Zentrum für Medizinische Ethik MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN Heft 173 Apokalyptik im biomedizinethischen Diskurs Eine theologische Analyse der aktuellen Debatte “Für Hans G. Ulrich zum 65. Geburtstag in Dankbarkeit” Marco Hofheinz Mai 2007 Marco Hofheinz, Dr. theol., geb. 1973, 1993-2000 Studium der Ev. Theologie in Wuppertal, Bonn, Tübingen, Lexington (Kentucky), Durham (Duke University), Göttingen, 2000 Erstes Kirchliches Examen, 2001-2003 Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, 2003-2005 Vikar der Ev.-Ref. Kirchengemeinde Eiserfeld, 2006 Zweites Kirchliches Examen, seit Sommersemester 2006 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Systematische Theologie (Abteilung Ethik, Lehrstuhl Prof. Dr. W. Lienemann) der Universität Bern (CH). 1. Die Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen Debatte 1.1 Einleitung: Der „bioapokalyptische“ Argumentationstyp……….………………………………….1 1.2 Schöne neue Menschenwelt? Der „neue Mensch“ im Spannungsfeld von positiver und negativer Utopie…………………………………………………………………………………….4 1.3 Der südkoreanische „Klon-Erfolg“. Zur bioapokalyptischen Beschreibung einer manipulierten biomedizinischen Innovation……………………………………………………...……..7 1.4 Dammbruch, Rubikon, schiefe Ebene. Die „bioapokalyptische“ Metaphorik…….………………10 1.5 Die Sloterdijk-Debatte…….……………………………………………………………………….13 1.6 Die Apokalypse des „neuen Menschen“. Das implizite Menschenbild biomedizinischer Forschung und die Leitbildfunktion der Rede vom „neuen Menschen“………………………...16 2. Die Apokalypse der neuen Schöpfung. Zur paulinischen Rede vom „neuen Menschen“ 2.1 Die paulinische Modifikation der Zwei-Äonen-Lehre als apokalyptischer Referenzrahmen der Rede vom „neuen Menschen“…………………………………………………..19 2.2 Der „neue Mensch“ als Gottes Ebenbild……….………………………………………………….21 2.3 Ecce Homo – Das Kreuz Christi als Apokalypse des „neuen Menschen“………………………...25 3. Konturen einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ im Blick auf die aktuelle biomedizinethische Debatte 3.1 Der Gegenstand einer apokalyptischen Ethik: Der „neue Mensch“ als Subjekt ethischen Handelns……………………………………………………………………………31 3.2 Biomedizinethische Konsequenzen….…………………………………………………………….33 3.3 Eine Klarstellung zu den kreuzestheologischen Implikationen einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“…………………………………………………………………………..37 3.4 Ethik des „neuen Menschen“ als kirchliche Ethik.………………………………………………...40 3.5 Schlussbemerkung…….……………………………………………………………………..…43-44 Herausgeber: Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann Prof. Dr. med. Michael Zenz Zentrum für Medizinische Ethik Bochum, Ruhr-Universität Bochum, Gebäude GA 3/53,44780 Bochum, TEL +49 234 32-22749/50, FAX +49 234 3214-598 Email: [email protected] Internet: http://www.medizinethik-bochum.de Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Das Copyright liegt beim Autor. © Marco Hofheinz Schutzgebühr: € 6,00 Bankverbindung: Sparkasse Bochum Kto.-Nr. 133 189 035 BLZ: 430 500 00 ISBN: 978-3-931993-54-2 1. Auflage Juni 2007 Apokalyptik im biomedizinethischen Diskurs. Eine theologische Analyse der aktuellen Debatte Marco Hofheinz 1. DIE RENAISSANCE DER APOKALYPTIK IN DER BIOMEDIZINETHISCHEN DEBATTE 1.1 Einleitung: Der „bioapokalyptische“ Argumentationstyp Zu Beginn der 90er Jahre stellte U.H.J. Körtner fest: „Es zeichnet die zeitgenössische Diskussion um die ökologische Krise und die Gefahr eines atomaren Weltkrieges aus, daß sie in abgewandelter Form von apokalyptischen Deutungsmustern Gebrauch macht, die von den angesprochenen Gefahren unabhängig bestehende Bewußtseinsphänomene sind.“ 1 Diese Beobachtung dürfte gegenwärtig auch auf die biomedizinethische Debatte zutreffen. Die Wiederkehr apokalyptischer Deutungsmuster lässt sich – wie im Folgenden gezeigt werden soll – in dem ca. 30 Jahre alten, mit dem Schlagwort „Biomedizinethik“ bezeichneten Diskurs unschwer nachweisen 2. Was seine Reichweite betrifft, so ist er keineswegs an die engen Grenzen der akademischen Disziplin „Biomedizinethik“ gebunden, vielmehr sind an ihm – wie die folgende Darstellung der Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen Debatte zeigt – Journalisten und Politiker, Mediziner und Philosophen, Biologen und Theologen, Bischöfe und Verfassungsrichter beteiligt. Wenn von der Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen Debatte im Weiteren die Rede ist, so bezeichnet der Begriff „Apokalyptik“ das, was der französische Soziologe J. Baudrillard den „Subtext“ oder den „Geist“ genannt hat, den bestimmte biotechnische Praktiken wie etwa das Klonen widerspiegeln bzw. induzieren 3. Dieser findet seinen Niederschlag in den Argumentationsgängen des biomedizinethischen Diskurses. Was den konkreten Be-griffsgebrauch betrifft, so wird ein bestimmter, vielfach wiederkehrender Argumentationstyp, der im Folgenden herausgearbeitet werden soll, als „apokalyptisch“ rubriziert. 1 U.H.J. KÖRTNER, Weltende. Zur theologischen Herausforderung apokalyptischen Denkens im Zeichen globaler Bedrohung, EvErz 45 (1993), (286-300) 295. 2 Zur Geschichte der „Bioethik“ und der Darstellung ihrer grundlegenden Theorieansätze vgl. J.S. ACH / CHR. RUNTENBERG, Bioethik. Disziplin und Diskurs. Zur Selbstaufklärung angewandter Ethik, Kultur der Medizin. Geschichte – Theorie – Ethik Bd. 4, hg. v. A. Frewer, Frankfurt a.M. 2002; M. DÜWELL / K. STEIGLEDER (Hg.), Bioethik. Eine Einführung, stw 1597, Frankfurt a.M. 2003; CHR. REHMANN-SUTTER, Art. Bioethik, Handbuch Ethik, hg. v. M. Düwell u.a., Stuttgart / Weimar 2002, 247-252. 3 Vgl. z.B. J. BAUDRILLARD, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992, 131-142; ders., Vom zeremoniellen zum geklonten Körper: Der Einbruch des Obszönen, in: D. Kamper / Chr. Wulf (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a.M. 1982, (350-362) bes. 354-359. 1 Der Begriff „Apokalyptik“ wird also hier in einem weiten Sinne zur Bezeichnung jenes Gesamtphänomens einer geistigen Strömung gebraucht, das verschiedene Erscheinungsweisen zeitigt – von der frühjüdischen und urchristlichen Apokalyptik angefangen, bis hin zu den beschnittenen, „kupierten“ 4 oder „nackten Apokalypsen“ 5 der Gegenwart, die im biomedizinethischen Diskurs neue Urstände feiern. Eine „harte“ Ausgangsdefinition mit einem strengen Kriterienkatalog wird damit bewusst nicht geliefert. Gleichwohl kehren bestimmte Merkmale wieder, die bis zu einem gewissen Grad eine Gegenprüfung erlauben. Dieser vage anmutende Definitionsversuch hat den Vorteil, dass er es erlaubt, bestimmte Erscheinungsweisen der „Apokalyptik“, wie sie etwa im biomedizinethischen Diskurs unserer Tage ansichtig werden, auf die Ursprünge des Phänomens zurückzubeziehen, um inhaltliche Verschiebungen innerhalb der Tradition kenntlich zu machen. Indem der biomedizinethische Diskurs in einem apokalyptischen Deutungsrahmen erscheint, ist es möglich, die Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen Debatte im Lichte des kritischen Potentials der urchristlichen, insbesondere der paulinischen Apokalyptik zu sehen. Insofern wird dem Desiderat von Chr. Frey und M. Wolter Folge geleistet, welche fordern: „Wenn apokalyptische Stimmungen und Visionen Konjunktur haben, muß zumindest im kirchlichen Binnenraum sowie im Religionsunterricht die Frage gestellt werden, ob sie durch diejenigen biblischen (und außerbiblischen) Traditionen zu legitimieren sind, auf die sich der im 19. Jahrhundert geprägte Begriff der Apokalyptik im strengen Sinn bezieht.“ 6 Mir kommt es darauf an, die verschiedenen „bioapokalyptischen“ Argumentationstypen bzw. Denkmuster zu beschreiben und fernerhin zu zeigen, inwiefern sie inhaltlich gerade 4 Den Begriff der „kupierten Apokalypse“ hat K. VONDUNG, Inversion der Geschichte. Zur Struktur des apokalyptischen Geschichtsdenkens, in: D. Kamper / Chr. Wulf (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne, Frankfurt a.M. 1987, (600-624) 615, geprägt. Nach O. BRIESE, Einstimmung auf den Untergang. Zum Stellenwert „kupierter“ Apokalypsen im gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Diskurs, AZP 20 (1995), (145-156) 145, dominieren „kupierte“ Apokalypsen den gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Diskurs und zeugen vom Zerbrechen des einstigen Grundschemas der Dialektik von Untergang und Erneuerung: „Die Umkehrstruktur von Apokalypsen – Katastrophe und Rettung wird um den zweiten Teil beschnitten: Die Katastrophe ist die Katastrophe. Sie stellt sich nicht um möglicher Errettung willen ein – ein Motiv jeder Theodizee oder Anthropodizee –, sondern sie zeitigt unwiderruflich das Ende. Apokalypse ist Finale. Sie ist aber nicht Höhepunkt, sondern Schlußpunkt.“ 5 G. ANDERS, Die atomare Drohung (= 4. Aufl. von „Endzeit und Zeitende“ (1959)), München 1983, 207, identifizierte in den 50er Jahren angesichts der atomaren Bedrohung die „nukleare Apokalypse“, die den Weltuntergang als von Menschen verursachte und gemachte Vernichtung erwarte und als gottlose Apokalypse weder Gericht noch Gnade kenne, als „eine nackte Apokalypse, d.h. die Apokalypse ohne Reich“. Nach Anders ist der im teleologisch orientierten Fortschrittsglauben vorhandene Gedanke des „Reiches ohne Apokalypse“ gegen den Gedanken von der „Apokalypse ohne Reich“ einzutauschen. 6 CHR. FREY / M. WOLTER, Kennwort „Apokalyptik“, GlLern 14 (1999), (11-22) 13. 2 nicht mit der urchristlichen Apokalyptik kompatibel sind. Meine These besagt, dass die profanen, neuzeitlich-säkularisierten Apokalypsen kupierte Apokalypsen sind, deren entscheidendes Defizit darin besteht, dass sie die biblische Rede von der „neuen Kreatur“ ausblenden und so die Pointe biblischer Apokalyptik umgehen. Gerade darin besteht, aus binnenkirchlicher Perspektive geurteilt, ihre theologische Illegitimität. Dabei ist allerdings aus einer solchen Perspektive heraus selbstkritisch der indirekte Beitrag zu beachten, den die Theologie dazu lieferte, indem sie nämlich besagte Pointe vielfach kaum oder gar nicht artikulierte und dadurch jenes Vakuum entstehen ließ, das anderweitig gefüllt werden konnte 7. Die einzelnen Themen und Probleme der Biomedizinethik wie etwa die Frage nach dem moralischen Status menschlicher Embryonen, nach Präimplantationsdiagnostik (PID), Reproduktionsmedizin, Klonen, Transplantationsmedizin, Hirntod, Sterbehilfe und Euthanasie, Humanexperimenten, Gesundheitsökonomie etc. sind emotional stark besetzt 8. Angesichts der Tatsache, dass sie mit zunehmender Dynamik in die verschiedensten Lebensbereiche unserer Gesellschaft und auch das Leben des Einzelnen eingreifen und dabei die Frage nach dem Selbstverständnis der Gattung aufwerfen, verwundert dies nicht. Befürworter und Gegner stehen sich häufig unversöhnt gegenüber, diffamieren einander als „religiöse Fundamentalisten“, „Technikfeinde“ oder „Erfüllungsgehilfen der Großindustrie“, die den Körper dank innovativer Methoden als Handelsgut auf dem Markt der Möglichkeiten anbieten 9. Die biomedizinethischen Debatten, die einst in Fachkreisen begannen, sind längst „biopolitisch“ in den Parlamenten eskaliert und justitiabel geworden 10. Dass die Kombattanten in naher Zukunft die Liebe zum Kammerton entdecken, steht nicht zu erwarten. Es macht sich bemerkbar, dass es hierzulande kein dominantes konsensorientiertes Paradigma gibt, an dem sich die Theoriebildung abarbeitet. Die intensive Debatte ist immer noch stark vom prinzipienethischen Widerstreit zwischen deontologischen und teleologischen bzw. konsequentialistischen Ansätzen geprägt 11, an denen entlang die Argumentationslinien verlaufen. Mitunter gerät der Biomedizinethikbegriff selbst unter die sich fundamentalkritisch 7 Darauf macht D.L. MIGLIORE, Faith Seeking Understanding. An Introduction to Christian Theology, Grand Rapids 1991, 235, zu Recht aufmerksam. 8 Vgl. R. ANSELM / U.H.J. KÖRTNER (Hg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung, Göttingen 2003, und dazu: W. SCHOBERTH, Pluralismus und die Freiheit evangelischer Ethik, in: ders. / I. Schoberth (Hg.), Kirche – Ethik – Öffentlichkeit. Christliche Ethik in der Herausforderung. FS H.G. Ulrich, EThD 5, Münster 2002, 249-264. 9 Vgl. P. GEHRING, Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a.M. 2006. 10 Vgl. CHR. GEYER (Hg.), Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt a.M. 2001. 11 Vgl. CHR. FREY, Argumentieren angesichts der Gentechnik. Die Aufgabe der evangelischen Ethik in der gegenwärtigen genethischen Debatte, WzM 54 (2002), 453-468; O. HÖFFE, Medizin ohne Ethik, Frankfurt a.M. 2002, 41ff. 3 gerierende Verdächtigung: Als utilitaristisch-biologistisches Theoriedesign diene er allein der Akzeptanzbeschaffung für moderne Technologien und unterminiere zu diesem Zweck die geltenden Wertfundamente humanen Zusammenlebens. Wie pluralistisch und selbstreflexiv ist der biomedizinethische Diskurs tatsächlich angelegt? Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die „Apokalyptik“? Bestätigt sich etwa hinsichtlich der biomedizinethischen Debatte das ironische Diktum H.M. Enzensbergers: „Die Apokalypse gehört zu unsrem ideologischen Handgepäck“ 12? 1.2 Schöne neue Menschenwelt? Der „neue Mensch“ im Spannungsfeld von positiver und negativer Utopie Die dynamische Entwicklung der Biotechniken wird bereits seit Jahrzehnten von Befürwortern wie Gegnern mit Szenarien einer künftigen Gesellschaft „apokalyptisch“ begleitet. Ein Blick in die Kultur- und Literaturgeschichte genügt, um festzustellen, dass die Geschichte der Utopie vom apokalyptischen Motiv des „neuen Menschen“ durchdrungen ist. Visionen vom „künstlichen Menschen“ reichen vom Pygmalion-Mythos über die Homunkulusschilderung in Goethes „Faust II“ bis hinzu zu A. Huxleys zukunftskritischem Roman „Brave New World“ 13 (1932). Mit zunehmender technischer Entwicklung werden, so hat es den Anschein, die Szenarien düsterer. Aus utopischen Paradiesvorstellungen werden Gegenutopien 14. An die Stelle von F. Bacons unvollendeter, positiver Utopie „Nova Atlantis“, einem romanhaften Reisebericht, der die Utopie eines vollkommenen Staatswesens entwickelt, das seine Stabilität den ständig wachsenden Ergebnissen der empirischen Wissenschaften verdankt, tritt die negative Utopie 15. F. Bacon verkündigte vor mehr als 350 Jahren die Devisen: „Wissen ist Macht“ und „tantum possumus quantum scimus“ („wir können so viel, wie wir wissen“). Er verknüpfte mit ihnen die Forderung, „die Ursachen und Bewegungen 12 H.M. ENZENSBERGER, Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang, in: ders., Politische Brosamen, Frankfurt a.M. 1985, (225-236) 225. 13 Der Titel enthält eine Anspielung auf W. Shakespeares Theaterstück „The Tempest / Der Sturm“, in welchem die weibliche Hauptfigur Miranda, Tochter des rechtmäßigen Herzogs von Mailand, beim ersten Anblick eines Mannes, der sich später als schlimmster Feind der Familie herausstellen wird, entzückt ausruft: „O schöne neue Welt, die solchen Menschen Wohnung gibt!“ W. SHAKESPEARE, The Tempest / Der Sturm. English / Deutsch, übers. und hg. v. G. Stratmann, Stuttgart 1982, 143 (Akt V, Szene 1). 14 K. MANNHEIM, Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M. 1969, 169, kennzeichnet die Utopie als ein über die gegenwärtige Realität hinausstrebendes Denken: „Utopisch ist ein Bewußtsein, das sich mit dem umgebenden ‚Sein’ nicht in Deckung befindet“. 15 M. WINTER, Don Quijote und Frankenstein. Utopie als Utopiekritik: Zur Genese der negativen Utopie, in: W. Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie Bd. 3, Stuttgart 1982, (86112) 105, unterteilt die utopische Literatur in positive, negative und libertine Utopien: „Die positive Utopie (Typ Morus) zielt auf den Fortschritt der Humanität [...]. Die negative Utopie (Typ Huxley, Orwell) zielt neben ihrer Kritik an der Utopie auf dasselbe [...]. Die libertine Utopie kehrt das humane Telos der positiven und negativen Utopie in ein antihumanes um“. 4 sowie die verborgenen Kräfte in der Natur zu ergründen und die Grenzen der menschlichen Macht soweit wie möglich zu erweitern“ 16. Seine positive Utopie wich in dem Moment, in dem seine Utopie der Herstellung von Pflanzen und Tierarten durch „künstliche Mittel“, d.h. synthetische Biologie, dank der heutigen Molekulargenetik tatsächlich Wirklichkeit wurde, jenen literarischen Antiutopien des 20. Jahrhunderts, die die Vorstellung von jener „schönen neuen Welt“ parodierten bzw. zur Satire werden ließen. Huxleys gleichnamiger Roman entfaltet das Gegenmodell einer „negativen Utopie“ oder „Antiutopie“ zu Bacons Wunschtraum 17: Menschliche Wesen werden nicht mehr geboren, sondern in Reagenzgläsern – in Huxleys Roman mittels des auf dem Prinzip der Knospung basierenden „Bokanowsky-Verfahrens“ 18 – gezüchtet. Wissenschaft und Technik, repräsentiert durch den BUND („Brut- und Normenzentralen-Direktor“) und seine Studenten, sorgen dafür, dass die Embryonen genau jene körperlichen und geistigen Eigenschaften erhalten, die ihre vorherbestimmte Rolle im späteren Leben verlangt. Missbildungen können lediglich durch Fehler oder Irrtümer der Labortechniker entstehen. Krankheiten gibt es nicht mehr. Männer und Frauen behalten ihre Jugendlichkeit; das Gefühl von Glück und Zufriedenheit ist ihnen angezüchtet. Ähnlich verhält sich „Der synthetische Mensch“ 19 in dem bekannten Gedicht Erich Kästners, das ebenfalls als negative Utopie gelten kann. Der synthetische Mensch wird als Fertigartikel aus der Menschenfabrik des Professor Bumke beschrieben. Das „Gute“ an ihm ist nach Auskunft desselben, dass der synthetische Mensch fix und fertig zur Welt komme, immer konstant sei und sich nicht erst entwickeln müsse. Phantasie und Kreativität sind nach Kästners ironisch-satirischer Zukunftsvision ebenso wenig wie nach derjenigen Huxleys gefragt. Die Ideologie des Bumke’schen Geburtsinstituts wie der „Brut- und Normzentrale Berlin-Dahlem“ pointiert der Wahlspruch des „neuen Weltstaates“, der im Befruchtungsraum des BUND im Entstehen begriffen ist: „Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit“. Rezeptionsästhetisch geurteilt, rücken Huxleys und Kästners Negativ-Utopien die modernen biomedizinischen Techniken in eine kritische Perspektive. Sie bilden gleichsam den apokalyptischen Deutungsrahmen um die Fragen herum, die durch die zeitgenössische Lektüre bei Leserinnen und Lesern evoziert werden: Haben die Zukunftsvisionen Huxleys und Kästners nicht schon längst konkrete Gestalt angenommen? Geschah nicht genau dies auf 16 F. BACON, Neu-Atlantis. Ins Deutsche übertr. v. G. Gerber und mit Anm. versehen v. F.A. Kogan-Bernstein, Berlin 1959, 89. 