Delirmanagement von betagten Menschen auf der Notfallstation Susanne D‘Astolfo Pflegefachfrau, cand. MNS W. Hasemann MNS, Leitung Projekt Demenz / Delir Abteilung Klinische Pflegewissenschaft Delirien betagter Menschen Ein Thema für die Notfallstation 2 Klinische Pflegewissenschaft Bedeutung des Delirs Geschichtlicher Kontext (II) • Wenn bei Fieber Delirium und Dyspnoe hinzukommen, dann ist der Patient verloren. (Hippokrates, 460 – 375 v. Chr. CID, 2005) • Delirium ist ein Notfall: Selbstgefährdung, hohe Morbidität, Mortalität und Hospitalisationsdauer (Seiler, 2005) 3 Klinische Pflegewissenschaft Was ist ein Delir? (I) • Akute Verwirrtheitszustände (DIMIDI, 2004) • Multifaktorielles Geschehen mit einer Kombination aus Risikofaktoren und Auslösern (Inouye, 1996) • Geht mit charakteristischen Veränderungen von Neurotransmittern (Acetylcholin, Dopamin, Serotonin) einher (Trzepacz & van der Mast, 2002) • Delir ist ein akutes und häufig vorkommendes reversibles neuropsychiatrisches Syndrom, welches mit der Verschlechterung von kognitiven Fähigkeiten und damit verbundenen Verwirrtheitszuständen einhergeht. (Trzepacz and Meagher 2008) 4 Klinische Pflegewissenschaft Akute Verwirrtheit Akuter exogener Reaktionstyp Akutes organisches Psychosyndrom Durchgangssyndrom Post-operative cognitive dysfunction Delirium Encephalopathie 5 Klinische Pflegewissenschaft Prävalenz (I) 1. Prävalenz kognitiver Beeinträchtigung von betagten Patienten auf Notfallstation beträgt (Wilber,2006) ca. 40 % 2. Delirprävalenz betagter Patienten auf Notfallstationen zwischen (Lewis et. al.,1995; Élie et. al.,2000; Hustey et. al.,2002; Hustey et. al.,2003). 10% - 24% 6 Klinische Pflegewissenschaft Prävalenz verwirrter Patienten am USB nach Altersgruppen (Jan – Juni 06) Nnv = 18‘038 Nv = 1‘836 45% 40% 35% Männer Frauen Prozente 30% 25% 20% 15% 10% 5% 0% bis 10 10-19 J 20-29 J 30-39 J 40-49 J 50-59 J 60-69 J 70-79 J 80-89 J ab 90 J 0% 2% 2% 2% 5% 7% 10% 16% 27% 39% Altersgruppe / Durchschnittlicher Anteil verwirrte Männer und Frauen zusammen Folgen (I) • Höhere Verweildauer im Spital (O'Keeffe & Lavan, 1997) • Vermehrte Komplikationen im Spital und danach (Marcantonio et al., 2005) • Schlechtere Rehabilitations-Outcomes (Olofsson et al., 2005) • Höhere Mortalität (McCusker, Cole, Abrahamowicz, Primeau & Belzile, 2002) • Höhere Pflegebedürftigkeit mit häufigerer Einweisung in Pflegeheim (McCusker, Cole, Dendukuri, Belzile & Primeau, 2001) • Dauerhafte Verschlechterung von kognitiven Fähigkeiten (Francis & Kapoor, 1992) • Erhöhte Behandlungskosten (Inouye, 2006) 8 Klinische Pflegewissenschaft Folgen (II) Delirien in den USA: • Delirien erschweren jährlich in den USA für 2,3 Mio. Menschen den Spitalaufenthalt • Delirien sind jährlich für mehr als 17,5 Mio. Hospitalisationstage verantwortlich. • Delirien tragen mit 4 Mrd. Dollar zu den jährlichen Gesundheitskosten bei. (Rizzo, 2001) 9 Klinische Pflegewissenschaft Diagnosekriterien des Delirs (I) Drei Klassifikationssysteme DSM-IV ICD-10 NANDA 10 Klinische Pflegewissenschaft Diagnosekriterien des Delirs (II) Klassifikationssysteme ICD-10 n=43 n=25 n = 425 NANDA n=?? DSM-IV n=106 (Laurila, Pitkälä, Strandberg, & Tilvis, 2003) 11 Klinische Pflegewissenschaft Diagnosekriterien (III) Kriterium A: Kriterium B: Kriterium C Bewusstseinsstörung Aufmerksamkeitsstörung Veränderung der kognitiven Funktionen Entwicklung innerhalb kurzer Zeitspanne und fluktuiert üblicherweise im Tagesverlauf. (American