstieren 8.1.1. Allgemeine Informationen Zur Entnahme von Blutproben bei Versuchstieren existiert eine geeignete Empfehlung, die in Kooperation zwischen dem „Ausschuß für Tierschutzbeauftragte der Gesellschaft für Versuchstierkunde (GV-SOLAS)“ und dem Arbeitskreis 4 der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz (TVT) erstellt wurde. Die Empfehlung trägt den Titel „Empfehlung zur Blutentnahme bei Versuchstieren, insbesondere kleinen Versuchstieren“ und kann bei der TVT angefordert werden. Die vorliegende Abhandlung lehnt sich an die Empfehlung der TVT und GV-SOLAS an, beschränkt sich jedoch auf die Spezies Maus, Ratte und Kaninchen Vor einer Blutentnahme bei Versuchstieren sind folgende prinzipiellen Parameter abzuwägen: -Gewünschte Qualität des Blutes • steril - unsteril • arteriell - venös - Mischblut • potentielle Verunreinigungen (Dekapitation, Kappen der Schwanzspitze) • Hämolyse • Abstand von Futteraufnahme -Entnahmefrequenz • einmalig - mehrmalig • zeitliche Abstände zwischen Blutentnahmen -Überleben des Tieres nach der Blutentnahme oder terminale Blutentnahme? -Gewünschte Blutmenge In Abhängigkeit von den experimentellen Ansprüchen an die Blutentnahme, muss eine Entscheidung getroffen werden, welche maximale Blutmenge dem Versuchstier entzogen werden kann und welche Technik zum Einsatz kommen soll. Aus Tierschutzgründen und zur Erleichterung der Abnahme ist es wichtig, die Tiere durch häufigen und behutsamen Umgang (Handling) an die Durchführung von Manipulationen zu gewöhnen. Durch diese Maßnahmen kann einerseits der Grad der Beunruhigung und damit der Belastung der Tiere erheblich vermindert werden und andererseits dem Operateur die Durchführung des Eingriffs erleichtert werden. Das Tierschutzgesetz fordert die Anwendung möglichst schonender Blutentnahmetechniken. 141 Applikationen und Probenentnahmen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 8.1.2. Bestimmung der maximal zu entnehmenden Blutmenge Bei der Festlegung der maximal zu entnehmenden Blutmenge ist in erster Linie die Entnahmefrequenz zu berücksichtigen. Prinzipiell muss klar sein, ob es sich um eine Entblutung (d.h. Gewinnung einer möglichst großen Blutemenge in Narkose mit anschließender Tötung des Versuchstiers), eine einmalige Blutentnahme (d.h. Blutentnahme mit anschließender mindestens 14tägiger Erholungsphase ohne weitere Blutabnahmen) oder um mehrmalige Blutentnahmen (Serie von Blutentnahmen mit Zeitintervall(en) von unter 14 Tagen) handelt. Die nachfolgende Tabelle informiert, welche Blutmengen (in % des Gesamtblutvolumens) jeweils aus Tierschutzgründen (Blutentnahmen mit Überleben) bzw. aus biologischen Gründen (Entblutungen) maximal entzogen werden können. maximal zu entnehmende Blutmenge Entblutung 50% des Gesamtblutvolumens Einmalige Blutentnahme 10% des Gesamtblutvolumens mehrmalige Blutentnahmen 1% des Gesamtblutvolumens pro Tag Wird als Faustregel angenommen, dass die relative Gesamtblutmenge eines Labortieres ca. 10% des Körpergewichts ausmacht, so kann die maximal zu entziehende Blutmenge als prozentualer Anteil des Körpergewichts ausgedrückt werden. maximal zu entnehmende Blutmenge Entblutung: 5% des Körpergewichts Einmalige Blutentnahme: 1% des Körpergewichts mehrmalige Blutentnahmen: 0,1% des Körpergewichts pro Tag Dabei muss jedoch allen Beteiligten klar sein, dass es sich „lediglich um eine Faustregel“ handelt. Wie die nachfolgende Tabelle aufzeigt zeigt die relative Gesamtblutmenge von Tieren starke Speziesunterschiede und liegt zum Teil deutlich unter dem „Faustwert“ von 10%. Dies muss in Grenzfällen berücksichtigt werden. Spezies Relative Gesamtblutmenge (% des Körpergewichts) Maus 7,0 - 8,0 % Ratte 5,0 - 7,0 % Kaninchen 4,5 - 7,0 % 142 Applikationen und Probenentnahmen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 8.1.3. Gebräuchliche Techniken der Blutentnahme bei Maus und Ratte -Anritzen bzw. Punktion der Schwanzvene Bei Mäusen und Ratten kann Blut durch Anritzen der Schwanzvene gewonnen werden. Da die Schwanzvenen bei der Thermoregulation der Versuchstiere eine große Rolle spielen, kann die Blutabnahme durch Hyperämisierung wesentlich erleichtert werden. Dazu werden die Tiere in der Regel einem Infrarotstrahler ausgesetzt, wobei durch sorgfältiges Beobachten des Tierverhaltens eine Überhitzung ausgeschlossen werden muss. Bei der Maus wird die Vene in der Regel nicht punktiert sondern mit einem Skalpell angeritzt. Bei der Ratte kann entweder die Ritztechnik angewandt werden oder die Vene kann alternativ punktiert werden. Ein wiederholtes Einschneiden des Schwanzes und der Schwanzvene sollte prinzipiell vermieden werden, ist in vielen Fällen aber zur Gewährleistung des Versuchszwecks unabdingbar. Die leichten Schnittverletzungen des Schwanzes verheilen rasch, hinterlassen jedoch Narben, die die Eignung des Tiers für intravenöse Applikationen beeinträchtigen können. Abbildung: Anritzen der Schwanzvene bei einer Maus -Punktion des retrobulbären Venenplexus Die Blutentnahme aus dem retrobulbären Venenplexus wird bei Mäusen und Ratten häufig praktiziert. Es ist selbstverständlich, dass diese Technik der Blutentnahme ausschließlich in Narkose durchgeführt werden darf. Wichtig für die Punktion des retrobulbären Venenplexus ist auch die korrekte Fixierung des Tieres. Für Entblutungen, bei denen das Tier im Anschluss an den Eingriff noch in Narkose getötet wird, kann die Punktion des 143 Applikationen und