17 Vgl. U.H.J. KÖRTNER, Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988, 280; B. BENDER-JUNKER, Art. Utopie, 3EKL 4 (1996), (1086-1090) 1088. 18 Vgl. A. HUXLEY, Schöne Neue Welt, Frankfurt a.M. 1974, 17-21. 19 E. KÄSTNER, Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke, Stuttgart / München 2000, 59-61. 5 dem Feld der neuen biomedizinischen Technologien, wenn man beispielsweise an Genmanipulation oder das Klonen von Duplikaten denkt? Entsprechen nicht die aktuellen biomedizinischen Entwicklungen, von denen die Tageszeitungen berichten, exakt den Schilderungen Kästners und Huxleys? Müssen ihre bissigen Beschreibungen der technischen Neuschaffung des zur Massenproduktion verkommenden und in Serie gehenden Menschen nicht geradezu als „prophetisch“ erachtet werden? Der Roman Huxleys und das Gedicht Kästners verfolgen zweifelsohne die Absicht, eine Welt zu kritisieren, in der der Mensch zum „Experimentierfeld“ wird. In beiden Werken tritt paradigmatisch die Funktion der negativen Utopie in Erscheinung: Mit dem visionären Blick in die Zukunft soll nicht etwa wie im Fall der sog. positiven Utopien das „Utopia“ des Thomas Morus ein Traum bzw. ein erdachtes Land, wo ein gesellschaftlicher Idealzustand herrscht, prospektiv in den Blick gefasst werden, um die Richtung gesellschaftlicher Veränderungen anzugeben und Aufbruchsstimmung motivational zu erzeugen. Die negative Utopie 20 entwirft ein Horrorszenario, um gesellschaftliche Tendenzen zu kritisieren und vor Gefährdungen zu warnen 21. Genau dies findet sich in den beiden negativen Utopien Huxleys und Kästners wieder, die auf die Potentialität und Aktualität der mit der (bio-)technischen Machbarkeit und Planbarkeit des Menschen einhergehenden Gefahren hinweisen. Sie zielen dabei auf Umkehr ab und lassen sich intentional insofern als Negativ-Teleologie verstehen. Anders als die positive Utopie besagt die negative Utopie nämlich nicht: „Da wollen wir hin. Lasst uns dahin aufbrechen!“, sondern: „Da wollen und dürfen wir auf keinen Fall hinkommen. Deshalb lasst uns umkehren!“ Nicht „eine Antizipation des durch das Handeln zu verwirklichenden Zustandes“ 22 wird intendiert, sondern die Antizipation des durch das Handeln zu vermeidenden Zustandes. Denn die negative Utopie entfaltet nicht den „Traum von der ‚wahren’ und gerechten Lebensordnung“ 23, sondern vielmehr einen Alptraum. Dieser Alptraum hat apokalyptische Züge. Als apokalyptisch sind diese Züge freilich im Sinne eines säkularen Gebrauchs des Begriffs „Apokalyptik“ zu qualifizieren, der dazu tendiert, den Begriff der „Apokalyptik“ zum Synonym und zu einer Art „Passepartout“ für alles Katastrophische werden zu lassen. 20 U.H.J. KÖRTNER, Weltangst, 279f., konstatiert: „Die negative oder Anti-Utopie meint [...] nicht einen fortschrittsgläubigen naiven Utopismus, der Gegenstand konservativer Utopiekritik sein könnte, vielmehr eine Literaturform, die mit den Spielregeln der Utopie deren Intentionen und Hoffnungen in ihr Gegenteil verkehrt. Eher schon ließe sich umgekehrt sagen, daß die Anti-Utopie eine Utopiekritik mit Mitteln der Utopie darstellt, formal betrachtet aber eine ‚Unterart der Utopie’ bildet.“ 21 Vgl. F. KUSTER, Art. Utopie / Utopisten I. Philosophisch, TRE 34 (2002), (464-473) 471. 22 G. PICHT, Zukunft und Utopie. Vorlesungen und Schriften, hg. v. C. Eisenbart, Stuttgart 1992, 10. 23 M. HORKHEIMER, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922-1932, hg. v. G. Schmid Noerr, Frankfurt a.M. 1987, (177-268) 179f. 6 1.3 Der südkoreanische „Klon-Erfolg“. Zur bioapokalyptischen Beschreibung einer manipulierten biomedizinischen Innovation Im Sinne dieses Gebrauchs wird der Begriff Apokalyptik im gegenwärtigen biomedizinethischen Diskurs von manchem Diskursteilnehmer sogar explizit verwandt. Der Journalist C. Amery (1922-2005) beispielsweise bezeichnete sich selbst als einen „Warner“, der „das undankbare Kassandrageschäft, die Beschwörung der Apokalypse“ 24 betreibe. Der Molekularbiologe E. Chargaff (1905-2002), der im Jahr 1951 die „Komplementarität“ der Nukleotidbasen entdeckte und damit die Grundlage für die „Grammatik der Biologie“ legte, welche J. Watson und F. Crick im Jahr 1953 die Präsentation des Strukturmodells der DNS ermöglichte, etikettiert sich in ähnlicher Weise als einen „ungehörten Propheten“. Nach seinem „prophetischen“ Urteil handelt es sich bei den Eingriffen in Grundsteine des Lebens, nämlich die Erbanlagen – insbesondere ins Genom der Keimzellen –, um einen zweiten Sündenfall der Naturwissenschaft. Seine suggestive Frage: „Bin ich wirklich der einzige Naturwissenschaftler, der ein Beben unter dem Boden spürt?“, verrät unzweifelhaft ein apokalyptisches Pathos spätprophetischer Provenienz. Die Beispiele apokalyptischer Selbststilisierung ließen sich leicht vermehren. Daneben manifestiert sich das Bemühen apokalyptischen Gedankenguts in den verschiedensten Beschreibungen biomedizinischer Innovationen. Als etwa „Der Spiegel“ im Frühjahr 2004 über den „Klon-Erfolg“ südkoreanischer Wissenschaftler berichtete, der sich einige Monate später, im Dezember 2005, als Fälschung erweisen sollte, titelte das Hamburger Nachrichtenmagazin mit einem Zitat des Physiologen und Kölner Forschers an embryonalen Stammzellen J. Hescheler, der den „Durchbruch“ beim therapeutischen Klonen mit der Bemerkung kommentierte: „Da explodiert gerade etwas.“ 25 Während J. Hescheler als vehementer Befürworter der verbrauchenden Embryonenforschung, bei der im Unterschied zur Forschung an adulten Stammzellen sog. „überzählige“ Embryonen für die Stammzellengewinnung getötet werden müssen, diese Explosion als „Durchbruch“ feierte, wiegelten andere, etwa der Hirnforscher O. Wiestler, der ebenfalls mit importierten embryonalen Stammzellen arbeitet, ab: „Eine Dramatik oder gar einen Durchbruch kann ich da überhaupt nicht erkennen. Mit dieser Entwicklung musste man rechnen.“ 26 O. Wiestler wies darauf hin, dass durch die koreanische Gewinnung von 24 C. AMERY, Vom Ende der Natur: Aktuelle apokalyptische Visionen, in: G. Fuchs (Hg.), Mensch und Natur. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit, Frankfurt a.M. 1989, (31-50) 39. 25 Der Spiegel 8/2004, 120f. 26 Interview „Teure Irrwege. Otmar Wiestler zur Bedeutung der Klon-Embryos für die Forschung“, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 37 vom 14./15.02.2004, 11. 7 Spenderzellen für die Zellverpflanzung, d.h. die Züchtung embryonaler Stammzellen, die den geklonten Embryonen entnommen wurden, kein wesentliches Ergebnis erzielt worden sei, da die Steuerung des genetischen Programms der so gewonnenen Zellen defekt sei. Dies stelle auch die Ursache dafür dar, warum von den koreanischen Forschern 242 Ausgangszellen und 30 erhaltene Blastozyten zur Gewinnung von lediglich einer einzigen Zell-Linie verbraucht worden seien: „Medizinisch ist es völlig inakzeptabel, eine Zelle mit gestörtem Erbprogramm zu verpflanzen.“ 27 Wiederum andere Zeitgenossen konnten sich zwar der apokalyptischen Qualifikation J. Heschelers anschließen, beurteilten die vermeintliche „Explosion“ aber keineswegs im positiven Sinne als Durchbruch, sondern – wie etwa der Mediziner und Sprecher der SPD in der parlamentarischen Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ W. Wodarg – negativ als einen historisch analogielosen Tabubruch: „Erstmals in der Geschichte der Menschheit wird damit menschliches Leben bewusst zum Zweck des Verbrauchs und der Vernutzung erzeugt. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass diese Ergebnisse ausgerechnet am 200. Todestag Immanuel Kants publiziert wurden, der durch seine praktische Philosophie den Grundstein des modernen Menschenwürde-Gedankens gelegt hat.“28 W. Wodarg konnte dem Hinweis, dass es sich bei dem koreanischen „Klon-Erfolg“ um therapeutisches und nicht reproduktives Klonen handle, hinsichtlich der Legitimation besagten Verfahrens keine ethische Plausibilität abgewinnen: „Die Idee zwischen Klonen und Klonen zu unterscheiden, erweist sich aber gerade mit den Forschungsergebnissen aus dem Fernen Osten einmal mehr als trügerisch. Die südkoreanischen Wissenschaftler haben die präzise Anleitung dafür geliefert, wie man menschliche Embryonen klont. Sie einer Frau zu implantieren und heranwachsen zu lassen, ist nun die leichteste Übung. Ein Bann, der nur das ‚reproduktive’, nicht aber das ‚therapeutische’ Klonen trifft, ist kein Verbot, einen geklonten Embryo zu implantieren und heranwachsen zu lassen. Da die Implantation für den Embryo die einzige Überlebenschance ist, wäre ein halbiertes Klonverbot nichts anderes als die Anweisung, geklonte Embryonen zu vernichten.“ 29 Die Forderung einer einseitigen internationalen Ächtung des reproduktiven Klonens überzeugte W. Wodarg ebenso wenig wie der Hinweis der südkoreanischen Forscher, ihr Ziel sei es nie gewesen, Babys zu klonen 30, sondern die Ursachen von Krankheiten zu verstehen, 27 Ebd. W. WODARG, Die koreanische Lüge. Was die Klon-Forscher verschweigen, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 37 vom 14./15.02.2004, 11. 29 Ebd. 30 Vgl. H. WORMER, „Unser Ziel ist es nicht, Babys zu klonen“, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 37 vom 14./15.02.2004, 5. 28 8 da auch beim „Forschungsklonen“ von Embryonen zu therapeutischen Anwendungszwecken de facto genetisch identische Menschen hergestellt würden: „Ohnehin ist die Abgrenzung des ‚reproduktiven’ gegen das ‚therapeutische Klonen’ ideologisch schon höchst aufgeladen. Denn was geschieht beim sogenannten ‚therapeutischen Klonen’? Da wird ein Embryo – ein Mensch in der frühsten Phase seiner Existenz – geschaffen, um ihn zu Forschungs- oder Therapiezwecken sofort wieder zu vernichten. Wird dabei etwa kein Mensch ‚reproduziert’?“ 31 In dem dargestellten Argumentationsgang wird der „bioapokalyptische“ Argumentationstyp der Gegner bestimmter biomedizinischer Praktiken m.E. hinreichend transparent: Weil de facto beim Versuch therapeutischen Klonens verbrauchende Stammzellenforschung und damit die Vernichtung menschlichen Lebens – nämlich der geklonten Embryonen nach Entnahme der Stammzellen – vollzogen werde, könne die Artikulation der Inakzeptanz bzw. strikten Ablehnung eines solchen moralisch verwerflichen Verfahrens nur zum äußersten Ausdrucksmittel greifen. Denn wo es, wie beim therapeutischen Klonen, um die Freigabe von Tausenden von Embryonen zur Tötung gehe, da sei sprachlich zwar nicht jedes, aber doch zumindest das Mittel des Rekurses auf die Äonenwende recht. Kennzeichnend für die Apokalyptik im Sinne einer weltanschaulich-theologischen Geistesströmung ist u.a. die Botschaft vom Ende des jetzigen Äons. Genau auf dieses Ende rekurrieren vielfach verschiedene Gegner bestimmter biotechnischer Anwendungen und Verfahren wie beispielsweise des therapeutischen Klonens und/oder der verbrauchenden Stammzellforschung. Befürchtet wird, dass sich durch die Vernichtung menschlichen Lebens jene kosmische Katastrophe ereignet, die den Zeitpunkt des Weltendes bedeutet. Das Weltende in Ge-stalt der Vernichtung menschlichen Lebens beschreibt gleichsam den moralischen Tod der Spezies bzw. des Gattungswesens „Mensch“, also gleichsam den ethisch eindeutigen Supergau. Die für die Apokalyptik typische Kontrastierung von gegenwärtigem und neuem Äon schlägt sich auch in der bewussten Stilisierung des schroffen Gegensatzes von „natürlichem“ und „biotechnischem“ Zeitalter nieder: Die jetzige Zeit sei die „Wendezeit“, in welcher sich der endgültige „Verlust“ von Humanität bzw. ihrer disparaten Relikte ereigne oder eben nicht. Die Alternative zwischen positiver und negativer Eugenik 32, biologischer Selektion und natürlicher Auslese, Zeugung in vivo und in vitro etc. stehe für die Menschheit am 31 W. WODARG, a.a.O., 11. Vgl. zur Differenz zwischen positiver und negativer Eugenik H. JONAS, Technik, Medizin und Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a.M. 1985, 175ff. 32 9 Scheideweg mit der Einführung besagter Biotechnologien auf dem Spiel. Denn mit dem alles entscheidenden nächsten Schritt könne der Weg in die irreversible Katastrophe angetreten und diese somit real werden, wenn man sie nicht durch gegenläufige rechtliche Regelungen wie etwa ein sofortiges weltweites Klonverbot verhindere. 1.4 Dammbruch, Rubikon, schiefe Ebene. Die „bioapokalyptische“ Metaphorik Immer wieder tauchen in diesem apokalyptischen Argumentationszusammenhang die Metaphern vom „Dammbruch“, vom „Überschreiten des Rubikons“ oder auch das Argument der schiefen Ebene („slippery slope“ 33) auf. Diesbezüglich kann als Beleg auf ein prominentes Beispiel verwiesen werden, nämlich die sog. Berliner Rede des verstorbenen Bundespräsidenten Johannes Rau (1931-2006) vom 18.05.2001. Im letzten Abschnitt seiner Rede „Wird alles gut? – Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß“ formuliert J. Rau sein vielbeachtetes Plädoyer für „Aufklärung“ in der gegenwärtigen biomedizinethischen Debatte: „Wir brauchen Aufklärung im besten Sinn des Wortes. Aufklärung richtet sich gleichermaßen gegen irrationale Ängste und apokalyptische Vorstellungen wie gegen pure technische Machbarkeits-phantasien“ 34. Obwohl J. Rau sich hier zweifelsfrei apokalyptik-kritisch äußert, schlägt sich in seinem Plädoyer für einen durch das „menschliche Maß“ begrenzten Fortschritt, der die als Ergebnis aufgeklärten Denkens und Handelns installierten Tabus anerkennt, interessanterweise ein auffälliger Gebrauch apokalyptischer Metaphorik nieder. So bemerkt J. Rau mit Blick auf das den Raum des wissenschaftlichen Fortschritts markierende Tabu: „Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon“ 35. Mehrfach gebraucht er auch das Argument der schiefen Ebene: „Wer einmal anfängt, menschliches Leben zu instrumentalisieren, wer anfängt zwischen lebenswert und lebensunwert zu unterscheiden, der ist in Wirklichkeit auf einer Bahn ohne Halt.“ 36 Auch hinsichtlich der umstrittenen Frage nach aktiver Sterbehilfe macht J. Rau gegenüber dem Argument, „man dürfe etwas nicht allein deshalb verbieten, weil es zu ungewollten schlimmen Konsequenzen oder auf eine schiefe Bahn führen könne“ 37, die Notwendigkeit einer Fehlentwicklungsprävention durch entsprechende Regelungen geltend. Und mit Blick auf die wachsende Zahl der Befürworter 33 eines reglementierten Einsatzes der Vgl. zum Slippery-Slope-Argument, wonach auf die Praxis oder die Entscheidung A zwangsläufig das fragwürdige B folgt, M. ZIMMERMANN-ACKLIN, Euthanasie. Eine theologisch-ethische Untersuchung, SThE 79, Freiburg i.Br. u.a. 1997, 351-417; G. DEN HARTOGH, The Slippery Slope Argument, in: H. Kuhse / P. Singer (Hg.), A Companion to Bioethics, Oxford / Malden 1998, 280-292. 34 J. RAU, Wird alles gut? – Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß, in: S. Graumann (Hg.), Die Genkontroverse. Grundpositionen, Herder spektrum 5224, Freiburg i.Br. u.a. 2001, (14-29) 29. 35 A.a.O., 18. 36 A.a.O., 26. 37 A.a.O., 24. 10 Präimplantationsdiagnostik (PID), d.h. der genetischen Untersuchung künstlich befruchteter Embryonen vor Einpflanzung in den Mutterleib, fragt J. Rau kritisch an: „Wäre eine solche Beschränkung einzuhalten, wenn die Erlaubnis einmal grundsätzlich gegeben ist? Widerspricht das nicht aller Lebenserfahrung? Und muss man deshalb nicht die Befürchtungen jener verstehen, die glauben, dass mit dieser neuen Form der Diagnostik die Tür geöffnet wird oder geöffnet werden soll zu ganz anderen Zielen?“ 38 Bereits zu Beginn der Rede eingeführt 39, steht J.W. Goethes „Zauberlehrling“ im Duktus des Argumentationsgangs Pate für die „apokalyptische“ Denkungsart. Das Beispiel der Berliner Rede J. Raus veranschaulicht somit: Wenn vom „Dammbruch“ oder vom „Überschreiten des Rubikons“ gesprochen oder auch das Argument der schiefen Ebene bemüht wird, dann geht es um mehr als lediglich jene Kritik, die sich auf die langfristigen negativen Folgen eines bestimmten Handelns beruft und etwa auf der Grundlage einer kulturpessimistischen Epochendiagnose eine gleichsam schleichende Unterminierung des Respekts vor menschlichem Leben zu bedenken gibt. Der Einwand gegen bestimmte biomedizinische Praktiken, der sich in diesem Metapherngebrauch manifestiert, rekurriert vielmehr auf ein apokalyptisches Paradigma, um jenes apokalyptische Finalbewusstsein zu wecken, das als Widerstandsgeist gegenüber besagten Innovationen moralisch Front macht. Wenn man etwa in Bezug auf das therapeutische Klonen apokalyptische Qualifikationen gebraucht, dann wird dieser Schritt als der alles entscheidende Schritt in die Unkalkulierbarkeit von Folgehandlungen charakterisiert 40. Um nicht missverstanden zu werden: Mir geht es hier weder um eine despektierliche Beurteilung der aufgeführten Positionen unter dem Kennzeichen „Apokalyptik“, noch um eine Abwürdigung des gesamten Phänomens „profane Apokalyptik“, so als wäre mit dieser Kennzeichnung bereits ein qualifiziertes Urteil über diesen Argumentationstyp gefällt bzw. eine ernste inhaltliche Auseinandersetzung hinsichtlich der Wertigkeit seiner Argumente 38 A.a.O., 22. Vgl. a.a.O., 14. 40 Für diese Argumentationsstrategie ist kennzeichnend, „dass sie aus einer einmal getroffenen Entscheidung eine unausweichliche Konsequenz weiteren Verhaltens ableite[t]. Die ethischen Deichwärter argumentieren auf die Zukunft bezogen. Aus einer ‚Heuristik der Furcht’ entwickeln sie ihren syllogismus practicus, der vom Überschreiten einer bestimmten Grenze auf eine nicht mehr aufzuhaltende Entwicklung hin zu moralisch fragwürdigen Praktiken schließt. Man unterstellt dabei, dass sich ein technisches Verfahren oder eine rechtliche Regelung in einer Weise verselbständigt, dass die Unterscheidungs- und Wahlmöglichkeiten zwischen legitimer und illegitimer Anwendung nicht mehr gegeben ist.