Psychiatric Association, 2000; Sass, Wittchen, Zaudig, & Houben, 2003) 12 Klinische Pflegewissenschaft Häufigkeit von Delir-Symptomen bei Erwachsenen in verschiedenen Studien Desorientierung Aufmerksamkeitsstörung Kurzzeitgedächtnisstörung Langzeitgedächtnisstörung Visuell räumliche Störung Sprachveränderungen Denkstörungen Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen Halluzinationen/Wahrnehmungsstörungen Wahnvorstellungen Affektlabilität/Emotionelle Veränderungen Motorik: Hyperaktiv Motorik: Hypoaktiv 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Symptomhäufigkeit in Prozent 13 (Trzepacz & Meagher, 2008) Klinische Pflegewissenschaft Diagnosekriterien und Ursachen (I) Delirdiagnose nach DSM-IV • Drei Kriterien (A + B + C) • Vier Ursachenformen (Kriterium D) Delir aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors Substanzinduziertes Delir - Substanzintoxikations-Delir - Substanzentzugs-Delir Delir aufgrund multipler Ätiologien Nicht näher bezeichnetes Delir (American Psychiatric Association, 2000; Sass, Wittchen, Zaudig, & Houben, 2003) 14 Klinische Pflegewissenschaft Formen eines Delirs (I) • Hyperaktiv Patient unruhig, zappelig, oft Halluzinationen / Illusionen, Gefahr der Selbstverletzung • Hypoaktiv Reduzierte Aktivität, Patient teilnahmslos, lethargisch, ruhig, • Mischformen Unvorhergesehener Wechsel hyper- und hypoaktivem Muster (O‘ Keeffe, 1999) 15 Klinische Pflegewissenschaft Symptome, Merkmale, Krankheitsbilder • • • • • • • • Bewusstseinsstörungen Aufmerksamkeitsstörungen Orientierungsstörungen Halluzination / Wahn Psychomotorische Phänomene Emotionale Störungen Schlaf-/ Wachstörungen Zeitverlauf Delir Demenz Depression Schizophrenie 16 Klinische Pflegewissenschaft Ausprägungen (II) Wie gut können Pflegefachpersonen die verschiedenen Phänomene unterscheiden Hypoaktives Delir bei Demenz 21% 46% Hypoaktives Delir Hyperaktives Delir 54% Hyperaktives Delir bei Demenz 61% Demenz 83% Phänomen richtig erkannt 17 (Fick, Hodo, Lawrence & Inouye, 2007) Klinische Pflegewissenschaft Nichterkannte medizinische Notfälle auf der Notfallstation mit Überweisung in Psychiatrie (I) N = 64 Patienten Alter: 20 – 63 Jahre, Durchschnittsalter: 36,7 Jahre Alkoholintoxikation und Drogen Medikamenten- und Alkoholentzug Medikamentenüberdosierung Nierenversagen Leberversagen Diabetische Ketoazidose Hypoglykämie Pneumonie, Sepsis, Harnwegsinfekt 34% 13% 13% 6% 3% 3% 2% 5% (Reeves et al., 2000) 18 Klinische Pflegewissenschaft Nichterkannte medizinische Notfälle auf der Notfallstation mit Überweisung in Psychiatrie (II) Vorhandene KG nicht berücksichtigt Abnorme Symptome fehlinterpretiert Inadäquate körperliche Untersuchung Unzureichende Labor Diagnostik Fehlender Mentalstatus 34% 8% 44% 34% 100% (Reeves et al., 2000) 19 Klinische Pflegewissenschaft Unterschiede Delir / Demenz (I) Demenz Delir Zum Verwechseln ähnlich Erscheinungsbild Entstehung Monate bis Jahre Stunden bis Tage Pathophysiologie Chronische Insuffizienz des Neurotransmitter (ACH) Akute Insuffizienz des Neurotransmitter (ACH) (Altersdelir) Verlauf Chronisch progredient reversibel Unterschiede Delir / Demenz (II) Demenz Charakter Dringlichkeit Komplikation Folgen Schleichende Erkrankung des höheren Alters Hausarzt -> weitere Abklärung Bspw. Delir Delir Notfall Sofortmassnahmen Bspw. Verletzungen durch Stürze Verweildauer Mortalität Lebenserwartung Pflegebedürftigkeit Demenz Patient Umgebung • • • • • • • • Soziale Isolation