Probenentnahmen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg retrobulbären Plexus unproblematisch eingesetzt werden. Tierschutzrechtlich sehr umstritten ist diese Technik jedoch in solchen Fällen, in denen das Tier nach dem Eingriff weiterleben soll. Untersuchungen zur Auswirkung von Punktionen des retrobulbären Venenplexus bei der Ratte haben ergeben, dass bei sachgerechter Durchführung wesentliche Schädigungen des Auges oder Beeinträchtigungen des Wohlbefindens nicht auftreten (Beynen et al. 1988, van Herck et al., 1992). Bei sachgerechter Durchführung werden lediglich Bindegewebe, peribulbäres Fett und Venen punktiert. Andererseits werden jedoch auch viele mögliche Schadensfolgen beschrieben (Joint working group on refinement, 1993). Abbildung: Punktion des retroorbitalen Plexus bei der narkotisierten Ratte -Herzpunktion Bei der Durchführung von Herzpunktionen besteht immer das Risiko der Entstehung einer Herzbeuteltamponade (Eindringen von Blut zwischen Herzmuskel und Perikard) sowie eines Pneumothorax (Eindringen von Luft zwischen Lunge und Rippenfell) und der damit assoziierten funktionellen Beeinträchtigungen. Aus diesem Grunde sind Herzpunktionen ausschließlich für Entblutungen zulässig, d.h. diese Technik darf nur in Narkose eingesetzt werden und das Tier muss noch in Narkose getötet werden. Die Versuchstiere werden in narkotisiertem Zustand in überstreckter Rückenlage fixiert. Die Kanüle wird in der Medianlinie unmittelbar hinter dem Brustbein eingeführt und unter leichter Aspiration in Richtung zum Kopf, zur linken Körperhälfte und zum Rücken hin (Richtung: cranial, lateral, dorsal) geführt. Gelingt der Eingriff beim Ungeübten auf die beschriebene Weise nicht, sollten alle Vorkehrungen getroffen sein, um rasch den Brustkorb zu öffnen und das Herz 144 Applikationen und Probenentnahmen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg unter Sichtkontrolle punktieren zu können. Geübte Personen sind unproblematisch in der Lage, Herzpunktionen erfolgreich an frisch getöteten Tier durchzuführen. -Punktion großer Bauchgefäße Zur terminalen Blutentnahme kann bei Maus und Ratte ebenfalls in Betracht gezogen werden, die Bauchaorta oder die Vena cava caudalis zu punktieren. Hierzu wird in tiefer Narkose die Bauchhöhle eröffnet und das Gefäß unter Sichtkontrolle punktiert oder eröffnet. 8.1.4. Gebräuchliche Techniken der Blutentnahme beim Kaninchen -Punktion der Ohrvene Beim Kaninchen lassen sich durch Punktion der Ohrvenen meist nur kleine Blutvolumina (wenige ml) gewinnen. Zur Venenpunktion wird das Gefäß am Ohransatz durch Fingerdruck aufgestaut. -Punktion der zentralen Ohrarterie Beim Kaninchen können auch große Blutmengen (bei schweren Tieren ca 30 ml) aus der Ohrarterie entnommen werden, ohne dass eine Narkose nötig ist und ohne dass es zu wesentlichen Belastungen für das Tier kommt. Eine leichte Hyperämie an der Ohrspitze reicht aus, um die Arterie so stark anschwellen zu lassen, dass sie mit einer Kanüle gut punktiert werden kann. Nachteil der Blutentnahme aus einer Arterie ist das hohe Risiko der Hämatombildung oder von Nachblutungen. Deshalb muss nach der Blutentnahme die punktierte Arterie an der Punktionsstelle oder proximal davon ausreichend lange (mitunter bis zu 5 Minuten) komprimiert werden, um die Blutung sicher zu stillen. Zur Hyperämisierung des Ohres reicht oft ein leichtes Klopfen auf das Ohr mit den Fingerspitzen oder das Auszupfen von Haaren über der Einstichstelle aus. Alternativ kann der Effekt auch durch leichtes Erwärmen des Ohres, z. B. mit einer Wärmelampe, erzielt werden. Die Verwendung von Xylol und ähnlichen Stoffen, die durch eine Reizung der Haut eine Hyperämie bewirken, wird zum Teil aus Tierschutzgründen abgelehnt, da Xylol bei häufigerem Gebrauch zu Hautschäden führen kann, ist aber teilweise unvermeidbar. 145 Applikationen und Probenentnahmen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Abbildung: Punktion der Ohrarterie beim Kaninchen -Herzpunktion oder Punktion der großen Bauchblutgefäße (siehe entsprechende Technik bei Maus und Ratte) 8.1.5. Belastungen durch Blutentnahmen Bei Einhaltung der empfohlenen Maximalmengen und Mindestabstände zwischen Blutentnahmen ist im Regelfall von einer geringen bis mäßigen Belastung (Dauer <1 Tag) als Folge des Blutentzuges auszugehen. Auch bei der Punktion selbst entstehen bei sachgerechter Durchführung und entsprechender Gewöhnung der Tiere an die Prozedur nur kurzzeitig geringe Belastungen. Die gesamte Problematik von biologischen Effekten durch Blutverluste, bedingt durch einzelne oder wiederholte Blutentnahmen, ist ausführlich bei McGuill und Rowan (1989) beschrieben. Die Autoren diskutieren auch die Eignung unterschiedlicher Entnahmetechniken bei Ratte, Maus und Kaninchen. Techniken der Blutentnahme werden ausführlich von Grice (1964), Herbert und Kristensen (1986) sowie von Iwarsson et al. (1994) beschrieben. Jeder, der tierexperimentell arbeitet, sollte auch die Empfehlungen zur Blutentnahme der “Joint working group on refinement“ (1993) lesen. Hier finden sich wertvolle Details und auch eine ausführliche Zusammenstellung der relevanten Literatur. 146 Applikationen und Probenentnahmen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 8.1.6. Literatur BEYNEN, A.C., et al. (1988), Assessment of discomfort induced by orbital puncture in rats. In: Beynen, A. C. & H. A. Solloveld (Eds.), New developments in biosciences: Their implications for laboratory animal science, S.431-436. Martinus Nijhoff Publishers, Dordrecht GRICE, H.C. (1964), Methods for obtaining blood and for intravenous injections in laboratory animals, Lab.Anim.Care 14, 483-493 HERBERT, W.J.