“ P. DABROCK / L. KLINNERT, Würde für verwaiste Embryonen? Ein Beitrag zur ethischen Debatte um embryonale Stammzellen, Medizinethische Materialien 130, Bochum 2001, 6f. 39 11 erfolgt. Wenn hier der ethisch signifikante Begriff der „Apokalyptik“ als Deutungsrahmen für die biomedizinethische Debatte gebraucht wird, so handelt es sich zunächst um eine „rein“ deskriptive Erörterung eines bestimmten Argumentationstypus, der in der aktuellen biomedizinethischen Debatte häufig wiederkehrt. Im Zuge der Sichtung bzw. Erfassung des profanapokalyptischen Phänomens innerhalb der biomedizinethischen Debatte zeichnet sich dabei folgender Befund ab: Der bioapokalyptische Argumentationstyp wird interessanter Weise nicht nur von den Gegnern umstrittener Biotechniken (wie etwa der PID, des therapeutischen Klonens oder der Entwicklung von Heilverfahren mittels Zellkulturen aus embryonalen Stammzellen) bemüht, sondern cum grano salis auch und gerade von entschiedenen Befürwortern. So hat der ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, der Biologe H. Markl, am Ende seiner Ansprache „Freiheit, Verantwortung, Menschenwürde: Warum Lebenswissenschaften mehr sind als Biologie“ auf der Hauptversammlung besagter Gesellschaft am 22. Juni 2002 auf J. Raus Berliner Rede und dessen Rekurs auf die apokalyptische Metapher vom „Überschreiten des Rubikons“ repliziert: „Der Rubikon ist kein Fluß, jenseits dessen das Böse lauert; denn das Böse ist, wenn schon, dann längst immer mitten unter uns. Der Rubikon ist vielmehr ein Fluß, dem der Mensch selbst ein neues Flußbett bahnt, weil er das Vertraute vom Unverschlossenen trennt, und den wir deshalb nur wohlbedacht und mit Verantwortung für unser Handeln überschreiten sollten. Aber wir sollten auch nicht vergessen: Rom liegt auch künftig jenseits des Rubikon, und Cäsar hat ihn erfolgreich überschritten. Denn der Mensch ist seit jeher ein Wesen, das seine Grenzen überschreiten muß, um ganz Mensch zu sein, und das sich dabei dennoch immer neue Grenzen setzen muß.“ 41 Wenn Befürworter umstrittener Biotechnologien wie H. Markl unter Berufung auf die Gewissensfreiheit des Einzelnen (als Signatur der Menschenwürde) und die Forschungsfreiheit der Wissenschaft ihr individualethisches Plädoyer formulieren und dabei auf apokalyptische Motivik bzw. Metaphorik zurückgreifen, so vollzieht sich dabei eine entscheidende Modifikation des dargestellten apokalyptischen Argumentationstyps: Aus der kupierten Apokalyptik der Befürworter wird gleichsam eine positive Utopie. Das Land jenseits des Rubikons ist nun nicht mehr im Sinne einer negativen Utopie der Ort der Katastrophe und des selbstverhängten Endgerichts, sondern der Ort der messianischen Erfüllung, sprich: der Ankunft des Erlösers. 41 H. MARKL, Schöner neuer Mensch?, München / Zürich 2002, 59f. 12 Auch die Befürworter arbeiten dabei zweifelsohne als „Apokalyptiker“ mit dem Dualismus von altem und neuem Äon. Gleichwohl vollzieht sich die Schilderung des schroffen Gegensatzes unter umgekehrten Vorzeichen. Idealtypisch dargestellt: Während die jetzige Zeit die Zeit der biotechnischen Entbehrungen, des Leidens, der Drangsal und des Wartens auf die Therapiemöglichkeiten für Alzheimer, Diabetes, Parkinson etc. ist, stellt sich der kommende Äon als Zeit der Überwindung dar. Mit Blick auf den progressiven Impetus dieser positiven Utopie fungiert anders als in der biblischen Apokalyptik nicht Gott, sondern der Mensch oder genauer der Biotechniker als Agens der Zeitenwende. Wie bereits in den expressionistischen Schilderungen des beginnenden 20. Jahrhunderts, während der „Krisenjahre der klassischen Moderne“ (D. Peukert), so schlägt sich auch hier die Neigung zur Selbstapotheose des Menschen nieder: „Sein ist die Kraft, das Regiment der Sterne. / Er hält die Welt, wie eine Nuß in Fäusten“ 42. Bis ins Titanische gesteigert, erhielt damals bereits die Idee des „neuen Menschen“ in appellativer Form ihre plakative Zuspitzung: „Zerbricht das Ungerechte aller Schöpfung, / Und alle Dinge werden Gott und eins“ 43. Oder mit dem jungen E. Bloch gesprochen: „Ich selbst bin aber, um zu schaffen.“44 In die Gegenwart übertragen, können so die Biotechniker als Avantgard der fundamentalen Erneuerung von Menschheit und Gesellschaft erscheinen. 1.5 Die Sloterdijk-Debatte Dass es sich bei dem apokalyptischen Pathos nicht um „oratorischen Leerlauf“ handelt, sondern zumindest partiell um intensives Engagement, wird an bestimmten Konstellationen des philosophischen Diskurses deutlich. Während etwa der jüdische Philosoph H. Jonas (1903-1993) von einer „Heuristik der Furcht“ 45 zum Gegenschlag eines neuen kategorischen Imperativs für die Menschheit angetrieben wurde 46, bemüht der Karlsruher Philosoph P. 42 So F. WERFEL in seinem Gedicht „Der gute Mensch“. Zit. nach K. Pinthus (Hg.), Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, Hamburg 1959, 275. 43 Ebd. Vgl. auch G. LANDAUER, Aufruf zum Sozialismus, hg. v. H.-J. Heydorn, Frankfurt a.M. 1967, 66f.: Die „Menschheit“ „will sich schaffen“, in einer geschichtlichen Situation, „wo gewaltige Erneuerung über das Menschentum kommen muß, wenn nicht der Beginn der Menschheit ihr Ende sein soll“. 44 E. BLOCH, Geist der Utopie (1923), Frankfurt a.M. 1973, 210. 45 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M. 1979, 63. 46 H. JONAS, Prinzip, 36, entwirft einen neuen kategorischen Imperativ gesamtmenschheitlicher Verantwortung: „‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden’; oder negativ ausgedrückt: ‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens’; oder einfach: ‚Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden’; oder, wieder positiv gewendet: ‚Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein’.“ Den Hintergrund von H. Jonas’ neuem kategorischen Imperativ bildet die apokalyptische Überzeugung, dass „[d]ie moderne Technik [...] Handlungen von so neuer Größenordnung, mit so neuartigen Objekten und so neuartigen Folgen eingeführt [hat], daß der Rahmen früherer Ethik sie nicht fassen kann.“ A.a.O., 26. 13 Sloterdijk jenen anderen säkularapokalyptischen Argumentationstyp, der statt der Warnung vor dem das Weltende bedeutenden neuen Äon die Grenzüberschreitung propagiert. In seiner umstrittenen Elmauer Rede „Regeln für den Menschenpark“, die den Ausgangspunkt für die sog. „Sloterdijk-Debatte“ 47 bildete, wird dies anschaulich. Da der abendländische Humanismus als vergeblicher Versuch der Selbstzähmung des „nicht festgestellten Tieres Mensch“ gescheitert sei, plädiert Sloterdijk – M. Heidegger, F. Nietzsche und Platon bemühend – angesichts der neuen Biotechnologie für Selbstzüchtung statt Selbstzähmung. An die Stelle des alten Menschenbildes soll ein neuer „Codex der Anthropotechniken“ 48, an die Stelle des alten Menschen ein neuer Übermensch, ein „ÜberHumanist“ 49, treten: „Da bloße Weigerungen oder Demissionen an ihrer Sterilität zu scheitern pflegen, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren.“ 50 Der neue Äon wird unter Aufnahme Heideggerscher Terminologie als die „Lichtung“ des evolutionären Horizontes beschrieben: „Ob [...] die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird – ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können – dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.“ 51 P. Sloterdijk versteht den neuen Äon der Lichtung des evolutionären Horizontes allerdings insofern nicht als ein kontingentes Geschehen, als dass er sie als logische Fortsetzung unserer Zivilisationsgeschichte auffasst 52. Im anthropotechnischen Zeitalter werde der Mensch 47 Vgl. H.-U. NENNEN, Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk-Debatte: Chronologie einer Inszenierung. Über Metaphernabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse, Würzburg 2003. 48 P. SLOTERDIJK, Das Menschentreibhaus. Stichworte zur historischen und prophetischen Anthropologie. Vier große Vorlesungen, Medien 5, hg. v. C. Pias u.a., Weimar 2001, 12f., bemerkt retrospektiv zum Ausdruck „Anthropotechnik“: „Dieser Terminus wurde jüngst in einer umfangreichen Debatte als Synonym für das Konzept einer zentralisierten, strategisch planenden Humanbiotechnik mißverstanden und mit den Erregungen aufgeladen, die sich in einer quasi religiös motivierten Schlacht um den Menschen melden können. Hingegen steht der Ausdruck Anthropotechnik für ein klar umrissenes Theorem der historischen Anthropologie: nach ihm ist der Mensch von Grund auf ein Produkt und kann daher in den engen Grenzen bisherigen Wissens nur verstanden werden, wenn man seinem Produktionsverfahren analytisch nachgeht [...]. Die menschliche Kondition ist durchwegs Produkt und Resultat“. 49 Vgl. ders., Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M. 1999, 54. 50 A.a.O., 45. 51 A.a.O., 46f. 52 In puncto „Kontinuität“ wird eine Differenz zur Apokalyptik des Judentums ansichtig, zumal nach deren Vorstellung „die alte Welt [...] erst vergehen [muß], bevor die neue Welt Gottes in Erscheinung tritt. Es gibt zwischen beiden keine Kontinuität [...]. In diesem und aus diesem Äon [ist] das Heil nicht zu erwarten“. P. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin / New York 1975, 491. 14 unabweislich in die Rolle des Selektors gedrängt 53. Eine gentechnische Veränderung des Menschen sei in Zukunft unumgänglich. Der neue Äon trägt nach Sloterdijk die Signatur der aktiven und subjektiven Selektion durch den Menschen 54. Sloterdijks Blick streift den neuen Äon, in dem Humanismus endgültig passé sei und Unrecht und Ungerechtigkeit keinen Skandal mehr darstellten. Seine Vorausschau in den neuen Äon des „biotechnische[n] Zeitalters“ fördert zu Tage, dass vor uns ein Weltalter liege, „in dem der Unterschied zwischen Siegern und Verlierern“ wieder mit „antiker Härte und vorchristlicher Unbarmherzigkeit an den Tag tritt.“ 55 Am vermeintlichen Ende der Ära des neuzeitlichen Humanismus angelangt, misst Sloterdijk der Jetztzeit besondere Bedeutung bei, insofern „die nächsten langen Zeitspannen für die Menschheit Perioden der gattungspolitischen Entscheidungen sein werden.“ 56 So wie es für die urchristliche Apokalyptik „trotz aller erfahrbaren und noch bevorstehenden Katastrophen bereits einen Heilsanbruch in der Gegenwart gibt“ 57, so fällt auch für Sloterdijk das Ende (der humanistischen Ära) mit dem Heilsanbruch des biotechnischen Zeitalters zusammen: „Endgültiges Heil gibt es nicht erst in einer noch fernen oder schon nahen Zukunft, sondern es bricht bereits in der Gegenwart und mitten in der noch bestehenden Welt an.“ 58 Die apokalyptisch qualifizierte Einschätzung der Jetztzeit teilt P. Sloterdijk mit seinem Antipoden J. Habermas, wenngleich dieser sie – im Unterschied zu Sloterdijk – nicht unter positivem, sondern unter negativem Vorzeichen sieht 59. Habermas urteilt, dass mit der gentechnischen Manipulation menschlichen Erbgutes das ethische Selbstverständnis der Gattung auf dem Spiele stehe. Dies veranlasst den bekannten Sozialphilosophen und Diskurstheoretiker dazu, seine selbstauferlegte „postmetaphysische Enthaltsamkeit“ zu überwinden, zumal dieselbe dort an ihre Grenzen stoße, wo es um Fragen der Gattungsethik gehe: „Sobald das ethische Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger Subjekte im 53 Vgl. P. SLOTERDIJK, Regeln, 44. Vgl. a.a.O., 37: „Die Lichtung ist zugleich ein Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und der Selektion.“ 55 P. SLOTERDIJK in den „Tagesthemen” der ARD, zit. nach T. ASSHEUER, Was ist deutsch? Sloterdijk und die geistigen Grundlagen der Republik, „Die Zeit“ vom 30.09.1999. 56 P. SLOTERDIJK, Regeln, 45f. 57 F. HAHN, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung, BThSt 36, Neukirchen-Vluyn 1998, 4. 58 A.a.O., 6. 59 H. KRESS, Medizinische Ethik. Kulturelle Grundlagen und ethische Wertkonflikte heutiger Medizin, Stuttgart 2003, 12, kennzeichnet J. Habermas’ Rede von der „liberalen Eugenik“ als Drohgebärde bzw. seine biomedizinethischen Entwurf als „negative Vision“. 54 15 Ganzen auf dem Spiel steht, kann sich die Philosophie inhaltlichen Stellungnahmen nicht entziehen.“ 60 Durch die Möglichkeiten der Gentechnik sieht Habermas diese Situation gegeben, in der ein Mensch für einen anderen irreversible Entscheidungen treffen könne, die dessen organische Anlagen fundamental betreffen und „die unter freien und gleichen Personen bestehende Symmetrie der Verantwortung“ 61 einschränken würden. Anders als Sloterdijk, der nicht ethisch argumentiert, sondern den Unterschied zwischen gen-technisch Machbarem und gen-ethisch Gewünschten assoziativ überspielt und damit das „Bedingungsverhältnis zwischen Moral und Züchtung auf den Kopf stellt“ 62, urteilt Habermas aus diskursethischer Perspektive im Blick auf die verbrauchende Embryonenforschung: „[M]it der Instrumentalisierung des vorpersonalen Lebens [steht] ein gattungsethisches Selbstverständnis auf dem Spiel, das darüber entscheidet, ob wir uns auch weiterhin als moralisch urteilende und handelnde Wesen verstehen können. Wo uns zwingende moralische Gründe fehlen, müssen wir uns an den gattungsethischen Wegweiser halten“ 63. 1.6 Die Apokalypse des „neuen Menschen“. Das implizite Menschenbild biomedizinischer Forschung und die Leitbildfunktion der Rede vom „neuen Menschen“ Sloterdijk spielt mit seinen postethischen und posthumanen Gedanken zum „Menschenpark“ auf ein neues, verbindliches Weltbild an. In ihm kommt – wie Sloterdijks ungehemmt visionäre Apologetik der Menschenzüchtung verrät – dem Übermenschen entscheidende Bedeutung zu. Bei aller berechtigten Kritik an Sloterdijks Ausführungen wird man ihm zugestehen müssen, dass es ihm bis in die Platon extemporierenden, die Aura antiker und elitärer Erhabenheit verbreitenden Schlusspassagen seiner Elmauer Rede hinein gelingt, dasjenige kenntlich zu machen, worum es so manchem – wenngleich vielfach auch nur nolens volens – in der biomedizinethischen Debatte der Gegenwart geht. Es geht, wie Sloterdijk explizit bemerkt, um „eine Anthropodizee – das heißt eine Bestimmung des Menschen angesichts seiner biologischen Offenheit und seiner moralischen Ambivalenz.“ 64 60 J. HABERMAS, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M. 2002, 27. 61 A.a.O., 31. 62 So E. TUGENDHAT, Es gibt keine Gene für die Moral. Sloterdijk stellt das Verhältnis von Ethik und Gentechnik schlicht auf den Kopf, „Die Zeit“ vom 23.09.1999. Vgl. R. SPAEMANN, Wozu der Aufwand? Sloterdijk fehlt das Rüstzeug, in: ders., Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, 406410. 63 J. HABERMAS, a.a.O., 121. 64 P. SLOTERDIJK, Regeln, 19. 4 16 Hinsichtlich dieser Benennung des mehr oder weniger latenten Gegenstandes der ethischen Auseinandersetzung mit den modernen Lebenswissenschaften stimmt Sloterdijk mit der Einschätzung des Berliner Bischofs und EKD-Ratsvorsitzenden W. Huber überein, der die Frage nach dem Menschenbild, an dem wir uns biomedizinethisch orientieren wollen, als die Zentralfrage bezeichnet: „Auf ihre Weise wird die Frage nach unserem Bild vom Menschen die entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts sein.“ 65 Wenn es um konkrete biopolitische Entscheidungen, etwa die Zulassung der PID, geht, dann steht in der Tat das humane Selbstbild bzw. Selbstverständnis zur Debatte. So wirft die PID die Frage auf, an welchem Selbstbild und welchen Kriterien sich Menschen orientieren, wenn bei einem im Reagenzglas befindlichen Embryo eine nicht therapierbare Krankheit diagnostiziert wird und eine Entscheidung über dessen „Schicksal“ ansteht 66. Mit derartigen biopolitischen Entscheidungen erhält das gesellschaftliche Menschenbild nolens volens neue Kontur. Wir werden so mit Problemen konfrontiert, die eine metaphysische Situation bedingen. Sie resultiert nach H. Jonas aus dem apokalyptischen Potential der Technik, das die metaphysische Frage aufwirft, „mit der die Ethik nie zuvor konfrontiert war, nämlich, ob und warum es eine Menschheit geben soll; warum daher der Mensch, so wie ihn die Evolution hervorgebracht hat, erhalten bleiben, sein genetisches Erbe respektiert werden soll.“ 67 Mit den aktuellen biopolitischen Entscheidungen stolpern wir, so Jonas, „in weit offene und gänzlich metatechnische Fragen, sobald wir uns erkühnen, ‚schöpferische’ Hand an die physische Konstitution des Menschen selbst zu legen. Sie alle kulminieren in der einen Frage: nach welchem Leitbild?“ 68 Alle biotechnische Forschung operiert mit Anwendungszielen, auf die die Wahl der zur Erreichung dieses Ziels brauchbaren Methoden abgestimmt wird. Diese Anwendungsziele sind nicht einfach nur von der operationalisierenden Vernunft exakt vorgezeichnet, sondern sie basieren auf einem impliziten Menschenbild. Dieses gilt es explizit zu machen. Denn es bedarf der Verständigung darüber, welches Leitbild vom gelingenden Leben und von einer lebenswerten Welt im Blick auf die Zukunft des Menschen für wünschenswert erachtet wird. Wird eine Welt imaginiert und projektiert, in der es Raum gibt für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und in der es vielleicht mehr noch als Raum für sie gibt, nämlich Liebe für die, die unter ökonomischen Gesichtspunkten nutzlos, als 65 W. HUBER, Der gemachte Mensch. Christlicher Glaube und Biotechnik, Berlin 2002, 79. Vgl. zur PID W. HÄRLE, Gefährliche Schritte. Warum man auf die Legalisierung der Präimplantationsdiagnostik verzichten sollte, Zeitzeichen 6/2004, 12-14; H.G. ULRICH, Leben als Humanum oder Leben aus dem Humanpool?, in: V. Hörner / K. Patzer (Hg.), Optionen für eine Medizin der Zukunft? Präimplantationsdiagnostik und Stammzellforschung, Speyrer Texte 6/2001, 66-87. 67 H. JONAS, Technik, 48. So auch a.a.O., 10.12.15.61.103.153.157 u.ö. 68 A.a.O., 170. 66 17 „finanzielle Belastung für den Sozialstaat“ erscheinen? Oder eine Welt, die von „unnötigen“ Behinderungen dadurch befreit wird, dass man pränatale Selektion walten lässt? Zur Klärung dieser grundlegenden Fragen bedarf es nach H. Jonas der „Bedrohung des Menschenbildes – und durchaus spezifische[r] Arten der Bedrohung – um uns im Erschrecken davor eines wahren Menschenbildes zu versichern. Solange die Gefahr unbekannt ist, weiß man nicht, was es zu schützen gibt und warum“ 69. Deshalb gilt es – so H. Jonas – das apokalyptische Potential der Biotechnik kenntlich zu machen, wobei seine an den vorhandenen Gefahren und Ängsten orientierte Ethik die Maxime ausgibt, „dass der Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben ist als der Heilsprophezeiung.“ 70 Der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft W. Frühwald hat die aktuelle biomedizinethische Kontroverse dahingehend charakterisiert, dass sie „zu einer Auseinandersetzung um ein christliches, zumindest kantianisches Menschenbild auf der einen und ein szientistisch-sozialdarwinistisches Menschenbild auf der anderen Seite geworden“ 71 sei. Ob diese bipolare Zuordnung im Blick auf die aktuelle Diskurskonstellation eine unzulässige Simplifikation darstellt oder nicht, ist umstritten und mag hier dahingestellt sein 72. Dass sie jedoch in Bezug auf die Beschreibung der vermeintlichen Frontlinie mit einem Dualismus arbeitet, der in formaler Hinsicht für apokalyptische Vorstellungen typisch ist, dies dürfte ebenso unumstritten sein, wie das „Dass“ des Herausgefordertseins von (Christen- und sog. „Welt“-)Menschen hinsichtlich ihres Menschenbildes 73. Virulent ist – mit anderen Worten – die Frage: Wie sieht der wahre Mensch aus? Entspricht die Figur des „neuen Menschen“, wie sie implizit so mancher biotechnischen Anwendungen zugrunde liegt und wie sie bisweilen unverhohlen als Zielpunkt einer „neuen Zeit“ mit „neuen Werten“ anvisiert wird, der biblischen Vorstellung vom „neuen Menschen“? Wie verhält sich die christliche Erlösungshoffnung, die sich auf einen neuen oder erneuerten Menschen stützt, zu jenen entscheidenden Veränderungen, die in der Moderne einsetzten und bis in die spät69 Ders., Prinzip, 63. Dort z.T. kursiv. A.a.O., 70. Dort z.T. kursiv. 