Reizüberflutung Sehschwäche Hörschwäche Immobilität Neue Umgebung Stress Fixierung • Alter • Vorbestehende kognitive Beeinträchtigung • Vorangegangenes Delir • ZNS Erkrankung • Erhöhte Durchlässigkeit BlutHirn-Schranke • Schlechter Ernährungsstatus Delir Risikofaktoren Medikamente • Polypharmazie • Drogen- und Alkoholabhängigkeit • Psychoaktive Medikamente • Anticholinerge Medikamente Medizinisch • Schwere der Begleiterkrankungen • Verbrennungen • HIV/AIDS • Organversagen • Infektionen (HWI) • Hypoxämie • Fraktur • Hypothermie/Fieber • Elektrolytstörungen • Dehydration • Geringes Serumalbumin • Nikotinentzug • Unkontrollierte Schmerzen Prozeduren • • • • • Perioperativ Art des Eingriffs Notfalleintritt Operationsdauer Blasenkatheter (Trzepacz, 2008 ) Auslösende Faktoren und Neurotransmitterveränderungen Zytokine Hypoxie Stress Dysbalance Neurotransmitter Anticholinerge Medikamente Hyperthermie Hyperglykämie Delir (Egli, 2001) 23 Klinische Pflegewissenschaft Pfade, welche zu Delir führen: Iatrogene Komplikationen Auslöser Relatives Risiko Fixierung 3,5 Blasenkatheter 3,1 3 zusätzliche immobilisierende Massnahmen 1,8 Weniger als ein Mal täglich aus dem Bett 2,3 mehr als 12 Stunden auf der Notfallstation 2,1 iatrogenes Ereignis 1,9 Malnutrition 3,9 Respitatorische Insuffizienz 2,7 Dehydratation 1,5 24 (Inouye, 1996) Klinische Pflegewissenschaft Screening- /Assessment-instrumente (I) Delirium Observation Screening (DOS) Schuurmans, (2001) Confusion Assessment Method (CAM) Inouye et. al., (1990) Mini Mental Status (MMS) Folstein, (1975) Mental Status Questionair (MSQ) Kahn et. al. (1960) 25 Klinische Pflegewissenschaft Screening-/Assessmentinstrumente (II) Delirium Observervation Screening Scale (1) Delirium Observation Screening Scale = (DOS) • Ist ein für Pflegende entwickeltes Screening-Instrument • Beruht auf Beobachtungen im Rahmen der Pflegetätigkeit • Patienten mit Verhaltensauffälligkeiten, wie sie für ein Delir typisch sind, können identifiziert werden. • DOS-Screening enthält 13 Items und wird über 3 Tage über 3 Schichten durchgeführt. • Ist die DOS auffällig (≥ 3), muss noch zusätzlich ein Instrument für die Diagnosesicherung durchgeführt werden. 26 (Schuurmans, 2001) Klinische Pflegewissenschaft Screening- /Assessmentinstrumente (III) DOS (2) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 Nickt während des Gesprächs ein Wird durch Reize der Umgebung schnell abgelenkt Bleibt aufmerksam im Gespräch oder in der Handlung Beendet begonnene Fragen oder Antworten nicht Gibt unpassende Antworten auf Fragen Reagiert verlangsamt auf Aufträge Denkt irgendwo anders zu sein Erkennt die Tageszeit Erinnert sich an kürzliche Ereignisse Nestelt, ist ruhelos, unordentlich und nachlässig Zieht an Infusion, an Sonde oder an Katheter usw. Reagiert unerwartet emotional Sieht, hört oder riecht Dinge, die nicht vorhanden sind 27 Klinische Pflegewissenschaft Screening- und Assessmentinstrumente (IV) DOS (3) 28 Klinische Pflegewissenschaft Screening- /Assessmentinstrumente (V) Confusion Assessment Method (1) Confusion Assessment Method = CAM • • • • • Plötzlicher Beginn Fluktuierender Verlauf Unaufmerksamkeit, Unachtsamkeit Verwirrtheit, chaotisches Denken (unlogisch, nicht relevant, wechselhaft, unvorhersehbar) wechselnder Bewusstseinsgrad (hyperaktiv, hyperalert bis somnolent) (Inouye, van Dyck, Alessi, Balkin, Siegal, & Horwitz, 1990) 29 Klinische Pflegewissenschaft Screening-/Assessmentinstrumente (VI) MMS (1) Mini Mental Status = MMS • Zeitliche Orientierung • Örtliche Orientierung • Gedächtnistest • Rechnen • Erinnern • Einen Gegenstand korrekt benennen • Einen 3-teiligen Befehl ausführen • Schreiben 27 – 30 Pkte. normal • Figurenzeichnen 30 Klinische Pflegewissenschaft Screening-/Assessmentinstrumente (VII) MSQ (1) Mental Status Questionair • Zeitliche Orientierung • Örtliche Orientierung • Orientierung zur eigenen Person • Gedächtnistest Total =10 Pkte, ≤7 = auffällig 31 Klinische Pflegewissenschaft Screening-/Assessmentinstrumente (VIII) MSQ (2) 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. Wie heisst dieses Spital? Wo liegt dieses Spital? Welcher Tag ist heute? Welcher Monat ist heute? Welches Jahr ist heute? Wie alt sind Sie (in Jahren)? Wann sind sie geboren (Monat)? Wann sind sie geboren (Jahr)? Wie heisst der Präsident der USA? Wie hiess ein vorheriger Präsident von Amerika? 32 Klinische Pflegewissenschaft Interdisziplinäre Präventionsmassnahmen • Infektionen behandeln • Infektions• Prophylaxen Pneumonie, Dekubitus HWI • Ausreichende Sauerstoffzufuhr • Anämie behandeln • Bezugspflege • Orientierung u. Sicherheit geben • Wahrnehmungsförderung • Kommunikation • Schmerzbehandlung • Ueber / Unterstimulation Zytokine Stress Hypoxie Hyperthermie Dysbalance Neurotransmitter anticholinerge Medikamente • anticholinerge Medikamente austauschen Hyperglykämie Delir • BZ regulieren • Fieber senken Erste Einschätzungen durch die Pflege auf der NFS / IPS • • • • • • • • • • • • 34 Wie ist die respiratorische Situation? Sauerstoffversorgung? Hat der Patient Schmerzen? Funktioniert die Ausscheidung des Patienten normal? Darf der Patient essen? trinken? Wie ist der Ernährungs- und Flüssigkeitszustand des Patienten? Ist der Patient gefährdet, eine Pneumonie, einen Dekubitus, Harnwegsinfekt zu bekommen. Hat der Patient potentielle Infektionsquellen? Wie ist das Seh- und Hörvermögen des Patienten? Ist er Brillen- oder Hörgeräteträger? Kann der Patient nachvollziehen, was um ihn herum geschieht? Abläufe nachvollziehen? War der Patient vor dem Spitaleintritt kognitiv beeinträchtigt? (Krankenakte, aerztliche Anamnese) Findet sich der Patient mit und in der Spitalumgebung zurecht? Wirkt der Patient gestresst, ängstlich? Gibt es auffällige Laborwerte? nach Rolfson (2002); Inouye (2006) adaptiert durch die Projektgruppe „Schulungsprogramm Delir-Management NFS“ Klinische Pflegewissenschaft Unterschiedliche Pathophysiologien und Therapien Delir aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors Acetylcholin ↓ • Pfleg. /med. Präv. • Kausale Behandlung Dopamin ↑ Medikamente 1. Wahl: Neuroleptika (Haldol®) A. Neurol (Seroquel®) Glutamat ↑ AlkoholentzugsDelir Medikamente 1. Wahl: GABA ↓ Benzodiazepine (Temesta®) Noradrenalin ↑ 35 Klinische Pflegewissenschaft Therapie 1 2 3 4 5 6 1Distraneurin®, 2Valium®, Seresta®, Temesta®, 3Catapresan®, 4Tegretol, 5Haldol®, 6Propranolol H...® 36 (Hufschmidt, et al. 1999) Klinische Pflegewissenschaft Take home message • Delirien bei betagten Menschen sind Notfälle und können mit gravierenden Folgen verbunden sein • Alkoholentzug ist nur eine mögliche Ursache für die Entwicklung eines Delirs • Delirien haben verschiedene Risiko- und Auslösefaktoren denen entgegengewirkt werden kann • Systematisches Screening und geeignete Präventionsstrategien kann Delirien entgegenwirken • Pflegefachkräfte können einen entscheidenden Beitrag leisten 37 Klinische Pflegewissenschaft