& F. KRISTENSEN (1986), Laboratory animal techniques for immunology. In: Weir, D.M.(Ed), Handbook of experimental immunology 4.Ed., Volume 4: Applications of immunological methods in biomedical sciences, 133.1-133.36, Blackwell Scientific Publ., Oxford IWARSSON, K., L. LINDBERG & T. WALLER (1994), Common non-surgical techniques and procedures. In: Svendsen, P. and J. Hau (Eds.), Handbook of laboratory animal science, Vol. 1, S.229-272, CRC Press Inc., Boston JOINT WORKING GROUP ON REFINEMENT (1993), Removal of blood from laboratory mammals and birds, Laboratory Animals, 27, 1-22 MCGUILL, M.W. & A.N. ROWAN (1989), Biological effects of blood loss: Implications for sampling volumes and techniques, Ilar News 31(4), 5-20 VAN HERCK, H. et al. (1992), Histological changes in the orbital region of rats after orbital puncture, Lab. Anim. 27, 1-22 8.2 Gewinnung von Kot und Urin Bei Mäusen, Ratten und Kaninchen ist es unüblich, Kot- und Urinproben durch direkte Entnahme am lebenden Tier zu gewinnen. Stattdessen wird der natürliche Absatz genutzt. Bei einmaligen Probengewinnungen ist es für den Experimentator zumutbar, auf das Absetzen von Kot oder Urin zu warten. Die Ausscheidung durch leichte Verunsicherung der Tiere beschleunigt werden. Dies kann beispielsweise durch das Einbringen der Tiere in eine neue Umgebung erreicht werden. Solche Tiere setzen häufiger Kot oder Urin ab. Soll im Rahmen pharmakologischer oder toxikologischer Untersuchungen kontinuierlich Kot und Urin von Versuchstieren gesammelt werden, so werden hierfür besondere Sammelkäfige, sogenannte Stoffwechselkäfige, verwandt. 147 Applikationen und Probenentnahmen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 8.3 Injektionstechniken Bei der Injektion von Substanzen in Versuchstiere muss der Experimentator über den Applikationsweg, über das maximal zu injizierende Volumen und die maximale Kanülenstärke entscheiden. Zu dieser Thematik existiert ebenfalls eine geeignete Empfehlung (Titel: „Empfohlene maximale Injektionsvolumina bei Versuchstieren“), die in Kooperation zwischen dem „Ausschuss für Tierschutzbeauftragte der Gesellschaft für Versuchstierkunde (GV-SOLAS)“ und dem Arbeitskreis 4 der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz (TVT) erstellt wurde. In der vorliegenden Abhandlung werden Vorgaben dieser Empfehlung berücksichtigt, es werden jedoch keine maximalen Injektionsvolumina bzw. maximalen Kanülengrößen angegeben. Hierfür wird der interessierte Leser auf die Empfehlung von TVT und GV-SOLAS verwiesen. 8.3.1. Allgemeine Informationen An Injektionslösungen sind folgende allgemeineAnorderungen zu stellen • Isotonität • ph-Neutralität (ph 7,0-7,3) • Körperwärme • Konzentration, chemische Zusammensetzung und physikalische Eigenschaften der Injektionslösung sollten so beschaffen sein, dass es nicht zu allgemeinen Schäden oder lokalen Reizungen kommt. Hyper- und hypotone Lösungen oder Lösungen in einem unphysiologischen pH können zu erheblichen Schmerzen und Gewebezerstörung (z.B. der perivaskulärer Injektion) führen sowie zur Schädigung von Erythrozyten (Hämolyse). Es können folgende Injektionswege unterschieden werden: • intravenös (i.v.) • intraperitoneal (i.p.) • intramuskulär (i.m.) • subcutan (s.c.) • oral Der Experimentator hat jedoch keine völlig freie Entscheidung über die Art der Applikation. Insbesondere muss berücksichtigt werden, dass die Verteilungsgeschwindigkeit der zu applizierenden Substanzen im Tierkörper vom Applikationsweg abhängig ist. Dabei nimmt die Verteilungsgeschwindigkeit in folgender Reihenfolge zu: i.v. > i.p. > i.m. > s.c. > oral 148 Applikationen und Probenentnahmen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Der subcutanen Injektion ist prinzipiell der Vorzug zu geben, sofern es sich nicht um lokal reizende Substanzen handelt, die streng intravenös verabreicht werden müssen. Intramuskuläre Injektionen sind grundsätzlich für die meisten Tiere schmerzhaft: das Injektionsvolumen sollte daher so klein wie möglich sein, bzw. die injektionslösung sollte auf mehrere Stellen verteilt werden. Die intramuskuläre Injektion sollte langsam erfolgen. Bei intravenöser Applikation ist zu berücksichtigen, dass Emulsionen und partikuläre Substanzen sowie Luftbläschen nicht auf diese Weise appliziert werden dürfen (Emboliegefahr!). Werden bestimmte Substanzen wegen suboptimaler Technik neben die Vene statt in sie hinein verabreicht (sogenannte paravenöse Injektion), so kann es zu sehr schmerzhaften Venenentzündungen und zu Obliterationen der Gefäße kommen. Bei intravenösen Verabreichungen sollte daher die Kanüle möglichst weit in das Gefäß eingeführt werden und der korrekte Sitz sollte möglichst durch Aspiration geprüft werden. Bei Verwendung von Metallnadeln kann die Vene durch plötzliche Bewegung des Tieres beschädigt werden, so dass nicht-isotone Lösungen vorzugsweise über einen Katheter verabreicht werden sollten. Bei der intraperitonealen Injektion besteht die Gefahr einer versehentlichen Punktion von Bauchorganen (z.B.: Blase, Darm, Leber, Milz). 8.3.2. Orale Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen: Langfristige orale Verabreichungen von Substanzen werden üblicherweise durch Beimischung der Substanz in Trinkwasser oder Futter realisiert. In vielen Fällen (instabile Substanzen, präzise Dosierung) ist eine gezielte Verabreichung durch Schlundsondierung jedoch nicht zu umgehen. 