71 Zit. nach W. HUBER, a.a.O., 27. 72 U.H.J. KÖRTNER, Der gerechtfertigte Mensch. Die reformatorische Anthropologie aus heutiger Sicht, in: ders., Freiheit und Verantwortung. Studien zur Grundlegung theologischer Ethik, SThE 90, Freiburg u.a. 2001, (57-68) 57, weist darauf hin, „dass die Rede von dem christlichen Menschenbild eine Vereinfachung darstellt. Es gibt gewiss grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen den christlichen Konfessionen, was die Sicht des Menschen, seiner Größe und seines Elends, seiner Bestimmung, seiner Not und Verheißung betrifft. Doch zwischen den Sichtweisen der großen christlichen Traditionen bestehen durchaus signifikante Unterschiede. Damit hängt zusammen, dass die Antworten der Kirchen und der einzelnen Christen in ethischen Fragen durchaus unterschiedlich ausfallen können. Die christliche Sicht des Menschen weist also eine gewisse Pluralität auf, die z.T. sogar quer zu den Konfessionen besteht. Insofern ist es sachgemäßer, statt von dem christlichen Menschenbild von christlichen Menschenbildern im Plural zu sprechen.“ 73 H. BEDFORD-STROHM, Biotechnologie und christliches Menschenbild, DtPfrBl 100 (12/2000), (669-672), 670, formuliert zugespitzt: „Es geht in den Debatten um die neuen Möglichkeiten der Biotechnologie tatsächlich um den Versuch einer grundlegenden Verschiebung in dem bisher in unserer Kultur geltenden Bild des Menschen.“ 70 18 oder postmoderne Gegenwart anhalten? 74 Ist ihr „neuer Mensch“ der säkularisierte „neue Adam“ der christlichen Heilsbotschaft? Oder repräsentiert der biblische „neue Mensch“ den segregierten „alten Adam“ eines neuen Zeitalters? Stehen die säkular-apokalyptischen Hoffnungen auf einen neuen Menschentyp in Kontinuität und Kompatibilität zur biblischen Rede vom „neuen Menschen“? Bilden sie dessen profanmessianische Prolongatur? Gibt es vielleicht theologisch qualifizierte Gründe dafür, im Blick auf die biblische Rede vom „neuen Menschen“ dem Streben nach einer „anthropologischen Revolution“ (E. Gentile) zu entsprechen? Zur Beantwortung dieser Fragen, die hier mit P. Sloterdijk zur Frage zusammengefasst werden, „wie der Mensch zu einem wahren oder wirklichen Menschen werden könne“ 75, bedarf es der Sichtung der urchristlichen Apokalyptik und ihrer Rede vom „neuen Menschen“. 2. DIE APOKALYPSE DER NEUEN SCHÖPFUNG. ZUR PAULINISCHEN REDE VOM „NEUEN MENSCHEN“ 2.1 Die paulinische Modifikation der Zwei-Äonen-Lehre als apokalyptischer Referenzrahmen der Rede vom „neuen Menschen“ Nicht nur die Reich-Gottes-Predigt Jesu trägt apokalyptische Züge. Apokalyptische Vorstellungen finden sich ebenso wenig ausschließlich in der Johannesapokalypse, sondern schon in den synoptischen Evangelien und bei Paulus, wobei das Denken der zeitgenössischen jüdischen Apokalyptik dort wohlgemerkt entscheidend modifiziert wird 76. Die Modifikation, die keineswegs gleichzusetzen ist mit einer „Entapokalyptisierung“, resultiert aus der Zuordnung des traditionellen apokalyptischen Gedankenguts zum Christusgeschehen, wonach Kreuz und Auferweckung Jesu Christi ein die Welt grundlegend und endgültig umwandelndes 74 Nach G. KÜENZLEN, Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt a.M. 1997, 20, besagen diese Veränderungen: „Der Mensch wird [...] als durch die gesellschaftlichen Kräfte herstellbar, planbar und in der Vorstellungswelt einiger Strömungen auch biologisch züchtbar gedacht.“ 75 P. SLOTERDIJK, Regeln, 19. 76 Vgl. M. HENGEL, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, WUNT 141, Tübingen 2002, 302-417, der die apokalyptischen Voraussetzungen des paulinischen Denkens und deren Bedeutung für die futurische Eschatologie des Paulus rekonstruiert. Hengel sieht die paulinischen Parusietexte (1Thess 4,13-5,11; 1Kor 15; 2Kor 4,16-5,10; Phil 3,20f.; Röm 8,18-25) traditionsgeschichtlich in den synoptischen Evangelien bzw. beim „historischen Jesus“ (vgl. Mk 13,28-32; Lk 17,22-24.26-30.34-37 = Mt 24,23.26-28.40f.) verankert. Anders U.B. MÜLLER, Apokalyptische Strömungen, in: ders., Christologie und Apokalyptik (GAufs), ABG 12, Leipzig 2003, 223-267, bes. 232ff. Auch J. BAUMGARTEN, Paulus und die Apokalyptik. Die Auslegung apokalyptischer Überlieferung in den echten Paulusbriefen, WMANT 44, Neukirchen-Vluyn 1975, 234, mit dem sich M. Hengel auseinandersetzt, spricht im Blick auf die paulinische Eschatologie von einem „Bruch mit der Apokalyptik“. 19 Heilsgeschehen sind. Die paulinische Ethik ist apokalyptisch grundiert. Der Neutestamentler R.B. Hays bemerkt treffend: „According to Paul, the death and resurrection of Jesus was an apocalyptic event that signaled the end of the old age and portended the beginning of the new. Paul’s moral vision is intelligible only when his apocalyptic perspective is kept clearly in mind: the church is to find its identity and vocation by recognizing its role within the cosmic drama of God’s reconciliation of the world himself. […] The image of ‘new creation’ belongs to the thought-world of Jewish apocalypticism.” 77 Was die paulinische Rezeption jüdischer Apokalyptik angeht, so rekurriert Hays auf die gängige These, wonach Paulus die apokalyptische Zwei-Äonen-Lehre 78 kritisch aufgenommen hat. Der Dualismus der zwei Äonen ist der „wesentlichste Grundzug“ 79 der jüdischen Apokalyptik. Für Paulus gehört – wie Hays betont – das apokalyptische Motiv der neuen Schöpfung (2Kor 5,17; Gal 6,15) genau in den Zusammenhang der Rezeption dieser zentralen Vorstellung. Dass Paulus apokalyptische Vorstellungen benutzt, um der christologisch begründeten Hoffnung von Christenmenschen Ausdruck zu verleihen, wird nach Hays im Kontext der Erwartung von Christi Parusie (vgl. 1Thess 4f.; 2Kor 5; Röm 8) evident. Paulus kann den Gedanken der zwei Weltzeiten aufnehmen (2Kor 5,17; Gal 1,4) und von der Vollendung der Zeiten reden (Gal 4,4), wobei ihm zufolge die erwartete „Äonenwende“ nicht erst am Ende aller Tage geschieht, sondern im Geschehen von Kreuz und Auferweckung bereits geschehen ist und infolgedessen jetzt schon gilt. Mitten in dieser unerlösten, ihrem Ende entgegeneilenden Welt gibt es gemäß der überlappenden Gleichzeitigkeit von altem, sukzessive absterbendem Äon und neuem, bereits begonnenem Äon, welche für die Dialektik des „schon jetzt“ und „noch nicht“ konstitutiv ist, „die neue Schöpfung“: „Ist jemand in Christus – neue Schöpfung“ (2Kor 5,17; vgl. Jes 65,17-19) 80. Hays, der die paulinische Eschatologie in einem apokalyptischen Referenzrahmen entfaltet sieht 81 und diesbezüglich von „Paul’s vision of Christian existence between the times” 82 77 R.B. HAYS, The Moral Vision of the New Testament. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, New York / San Francisco 1996, 19f. 78 Vgl. 4Esr 1,50; 7,50; 8,1; grHen 66,6; syrBar 15,7f.; 44,8-15. 79 So P. VIELHAUER, Einleitung, in: E. Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hg. v. W. Schneemelcher, Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 31964, (407-422) 412. 80 Dass Paulus in 2Kor 5,17 auf die jüdisch-apokalyptische Zwei-Äonen-Lehre rekurriert und sich hier in einem genuin apokalyptischen Deutungsrahmen bewegt, betonen u.a. V.P. FURNISH, II Corinthians, AncB 32A, Garden City (NY) 1984, 332; E. GRÄSSER, Der zweite Brief an die Korinther Kapitel 1,1-7,16, ÖTK 8/1, Gütersloh / Würzburg 2002, 223; CHR. WOLFF, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 8, Berlin 1989, 127. 81 So R.B. HAYS, a.a.O., 27. 82 A.a.O., 25. 20 sprechen kann, kommentiert diesen Vers wie folgt: „[T]he new creation is not just a future hope, as in most forms of Jewish apocalyptic thought; rather, the redemptive power of God has already broken into the present time, and the form of this world is already passing away.” 83 Paulus sieht in der „neuen Schöpfung“ eine gegenwärtige Realität 84, die er freudig jubelnd begrüßt 85. Der an der neuen Schöpfung teilhabende Mensch, der „im Geist“ 86 bereits präsentisch der „neue Mensch“ ist – er ist der wahre Mensch. 2.2 Der neue Mensch als Gottes Ebenbild Wie aber sieht die „neue Schöpfung” nach Paulus aus, an der der in bestimmter Weise qualifizierte Mensch partizipiert und insofern als „neuer Mensch“ identifiziert werden kann? Der „neue Mensch“ staunt mit Paulus über das unbegreifliche Neuschöpfungswunder: „Nicht ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Der „neue Mensch“ hat demnach sein wahres Sein außerhalb seiner selbst, extra se in Christo 87. Das „Ich“ des „neuen Menschen“ kann in seiner geschichtlichen Daseinsstruktur nur „christologisch“ erfasst werden, da Christus selbst die Person des „neuen Menschen“ ist 88. Die Menschwerdung des Menschen gehört somit in die Christologie hinein. Eine die Geschöpflichkeit des Menschen fokussierende theologisch-ethische Grundlagenreflexion wäre unter Absehung von Christus (remoto Christo) eine konzeptionelle Verfehlung, die geradezu zwangsläufig eine defizitäre Anthropologie und Schöpfungstheologie evozierte. Die Wirklichkeit des „neuen Menschen“ würde anders als in christologischer Rede verfehlt. Denn der „neue Mensch“ lebt „in Christus“ bzw. in dessen Geist. Luther kann etwa „die christologischen Aussagen von Phil 2,5ff. unmittelbar auf das Sein (nicht auf die ‚Ethik’, wie man im Neuprotestantismus gemeint hat) des Christenmenschen anwende[n] und ihn selbst um der lebendigen Präsenz Christi in ihm willen, die ihn ganz umfaßt und erfüllt, als einen ‚Christus’ für seinen ‚Nächsten’ anspr[echen]. ‚Christus in uns’ heißt zugleich: ‚wir außer uns, d.i. in Christus’. Das reformatorische ‚in nobis’ sichert sich gegen das Mißverständnis, als ob wir da etwas in besitzende Verfügung bekommen hätten, durch den Hinweis auf das ‚extra nos’.“ 89 83 A.a.O., 21. CHR. WOLFF, a.a.O., 127, identifiziert in 2Kor 5,17 einen „Realis der Gegenwart“. Vgl. V.P. FURNISH, a.a.O., 333: „Paul can affirm that the new age has already broken in […], that the new creation is already a reality.” 85 V.P. FURNISH, a.a.O., 333, spricht von einem „exultant cry“. R.B. HAYS, a.a.O., 20, von „an exclamatory interjection”. 86 So O. WISCHMEYER, Physis und Ktisis bei Paulus. Die paulinische Rede von Schöpfung und Natur, ZThK 93 (1996), (352-375) 360. 87 Zum „in-Christo“-Motiv vgl. T.K. HECKEL, Die Identität des Christen bei Paulus, in: A. Deeg u.a. (Hg.), Identität. Biblische und theologische Erkundungen, BThS 30, Göttingen 2007, 41-65. 88 Vgl. E. WOLF, Politia Christi. Das Problem der Sozialethik im Luthertum, in: ders., Peregrinatio. Studien zur reformatorischen Theologie und zum Kirchenproblem, München 1954, (214-242) 229.241. 89 Ders., Sola Gratia? Erwägungen zu einer kontroverstheologischen Formel, in: ders., a.a.O., (113-134) 127. 84 21 Wenn vom „neuen Menschen“ in einem theologisch qualifizierten Sinne die Rede sein soll, gilt es das „extra nos“ der christlichen Identität in seiner inklusiven, die Identität des „neuen Menschen“ garantierenden Bedeutung zur Geltung zu bringen: „Das wirkliche und wahre Wesen des Menschen, das wir in den Augen und vor dem Angesicht Gottes sind – das ist in ihm in einem einzigartigen Augenblick Geschichte geworden, der Mensch ist erschienen. Seine Geschichte mit Gott und Gottes Geschichte mit ihm ist Ereignis geworden, und wir alle hängen von dort ab. Wir haben keine Geschichte mit Gott, abgesehen von dieser Mitte, von diesem Einen.“90 Deshalb ist „zuletzt und entscheidend im Spiegel des Christusgeschehens zu begreifen, was der Mensch ist.“ 91 In diesem Zusammenhang sei auf 2Kor 3,18 verwiesen 92, wo von der „Herrlichkeits-Metamorphisierung“ der Gläubigen gemäß dem Spiegelbild Jesu Christi die Rede ist. Diese geschieht durch die Wirksamkeit des Geistes 93: „Durch die unverhüllte Schau der doxa Jesu Christi aber werden die Schauenden – d.h.: die Jesus Christus als den Herrn Erkennenden – ‚in dasselbe Bild’ verwandelt’, so daß sie eine bleibende und unerschöpfliche Herrlichkeit empfangen. Gemeint ist: Sie werden ‚in Christus’ eine kainē ktisis – Menschen, die von ihrer alten, der Sünde verfallenen Existenz befreit und mit einer neuen, heilvollen Existenz beschenkt sind. Diese ‚Verwandlung’ aber ist das Werk des im Evangelium präsenten schöpferischen Geistes Gottes, der die Toten lebendig macht (3,6b).“ 94 Wenige Verse später greift Paulus im vierten Kapitel des zweiten Korintherbriefes die Wendung von „der Herrlichkeit des Herrn“ auf und bezeichnet Christus als das „Ebenbild Gottes“ (2 Kor 4,4). Daneben findet sich eine christologische Verortung des Imagogedankens auch in Kol 1,15 und – leicht terminologisch variiert, aber gleichwohl in synonymem Gebrauch – in Phil 2,6 und Hebr 1,3 95. Mit der Prädizierung Jesu Christi als Ebenbild Gottes 90 H.J. IWAND, Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit, Iwand Nachgelassene Werke N.F. Bd. 2, Gütersloh 1999, 377. 91 G. EICHHOLZ, Die Theologie des Paulus im Umriß, Neukirchen-Vluyn 71991, 14. 92 Vgl. R.B. HAYS, a.a.O., 24. 93 Vgl. E. WOLF, Sola Gratia, 126f. 94 O. HOFIUS, Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, in: ders., Paulusstudien, Tübingen 21994, (75-120) 116. 95 In Bezug auf die neutestamentliche Rede vom Bild Gottes unterscheidet J. JERVELL, Art. Bild Gottes 1. Biblische, frühjüdische und gnostische Auffassungen, TRE 6 (1980), (491-498) 494, zwischen drei Texttypen: „1. christologische Aussagen innerhalb von Hymnen und hymnenähnlichen Bekenntnisaussagen über Christus als Bild Gottes (II Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3; auch Phil 2,6); 2. anthropologische Aussagen über den christlichen Menschen als Gottes oder Christi Abbild, teils in paränetischen Texten, die wahrscheinlich dem Taufunterricht zuzurechnen sind (Kol 3,9; Eph 4,9), teils in belehrendem und verkündigendem Zusammenhang (II Kor 3,18; Röm 8,29; I Kor 15,49; vgl. Röm 1,23); 3. vereinzelt stehenden Aussagen in Texten paränetischen Charakters über den ‚natürlichen’ Menschen als Gottes Ebenbild (I Kor 11,7; Jak 3,9).“ So auch ders., Imago Dei. Genesis 1,26f. im Spätjudentum, in der Gnosis und in den paulinischen Briefen, FRLANT 58, Göttingen 1960, 8f. 22 bewegt sich Paulus im Raum der apokalyptischen Zwei-Äonen-Vorstellung, wie der Ausdruck „dieser Äon“ bzw. „Gott dieses Äons“ (= Satan) in demselben Vers (2 Kor 4,4) indiziert 96. Das Evangelium, das den Gekreuzigten und Auferstandenen proklamiert, bringt die wahre Offenbarung Gottes in der Herrlichkeit Jesu Christi zur Sprache. Die Wendung „Ebenbild Gott“, die auf Jesus Christus referiert, unterstreicht in diesem Vers, dass Jesus Christus sowohl „Repräsentant Gottes“ 97 als auch „Repräsentant der erneuerten Menschheit“ 98 ist. Die altkirchlich ausgeprägte Zwei-Naturen-Lehre wird hier, wenn man so will, präformiert. Sie erweist sich als theologisch sachnotwendige Explikation im Begründungszusammenhang paulinischer Christologie 99. Nach der Zwei-Naturen-Lehre hat Gott innertrinitarisch in sich selbst das Bild seiner selbst im Sohn. Der ewige Sohn des Vaters ist „Abglanz seiner Herrlichkeit und Abdruck seines Wesens“ (Hebr 1,3). Neben dieser innertrinitarischen Verhältnisbestimmung, die mit der Prädikation Christi als Bild des Vaters die Gottheit Christi betont, tritt gemäß der ZweiNaturen-Lehre ein zweites Moment, nämlich die Menschheit Christi: Die neutestamentlichen Aussagen, die Christus das Ebenbild Gottes nennen, verkünden uns, „dass der Sohn gerade als der Menschgewordene Bild Gottes ist. Mit der Inkarnation wird das Bild Gottes im Bereich der Kreatur aufgerichtet. Der Mensch Jesus, der der ewige Sohn ist, ist auch als Mensch Bild Gottes.“ 100 Selbst wenn man in der Prädizierung Jesu Christi als Gottes Ebenbild im Unterschied zu diesen Ausführungen (etwa bezüglich Kol 1,15) eine Referenz auf den Erhöhten 101 oder gar Präexistenten 102 sehen wollte, so wäre doch festzuhalten: „Der Ermöglichungsgrund für die kühne Prädizierung Jesu Christi als Ebenbild Gottes ist in der Menschengestalt Jesu, im irdischen Weg Jesu zu suchen. Wenn Jesus Christus zum Spiegel göttlicher Herrlichkeit wird, dann hat die Aussage von seiner exklusiven Gottebenbildlichkeit tiefgreifende Auswirkungen auf das Verständnis der Doxa Gottes. Es ist der irdische Weg Jesu, der Gottes Herrlichkeit auf Erden abbildet. So stellt für Paulus der gekreuzigte Jesus als Träger von Gottes Herrlichkeit das christologische Fundament des Evangeliums dar.“ 103 96 So auch V.P. FURNISH, a.a.O., 247; E. GRÄSSER, a.a.O., 152; CHR. WOLFF, a.a.O., 85. So Chr. WOLFF, a.a.O., 86. 98 So H. WINDISCH, Der zweite Korintherbrief, KEK 6, hg. v. G. Strecker, Göttingen 91970, 137. 99 Treffend W. SCHOBERTH, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006, 129: „Die christologische Formel von Chalzedon, nach der Jesus Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch bekannt ist, hat demnach auch einen anthropologischen Sinn: Was der Mensch in Wahrheit ist, entscheidet sich theologisch an dem Christus, nicht schon in der Betrachtung und Analyse empirischen Menschseins.“ 100 So P. BRUNNER, Der Erstgeschaffene als Gottes Ebenbild, in: ders., Pro Ecclesia. GAufs zur dogmatischen Theologie, Berlin / Hamburg 1962, (85-95) 86. Dort z.T. kursiv. 101 So etwa E. LOHSE, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, KEK IX/2, Göttingen 1968, 84. 102 So etwa A. LINDEMANN, Der Kolosserbrief, ZBK.NT 10, Zürich 1983, 26. 103 So S. VOLLENWEIDER, Der Menschgewordene als Ebenbild Gottes. Zum frühchristlichen Verständnis der Imago Dei, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, WUNT 144, Tübingen 2002, (53-70) 62. 97 23 So gewiss das Bild Gottes in Jesus Christus infolge der unio hypostatica das Bild Gottes in Adam überragt, so gewiss hebt „diese einmalige, unaufhebbare Besonderheit [...] die Tatsache nicht auf, daß in dem Menschen Jesus das Geschöpf vor uns steht, das Bild Gottes ist und daher unbeschadet seiner bleibenden Kreatürlichkeit in den Grenzen der Kreatürlichkeit die Wirklichkeit göttlichen Gottebenbildlichkeit Wesens verweist vollgültig damit auf die repräsentiert.“ 104 von E. Der Käsemann Topos der identifizierte Fundamentalaussage neutestamentlicher Apokalyptik: „Weil Christus den Schöpfer und das Geschöpf wiederzusammenführt, ist er unser Herr, meint sein Regiment Gnade für die, welche es annehmen, Gericht für die, welche sich ihm wiedersetzen.“ 105 Die Aussage, dass Paulus Jesus Christus als das Ebenbild Gottes bezeichnet und damit die Sichtbarkeit des unsichtbaren Gottes im Angesicht Jesu Christi benennt, identifiziert A. Schlatter als „den zentralsten Satz seiner [sc. Paulus’; M.H.] Theologie“ 106. Die Leben schenkende Erkenntnis Gottes ist nämlich für Paulus „die Erkenntnis Christi und seiner göttlichen doxa, – d.h. die Erkenntnis, daß er in einzigartiger Weise die eikōn Gottes ist, dass er – der Gekreuzigte und Auferstandene – der Kyrios ist und dass in ihm die Versöhnung der Welt mit Gott und also das Heil der verlorenen Menschen beschlossen liegt.“ 107 Wenn die beiden Verse Gen 1,26f. LXX Adam hinsichtlich seiner Funktion als die „Eikon Gottes“ bezeichnen, 2Kor 4,4 und Kol 1,15 hingegen Jesus Christus als dieselbe, so wird evident, dass die Prädikation Christi als Ebenbild Gottes das entscheidende Interpretament des Theologumenons von der Gottebenbildlichkeit ist 108. Eine theologische Anthropologie kommt demzufolge nicht ohne christologische Bezüge aus. Darauf verweist die neutestamentliche Rede von der Gottebenbildlichkeit Christi: „Meine Geschöpflichkeit – wir können auch mit der traditionellen Formel sagen – die Gottebenbildlichkeit des Menschen, kann ich nur von dem Menschen her bestimmen, der in einzigartiger Weise das Ebenbild des unsichtbaren Gottes genannt wird: Jesus Christus. Er ist der vere homo. An ihm geht mir erst auf, wer ich als Geschöpf sein sollte.“ 109 104 P. BRUNNER, a.a.O., 87. Nach E. KÄSEMANN, Der Ruf der Freiheit, Tübingen 51972, 240, führt Christus „Gott und Mensch als der Gekreuzigte zusammen“, nach P. Brunner tut er dies bereits als der Inkarnierte. Inkarnationschristologie und Kreuzestheologie müssen gleichwohl nicht miteinander konkurrieren, wie im Folgenden gezeigt wird. 106 A. SCHLATTER, Paulus, der Bote Jesu. Eine Deutung seiner Briefe an die Korinther, Stuttgart 51985, 528. 107 O. HOFIUS, Wort Gottes und Glaube bei Paulus, in: ders., Paulusstudien, Tübingen 21994, (148-174) 161. 108 Den engen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang mit Gen 1,26f. hat für 2Kor 3f. J. JERVELL, Imago Dei, 173ff., geltend gemacht. 109 W. KRECK, Grundfragen christlicher Ethik, KT 80, München 41990, 115. So auch W. SCHOBERTH, Einführung, 29.114. 105 24 Von Christus als dem Ebenbild Gottes her erweist sich die theologische Unabweisbarkeit des christologischen Reflexionsmotivs in Bezug auf die Anthropologie. Das wahre, Gottes Willen entsprechende Geschöpfsein, des Menschen Gottebenbildlichkeit, bliebe ansonsten unterbestimmt. Bereits J. Calvin weist auf diesen christologischen Erschließungszusammenhang hin: „Christus ist das vollkommenste Ebenbild Gottes, ihm sollen wir gleichgestaltet und dadurch derart erneuert werden, daß wir in wahrer Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Reinheit und Erkenntnis das Ebenbild Gottes tragen.“ 110 W. Niesel kommentiert diese Aussage Calvins treffend: „Er lenkt unsern Blick auf den zweiten Adam, auf Christus, der das vollkommenste Ebenbild Gottes ist. In Christus, dem Fleisch gewordenen Worte Gottes, erkennen wir, worin die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht. Das wahre Wesen des Menschen wird uns allein in ihm erschlossen.“ 111 Die Rede von der imago Dei ist für Calvin in noetischer Hinsicht exklusiv christologische Rede, weil die Bestimmung des Menschen zum Ebenbild Gottes nur dem zu entnehmen ist, was die Schrift von seiner Erneuerung durch Christus sagt. Das Theologumenon von der Gottebenbildlichkeit Jesu Christi besagt in anthropologischer bzw. schöpfungstheologischer Hinsicht, dass von einer Geschöpflichkeit des Menschen nicht im Sinne ontologischer Spekulation geredet werden soll, die die Relationalität des Menschen zum dreieinigen Gott ausblendet. Weil der Gott, den die alttestamentlichen Schöpfungsberichte preisen, kein anderer als der Gott des Paulus ist, deshalb ist die imago Dei-Qualifikation aus der Isolation einer letztendlich untrinitarisch ontologisierenden Wesensbestimmung zu befreien, in welche sie unter Ausblendung der pneumatologischen und christologischen Konstituenten der Gottebenbildlichkeit gelangt. 2.3 Ecce Homo – Das Kreuz Christi als Apokalypse des „neuen Menschen“ Das paulinische Denken hat nicht nur apokalyptische Voraussetzungen. Der verstorbene holländische, ehemals am Princeton Theological Seminary unterrichtende Theologe J.Chr. Beker 112 (1924-1999) lehrte die paulinische Theologie insgesamt als christologische 110 J. CALVIN, Institutio (1559) I,15,4. W. NIESEL, Die Theologie Calvins, München 21957, 68. Vgl. A.I.C. HERON, Homo Peccator and the Imago Dei according to Calvin, in: C.D. Kettler / T.H. Speidell (Hg.), Incarnational Ministry. The Presence of Christ in Church, Society and Family. Essays in Honor of R.S. Anderson, Colorado Springs 1990, 32-57. 112 Vgl. J.CHR. BEKER, Der Sieg Gottes. Eine Untersuchung zur Struktur des paulinischen Denkens, SBS 132, Stuttgart 1988; ders., Paul’s Apocalyptic Gospel. The Coming Triumph of God, Philadelphia 1984; ders., Paul the Apostle. The Triumph of God in Life and Thought, Edinburgh / Philadelphia 1980. Beker hat in methodologischer Hinsicht die linguistische „Transformationsgrammatik“ von N. CHOMSKY (vgl. ders., Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt a.M. 1972, 165-187) für das Verständnis des Corpus Paulinum durch die Unterscheidung zwischen Kontingenz und Kohärenz der paulinischen Theologie fruchtbar gemacht: „His 111 25 Reinterpretation der Apokalyptik zu begreifen 113, in deren Zentrum die Auferweckung des Gekreuzigten stehe. Beker zufolge ist das apokalyptische Geschichtsdenken für Paulus nicht von akzidentieller, sondern struktureller Bedeutung 114. Wie Beker gezeigt hat, avanciert die Apokalyptik bei Paulus zu einem Interpretament der Beschreibung des Triumphes Gottes im Christusgeschehen. Paulus unternimmt demzufolge eine apokalyptische Deutung des Christusgeschehens. Beker kann die apokalyptische Weltanschauung als das Kohärenz-Zentrum der paulinischen Theologie identifizieren 115. Das Geschehen von Kreuz und Auferweckung lässt sich ohne „Substanzverlust“ bzw. Verfälschung in der Tat nicht durch einen hermeneutischen „Trick“ von seinen apokalyptischen Koordinaten befreien 116. Freilich wird durch das Christusereignis die Struktur der jüdischen Apokalyptik verändert 117. Christi Kreuzestod bezeichnet die apokalyptische Krisis über alle Menschen, die auf das Ende der alten Weltzeit verweist, und seine Auferweckung wird von Paulus verkündigt als das sola gratia des neuen Lebens, als Anfang der neuen Schöpfung 118. Für solche, die sich dem apostolischen Christuszeugnis des Apostels Paulus verpflichtet wissen, bildet das Christusereignis das theologische Gravitationszentrum 119, ja „Kern und Stern“ biblischer Apokalyptik. Für die urchristliche Apokalyptik ist charakteristisch, dass in die Mitte aller die Wende von der alten Weltzeit zur neuen Schöpfung bekundenden Zeichen und Bilder der gekreuzigte und auferweckte Christus tritt: „In seinem Tod und in seiner Auferweckung ist die letzte (eschatologische) Wende geschehen – in Verborgenheit und Verkennung.“ 120 Dabei gilt es zu beachten, dass für die Apokalyptik, wie sie im Neuen Testament rezipiert wird, der auferweckte und erhöhte Jesus Christus zugleich immer auch der gekreuzigte Jesus Christus ist: „The Jesus of apocalyptic thought is crucified.“ 121 Die [Paul’s] hermeneutic consists in the constant interaction between the coherent center of the gospel and its contingent interpretation“. Ders., Paul, 11. So auch ders., Sieg, 21. Nach eigener Aussage folgt J.CHR. BEKER, Sieg, 62, in der Charakterisierung der Apokalyptik den Definitionen von P. Vielhauer und K. Koch und ihren Beschreibung der drei Wesensmerkmale der Apokalyptik: historischer Dualismus, Universalität und Naherwartung. Bei Paulus entdeckt Beker vier zentrale Motive der jüdischen Apokalyptik: „1. die Treue und Rechtfertigung Gottes, 2. die universale Erlösung der Welt, 3. die dualistische Struktur der Welt und 4. das bevorstehende Kommen Gottes in Herrlichkeit.“ A.a.O., 26. 113 Vgl. ders., Paul, 16f. 114 M. HENGEL, Paulus, 387f., fasst das paulinische Denken gar als „eine letzte himmelsstürmende Steigerung“ der Apokalyptik auf, die die Grenzen des bleibenden jüdischen Hintergrundes unverkennbar sprenge. 115 Vgl. J.CHR. BEKER, Paul, 135. 116 So a.a.O., 171. 117 Vgl. a.a.O., 192ff. 118 Vgl. a.a.O., 193. 119 Dass die Mitte der paulinischen Theologie die Christologie ist, die „entscheidend Gottes Handeln in Jesus Christus“ aussagt, akzentuiert G. EICHHOLZ, a.a.O., 155. So auch a.a.O., 33.111. 120 H.-J. KRAUS, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, NeukirchenVluyn 1983, 26. 121 L.P. JONES / J.L. SUMNEY, Preaching Apocalyptic Texts, St. Louis 1999, 35. 26 theologische Signifikanz dieses Satzes kann in anthropologischer wie ethischer Hinsicht kaum überschätzt werden. Ein Blick auf den bereits angesprochenen exegetischen Textzusammenhang aus dem 2. Korintherbrief oder auch den kreuzestheologisch orientierten Diskurs über die Weisheit in 1Kor 1-4 veranschaulicht dies, wie folgende Beobachtungen demonstrieren: Die paulinische Argumentation bewegt sich in 1Kor1-4 unzweifelhaft im Horizont einer apokalyptischer Theologie 122, für die das Christusereignis die eschatologische Wende in Abkehr von „diesem Äon“ (1Kor 1,20; 2,6-8; 3,18) markiert. Anthropologisch und ethisch signifikant ist in Bezug auf die „Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi“ die Beobachtung, dass „der Gekreuzigte der auferweckte Heilsbringer ist, der als solcher die Doxa Gottes besitzt und offenbart“ 123. Die Doxa, die den alten Menschen verwandelt (2 Kor 3,18), ihn zu einem Teil der neuen Schöpfung erschafft (2Kor 5,17), ist im Evangelium präsent, „weil in ihm der gekreuzigte und auferstandene Herr selbst präsent ist“ 124. Das Evangelium von der Herrlichkeit Christi, „der als die eikōn Gottes die Erscheinung der göttlichen doxa selbst ist“ 125 (2 Kor 4.4.6), meint präzise das „Wort vom Kreuz“ (1Kor 1,17f.), die Proklamation des gekreuzigten Jesus Christus (1Kor 2,2) 126. Das heißt: „Für Paulus bleibt Jesus auch nach der Auferstehung der Gekreuzigte (Partizip Perfekt: 1Kor 1,23; 2,2; Gal 3,1; vgl. Mk 16,6 par. Mt).“ 127 Weder die Auferstehung noch das Kreuz bilden den isolierten oder isolierbaren Ansatzpunkt paulinischer Theologie. Deshalb sollte man nicht eine theologia resurrectionis gegen eine theologia crucis ausspielen und umgekehrt 128. Ebenso wie bei Paulus wird Jesus auch am Schluss des Markusevangeliums mit dem Partizip Perfekt to estauromenos (Mk 16,6) als der bleibend Gekreuzigte bezeichnet. Für die Kreuzestheologie des Evangelisten Markus ist besonders signifikant, dass die christologischen Hoheitstitel („König der Juden“, „Christus“, „König in Israel“, „Gottes Sohn“) ausgerechnet in der Schilderung der Kreuzigung gebraucht werden 129. Auch Paulus kann den Kyriostitel im 122 S. VOLLENWEIDER, Weisheit am Kreuzweg. Zum theologischen Programm von 1Kor 1 und 2, in: A. Dettwiler / J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, WUNT 151, Tübingen 2002, (43-58) 56. 123 CHR. WOLFF, a.a.O., 87. 124 O. HOFIUS, Gesetz, 109. 125 A.a.O., 116. 126 V.P. FURNISH, a.a.O., 248. 127 H.-W. KUHN, Art. Kreuz II. Neues Testament und frühe Kirche (bis vor Justin), TRE 19 (1990), (713-725) 720. So auch W. SCHRAGE, Der gekreuzigte und auferweckte Herr. Zur theologia crucis und theologia resurrectionis bei Paulus, ZThK 94 (1997), (25-38) 33. 128 So W. KRECK, Die Zukunft des Gekommenen. Grundprobleme der Eschatologie, München 21966, 164. So auch J.CHR. BEKER, Paul, 196, der in Bezug auf Kreuz und Auferstehung von zwei verschiedenen Ereignissen („two distinct historical events“) spricht, die weder vermischt noch getrennt werden sollen. 129 Diesen Hinweis verdanke ich U. BACH, Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen-Vluyn 1991, 184. 27 Zusammenhang mit Todesaussagen verwenden (z.B. 1Kor 11,23). Für Markus gilt daher ebenso wie für Paulus: Als der Gekreuzigte ist Jesus Christus der „Herr der Herrlichkeit“ (1Kor 2,8). Mit dieser Sentenz wird geradezu der Prototyp des Paradoxon umschrieben. Denn nach dem Urteil der „Welt“ ist diese Aussage eine falsche Aussage. Dass „just dem Geschändeten, dem Gekreuzigten, Ehre und Ansehen zu[kommt]“ 130, wie der Kyriostitel für den Gekreuzigten signalisiert, sprengt menschliches Denk- bzw. Vorstellungsvermögen. Der Kreuzestod Jesu erscheint nach weltlicher Kriteriologie nicht als „herrlich“, sondern als etwas Skandalöses und Törichtes (1Kor 1,18.23). Das Kreuz lässt sich in die Orientierungsmuster der nach Machterweisen fragenden Juden sowie der nach Weisheit trachtenden Griechen nicht integrieren. Der mit Schande besetzte Ort des Kreuzes131, der nach herkömmlichem Urteil nichts als die Schändlichkeit des Todes enthüllt, steht quer zu den weltlichen Bewertungsparametern. Wenn die christliche Gemeinde („wir aber“) Christus als den Gekreuzigten verkündigt (1Kor 1,23), so geschieht dies im paradoxen Modus sub contrario. Sie handelt somit paradox, wider den Schein des Angesehenen. Die christliche Gemeinde kann nicht anders von der Herrlichkeit Christi reden, weil Christi Herrlichkeit selbst sub contrario verborgen erscheint: „In der Theologie des Kreuzes (theologia crucis) heißt Glauben: in diesem Gekreuzigten den Herrn sehen, in dem Verworfenen den Erwählten, in dem zu den Toten Gerechneten den ewig Lebenden; in der Schmach die Ehre, in der Ausgestoßenheit das Heil finden, überhaupt in diesen Gegensätzen die Wirklichkeit Gottes erfassen“ 132. Die Wirklichkeit aus der Perspektive des Kreuzes zu sehen – das ist der Wahrnehmungsblickwinkel des „neuen Menschen“, der sich auch in seinem Glaubensurteil entsprechend niederschlägt. Die Wahrnehmungsperspektive des „neuen Menschen“ ist die Perspektive des Kreuzes. Der „alte Mensch“ hingegen „hat sein Werturteil verloren, er wertet falsch. Er wertet Leiden und Schmach als etwas Schlimmes, als etwas Böses. Er sucht das Gute dort, wo es nicht ist. Darum lebt er verkehrt.“ 133 Er erkennt nicht das dem Menschen zugewandte und sichtbare Wesen Gottes im Leiden und Kreuz Christi: „Das (dem Menschen) 130 CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive, FRLANT 185, Göttingen 1999, 291. 131 Zur Schande als Konnotation des Kreuzes vgl. M. HENGEL, Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die „Torheit“ des „Wortes vom Kreuz“, in: J. Friedrich u.a. (Hg.), Rechtfertigung. FS E. Käsemann, Tübingen / Göttingen 1976, 126-184; M. WOLTER, „Dumm und skandalös“. Die paulinische Kreuzestheologie und das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, in: R. Weth (Hg.), Das Kreuz Jesu. Gewalt – Opfer – Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001, 44-63, 46f. 132 H.J. IWAND, Christologie, 409. 133 Ders., Theologia crucis, in: ders., Nachgelassene Werke Bd. 2: Vorträge und Aufsätze, hg. v. D. Schellong und K.G. Steck, München 1966, (381-398) 388. 28 zugewandte und sichtbare Wesen Gottes ist das Gegenteil des Unsichtbaren, nämlich seine Menschheit, Schwachheit, Torheit, wie 1. Kor 1,25 von der göttlichen Schwachheit und Torheit spricht“ 134 – so pointiert Luther in der 20. These der Heidelberger Disputation (1518). Indem die Gemeinde die Perspektive des Kreuzes einnimmt und die Christusverkündigung vollzieht, illustriert sie zugleich die Irrelevanz der üblichen Statusindikatoren, ja, die Abrogation bzw. Inversion der weltlichen Werteskala: „Die hochgeschätzte, ‚weltliches’ Ansehen bietende Weisheit wird zur Torheit vor Gott, das vor der ‚Welt’ Törichte, wie es in der Torheit des Kreuzes [1Kor 2,8.12] seinen dichten Ausdruck findet, aber zur Weisheit.“ 135 In der Schwachheit kommt die Kraft Gottes zur Entfaltung (1Kor 2,1-5). Weil Christus seine Herrlichkeit am Kreuz und das heißt in der Schwachheit, Schändlichkeit und Hässlichkeit des Kreuzes verborgen hat, deshalb kann Paulus sein Auftreten „in Schwachheit und in Furcht und mit großem Zittern“ (1Kor 2,3) als positives Merkmal seiner eigenen Verkündigungspraxis darstellen (vgl. z.B. 1Kor 4,6-13; 2Kor 11f.). Der Apostel, der sich nicht in den Vordergrund stellt und von sich aus mit Eloquenz zu glänzen versucht, ist in seiner Verkündigungspraxis transparent für den Glanz und hellen Schein, der vom Kreuz her in die Herzen von Menschen fällt (vgl. 2Kor 4,6). Das Kreuz destruiert demnach die übliche Matrix sozialer Anerkennung. Es „konstruiert“ eine veränderte Weltwahrnehmung, die in einer Neustrukturierung sozialer Wertigkeiten resultiert. Das Kreuz hat apokalyptische Dignität: Es enthüllt den falschen Schein. Deshalb verwundert es auch nicht, dass sich Paulus in diesem Zusammenhang eines traditionell apokalyptischen Motivs bzw. apokalyptisch kolorierten Gedankens bedient 136: der Offenbarung des Geheimnisses Gottes für die Auserwählten. Das Kreuz enthüllt das „Geheimnis Gottes“ (1Kor 2,1), die verborgene Weisheit des urzeitlichen Heilsratschlusses Gottes (1Kor 2,7). Dieses Geheimnis Gottes bezieht sich auf sein Erwählungshandeln: „Was der Welt als töricht gilt, das hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und was der Welt als schwach gilt, das hat Gott erwählt. Um das, was stark ist, zuschanden zu machen, und was der Welt als unedel und verächtlich gilt, das hat Gott erwählt, das, was nichts gilt, um das, was etwas gilt, zunichte zu machen, – damit sich kein Fleisch vor Gott rühme“ (1Kor 1,27f.). 134 WA 1, 362,4f.: „Posteriora et visibilia Dei sunt opposita invisibilium, id est, humanitas, infirmitas, stulticia, Sicut 1. Cor. 1. vocat infirmum et stultum Dei.“ 135 M. KONRADT, Die korinthische Weisheit und das Wort vom Kreuz. Erwägungen zur korinthischen Problemkonstellation und paulinischen Intention in 1Kor 1-4, ZNW 94 (2003), (181-214) 198. 136 So ders., a.a.O., 204. Vgl. äthHen 61,13; 106,19; 4Esr 10,38; 12,36.38; syrBar 48,3. 29 Die Realisierung des Heilsratschlusses Gottes im Kreuz Christi 137 impliziert nicht nur eine ontische, sondern auch noetische Valenz. „Crux probat omnia“ 138 – so formuliert M. Luther. Der paulinische Argumentationsduktus verdeutlicht, dass dieser Satz selbst die „Tiefen der Gottheit“ (1Kor 2,10) einschließt. Mit der Rede von deren Erforschung wird von Paulus „gut apokalyptisch, ‚tiefgreifende’ theologische Erkenntnis im Sinne der dem menschlichen Erkennen an sich verborgenen Erkenntnis der Geheimnisse Gottes angesprochen [...], und diese wird als zentral, ja exklusiv durch das Kreuz besetzt ausgegeben, so dass das Kreuz nicht nur als unbedeutender Bestandteil der theologischen Erkenntnis – im Unterschied zum fortgeschrittenen Erkennen – erscheint. Die theologische Weisheit ist vielmehr voll und ganz mit dem logos tou staurou zur Deckung gebracht – wie Paulus ‚beschlossen’ hatte, unter den Korinthern nichts anderes zu wissen als allein ‚Jesus Christus, und diesen als Gekreuzigten’ (2,2).