149 Applikationen und Probenentnahmen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Abbildung: Schlundsondierung bei der Ratte 8.3.3. Intravenöse Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen: Intravenöse Injektionen erfolgen bei Maus und Ratte in die Schwanzvene, beim Kaninchen in die Ohrrandvene. Abbildung: intravenöse Injektion bei der Maus in die Schwanzvene und beim Kaninchen unter Verwendung eines Butterfly’s in die Ohrvene 150 Applikationen und Probenentnahmen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 8.3.4. Intraperitoneale Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen: Abbildung: intraperitoneale Injektion bei Maus und Kaninchen 8.3.5. Intramuskuläre Applikationen Ratte und Kaninchen: Intramuskuläre Injektionen werden bei der Maus prinzipiell sehr selten durchgeführt. Eine gewisse Bedeutung hat die Injektion in den M tibialis narkotisierter Mäuse im Rahmen von DNAImmunisierungen. Bei Ratte und Kaninchen erfolgt die intramuskuläre Injektion in den Oberschenkel. 151 Applikationen und Probenentnahmen Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Abbildung: intramuskuläre Injektion beim Kaninchen 8.3.6. Subcutane Applikationen bei Maus, Ratte und Kaninchen: Subcutane Applikationen erfolgen bei Maus, Ratte und Kaninchen unter die Rückenhaut. Abbildung: Subcutane Injektion bei Maus und Kaninchen 152 Grundlagen chirurgischen Arbeitens Dr. med. vet. Kurt Reifenberg 9. Grundlagen chirurgischen Arbeitens Der nachfolgende Text orientiert sich an der Publikation „Operative Eingriffe bei Versuchstieren“, die vom Ausschuss für Anästhesie der Gesellschaft für Versuchstierkunde (GVSOLAS) erstellt wurde. Die Empfehlung wurde von Arras M, Becker K, Grosse-Siestrup Ch, Küpper W und Kuhnt B verfaßt und ist verfügbar unter http://www.gv-solas.de/. 9.1. Definition In der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Tierschutzgesetzes vom 09.02.2000 wird festgelegt, dass als operative Eingriffe alle instrumentellen Einwirkungen gelten, bei denen die Haut oder darunter liegendes Gewebe eines lebenden Tieres mehr als punktförmig durchtrennt wird. 9.2. Anforderungen bei operativen Eingriffen bei Versuchstieren Das Deutsche Tierschutzgesetz fordert eindeutig die Reduktion von Tierversuchen auf das unerlässliche Maß. Dies impliziert unter anderem, dass bei der Durchführung operativer Eingriffen der jeweilige Stand der Wissenschaft und Technik zu berücksichtigen ist. Sofern anzunehmen ist, dass chirurgische Eingriffe bei Versuchstieren durch Störfaktoren (Infektionen, suboptimales Instrumentarium) beeinflusst werden und damit die Aussagekraft der wissenschaftlichen Experimente reduziert wird, müssen die Bedingungen optimiert werden. Im Extremfall müssen sich die räumlichen, operativen und personellen Anforderungen tierexperimenteller OPs an denen der Humanmedizin orientieren. 9.3. Räumliche Voraussetzungen für die Durchführung von Operationen bei Versuchstieren Operativer Eingriffe an großen Versuchstieren (wie zum Beispiel landwirtschaftlichen Nutztieren) sind in speziell dafür vorgesehenen Räumen durchzuführen. Weiterhin müssen Vorbereitungsräume sowohl für die Tiere als auch für die Operateure vorhanden sein. Über diese Räumlichkeiten hinaus sollte in räumlicher Trennung zum Operationssaal ein Aufwachraum für die frisch operierten Tiere etabliert werden. Der Operationstrakt ist räumlich von der Tierhaltung zu trennen, sollte aber aus logistischen und Tierschutzgründen in unmittelbarer Nahe der Haltung angesiedelt sein. Zur Durchführung operativer Eingriffe an kleinen Versuchstieren und Kaninchen werden in der Regel keine eigenen OP-Bereiche mit assoziierten Vorbereitungs- und Aufwachräumen zur 153 Grundlagen chirurgischen Arbeitens Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Verfügung gestellt. Statt dessen werden solche Eingriffe häufig in entsprechend ausgestatteten allgemeinen Laborräumen durchgeführt und Vorbereitungsfunktion und Operationsbereich werden im selben Raum zur Verfügung gestellt. 9.4. Antisepsis und Asepsis Wie bei humanmedizinischen Operationen gelten auch für die Durchführung chirurgischer Eingriffe bei Versuchstieren die Regeln der Asepsis und Antisepsis. Dies impliziert, dass chirurgische Eingriffe unter solchen Bedingungen durchzuführen sind, dass Infektionen möglichst vermieden werden. Deshalb sind alle mit dem Operationsfeld in Berührung kommenden Komponenten entweder zu sterilisieren (Asespis) oder gründlich zu desinfizieren (Antisepsis). Im Einzelnen gilt dieses Prinzip für -Instrumente (Sterilisation durch Autoklavierung oder Heissluftsterilisierung) -Naht- oder Klammermaterial, Implantate (Sterilisation durch Autoklavierung oder Heissluftsterilisierung bzw. im Fall von thermolabilen Materialien durch Begasung oder Bestrahlung) -Raum (regelmäßige chemische Desinfektion, UV-Bestrahlung von OP-Flächen) -Operateur (Reinigung und Desinfektion der Hände, Tragen steriler oder desinfizierter Handschuhe) -Operationsfeld des Tieres (Rasur, Reinigung, Desinfektion, Abkleben oder Bedecken der Haut mit sterilen Tüchern) 9.5. Voraussetzungen bei operativen Eingriffen Der Operateur muss allgemeine Kenntnisse über Chirurgie und Narkosetechnik haben. Bei komplexen Eingriffen oder Techniken muss er darüber hinaus über die erforderlichen spezifischen anatomischen oder technischen