“ 139 Mit Luther gesprochen, liegt in „Christus dem Gekreuzigten die wahre Theologie und Erkenntnis Gottes.“ 140 In Christi Leiden und Kreuz ist Gott zu finden 141. So genügt und nützt es nach Luther keinem schon, „Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er ihn nicht zugleich in der Niedrigkeit und Schande des Kreuzes erkennt.“ 142 Zusammenfassend lässt sich im Blick auf die (unter 3.) dargestellte paulinische Rede vom „neuen Menschen“ feststellen: Der Apokalyptiker Paulus beantwortet die anthropologische Frage, was es um den Menschen, sein wahres Wesen und die Offenbarung desselben in der Zukunft sei, mit Verweis auf den Gekreuzigten als den wahren Menschen. Hier enthüllt sich, wer und was der Mensch ist: „Die Antwort auf die Frage des Menschen nach seinem Wesen enthüllt sich im ecce homo, am Kreuz. Hier, und nur hier, wird dem Menschen gesagt, was es um ihn ist und was er nach dem Willen Gottes sein soll, wie er durch Gottes Kondeszendenz in Jesus Christus ‚zurechtgebracht’ wird.“ 143 Das Kreuz Christi bedeutet mithin die Apokalypse des „neuen Menschen“ 144. Er, Jesus Christus, ist der wahre, neue Mensch 145. Und weil Jesus Christus der wahre Mensch ist, 137 Vgl. H.-CHR. KAMMLER, Kreuz und Weisheit. Eine exegetische Untersuchung zu 1Kor 1,10-3,4, WUNT 159, Tübingen 2003, 246. 138 WA 5, 179,31. 139 M. KONRADT, a.a.O., 211. Als Belege verweist er auf Dan 2,22; äthHen 63,3; syrBar 14,8; [54,12]; 1QS 11,18-20. 140 WA 1, 362,18f.: „Ergo in Christo crucifixo est vera Theologia et cognitio Dei.” 141 Vgl. WA 1, 362,28f.: „At Deum non inveniri nisi in passionibus et cruce“. 142 WA 1, 362,11ff.: „Ita ut nulli iam satis sit ac prosit, qui cognoscit Deum in gloria et maiestate, nisi cognoscat eundem in humilitate et ignominia crucis.“ 143 E. WOLF, Sozialethik. Theologische Grundfragen, hg. v. T. Strohm, Göttingen 31988, 13. 144 Vgl. G. EICHHOLZ, a.a.O., 58.161. 30 scheitern alle anthropologischen Versuche, das Wesen des Menschseins extra Christum zu bestimmen: „Das ist das eigentliche Thema der Menschwerdung, daß die Gnade Gottes gleichwertig, ja identisch ist mit dem Menschen Jesus.“ 146 Das Kreuz ist der Spiegel, in dem Gotteserkenntnis und Menschenerkenntnis zusammenfallen. Die Offenbarung des wahren Menschen am Kreuz ist somit Konstituens „für den sinnvollen Vollzug menschlicher Daseinsanalyse“ 147. 3. KONTUREN EINER APOKALYPTISCHEN ETHIK DES “NEUEN MENSCHEN” IM BLICK AUF DIE AKTUELLE BIOMEDIZINETHISCHE DEBATTE 3.1 Der Gegenstand einer apokalyptischen Ethik: Der „neue Mensch“ als Subjekt ethischen Handelns Wenn die mit seiner apokalyptischen Perspektive verbundene Hoffnung auf Jesus Christus Paulus keineswegs „to ethical passivity, but to active participation in God’s redemptive will” 148 gereicht, dann stellt sich die Frage, welche Konsequenzen diese Hoffnung etwa im Blick auf die biomedizinethische Debatte der Gegenwart zeitigen kann. Wie können die Konturen einer apokalyptisch orientierten Ethik aussehen? Nach allem bislang ausgeführten dürfte klar sein, dass sich die gesuchten Konturen nur im Lichte der apokalyptischen Grundüberzeugung der urchristlichen Gemeinde gewinnen lassen, die „den Tod und die Auferstehung des Christus Jesus verkündigt und geglaubt [hat] als die sub contrario crucis vollzogene Wende von der alten Weltenzeit zur neuen Schöpfung.“ 149 Eine solche theologische Ethik muss folglich eine Ethik sein, in der der „neue Mensch“ die entscheidende Rolle spielt und die sich darin als apokalyptisch konturiert erweist, dass sie gegenüber den grassierenden Vorstellungen vom „neuen Menschen“ den gekreuzigten Christus als den wahren Menschen vor Augen stellt. Im Zusammenhang der neuen Existenz des Menschen spielt zumindest bei Paulus die Kreuzestheologie die entscheidende Rolle 150. Für Paulus gilt: 145 Vgl. B. PASCAL, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), hg. v. E. Wachsmuth, Heidelberg 1946, Nr. 527, 238: „Das Wissen von Gott ohne Kenntnis unseres Elends zeugt den Dünkel. Das Wissen unseres Elends ohne Kenntnis von Gott zeugt die Verzweiflung. Das Wissen von Jesus Christus schafft die Mitte, weil wir in ihm sowohl Gott als unser Elend finden.“ 146 H.J. IWAND, Christologie, 283. 147 E. WOLF, Sozialethik, 16. 148 J.C. BEKER, Apocalyptic Gospel, 16. 149 H.-J. KRAUS, a.a.O., 26. 150 So J.CHR. BEKER, Sieg, 81-85. 31 „Der Weg Jesu zum Kreuz begründet die christliche Existenz und ist zugleich das wesentliche Kriterium dieser Existenz. Das ethische proprium christianum ist somit Christus selbst, und die Ethik umfasst bei Paulus die Handlungsdimensionen der Christusteilhabe. So ergibt sich: Das leitende Thema der paulinischen Ethik ist die Entsprechung der Existenz zum neuen Sein in Christus.“ 151 Die Wirklichkeit der nova creatura umschreibt den Gegenstand christlich-theologischer Ethik. Sie thematisiert die Handlungsaspekte des neuen Seins in Christus: „Ist der Ethik [...] die Frage aufgegeben, wer die Menschen sein können, wollen und sollen, dann wird das Thema des neuen Menschen zum Schlüssel, dann wird die Christologie den theologischen Ansatzpunkt bilden und von sich aus erst den Blick auf ein wahres Schöpfungsverständnis freilegen.“ 152 Insofern die Ethik beim „neuen Menschen“, beim „geschöpflichen Wesen des Menschen“ 153 ansetzt, setzt sie beim extra nos der Begründung und Enthüllung (Apokalypse) der Wirklichkeit im Christusereignis an. Mit der von Paulus in apokalyptischem Deutungsrahmen interpretierten Realität der nova creatura ist also eine bestimmte Ethik verbunden. Insofern dieses paulinische Theologumenon der nova creatura als apokalyptisches Theologumenon zu verstehen ist, ist auch die mit diesem Theologumenon verbundene Ethik als eine genuin apokalyptische Ethik zu verstehen. Bei dieser apokalyptischen Ethik handelt es sich mit anderen Worten um eine Ethik der Geschöpflichkeit 154. Diese Bestimmung resultiert aus dem Subjektstatus des „neuen Menschen“ als Teil der neuen Schöpfung Gottes. Nur der „neue Mensch“, d.h. derjenige, der in Christus Teil der neuen Schöpfung Gottes ist, „erkennt die Schöpfung als Schöpfung“ 155. Nur er erkennt sich „durch den Dienst aus Glaubensgehorsam in ihr, als ‚Mitarbeiter’“ 156. Er allein weiß: „[E]s gibt für das Geschöpf keinen echten Lebensraum außer beim Schöpfer.“ 157 Der in Christus „neue Mensch“ ist als solcher das „Subjekt des ethischen Handelns“ 158. Er und nicht etwa der allgemein sittliche Mensch ist das Subjekt der Ethik. 151 U. SCHNELLE, Die Begründung und die Gestalt der Ethik bei Paulus, in: R. Gebauer / M. Meiser (Hg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums. FS O. Merk, MThSt 76, Marburg 2003, (109-131) 119f. 152 CHR. FREY, Theologische Ethik, Neukirchen-Vluyn 1990, 52. Dort z.T. kursiv. 153 E. WOLF, Sozialethik, 16. 154 Den ausgeführten Entwurf einer „Ethik der Geschöpflichkeit“ hat H.G. ULRICH, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005, vorgelegt. Zur Apokalyptik vgl. a.a.O., 199f., und zur biomedizinischen Ethik a.a.O., 624-678. Vgl. auch ders., Katastrophenstimmung und Schöpfungsethik, in: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hg.), Klima. Vorträge des Studium Generale im Wintersemester 1992/93, Heidelberg 1993, 165-177. Um die Anwendung einer christologisch konturierten „Ethik der Geschöpflichkeit“ im Blick auf die Reproduktionsmedizin habe ich mich in meiner Dissertation bemüht. Vgl. M. HOFHEINZ, Gezeugt, nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, EThD 15, Münster 2007 (im Druck). 155 E. WOLF, Politia Christi, 236. 156 A.a.O., 237. 157 E. KÄSEMANN, Ruf, 240. 158 E. WOLF, Sozialethik, 16. 32 Eine wahrhaft subjektgebundene Ethik denkt der externen Konstitution des zum Handeln befreiten und in seiner Wahrnehmung erneuerten Subjektes (Röm 12,1f.) durch die Begegnung mit Christus im schöpferischen und neuschöpferischen Wort nach 159. Die Konstituierung der nova creatura gründet dabei im geistgewirkten Glauben. Die fides Christi ist zugleich creatio nova. Dieser angezeigte theologische Erkenntniszusammenhang ist ein eminent christologischer Verstehenszusammenhang. Im Rahmen der apokalyptischen Rede vom „neuen Menschen“ erweisen sich „Christologie und Ethik [als] engstens miteinander verklammert“ 160. Der Einsatz der Ethik beim „neuen Menschen“ verdeutlicht, dass ihr Ansatz in der Christologie zu suchen ist. Weil Jesus Christus der neue, der wahre Mensch ist, wird eine Ethik, deren Gegenstand die Wirklichkeit des „neuen Menschen“ darstellt und die sich deshalb vor die Aufgabe der theologischen Explikation seiner Existenz gestellt sieht, in der Christologie und nicht etwa einer allgemeinen Anthropologie ihren Ausgangspunkt sehen. Erst vom „neuen Menschen“ her werden die Strukturen menschlichen Seins erkennbar und die ethische Explikation theologischer Anthropologie somit möglich. Weil die Wirklichkeit des handelnden Menschen durch die Wirklichkeit des den Mensch neuschöpfenden Gottes in Jesus Christus bestimmt ist, deshalb hat auch der im Bezugsrahmen der Ethik erfolgende Vollzug menschlicher Daseins- und Gegenwartsanalyse von der Wirklichkeit der Bestimmung des Menschen durch Gott auszugehen. Diese für das theologische Wirklichkeitsverständnis schlechthin konstitutive Bestimmung besagt nichts anderes als: nova creatura in Christo! Der Neutestamentler U. Schnelle stellt deshalb treffend die Entsprechung zum neuen Sein in Christus, sprich: die Christuskonformität der neuen Existenzweise des ethischen Subjektes als Grundgedanken der paulinischen Ethik dar: „Ausgangspunkt und Begründung der Ethik ist bei Paulus die Lebens- und Handlungseinheit des neuen Seins als Teilhabe am Christusgeschehen. Jesus Christus begründet und prägt zugleich das Leben der Christen, die ihrerseits in der Kraft des Geistes im Raum des Christus leben und dem neuen Sein in ihren Handlungen entsprechen.“ 161 3.2 Biomedizinethische Konsequenzen Eine apokalyptische Ethik der Geschöpflichkeit ist – wie soeben ausgeführt – eine Ethik, deren Gegenstand die Wirklichkeit des „neue Mensch“ als explicandum darstellt und die sich darin als apokalyptisch konturiert erweist, dass sie im Kontrast zu den grassierenden 159 Vgl. ders., Menschwerdung, 138. G. EICHHOLZ, a.a.O., 104. 161 U. SCHNELLE, a.a.O., 122. Dort z.T. kursiv. 160 33 Vorstellungen vom „neuen Menschen“ den gekreuzigten Christus als den wahren Menschen vor Augen führt. Die Identifikation des Gekreuzigten als „Herrn der Herrlichkeit“ (1Kor 2,8), dieses paulinische Paradoxon, besagt 162: Der Gekreuzigte – in der christlichen Auslegungsgeschichte vielfach interpretiert als der Gottesknecht nach Jes 53, der „keine Gestalt und Schöne“ hatte, – ist in Person die rettende Macht und Herrlichkeit Gottes. Bei ihm kann und soll die theologische Ethik in der aktuellen biomedizinischen Debatte, die ebenfalls den „neuen Menschen“ anvisiert, ansetzen. Mit der christlichen Apokalyptik hat die theologische Anthropologie und mit ihr die Ethik nämlich „nicht an einer allgemeinen Idee des Menschen und seiner Idealgestalt, sondern am leidenden und gekreuzigten Christus Maß [zu nehmen], der ‚keine Gestalt’ hatte, ‚die uns gefallen hätte’ (Jes 53,2). Von hier aus ist die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die im Rahmen der christlichen Schöpfungslehre ausgesagt wird, näher zu bestimmen.“ 163 Der „wahre Mensch“, als den etwa die paulinische Theologie in ihrem apokalyptischen Deutungsrahmen niemand anderen als Jesus Christus darstellt, ist die „Krisis des Schönen“164, die Krisis des „neuen Menschen“, wie er uns als das Leitbild der Leidensfreiheit und des Nichtbehindert-Seins vor Augen tritt. Es stellt sich die Frage, ob nicht genau dieses Leitbild den Hintergrund vieler biomedizinischer Techniken bildet. Im Gekreuzigten wird demgegenüber ein ganz anderes Leitbild ansichtig: Er ist der „neue Mensch“, der in all seiner Anstößigkeit und Abstößigkeit von Gott bereits ins Bild gesetzt wurde. Indem uns die biblische Apokalyptik, wie Paulus es ausdrückt, den Gekreuzigten „vor Augen malt“ (Gal 3,1), tritt ein kon-trastives Bild in Erscheinung, das sich abhebt von jenem „neuen Menschen“ im Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und Freiseins von Krankheit und Gebrechen. Es kritisiert die Utopie des perfekten Körpers und der „alterlosen Gesellschaft“, jene Ideologie, die sich gegen jede Infragestellung, auch gegen die ethische, immunisiert und der nach H. Haker die Biomedizin zu erliegen droht: „Der Körper eines schwer behinderten Kindes, der nicht nur den Gesundheitsvorstellungen, sondern ebenso (oder sogar noch mehr?) den normalen Schönheitsvorstellungen widerspricht, stellt eine Bedrohung dar, während der genetisch, hormonell oder biochemisch verbesserte ewig junge, dadurch scheinbar unsterbliche 162 Vgl. z.B. 1Kor 4,7ff.; 12,9f.; 13,4. U.H.J. KÖRTNER, Mensch, 67. 164 H. VOGEL, Die Krisis des Schönen. Ein Umweg zur Grundfrage der menschlichen Existenz, Berlin 1931. Ähnlich E. JÜNGEL, „Auch das Schöne muß sterben“ – Schönheit im Licht der Wahrheit. Theologische Bemerkungen zum ästhetischen Verhältnis, ZThK 81 (1984), (106-126) 124: „Die Offenbarung Gottes in Jesus Christus tilgt allen schönen Schein. Sie muß ihn tilgen, weil sie nicht Vorschein der Wahrheit, sondern die Wahrheit selbst ist. Diese Wahrheit ereignet sich aber nach neutestamentlichem Verständnis grundlegend als Krisis. [...] Sie tut das, indem sie, wie Paulus sich ausdrückt, uns den Gekreuzigten ‚vor Augen malt’ (Gal 3,1).“ 163 34 Körper als Verlockung erscheint. Der kranke oder gealterte Körper widerspricht dem sozialen Fetisch, das heißt dem Jugendideal einer Körperkultur, die den Körper nicht als Erscheinungsform der Individualität und Geschichte eines Menschen wahrnimmt, sondern als Machtinstrument mit dem gehandelt wird.“ 165 Das Bild des Gekreuzigten visualisiert das kritische Potential einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ gegenüber einem sich verselbständigenden biomedizinischen Fortschritt, hinter dem ein utopischer bzw. säkular-apokalyptischer Gesundheitsbegriff steht. Eine Biomedizin, welche diesem säkular-apokalyptischen Gesundheitsbegriff und dem damit transportierten Bild vom neuen, gesunden Menschen verpflichtet wäre, würde von der Heilkunst zur Heilslehre avancieren. Die eschatologische Dimension menschlichen Lebens, dessen Vollendung die endzeitliche Hoffnung des christlichen Glaubens ist, würde damit – wie für kupierte säkulare Apokalyptik typisch – ins Diesseits verlagert. Das Heil würde dann in Form vollkommener Gesundheit im Diesseits als dem „neuen Äon“ nicht von Gott, sondern der Biomedizin als menschlicher Leistung erwartet. Mit der Biomedizin als apokalyptischer Wende bräche dieser Äon gleichsam in die Welt ein, um mit dem Ende des alten, kranken Menschen zugleich den Beginn der Neuschöpfung von gesunden Menschen zu markieren. Die Diagnose eines journalistischen Zeitgenossen lautet: „Auch wenn wissenschaftlich noch gewaltige, manchmal sogar unüberwindlich scheinende Probleme zu lösen sind und Experten sich in ethischen Kommissionen noch jahrelang die Köpfe heiß reden werden – das Ziel wird immer deutlicher: eine Zukunft, in der Menschen gesund und intelligent geboren werden und erst nach 150 oder 200 Jahren ein erfülltes und rundum glückliches Leben schmerzfrei beenden.“ 166 Eine Gesellschaft, die einem solchen Gesundheitsideal folgt, wird „auf das Ziel hin geplant und organisiert, den Schmerz zu beseitigen, die Krankheit auszutilgen und den Tod zu bekämpfen.“ 167 Das Kreuz hingegen als der Ort, an dem sich die Versöhnung und das Heil im Geschehen der den alten Menschen inkludierenden Stellvertretung ereignet hat, entlastet nicht nur von solchen soteriologischen Ansprüchen an biomedizinisches Handeln, es deckt diese auch auf. Es deckt auf, dass mit einem solchen Bild vom „neuen Menschen“ der Gekreuzigte faktisch als Ärgernis und Torheit, ja als Perversion abgelehnt wird. Im Kreuz selbst wird hingegen der „Wahn, in der Teilhabe am Schönen [und Gesunden; M.H.] der andere, neue 165 H. HAKER, Der Perfekte Körper: Utopien der Biomedizin, Conc 38 (2002), (115-123) 115f. F. OCHMANN, Der Griff nach den Genen, Stern 27/2000, 60. 167 I. ILLICH, Die Enteignung der Gesundheit – Medical Nemesis, Reinbek bei Hamburg 1975, 95. 166 35 Mensch werden zu können, als der Wahn der Selbsterlösung und Selbstvergottung offenbar“ 168. Das Kreuz hat somit auch genuin apokalyptische Funktion. Wenn das Kreuz Christi den Willen Gottes offenbart, wenn es sozusagen die Selbstdefinition Gottes ist, die den Weg exklusiver Gotteserkenntnis auf dasselbe festlegt, dann entlastet dies den Menschen auch von dem Versuch, Gott in seiner eigenen gesundheitlichen und körperlichen Vollkommenheit zu suchen bzw. die Gesundheit als „höchstes Gut“ zum neuen Gott zu stilisieren. Die Medizin wird so von den an sie gerichteten soteriologischen Erwartungen, von der Zielprojektion der Herstellung eines Zustandes des Glücks und der Vollkommenheit befreit. Wer Gott im Körperkult und im Gesundheitswahn sucht, verliert das Kreuz Christi aus den Augen. Insofern dieses Kreuz die „Aufhebung des Dahinter Gottes, seiner Hinterweltlichkeit und seines ‚unheimlichen’, ‚Heidnischen’, man kann auch sagen, Metaphysischen“ 169 meint, bedeutet die Gottessuche in der Leidfreiheit und Leidensunmöglichkeit das Dahinter Gottes in einer ganz und gar antiapokalyptischen Bewegung neu zu postulieren. Doch dieses Dahinter ist im Kreuz Christi ein für allemal in den Bereich des Kontrafaktischen verwiesen worden, weshalb seine erneute Postulierung ein aus theologischer Sicht illegitimes Bemühen darstellt. Auch wenn die Gestalt des Gekreuzigten in einer Welt, in der Gesundheit das Maß aller Dinge zu sein scheint, „fremd und im besten Fall bemitleidenswert“ 170 bleibt, so ist der Gekreuzigte im Geschehen der Auferweckung von den Toten bereits ins Recht gesetzt worden. Die Auferweckung erweist gleichsam ex post den göttlichen Erfolg und Triumph am Kreuz, der das weltlich ausgerichtete Erfolgsdenken außer Kraft setzt: „Dem Erfolgreichen gegenüber erweist Gott im Kreuz Christi die Heiligung des Schmerzes, der Niedrigkeit, des Scheiterns, der Armut, der Einsamkeit, der Verzweiflung. Nicht als hätte das alles Wert in sich selbst. Aber es empfängt seine Heiligung durch die Liebe Gottes, die das alles als Gericht auf sich nimmt.“ 171 Indem Paulus das Kreuzesgeschehen in seiner die menschlichen Wertvorstellungen invertierenden Relevanz zur Geltung bringt, entzieht er jenem biomedizinischen Statusgebaren den Boden, welches den „neuen Menschen“ per Anthropotechnologie ins Dasein rufen möchte. Mit dem am Kreuz orientierten Ethos ist dieses Bestreben nicht vereinbar. 168 H. VOGEL, Der Christ und das Schöne, Berlin 1955, 37. H.J. IWAND, Glauben und Wissen, Nachgelassene Werke Bd. 1, hg. v. H. Gollwitzer, München 1962, 306. 170 D. BONHOEFFER, Ethik, hg. v. E. Bethge, München 1981, 80. 171 A.a.O., 82. 169 36 3.3 Eine Klarstellung zu den kreuzestheologischen Implikationen einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ Die obigen kreuzestheologischen Ausführungen mögen bisweilen als polemisch erscheinen. Wenn jedoch das Stichwort Kreuzestheologie, wie E. Käsemann konstatiert, „in unpolemischem Gebrauch seinen ursprünglichen Sinn verliert“ 172, dann dürfte die Charakterisierung „Polemik“ auf dem Hintergrund der paulinischen Polemik keinen hinreichenden Grund für eine Disqualifizierung darstellen. Um hingegen einigen nahe liegenden Missverständnissen inhaltlich vorzubeugen, sei klargestellt: Nicht jedes Leiden firmiert in der projektierten apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ unter dem Kyriosprädikat. Eine „Theologie der Schmerzen“ oder eine ihr korrespondierende „Ethik der Schmerzen“ wird mit einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ nicht intendiert. Es geht vielmehr um eine Theologie, „in der das Leiden neben dem Nichtleiden seinen gleichberechtigten Platz hat, in der also das Leiden kein Sonderthema sein muss, in der allerdings auch Glück, Freude und Stärke vorkommen müssen, ohne sich zu schämen, ohne sich als Ausnahmegrößen empfinden zu müssen.“ 173 Leiden und Schmerzen sind nämlich kein Wert an sich und auch kein Selbstzweck, so dass daraus eine ethica crucis im Sinne einer rein negativen Ethik abgeleitet werden könnte. Sadomasochistische Schmerzverherrlichung ist „die Sache Christi“ Paulus zufolge jedenfalls nicht. „Jeder Verherrlichung und Eigenwertigkeit des Leides“ – so der Bonner Neutestamentler W. Schrage – „wird, und zwar allen Einwänden zum Trotz, das sei dann nur eine christliche Variation des per aspera ad astra, vor allem durch das hina in den Peristasenkatalogen unverrückbar ein Riegel vorgeschoben“ 174: „Wir tragen das Sterben Christi an unserem Leibe herum, damit (hina) auch das Leben Christi an unserem christlichen Leib offenbar werde“ (2Kor 4,10). Präzise darum geht es im Leben der nova creatura, dass sie selbst zur Apokalypse Christi (Genitivus obiectivus!) wird, wie Christus selbst in Person und Werk die Apokalypse des wahren Menschen ist. Eine rein negative Ethik der Schmerzen und der Niedrigkeit würde verkennen: „Es gibt ja keine Niedrigkeit, die an sich und als solche auch göttlich wäre, kein allgemeines Prinzip des Kreuzes also, in welchem wir es (ebenfalls prinzipiell) mit Gott zu tun hätten. Das Kreuz ist im Neuen Testament nicht so etwas wie das Symbol einer negativ orientierten, à la baisse spekulierenden Weltanschauung.“ 175 Eine solche Ethik stünde außerdem in der quietistischen 172 E. KÄSEMANN, Paulinische Perspektiven, Tübingen 21972, 67.69. U. BACH, a.a.O., 27. 174 W. SCHRAGE, a.a.O., 32. 175 K. BARTH, KD IV/1, 209. 173 37 Gefahr, Formen menschlichen Leidens religiös zu überhöhen und damit zu legitimieren, „die in Wirklichkeit entschiedenen Widerspruch verdient gehabt hätten.“ 176 Eine apokalyptische Ethik des „neuen Menschen“ darf dies nicht verkennen oder verdrängen. Ebenso wenig darf sie allerdings auch umgekehrt die Prinzipialisierung bzw. „Baalisierung Gottes“ (U. Bach) verkennen und verdrängen, in der im biotechnischen Zeitalter die wohl weitaus größere Gefahr liegen dürfte. Gemeint ist mit dieser Prinzipialisierung das „Dogma“: „Wo Stärke und Sieg ist, da ist Gott, und im Leiden und im Schmerzen ist Gott nicht.“ 177 Das Kreuz Christi hat mit diesem entsetzlichen „Dogma“ Schluss gemacht und die Menschheit davon befreit. Und genau dieses sich im Kreuz vollziehende Befreiungsgeschehen betont eine apokalyptische Ethik des „neuen Menschen“: Gottes Herrlichkeit offenbart sich in seiner Erniedrigung bis hin zum Tode am Kreuz (vgl. Phil 2,8). Und des Menschen Hoheit zeigt sich in seinem Gehorsam gegenüber Gott kraft des Angenommenseins durch denselben 178. Das Kreuz ist bereits Christi bzw. Gottes Königsthron und die Auferstehung die Offenbarung des gnädigen Urteils Gottes. Mit K. Barth gesprochen: In Gestalt des „Weges des Sohnes Gottes in die Fremde“ 179, in die Erniedrigung, vollzieht sich Jesu göttliches Handeln; in diesem seinem Kreuzesgehorsam widerfährt ihm die Erhöhung als Wahrwerden des Menschseins. Ebenso wie sich in der Versöhnung am Kreuz als Geschichte der Erhöhung des Menschensohns wahres Menschsein ereignet, erweist sich in der Versöhnung als Geschichte der Selbsterniedrigung Gottes in Jesus Christus das wahre Gottsein. Der versöhnte, „neue Mensch“ tritt in Jesus Christus als der wahre, erhöhte Mensch in Erscheinung; der versöhnende Gott kommt in Jesus Christus als der sich selbst erniedrigende Gott. Das Kreuz bedeutet demnach mitnichten die Selbstbeschränkung der Gottheit und den Verzicht auf ihre Doxa (etwa im Sinne der lutherischen Kenotiker), sondern Jesu Erniedrigung meint die Betätigung dieser Doxa. Gott kann niedrig sein! Er kann sich im Schmerz und im Leid offenbaren. Er kann die Schwachheit, die forma servi annehmen, ohne seine Gottheit aufzugeben: „Er muß offenbar nicht nur hoch, er kann auch niedrig [...] sein. Er 176 H. BEDFORD-STROHM, a.a.O., 670f. U. BACH, a.a.O., 185. 178 Dies ist die Pointe der beiden ersten Bände von K. BARTHs Versöhnungslehre (KD IV/1 und IV/2), welche die Erniedrigung und Erhöhung Jesu Christi thematisieren und dabei – in den Formeln der altprotestantischen Dogmatik gesprochen – die Zwei-Stände-Lehre als Interpretament der Zwei-Naturen-Lehre gebrauchen. Die theologia crucis bildet bei K. Barth den Ort und den Rahmen der Modifikation und Aktualisierung traditioneller Christologie. Wie B. KLAPPERT (Die Auferweckung des Gekreuzigten. Der Ansatz der Christologie Karl Barths im Zusammenhang der Christologie der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 31981, 386ff.; Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, NBST 14, Neukirchen-Vluyn 1994, bes. 143) in mehreren Untersuchungen gezeigt hat, bildet die theologia crucis bei K. Barth den Ort und den Rahmen der Modifikation und Aktualisierung traditioneller Christologie. 179 K. BARTH, KD IV/1, (§ 59.1) 171ff. 177 38 muß nicht nur richten, er kann auch vergeben. Und gerade indem er niedrig ist, ist er hoch“ 180. Die forma Dei besteht gerade in der Gnade „in der Gott selbst die forma servi annimmt“181. Wenn dies aber gilt, dann hat Gott selbst im Versöhnungsgeschehen jenen Prinzipialismus ein für alle mal beseitigt, der besagt, „Gott wolle nur Stärke, Leiden und Schwäche dagegen seien das Böse.“ 182 Gott enthüllt am Kreuz diese Aussage als Lüge, indem er im gefolterten, verachteten, ganz und gar unschönen Menschen Jesus an die Stelle der Menschen tritt. In seiner Stellvertretung identifiziert sich Gott mit den Schwachen und Verachteten, indem er sich als einer der ihren kreuzigen lässt und auferweckt wird. In ihnen, den geringsten Brüdern, will er erkannt werden: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Als einer der ihren gibt sich Jesus Christus am Kreuz zu erkennen. Nicht überall und nirgends will Gott erkannt werden – sondern hier, in Jesus Christus, dem wahren Menschen, der am Kreuz hängt und verachtet wird 183. Und indem er hier erkannt wird, wird er in einem Verachteten erkannt. Das Stellvertretungsgeschehen hat eine noetische Dimension von ethischer Valenz. Es hat Gott gefallen, als Verachteter das Werk der Versöhnung als Geschehen der alle Menschen einschließenden Stellvertretung zu vollbringen. Damit lenkt Gott das Augenmerk seiner Kirche auf die Verachteten dieser Welt. In Knechtsgestalt will Gott als der Versöhner der Welt erkannt werden. Gerade sie ist transparent für das Stellvertretungsgeschehen. Deshalb nimmt Jesus Christus die Knechtsgestalt an und geht den Weg der Erniedrigung bis zum Tode am Kreuz und führt so jedem sichtbar vor Augen, dass sein Versöhnungswerk niemanden, auch und besonders nicht die Verachteten ausschließt, sondern auch ihnen gilt. Sollte der Mensch die Verachteten, ausschließen, wo Gott sie doch in einzigartiger Weise in sein Heilswerk einschließt? An der Enthüllung der fatalen ontischen und noetischen Fixierung Gottes auf das Starke, Gesunde und Leidfreie ist einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ gelegen. Sie ist mit anderen Worten ihrem Charakter nach darin genuin apokalyptisch, dass sie dieses falsche Gottesbild, welches mit der Identifikation von Gott und Stärke, Gott und Gesundheit, Gott und Heilung vorliegt, unter Verweis auf das Kreuz Christi als falschen Schein enthüllt. Insofern erweist sie sich als para-dox, als kritisch wider den (falschen) Schein gerichtet. Sie 180 A.a.O., 208. A.a.O., 205. 182 U. BACH, a.a.O., 28. 183 Zum gesamten Absatz vgl. die in Anlehnung an H.J. Iwands Christologie erfolgten Ausführungen von G. PLASGER, Wer ist der Mensch? Zur Argumentation in der gegenwärtigen evangelisch-theologischen Bioethik, in: M. Freudenberg u.a. (Hg.), Beiträge zur Ethik, Reformierte Akzente 7, Wuppertal 2003, (63-81) es. 78. 181 39 folgt damit der biblischen Apokalyptik, die das Bild des gekreuzigten Christus vor Augen stellt und sich damit als „Kontra“ gegenüber der Tendenz zu verstehen gibt, alles Sieghafte als göttlich zu begreifen und alles Niedrige als nur-menschlich 184. Eine der biblischen Apokalyptik folgende Ethik des „neuen Menschen“ kommt – wie dargestellt – konzeptionell nicht ohne Versöhnungslehre und Stellvertretungstheologie aus. Wie könnte sie dies, wo sich doch nach biblischem Zeugnis im Versöhnungsgeschehen die Neukonstituierung des ethischen Subjektes und die Apokalypse des „neuen Menschen“ ereignet hat? 3.4 Ethik des „neuen Menschen“ als kirchliche Ethik Der gesamte Weg einer apokalyptischen Ethik kann an dieser Stelle auch in Bezug auf das sozialethische Themenfeld der Biomedizin nicht ausgeschritten werden. So mag es hier bei den erfolgten Andeutungen sein Bewänden haben. Zur Konkretion der projektierten Ethik sei jedoch abschließend noch auf den Programmbegriff einer kirchlichen Ethik verwiesen, der im Folgenden als Interpretament der zu konturierenden apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ dienen mag. Wenn die Ethik des „neuen Menschen“ als kirchliche Ethik bestimmt wird, so besagt dies, dass der „neue Mensch“ im formativen Kontext der Kirche verortet ist. Der „neue Mensch“ existiert nicht als Individuum in „splendid isolation“, sondern als Glied der christlichen Gemeinde. In ihr gewinnt die Teilhabe am neuen Sein in Christo Gestalt. Die Kirche ist der Ort, wo die neuen Geschöpfe leben. Ihre innere und äußere Ausrichtung wird von Christus her präfiguriert. Er ermöglicht die Einheit der Gemeinde (vgl. Röm 15,5). Die Christuskonformität prägt ihr Sein und Handeln. Dies ist auch für die Konstitution des ethischen Subjekts als Glied der Gemeinde von kaum zu überschätzender Bedeutung. Die Wirklichkeit des „neuen Menschen“ kann als Gegenstand der Ethik nicht von der Wirklichkeit der Gemeinde getrennt werden, so dass sich besagte Verortung auch in der Explikation der ethischen Existenz vor Gott niederschlagen muss, die der Ethik als Aufgabe aufgetragen ist. Anders gesagt: Die sozialethische Explikation theologischer Anthropologie vollzieht sich im Interpretationsrahmen der Ekklesiologie 185. Die kreuzestheologischen Grundlagen einer Ethik des „neuen Menschen“ beinhalten demnach ekklesiologische Implikationen. Was die Gestalt der Kirche angeht, so weist etwa 184 Vgl. U. BACH, a.a.O., 184. Vgl. programmatisch R. HÜTTER, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik in der Gegenwart, Evangelium und Ethik Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 1993; A. RASMUSSON, The Church as Polis. From Political Theology to Theological Ethics as Exemplified by Jürgen Moltmann and Stanley Hauerwas, Notre Dame 1995; B. WANNENWETSCH, Gottesdienst als Lebensform – Ethik für Christenbürger, Stuttgart u.a. 1997. 185 40 Paulus darauf hin, dass die soziologische Zusammensetzung einer Gemeinde von Habenichtsen und Randexistenzen („nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme“; 1Kor 1,26) „ein Reflex des Kreuzes Christi“ 186 ist. Gerade das Kreuz dient nicht nur „primär kritisch zur theologischen bzw. christologischen Standortund Grenzbestimmung“ 187. Es ist für Paulus „zugleich und konstitutiv die Ortsanweisung für die Christen und die Gemeinde“ 188. Ist die wahre Herrlichkeit in Christus, dem Gekreuzigten, zu finden, dann stellt das Verhalten der christlichen Gemeinde in Bezug auf die Schwachen, Behinderten und Leidenden in der Gesellschaft einen Testfall für ihre Kreuzesnachfolge dar. Der im Kreuz sub contraria specie Erschienene verweist seine Kirche mit seinem Kreuz auf das, was ihr ebenfalls nur sub contraria specie als schön und anziehend erscheint. Er verweist sie darauf mit seiner Liebe, die sich gerade nicht (wie der amor hominis) „am Schönen entzündet, sondern den hässlichen, nämlich sich selbst entstellten homo peccator dadurch schön macht, dass sie ihn liebt.“ 189 Für den „neuen Menschen“ im Raum der Kirche gilt: „In dieser neugewonnenen Entsprechung zum Willen Gottes wird das Sein und Handeln der Kirche nun in der Tat von Niedrigkeit geprägt, erhält es – in Analogie zum Handeln Gottes in Christus – einen ‚durchgehende[n] Zug nach unten“ 190. Aus dem Kreuz als „sinnstiftendem Zentrum der christlichen Identitätsmatrix“ 191 folgt ein Existenzentwurf, der die kulturell etablierten Statuszuteilungen unterläuft und das soziale Miteinander neu, d.h. diakonisch strukturiert. Die Kirche ist dieser diakonisch neu strukturierte Raum innerhalb der Gesellschaft. Sie findet „die wahre Quelle der Macht im Dienen statt im Herrschen“ 192. Für die Glieder der Kirche gilt: „Wir sind als Glieder das Patientenkollektiv, in dem jeder auf die Hilfe anderer angewiesen ist (auch der Stärkste hat Unsinn geredet, wenn er sagt: Ich bedarf eurer nicht, 1Kor 12,21) und in dem jedem von uns das Helfen zugetraut und zugemutet wird.“ 193 Dieses diakonische Miteinander, diese Wechselseitigkeit, dieses verlässliche Miteinander von Verschiedenen kennzeichnet die Kirche als einen Raum der „Solidarität zwischen Gesunden und Kranken“ 194. 186 W. SCHRAGE, a.a.O., 31. Ebd. 188 Ebd. 189 E. JÜNGEL, a.a.O., 124. 190 So M. ZEINDLER, Gott und das Schöne. Studien zur Theologie der Schönheit, FSÖTh 68, Göttingen 1993, 395, K. BARTH (KD IV/1, 207) zitierend. 191 M. KONRADT, a.a.O., 214. 192 S. HAUERWAS, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, Evangelium und Ethik Bd. 4, Neukirchen-Vluyn 1995, 162. 193 U. BACH, a.a.O., 185. 194 A.a.O., 194. 187 41 Kirche hat sich in Folge dessen jedem Trend zur Entsolidarisierung zu widersetzen. Dies gelingt am effektivsten, wenn die Kirche selbst Modelle des gelingenden Miteinanders von Gesunden und Behinderten vorlebt und dabei einladend 195 wirkt 196: „The Christian’s care for the weak embodies no grand humanistic vision, but only the idea that regardless of its accomplishments, no society that fails to care for retarded will be worthy or humane. It is just this kind of vision that exposes the sinful and power-hungry pretensions we hide behind our claims to serve others in the name of humanity.” 197 Die wahre Kirche wird sich durch das in ihr herrschende Klima der Annahme, Solidarität und Nächstenliebe sichtbar und erlebbar von jenem gesellschaftlichen Druck unterscheiden 198, dem sich etwa Eltern vielfach ausgesetzt sehen, wenn sie trotz des humangenetischen Befundes einer Abweichung im Erbgut ihr behindertes Kind wissentlich austragen 199. Eine Kirche, die sich ihrer Fremdlingschaft in der Welt nicht schämt 200, unterminiert jenes sich nur allzu leicht einschleichende kollektive Bewusstsein: Behinderte müssen nicht sein. Behinderte können aussortiert, selektiert werden. Es lohnt sich nicht zu lernen, mit Behinderten zu leben. Wir müssen sie nicht integrieren, wir müssen sie nicht teilhaben lassen, wir müssen sie nicht begleiten, wenn sie leiden. Eine Kirche, die durch ihren alternativen Lebensstil im Umgang mit Behinderten gesellschaftlich hervorsticht, bildet das beste Präventiv gegenüber jener eugenischen Mentalität, der das Verlangen nach Menschenzüchtung erwächst. Sie verdeutlicht, dass gesellschaftlich nicht eine Anthropotechnologie, sondern eine Kultur der Solidarität benötigt wird. „Deshalb ist das Ziel einer kirchlichen Ethik, die nicht nur den Staat in rechtlicher Hinsicht als Adressaten vor Augen hat, Alternativen in die Gesellschaft hineinzutragen und 195 Vgl. G. PLASGER, Einladende Ethik. Zu einem neuen evangelischen Paradigma in einer pluralen Gesellschaft, KuD 52 (2005), 126-156. 196 Vgl. H.S. REINDERS, The Future of the Disabled in Liberal Society. An Ethical Analysis, Notre Dame 2000. 197 S. HAUERWAS, Vision and Virtue. Essays in Christian Ethical Reflection, Notre Dame 1974, 193. 198 Im Blick auf die Sterbehilfe-Debatte hat P.D. BROWNING, Community Care of the Dying: Beyond the Euthanasia Debate, Encounter 66 (1/2005), 23-44, diese Dimensionen einer kirchlichen Ethik stark gemacht. Auf diesem Theoriehintergrund zur Biomedizin im Allgemeinen vgl. J.J. SHUMAN, The Body of Compassion. Ethics, Medicine, and the Church, Boulder 1999. 199 Vgl. G. PLASGER, Mensch, 79: „Immer wieder hören Eltern von Kindern beispielsweise mit der Trisomie 21, dem Down-Syndrom, dass das doch in der heutigen Zeit nicht mehr nötig sei, ein solches Kind auf die Welt zu bringen. Die hinter diesen und anderen Auffassungen stehenden Wertmaßstäbe sind nicht mit der Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus vereinbar.“ 200 Zur Rede von der „Fremdlingschaft der Kirche in der Welt“ vgl. E. BUSCH, Verbindlich von Gott reden. Gemeindevorträge, Neukirchen-Vluyn / Wuppertal 2002, 183-192; R. FELDMEIER, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief, WUNT 64, Tübingen 1992; W. KRECK, Grundfragen der Ekklesiologie, München 1981, 283-288. Vgl. 1Kor 4,11; 2Kor 5,6-9; Hebr 11,1316; 13,14; 1Petr 2,11. 42 auch selber danach zu leben. Es gelingt vielen Christen durchaus, modellhaft beispielsweise mit behinderten Menschen zu leben. Das ist keine sozialromantische Argumentation. Aber es sind gerade gelingende Modelle des Zusammenlebens, des Ernstnehmens aller Menschen, verbunden auch mit der Erwartung und Erfahrung, dass Begegnungen nicht nur belasten, sondern vor allem auch bereichern.