Detailkenntnisse verfügen. Spezielle Techniken kann sich der Operateur häufig bei anderen Arbeitsgruppen erwerben. Ist dies nicht möglich, kann die Operationstechnik zunächst an getöteten Tieren probiert und sukzessive auf ein Qualitätsniveau gehoben werden, welches ein Arbeiten an lebenden Tieren erlaubt. Im Detail muss der Operateur einerseits folgende technische Voraussetzungen gewährleisten: präoperativ: -Waage für Gewichtsbestimmung -Fixationsmöglichkeiten für die Anästhesie der Tiere -geeignete Anästhetika -gegebenenfalls venöser Zugang vorhanden (in der Regel nicht bei Nagetieren) -Mittel für Rasur bzw. Reinigung der Haut 154 Grundlagen chirurgischen Arbeitens Dr. med. vet. Kurt Reifenberg -gegebenenfalls Mittel zur Gewährleistung einer normalen Körpertemperatur -gegebenenfalls Intubationsbesteck (in der Regel nicht bei Nagetieren und Kaninchen) -gegebenenfalls Antibiotika -Sonstige Bedarfsgegenstände (Spritzen, Kanülen, Augensalbe, Infusionslösung) -Händewaschen und Desinfektion des Operateurs operativ: -Geeignete Schutzkleidung (Handschuhe, Kittel, Kopfhaube, Mundschutz) für Operateur -Steriler Operationstisch und eventuell Mikroskop und Lupe vorhanden -adäquate Beleuchtung (Kaltlichtlampe, OP-Leuchte) vorhanden -Nachdosierung der Anästhesie -Anästhesiemonitoring -steriles Instrumentarium -Nahtmaterial -sonstige Materialien (Spritzen, Kanülen, Tupfer, Kompressen, Katheter etc postoperativ: -Analgetika -Überwachung bis zum Aufwachen Darüberhinaus muss der Operateur folgende tierspezifischen Voraussetzungen gewährleisten: präoperativ: -Gesundheitsstatus des Tieres -ausreichende Adaptationszeit -gegebenenfalls ausreichende Nüchternphase (in der Regel nicht bei Nagetieren und Kaninchen) -Vorbereitung des Operationsfeldes -Gewichtsbestimmung -Allgemeinuntersuchung vor Einleitung der Anästhesie -gegebenenfalls antibiotische Prophylaxe operativ: korrekte Anästhesie und Anästhesiemonitoring Korrekte Lagerung Desinfektion und Abdeckung des OP-Felds Korrekte OP-Technik Unterstützende Maßnahmen (Augensalbe, Flüssigkeitssubstitution) postoperativ: 155 Grundlagen chirurgischen Arbeitens Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Lagerung gegebenenfalls Extubation (in der Regel nicht bei Nagetieren und Kaninchen) Kontrolle bis zum Erwachen gewährleistet Gesundheitszustand Futter- und Wasseraufnahme Analgesie In personeller Hinsicht ist zu gewährleisten, dass die Operateure über die entsprechende tierschutzrechtliche Qualifikation und das chirurgische Können verfügen. Entsprechendes gilt für diejenigen Personen, die die Anästhesie gewährleisten. Tierpfleger oder andere Hilfspersonen, die in die präoperative, operative oder postoperative Phase des Eingriffs involviert werden, müssen die entsprechenden Qualifikationen aufweisen und ausreichend instruiert sein. Geeignete Schutzkleidung muss für alle Beteiligten zur Verfügung stehen. 9.6. Beispiele operativer Eingriffe bei Labornagern Embryotransfer: Embryotransfers werden bei den Spezies Maus und Ratte häufig durchgeführt, um entweder gentechnisch veränderte Tiere herzustellen, oder um Embryonen, die über längere Zeiträume durch Einfrieren konserviert waren, zu revitalisieren oder um das Hygieneniveau muriner Stämme anzuheben. Beim Embryotransfer muss die Bauchhöhle des Empfängerweibchens eröffnet werden. Die Applikation der Embryonen erfolgt unter mikroskopischer Kontrolle in die natürliche Eileiteröffnung oder in die vorher punktierte Gebärmutter. Vasektomie: Als Embryonenempfänger für murine Embryotransfers dienen scheinträchtige (pseudogravide) Weibchen. Eine murine Pseudogravidität wird durch einen sterilen Begattungsreiz ausgelöst. Um sterile Begattungsreize zu gewährleisten werden männliche Tiere vasektomiert, d.h. der Samenleiter wird durchtrennt. Dazu wird der Hodensack eröffnet, der Samenleiter präpariert und ligiert oder kauterisiert. Subcutane Implantation von Tumorgewebe: Zur Bearbeitung onkologischer Fragestellungen wird häufig humanes Tumorgewebe unter die Haut von immundefizienten Mäusen (Nude-Mäuse, Scid-Mäuse) oder Ratten (Nude-ratten) implantiert. Die subcutane Applikation erfolgt im Rückenbereich. Aufgrund des Immundefekts der Empfängertiere erfolgt ein Wachstum des artfremden Tumorgewebes und ermöglicht so die Untersuchung onkologischer Fragestellungen. 156 Grundlagen chirurgischen Arbeitens Dr. med. vet. Kurt Reifenberg Abbildung: subcutane Applikation von Tumorgewebe (links) bei einer Maus sowie Wundverschluss mit Michelklammern (rechts) Implantation von Geweben unter die Nierenkapsel: Zur Erforschung humaner Infektionskrankheiten, die bei Nagetiere nicht auftreten (Hepatitis B, Hepatitis C, HIV-Infektion), sowie für onkologische Studien wird humanes Gewebematerial unter die Nierenkapsel immundefizienter Mäuse implantiert. Hierzu muss die Bauchhöhle eröffnet, Die Nierenkapsel angeritzt und das Gewebe unter die Kapsel geschoben werden. In diesem spezifischen Milieu bleibt das transplantierte Gewebe am leben und ermöglicht die Bearbeitung entsprechender wissenschaftlicher Fragestellungen. Partielle Hepatektomie Hierzu wird bei Labornagern ein Teil der Leber entfernt. Die ein starkes Regenerationsvermögen aufweisende Leber bildet sich nahezu vollständig nach. Ziel des Experimentes ist es, eine starke Proliferation (Zellteilung) der ansonsten teilungsmüden Leberzellen zu erreichen. 