“ 201 3.5 Schlussbemerkung Anhand der umrissenen Konturen einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ dürfte deutlich geworden sein, dass die urchristliche Apokalyptik kein erledigtes Weltbild, keine veraltete Weltanschauung ist, sondern die unaufgebbare Kategorialität des Evangeliums vom gekreuzigten und auferweckten Christus selbst bezeichnet. Wie dargestellt, besteht die genuin apokalyptische Bedeutung der urchristlichen Rede vom „neuen Menschen“ in der Aussage: „In dieser Christusebenbildlichkeit, die als solche Gottesebenbildlichkeit ist, ist gleichzeitig enthüllt, was die Gottesebenbildlichkeit des Erstgeschaffenen ist.“ 202 Dies gilt es allzumal angesichts der Eigenart neuzeitlicher Anthropologie zu akzentuieren, die nach O. Marquard darin besteht, dass der Mensch sich kaum noch unmittelbar theologisch als Ebenbild Gottes verstehen kann 203. Das Phänomen der Kupiertheit moderner Apokalypsen korrespondiert dieser Vergessenheit. Man wird sogar als Hypothese die Frage aufwerfen dürfen, ob die Vergessenheit in Bezug auf die Gottebenbildlichkeit nicht in einer Beschneidung der Apokalypse resultieren musste. Wurde die säkularisierte Apokalyptik nicht gerade so zu jener recht diffusen Stimmung, die man auf immer neue Phänomene des „Endes“ angewandt hat? Als kupierte Apokalyptik tut sie exakt das, was urchristliche Apokalyptik verweigert: Sie weckt entweder mit mehr oder weniger tiefsinnigen Zeitansagen einen allgemeinen Katastrophismus bzw. Alarmismus, der im Erschrecken vor dem Ende eher lähmt und Unentschlossenheit fördert, als dass er motivierend wirkt. Oder sie propagieren den neuen Äon der Welterneuerung und Humanisierung des Menschen in Gestalt jener Forderungen nach Züchtung, die den anvisierten „Menschenpark“ im Lichte der biblischen Rede vom 201 G. PLASGER, Mensch, 80. Das Programm einer kirchlichen Ethik unter besonderer Berücksichtigung der Behindertenthematik hat der amerikanische Ethiker S. HAUERWAS (vgl. Truthfullness and Tragedy. Further Investigations into Christian Ethics, Notre Dame 1977, 147-183; Suffering Presence. Theological Reflections on Medicine, the Mentally Handicapped, and the Church, Notre Dame 1986, 159-217; Dispatches from the Front. Theological Engagements with the Secular, Durham / London 1994, 177-86; Sanctify Them in the Truth: Holiness Exemplified, Nashville 1998, 143-156) ausgeführt. 202 P. BRUNNER, a.a.O., 88. 203 Vgl. O. MARQUARD, Art. Anthropologie, HWP 1 (1971), 362-374. 43 „neuen Menschen“ als inhuman erweisen. Ein solcher Äon wäre, biblisch-theologisch geurteilt, kein künftiger Äon des Heils, sondern des Unheils. So machen es die vermeintlichen Apokalyptiker ihren Gegnern letztlich leicht, die „Apokalyptik“ unten den Generalverdacht einer subtil perhorreszierenden Argumentationsstrategie zu stellen und als simplifizierende „Schwarzmalerei“ oder schlicht als „Allmachtswahn“ abzuweisen. Die Schriften biblischer Apokalyptik hingegen sind keine Schauermärchen, sondern zu einem großen Teil Märtyrerzeugnisse. Sie „verbreiten Hoffnung in den Gefahren, weil sie im menschlichen und kosmischen Ende den neuen Anfang Gottes verkünden.“ 204 Der moralische Appell der säkularen Apokalyptiker hingegen kennt entweder keine Hoffnung auf Erlösung oder aber er stellt einen Zusammenhang zwischen Ende und Heil, zwischen Endlichkeit und Vollendung her, der auf der Apotheose des Menschen basiert. Die Hoffnung des Glaubens aber richtet sich nicht auf einen vergöttlichten Menschen, sondern den Menschen, der in seiner Person „wahrer Gott“ und „wahrer Mensch“ ist. Und weil sie sich auf ihn richtet und an ihm ausrichtet, ist sie kritisch gegenüber inhumanen Menschenbildern eingestellt. 204 J. MOLTMANN, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 228. Vgl. a.a.O., 159. 44 Zentrum für Medizinische Ethik Medizinethische Materialien Eine vollständige Hefteliste senden wir Ihnen auf Anfrage zu. Heft 89: Sass, Hans-Martin: Die Würde des Gewissens und die Diskussion um Schwangerschaftsabbruch und Hirntodkriterien. 3. Aufl. Juni 1994. Heft 90: Jakobs, Günther: Geschriebenes Recht und wirkliches Recht beim Schwangerschaftsabbruch. März 1994. Heft 91: Sass, Hans-Martin: Ethische und bioethische Herausforderungen molekulargenetischer Prädiktion und Manipulation. 2. Aufl. Juni 1994. Heft 92: Sass, Hans-Martin: Hippokratisches Ethos und Nachhippokratische Ethik. Juni 1994. Heft 93: Koch, Hans-Georg; Sass, Hans-Martin; Meran, Johannes Gobertus: Patientenverfügung und Stellvertretende Entscheidung in rechtlicher, medizinischer und ethischer Sicht. 3. Auflage April 1996. Heft 94: Fuchs, Christoph: Allokation der Mittel im Gesundheitswesen - Rationalisierung versus Rationierung. Juni 1994. Heft 95: Schroeder-Kurth, Traute: Das "Slippery Slope"- Argument in der Medizin und Medizinethik. Dezember 1994. Heft 96: Pohlmeier, Hermann: Selbstmordverhütung - Zur Ethik von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung. Dezember 1994. Heft 97: Epplen, Jörg T.; Rieß, Angelika; Rieß, Olaf: DNA-Diagnostik in der Humangenetik: Voraussetzungen und Tendenzen. März 1995. Heft 98: Stotz, Gabriele: Theoretische und ethische Probleme der psychiatrischen Diagnose. März 1995. Heft 99: Vollmann, Jochen: Fürsorgen und Anteilnehmen: Ethics of Care. April 1995. Heft 100: Hinrichsen, Klaus V.; Sass, Hans-Martin: 10 Jahre Zentrum für Medizinische Ethik. Juni 1996. Heft 101: Schreiber, Hans-Ludwig: Die Todesgrenze als juristisches Problem - Wann darf ein Organ entnommen werden? Juli 1995. Heft 102: Hartmann, Fritz: Lebens- und Hilfeleistungen im Sterben. 2. Aufl. Februar 1996. Heft 103: Kielstein, Rita (Hg.): Ethische Aspekte in der Nephrologie. 2. Aufl. Februar 1995. Heft 104: Bernat, Erwin: Antizipierte Erklärungen und das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Januar 1996. Heft 105: Richter, Gerd; Schmid, Roland M.: Ethische Perspektiven der Gentherapie 1995. Januar 1996. Heft 106: Bauer, Axel: Braucht die Medizin Werte? Gedanken über die methodologischen Probleme einer „Bioethik“. März 1996. Heft 107: Tausch, Reinhard: Empirische Untersuchungen zu Sinn-Erfahrungen und Wertauffassungen. Juli 1996. Heft 108: Sass, Hans-Martin: Ethik-Unterricht im Medizinstudium; Methoden, Modelle und Ziele der Integration von Medizinethik in die medizinische Aus- und Fortbildung. August 1996. Heft 109: Meyer, Frank P.: Salus aegroti suprema lex; Probleme klinischer Studien aus der Sicht eines Mitgliedes einer Ethikkommission - Schwerpunkt Onkologie. August 1996. Heft 110: Sass, Hans-Martin: Reform von Gesundheitswesen und Krankenhäusern in verantwortungsethischer Perspektive. August 1996. Heft 111: Sass, Hans-Martin, Kielstein, Rita: Die medizinische Betreuungsverfügung in der Praxis. Vorbereitungsmaterial, Modell einer Betreuungsverfügung, Hinweise für Ärzte, Bevollmächtigte, Geistliche und Anwälte. 7. Auflage Dezember 2000. Heft 112: Spittler, Johann F.: Sterbeprozess und Todeszeitpunkt - Die biologischen Phänomene und ihre Beurteilung aus medizinischer Sicht. August 1996. Heft 113: May, Arnd; Gawrich, Stefan; Stiegel, Katja: Empirische Erfahrungen mit wertanamnestischen Betreuungsverfügungen. 2. Auflage Juli 1997. Heft 114: Biller, Nikola: Der Personbegriff in der Reproduktionsmedizin. September 1997. Heft 115: Kaminsky, Carmen: Gesagt, gemeint, verstanden? Zur Problematik der Validität vorsorglicher Patientenverfügungen. Oktober 1997. Heft 116: Baumann, Eva: Gesellschaftliche Konsensfindung und Humangenetik. Oktober 1997. Heft 117: May, Arnd: Betreuungsrecht und Selbstbestimmung am Lebensende. September 1998. Heft 118: Zülicke, Freddy: Chancen und Risiken von Gentechnik und Reproduktionsmedizin. September 1998. Heft 119: Meyer, Frank P.; Sass, Hans-Martin: Klinische Forschung 2000. Oktober 1998. Heft 120: Grossmann, Wilfried; Maio, Giovanni, Weiberg, Anja: Ethik im Krankenhausalltag - Theorie und Praxis. Oktober 1998. Heft 121: Sponholz, Gerlinde; Allert, Gebhard; Keller, Frieder; Meier-Allmendinger, Diana; Baitsch, Helmut: Das Ulmer Modell medizinethischer Lehre. Sequenzierte Falldiskussion für die praxisnahe Vermittlung von medizinethischer Kompetenz (Ethikfähigkeit); Uhl, Andreas; Lensing; Claudia: Perspektiven und Gedanken zur medizinethischen Ausbildung. August 1999. Heft 122: Schmitz, Dagmar; Bauer, Axel W.: Evolutionäre Ethik und ihre Rolle bei der Begründung einer zukünftigen Medizin- und Bioethik. März 2000. Heft 123: Hartmann, Fritz: Chronisch Kranksein als Grenzlage für Kranke und ihre Ärzte. März 2000. Heft 124: Baberg, Henning T.; Kielstein, Rita; Sass, Hans-Martin (Hg.): Der Behandlungsverzicht im Blick des Bochumer Inventars zur medizinischen Ethik (BIME). April 2000. Heft 125: Spittler, Johann F.: Locked-in-Syndrom und Bewusstsein – in dubio pro vita. August 2000. Heft 126: Ilkiliç, Ilhan: Das muslimische Glaubensverständnis von Tod, Gericht, Gottesgnaden und deren Bedeutung für die Medizinethik. September 2000. Heft 127: Maio, Giovanni: Ethik und die Theorie des "minimalen Risikos" in der medizinischen Forschung. September 2000. Heft 128: Zenz, Michael; Illhardt, Franz Josef: Ethik in der Schmerztherapie. November 2000. Heft 129: Godel-Ehrhardt, Petra; May, Arnd T.: Kommunikation und Qualitätssicherung im Betreuungsrecht – Ergebnisse einer Befragung zur Mailingliste [email protected]. März 2001. Heft 130: Dabrock, Peter; Klinnert, Lars: Würde für verwaiste Embryonen? Ein Beitrag zur ethischen Debatte um embryonale Stammzellen. Juli 2001. Heft 131: Meyer, Frank P.: Ethik der Verantwortung. Verkommt »Evidence Based Medicine« zu »Money Based Medicine«? März 2002. Heft 132: Sass, Hans-Martin: Menschliche Ethik im Streit der Kulturen. März 2002. Heft 133: Knoepffler, Nikolaus: Menschenwürde als Konsensprinzip für bioethische Konfliktfälle in einer pluralistischen Gesellschaft. März 2002. Heft 134: Quante, Michael: Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung und Menschenwürde. März 2002. Heft 135: Köchy, Kristian: Philosophische Grundlagenreflexion in der Bioethik. März 2002. Heft 136: Hengelbrock, Jürgen: Ideengeschichtliche Anmerkungen zu einer Ethik des Sterbens. Juli 2002. Heft 137: Schröder, Peter: Vom Sprechzimmer ins Internetcafé: Medizinische Informationen und ärztliche Beratung im 21. Jahrhundert. Juli 2002. Heft 138: Zühlsdorf, Michael T.; Kuhlmann, Jochen: Klinische und ethische Aspekte der Pharmakogenetik. August 2002. Heft 139: Frey, Christofer; Dabrock, Peter: Tun und Unterlassen beim klinischen Entscheidungskonfliktfall. Perspektiven einer (nicht nur) theologischen Identitätsethik. August 2002. Heft 140: Meyer, Frank P.: Placeboanwendung – die ethischen Perspektiven. März 2003. Heft 141: Putz, Wolfgang; Geißendörfer, Sylke; May, Arnd: Therapieentscheidung am Lebensende - Ein "Fall" für das Vormundschaftsgericht? 2. Auflage August 2003. Heft 142: Neumann, Herbert A.; Hellwig, Andreas: Ethische und praktische Überlegungen zur Einführung der Diagnosis Related Groups für die Finanzierung der Krankenhäuser. Januar 2003. Heft 143: Hartmann, Fritz: Der Beitrag erfahrungsgesicherter Therapie (EBM) zu einer ärztlichen Indikationen-Lehre. August 2003. Heft 144: Strätling, Meinolfus; Sedemund-Adib, Beate; Bax, Sönke; Scharf, Volker Edwin; Fieber, Ulrich; Schmucker, Peter: Entscheidungen am Lebensende in Deutschland. Zivilrechtliche Rahmenbedingungen, disziplinübergreifende Operationalisierung und transparente Umsetzung. August 2003. Heft 145: Hartmann, Fritz: Kranke als Gehilfen ihrer Ärzte. 2. Auflage Dezember 2003. Heft 146: Sass, Hans-Martin: Angewandte Ethik in der Pharmaforschung. Januar 2004. Heft 147: Joung, Phillan: Ethische Probleme der selektiven Abtreibung: Die Diskussion in Südkorea. Januar 2004. Heft 148: May, Arnd T; Brandenburg, Birgitta: Einstellungen medizinischer Laien zu Behandlungsverfügungen. Januar 2004. Heft 149: Hartmann, Fritz: Sterbens-Kunde als ärztliche Menschen-Kunde. Was heißt: In Würde sterben und Sterben-Lassen? Januar 2004. Heft 150: Reiter-Theil, Stella: Ethische Probleme der Beihilfe zum Suizid. Die Situation in der Schweiz im Lichte internationaler Perspektiven. Februar 2004. Heft 151: Sass, Hans-Martin: Ambiguities in Biopolitics of Stem Cell Resarch for Therapy. März 2004. Heft 152: Ilkilic, Ilhan: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in islamischen Traditionen. 3. Auflage März 2005. Heft 153: Omonzejele, Peter F.: African Concepts of Health, Disease and Treatment [A Future for Traditional Medicines and Spiritual Healings? A Postscript on Peter F Omonzeleje by Hans-Martin Sass]. April 2004. Heft 154: Lohmann, Ulrich: Die neuere standesethische und medizinrechtliche Entwicklung in Deutschland – Wandel des Menschenbildes? Mai 2004. Heft 155: Friebel, Henning; Krause, Dieter; Lohmann, Georg und Meyer, Frank P.: Verantwortungsethik. Interessenkonflikte um das Medikament - Wo steht das Medikament? Juni 2004. Heft 156: Kreß, Hartmut: Sterbehilfe - Geltung und Reichweite des Selbstbestimmungsrechts in ethischer und rechtspolitischer Sicht.1. Auflage September 2004, 3. Auflage März 2005. Heft 157: Fröhlich, Günter und Rogler, Gerhard: Das Regensburger Modell zur Ausbildung in klinischer Ethik. Dezember 2004. Heft 158: Ilkilic, Ilhan; Ince, Irfan und Pourgholam-Ernst, Azra: E-Health in muslimischen Kulturen. Dezember 2004. Heft 159: Lenk, Christian; Jakovljevic, Anna-Karina: Ethik und optimierende Eingriffe am Menschen. 2.Auflage Februar 2005. Heft 160: Ilkilic, Ilhan: Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. Eine Handreichung für die Gesundheitsberufe. 1. Auflage Juli 2003 (Tübingen), 5. Auflage April 2005. Heft 161: Hartmann, Fritz: Vom Diktat der Menschenverachtung 1946 zur "Medizin ohne Menschlichkeit" 1960; Zur frühen Wirkungsgeschichte des Nürnberger Ärzteprozesses. 1. Auflage Februar 2005, 2. Auflage März 2005. Heft 162: Strätling, Meinolfus u.a.: Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung in Deutschland. Juni 2005. Heft 163: Sass, Hans- Martin: Abwägungsprinzipien zum Cloning menschlicher Zellen. Januar 2006. Heft 164: Vollmann, Jochen: Klinische Ethikkomitees und klinische Ethikberatung im Krankenhaus. Ein Praxisleitfaden über Strukturen, Aufgaben, Modellen und Implementierungsschritte. Januar 2006. Heft 165: Sass, Hans- Martin: Medizinische Ethik bei Notstand, Krieg und Terror. Verantwortungskulturen bei Triage, Endemien und Terror. Februar 2006. Heft 166: Sass, Hans-Martin: Gesundheitskulturen im Internet. E-Health-Möglichkeiten, Leistungen und Risiken. 1. Auflage Februar 2006, 2. Auflage März 2006. Heft 167: May, Arnd T.; Kohnen, Tanja: Körpermodifikation durch Piercing: Normalität, Subkultur oder Modetrend? Mai 2006 Heft 168: Anderweit, Sabine; Ilkilic, Ilhan; Meier-Allmendinger, Diana; Sass, Hans-Martin; Cheng-tek Tai, Michael: Checklisten in der klinisch-ethischen Konsultation. Mai 2006 Heft 169: Kielstein, Rita; Kutzer, Klaus; May, Arnd; Sass, Hans-Martin: Die Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis. April 2006 Heft 170: Brenscheidt, Juliane; May, Arnd T.; May, Burkard; Kohnen, Tanja; Roovers, Anna; Sass, Hans-Martin: Zentrum für Medizinische Ethik Bochum 1986 – 2006. Heft 171: Dabrock, Peter; Schröder, Peter: Public Health Gen-Ethik. 1. Auflage August 2006. Heft 172: Berg, Michael: Lebensbeendende Behandlungsbegrenzung bei Wachkomapatienten – „passiver Suizid“ im Spannungsfeld von pflegerischem Berufsethos und Selbstbestimmungsrecht des Patienten am Beispiel des „Kiefersfeldener-Falles“ 1. Auflage Oktober 2006 Bestellschein An das Zentrum für Medizinische Ethik Ruhr-Universität Bochum Gebäude GA 3/53 44780 Bochum Tel: (0234) 32 22749 FAX: (0234) 3214 598 Email: [email protected] Homepage: http://www.medizinethik-bochum.de Bankverbindung: Konto Nr. 133 189 035, BLZ 430 500 01 Sparkasse Bochum Name oder Institut: Adresse: ( ) Hiermit abonniere(n) wir/ich die Reihe MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN zum Sonderpreis von € 4,00 pro Stück ab Heft Nr.____. Dieser Preis schließt die Portokosten mit ein. ( ) Hiermit bestelle(n) wir/ich die folgenden Einzelhefte der Reihe MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN zum Preis von € 6,00 (bei Abnahme von 10 und mehr Exemplaren € 4,00 pro Stück). Hefte Nummer: _____________________________________________ Zusammenfassung Apokalyptische Stimmungen und Visionen haben Konjunktur. Auch im gegenwärtigen biomedizinethischen Diskurs lässt sich etwa im Blick auf den gefakten südkoreanischen „Klon-Erfolg“ oder die sog. „Sloterdijk-Debatte“ die Wiederkehr apokalyptischer Deutungsmuster beobachten. Die vorliegende Untersuchung beschreibt die verschiedenen vorfindlichen „bioapokalyptischen“ Argumentationstypen bzw. Denkmuster und versucht fernerhin zu zeigen, inwiefern diese inhaltlich mit der urchristlichen Apokalyptik inkompatibel sind. Es wird die These vertreten, dass die nachweisbaren „Bioapokalypsen“ den profanen, neuzeitlich-säkularisierten Apokalypsen zuzurechnen sind, die sich bei näherem Hinsehen als kupierte Apokalypsen erweisen: Sie blenden die biblische, genauer: apokalyptisch-paulinische Rede von der „neuen Kreatur“ aus und umgehen so die Pointe biblischer Apokalyptik. Gerade darin besteht, aus binnenkirchlicher Perspektive geurteilt, ihre theologische Illegitimität. Dabei ist allerdings aus einer solchen Perspektive heraus selbstkritisch der indirekte Beitrag zu beachten, den die Theologie dazu lieferte, indem sie nämlich besagte Pointe vielfach kaum oder gar nicht artikulierte und dadurch jenes Vakuum entstehen ließ, das anderweitig gefüllt wurde. Summary Millennial fever and apocalyptic visions are widespread and wide-ranging phenomena. For example, the alleged Korean cloning success and the so called „Sloterdijk-debate“ reveal a renaissance of apocalyptic interpretations in contemporary bioethical discourse. This investigation explores the role of apocalyptic argumentation in medical ethics from a Christian perspective. It demonstrates the incompatibility of the „bio-apocalypses“ frequently envisioned in bioethics from the authentic hope of early Christianity. These secularized „bioapocalypses“ are a manifestation of neo-apocalypticism. They belong to the „cropped apocalypses“ of the modern project. From a Christian perspective, they are inadequate because they lack the Pauline message of the „new creation in Christ“ and therefore miss the point of Paul's apocalyptic gospel. The failure of the dominant theologies to take seriously the apocalyptic themes of the Bible has helped to create a theological vacuum that has been filled by neo-apocalypticism. ISBN: 978-3-931993-54-2