9.7 Literatur: 1. Arras M, Becker K, Grosse-Siestrup Ch, Küpper W, Kuhnt B, Operative Eingriffe bei Versuchstieren, Empfelung des Ausschusses für Anästhesie der Gesellschaft für Versuchstierkunde (GV-SOLAS) (verfügbar unter http://www.gv-solas.de/) 157 Töten von Versuchstieren ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW 10. Töten von Versuchstieren Empfehlung der ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW (Die Empfehlungen der ATBW sind zu erhalten über Dr. Jürgen Weiss, Zentrales Tierlabor, Im Neuenheimer Feld 347, 69120 Heidelberg) Die Tötung von Versuchstieren erfordert im Sinne des Tierschutzes größtmögliche Sorgfalt und höchstes Verantwortungsbewusstsein seitens der Durchführenden. Wichtigste Voraussetzung ist, dass diese über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen (§ 4 TschG), die man nur durch persönliche Praxis an der Seite von erfahrenen Fachleuten erwerben kann. Den Durchführenden muss der Grund für die Tötung des Tieres bekannt sein. Nicht zuletzt, um bei der Entscheidung für eine bestimmte Tötungsart berücksichtigen zu können, dass diese auch bei fachgerechter Ausführung spezifische Veränderungen, z.B. von Hormonkonzentrationen und makroskopischer wie auch histologischer Organbefunde zur Folge haben und damit Versuchsergebnisse beeinflussen kann. Die Tötung selbst muss so erfolgen, dass das Tier dabei möglichst keine Angst und Schmerzen empfindet. Dies setzt voraus, dass das Tötungsverfahren einen schnellen Eintritt der Bewusstlosigkeit und des Todes gewährleistet. Töten soll einzeln oder in kleinen Gruppen und möglichst nicht im Tierraum erfolgen, da andere Tiere durch Lautäußerungen, Blutgerüche oder durch spezifisch wirkende Duftstoffe stark beunruhigt werden können. Vor der weiteren Verwendung eines Tieres, z.B. für eine Organpräparation, muss in jedem Fall der sichere Eintritt des Todes abgewartet werden. Als Beurteilungskriterien gelten dabei: *es sind keine Atembewegungen mehr zu erkennen *der Herzschlag ist nicht mehr fühlbar *die Muskelspannung ist verschwunden Insbesondere bei der Tötung größerer Zahlen kleiner Labornager können die genannten Kriterien mitunter nur unter Schwierigkeiten überprüft werden. Hier sollte, sofern keine andere Kontrollmöglichkeit zur Verfügung steht, der Eintritt der Totenstarre abgewartet werden. In der Folge sind für die wichtigsten Versuchstierarten (beschränkt auf Wirbeltiere), diejenigen Methoden aufgeführt, die nach heutigem Kenntnisstand - sachkundige Ausführung vorausgesetzt 158 Töten von Versuchstieren ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW eine tierschutzgerechte Tötung ermöglichen. Die Reihenfolge ihrer Nennung entspricht lediglich ihrer systematischen Zugehörigkeit, d.h. zu 1. mechanischen, 2. chemischen oder 3. physikalischen Verfahren und stellt keine Gewichtung dar. 10.1. Maus1 - Luxation der Halswirbelsäule durch schnelles, kräftiges Strecken des Tieres - Dekapitation mit Guillotine (siehe auch bei Ratte) - Inhalation von CO2 - i.p. Injektion von Barbituraten2. - Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz erfordert eine Mindestleistung des Spezialgerätes von 1.25 kW 10.2. Ratte1 - Ruckartige Dislokation der Halswirbelsäule; erfordert spezielle Erfahrung und ist nur bei Tieren bis 250 g KGW zu empfehlen (vorherige Sedierung der Tiere empfehlenswert) - Dekapitation mittels Guillotine. Zur leichteren Durchführung können die Tiere in eine leichte Narkose (z.B. mit CO2) versetzt werden; nicht narkotisierte Tiere sollten nur von besonders geübten Personen dekapitiert werden. - Bei Tieren > 250 g: Bolzenschuß (federgetrieben, ohne Patrone), auf korrekte Positionierung ist zu achten. Unmittelbar anschließend Tötung durch Thoraxeröffnung und Entbluten - Inhalation von CO2 - i.p. Injektion von Barbituraten2 - Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz erfordert bei Tieren bis zu 700 g KGW eine Mindestleistung des Spezialgerätes von 6 kW (vorherige Sedierung der Tiere erforderlich) 10.3. Hamster1 - Luxation der Halswirbelsäule durch schnelles und kräftiges Strecken des Tieres (nur bei Zwerghamstern anwendbar, größere Hamster werden dekapitiert) 1 Feten und Neugeborene kleiner Labornager und Kaninchen werden zur Tötung in flüssigen Stickstoff gebracht oder (z.B. mit einer geeigneten Schere) dekapitiert. Inhalationsverfahren - auch mit CO2 - sind in dieser Altersstufe unzuverlässig und damit ungeeignet 2 der Bezug von Barbituraten ist genehmigungs- und meldepflichtigpflichtig (gem. § 18 BtMG), der Bezug erfolgt über eine tierärztliche Hausapotheke 1 Feten und Neugeborene kleiner Labornager und Kaninchen werden zur Tötung in flüssigen Stickstoff gebracht oder (z.B. mit einer geeigneten Schere) dekapitiert. Inhalationsverfahren - auch mit CO2 - sind in dieser Altersstufe unzuverlässig und damit ungeeignet 159 Töten von Versuchstieren ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW - Dekapitation mit der Guillotine - Inhalation von CO2 - i.p. Injektion von Barbituraten 2 - Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz, erfordert eine Mindestleistung des Spezialgerätes von 1.25 kW 10.4. Meerschweinchen1 - Dekapitation mit der Guillotine - Inhalation von CO2 - i.p. Injektion von Barbituraten - Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz erfordert eine Mindestleistung des Spezialgerätes von 6 kW (vorherige Sedierung der Tiere erforderlich) 10.5. Kaninchen1 - Tötung durch geeigneten Bolzenschussapparat und unmittelbar anschließendes Entbluten - Genickschlag: Kurzer, kräftiger Schlag mit einem Stock hinter die Ohren auf der Genickseite des Halses. Nach der Betäubung sind die Tiere durch Eröffnung der großen Halsgefäße sofort zu entbluten. Das Verfahren ist nur geübten Personen zu gestatten bzw. muß zunächst an toten Tieren ausreichend geübt werden -Wenn möglich i.v., ausnahmsweise auch i.p. Injektion von Barbituraten. - i.v. Injektion von T 613 (vorherige Sedierung empfehlenswert) - Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz erfordert bei Kaninchen bis zu 5 kg KGW eine Mindestleistung des Spezialgerätes von 10 kW (vorherige Sedierung der Tiere erforderlich) 10.6. Katze4 - Tötung durch geeigneten Bolzenschußapparat und unmittelbar anschließendes Entbluten (ggf. vorherige Sedierung empfehlenswert) - Wenn möglich i.v., ausnahmsweise auch i.p. Injektion von Barbituraten. Bei sehr jungen oder im Koma liegenden Tieren kann eine intrathorakale bzw. intrakardiale Injektion vorgenommen werden. 2 der Bezug von Barbituraten ist genehmigungs- und meldepflichtigpflichtig (gem. § 18 BtMG), der Bezug erfolgt über eine tierärztliche Hausapotheke 3 T61® ist nur über eine tierärztliche Hausapotheke zu beziehen 160 Töten von Versuchstieren ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW - i.v. Injektion von T 61 (ggf. vorherige Sedierung empfehlenswert) 10.7. Hund4 - Tötung durch geeigneten Bolzenschußapparat und unmittelbar anschließendes Entbluten (nur in Ausnahmefällen und bei ruhigen Tieren) - i.v., ausnahmsweise auch i.p. Injektion von Barbituraten; vor einer i.p. Injektion sollten die Tiere sediert werden. - i.v. Injektion von T 61 (vorherige Sedierung empfehlenswert) 10.8. Frettchen, Nerz4 - Tötung durch geeigneten Bolzenschußapparat und unmittelbar anschließendes Entbluten (ggf. vorherige Sedierung empfehlenswert) - Wenn möglich i.v., ausnahmsweise auch i.p. Injektion von Barbituraten - i.v. Injektion von T 61 (ggf. vorherige Sedierung empfehlenswert) 4Narkotisierte Feten werden dekapitiert, nicht narkotisierte Feten werden in Flüssigstickstoff getötet 10.9. Schwein, Schaf, Ziege5 - Tötung durch geeigneten Bolzenschußapparat und unmittelbar anschließendes Entbluten - i.v. Injektion von Barbituraten 10.10. Tupaias u. höhere Primaten5 - i.v. Injektion von Barbituraten (vorherige Sedierung empfehlenswert) - i.v. Injektion von T 61 (vorherige Sedierung empfehlenswert) 10.11. Vögel/Geflügel6 - Genickbruch (kleine Vögel bis Taubengröße) - Dekapitation mit einem scharfen Beil oder Hackmesser - Inhalation von CO27 - Wenn möglich i.v., ggf. auch intraabdominale Applikation von Barbituraten 4 Narkotisierte Feten werden dekapitiert, nicht narkotisierte Feten werden in Flüssigstickstoff getötet Feten werden nach den für erwachsene Tiere geeigneten Methoden getötet 5 Feten werden nach den für erwachsene Tiere geeigneten Methoden getötet 6 Noch im Ei befindliche Embryonen werden durch 4stündige Lagerung bei 4°C getötet; direkte Tötung von Embryonen kann durch Dekapitation oder intraabdominale Injektion von Barbituraten erfolgen 7 Für Enten und andere Tauchvögel sind Inhalationsverfahren ungeeignet! 5 161 Töten von Versuchstieren ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW - Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz, erfordert je nach Tierart und Größe eine bestimmte Mindestleistung des Spezialgerätes 10.12. Frösche und Molche Sofern das Experiment es zuläßt, ist vor der Tötung z.B. durch Injektion oder durch zentrierte Gehirnbestrahlung eine Tauchbadnarkose mit Aethyl-m-Aminobenzoat (MS-222, Sandoz ®) empfehlenswert. Bei entsprechender Dosierung und ausreichender Verweildauer kann auch das Tauchbad allein zur Tötung verwendet werden. Vertreter landlebender Arten dürfen nur in einer flachen Schale mit niedrigem Flüssigkeitsstand behandelt werden, da sonst Erstickungsgefahr besteht. Kaulquappen werden in einer Schale mit MS-222 zunächst narkotisiert und anschließend in einer Schale mit Chloroformwasser abgetötet - i.p. Injektion von Barbituraten - i.p. Injektion von T 61 - Tötung durch zentrierte Gehirnbestrahlung mit Mikrowellen einer Frequenz von 2450 MHz, erfordert je nach Tierart und Größe eine bestimmte Mindestleistung des Spezialgerätes 10.13. Schildkröten8 - i.p. Injektion von Pentobarbital (Einstich im Kniefaltenbereich). Vorherige Abkühlung auf 4° C reduziert die Belastung der Tiere und erleichtert die Injektion 10.14. Schlangen8 - Intraabdominale Applikation von Pentobarbital (Einstich paramedian am Übergang vom mittleren zum letzten Körperdrittel). Vorherige Abkühlung auf 4° C reduziert die Belastung der Tiere und erleichtert die Injektion 10.15. Fische9 -Fische mit einem Körpergewicht bis zu ca. 200g: Rasche Dekapitation mit einem scharfen Messer. - Schwerere Tiere: Schlag auf die Schädeldecke. Der Schlag soll kurz und kräftig mit einem geeigneten Gegenstand durchgeführt werden. Unmittelbar anschließend müssen die Tiere enblutet oder dekapitiert werden. - Einleiten von CO2-Gas in das Wasser. Besonders geeignet auch für Tiere , die zum Verzehr bestimmt sind: keine Rückstandsprobleme und keine Verminderung der Schlachtkörperqualität! 8 Frisch geschlüpfte Junge können wie erwachsene Tiere getötet werden Embryonen können grundsätzlich wie erwachsene Tiere getötet werden. Bei viviparen Fischen erfolgt die Tötung des Muttertieres vorzugsweise mit MS 222, unmittelbar anschließend ist das Muttertier zu eröffnen und in die Lösung zurückzulegen, damit die noch nicht geschlüpften Jungtiere ebenfalls erreicht werden können. 9 162 Töten von Versuchstieren ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW -Tauchbadverfahren mittels Aethyl-m-Aminobenzoat10 (MS 222 Sandoz ®). Auflösen des Präparates in einer Lösung von 150 mg pro Liter Wasser. Durch den geringen pH-Wert werden die Schleimhäute gereizt. Das kann man verhindern, indem man zusätzlich 300 mg Natriumcarbonat pro Liter auflöst (die Lösung ist nicht haltbar). Die Tiere müssen so lange in der Lösung bleiben, bis der Atemstillstand eingetreten ist, was daran zu erkennen ist, dass sich die Kiemendeckel nicht mehr bewegen. Anschließend dürfen die Tiere auf keinen Fall in sauberes Wasser gelegt werden, da dann die Möglichkeit besteht, dass sie wieder zu Bewusstsein kommen. 10.16. Abzulehnende Tötungsmethoden: Die nachstehend beschriebenen Methoden erfüllen die Anforderungen einer fachgerechten Tötung nicht und sind daher abzulehnen: - Orale oder rektale Verabreichung von Narkosemitteln, da sich die Dosierung schwierig gestaltet, die Wirkung zu langsam eintritt und es zusätzlich zu erheblichen Schleimhautreizungen kommen kann. - Elektrische Tötung, da bei unsachgemäßer Anwendung die Gefahr von Krämpfen und Schmerzen besteht. Ausnahme: die fachgerechte elektrische Tötung von Fischen. - Intravenöse oder intrakardiale Luftapplikation, da das Eintreten des Todes nicht immer mit der erforderlichen Sicherheit eintritt. - Injektion von Magnesiumsulfat, da die nötige letale Dosis nicht in genügend kurzer Zeit verabreicht werden kann. - Sämtliche Tötungsmethoden, die auf dem Prinzip der Erstickung beruhen, wie z.B. Ertränken, Inhalation von Stickstoff oder Helium, Verabreichung von Curare oder curariformen Stoffen, von Strychnin oder Blausäure, intrapulmonale Applikation von T 61 sowie Gasinhalation bei Vögeln. Diese Methoden können zu extremen Angstzuständen und auch Krämpfen führen, da der Tod durch Ersticken und damit erst nach einiger Zeit eintritt. Da die meisten dieser Methoden keine betäubende Wirkung auf das Gehirn ausüben, geschieht die allmähliche Erstickung bei vollem Bewusstsein! 10 Bei Verwendung von Aethyl-para-Aminobenzoat muß die Lösung wegen schlechter Löslichkeit wenigstens 15 Minuten vor Gebrauch angesetzt und gründlichst gerührt werden, da sonst u.U. mit erheblicher Verzögerung des Wirkungseintrittes gerechnet werden muß 163 Töten von Versuchstieren Physikal. Verfahren Dekapitation1 Strecken2 Genickbruch3 Genickschlag4 Bolzenschuß5 Mikrowellen6 Inhalationsverfahren Kohlendioxid7 Injektionsverfahren Barbiturate8 T 61 - Hoechst9 ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW Maus Ratte Hamster Meerschwein möglich möglich möglich möglich möglich möglich Kaninchen Katze Hund Schwein Schaf Ziege Tupaia möglich möglich möglich möglich möglich möglich möglich möglich möglich i.v. i.v. i.v. i.v. i.v. i.v. i.v. i.v. höhere Primaten möglich möglich möglich möglich möglich möglich möglich möglich möglich möglich i.p. i.p. i.p. i.p. möglich möglich möglich i.v. möglich i.v. i.v. i.v. i.v. i.v. i.v. 1 in der Regel mit der Guillotine 2 Luxation der Halswirbelsäule durch schnelles, kräftiges Strecken des Tieres 3 Genickbruch durch Abknicken des Kopfes nach hinten mit plötzlichem Ruck; bei Ratten nur bis 250 g KGW empfehlenswert 4 Kaninchen: kurzer, kräftiger Schlag mit einem Stock hinter die Ohren auf der Genickseite des Halses, sofort anschl. durch Kehlschnitt entbluten 5 Hund: nur in Ausnahmefällen u. nur bei ruhigen Tieren 6 Spezielle Geräte mit 2450 MHz u. je Tierart best. Mindestleistung (Kaninchen: 10 kW; Ratte: 6 kW; Maus: 1.25 kW) 7 Tötungskammern dürfen nicht überbelegt werden! 8 Unbedingt auf Herstellervorschriften achten (Injektionsgeschwindigkeit!) 9 Vorherige Sedation der Tiere ist grundsätzlich empfehlenswert, bei Hunden u. Katzen Voraussetzung Fortsetzung umseitig 164 Töten von Versuchstieren ARBEITSGEMEINSCHAFT DER TIERSCHUTZBEAUFTRAGTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG – ATBW Frettchen Nerz Vögel Geflügel möglich möglich möglich möglich Frösche Molche Schildkröten Schlangen1 Fische Physikal. Verfahren Dekapitation2 Strecken Genickbruch3 Genickschlag4 Bolzenschuß Mikrowellen Inhalationsverfahren Kohlendioxid5 Injektionsverfahren Barbiturate6 T 61 - Hoechst TauchbadVerfahren7 möglich möglich möglich möglich i.v./i.p. i.v./i.p. i.v. i.v. möglich möglich möglich möglich möglich möglich möglich i.v/intraabd i.v/intraabd om. om. intraabdominal möglich möglich i.p. intraabdominal möglich 1 Bestimmte tropische Schlangenarten lassen sich durch einfaches Abkühlen, z.B. für mehrere Stunden im Kühlschrank plus anschließender Überführung in einen Tiefkühlbereich töten 2 Geflügel u. Vögel mit Beil od. Hackmesser. 3 kleine Vögel bis Taubengröße 4 kurzer, kräftiger Schlag mit geeignetem Gegenstand auf die Schädeldecke 5 bei Fischen durch Einleiten von CO -Gas in das Wasser 2 6 Bei Schildkröten Einstich im Kniefaltenbereich, bei Schlangen paramedian am Übergang vom mittleren zum letzten Körperdrittel 7 mit MS 222-Lösung: Tiere müssen in der Lg bleiben, bis Atemstillstand eingetreten ist, bei Fischen an den Kiemendeckeln erkennbar, Vertreter landlebender Molcharten dürfen nur in flacher Schale mit niedrigem Flüssigkeitsstand narkotisiert werden, da sonst Erstickungsgefahr droht! Tragende vivipare Fische müssen nach Tötung eröffnet werden und mit den noch nicht geschlüpften Jungen erneut in MS 222-Lg gesetzt werden (Dauer: mindestens so lange wie das Muttertier bis zum Atemstillstand benötigte) 165