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Zentrum für Medizinische Ethik
MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN
Heft 173
Apokalyptik im biomedizinethischen Diskurs
Eine theologische Analyse der aktuellen Debatte
“Für Hans G. Ulrich zum 65. Geburtstag in Dankbarkeit”
Marco Hofheinz
Mai 2007
Marco Hofheinz, Dr. theol., geb. 1973, 1993-2000 Studium der Ev. Theologie in Wuppertal, Bonn, Tübingen,
Lexington (Kentucky), Durham (Duke University), Göttingen, 2000 Erstes Kirchliches Examen, 2001-2003
Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, 2003-2005 Vikar der Ev.-Ref. Kirchengemeinde
Eiserfeld, 2006 Zweites Kirchliches Examen, seit Sommersemester 2006 Wissenschaftlicher Assistent am
Institut für Systematische Theologie (Abteilung Ethik, Lehrstuhl Prof. Dr. W. Lienemann) der Universität Bern
(CH).
1. Die Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen Debatte
1.1 Einleitung: Der „bioapokalyptische“ Argumentationstyp……….………………………………….1
1.2 Schöne neue Menschenwelt? Der „neue Mensch“ im Spannungsfeld von positiver
und negativer Utopie…………………………………………………………………………………….4
1.3 Der südkoreanische „Klon-Erfolg“. Zur bioapokalyptischen Beschreibung einer
manipulierten biomedizinischen Innovation……………………………………………………...……..7
1.4 Dammbruch, Rubikon, schiefe Ebene. Die „bioapokalyptische“ Metaphorik…….………………10
1.5 Die Sloterdijk-Debatte…….……………………………………………………………………….13
1.6 Die Apokalypse des „neuen Menschen“. Das implizite Menschenbild biomedizinischer Forschung und die Leitbildfunktion der Rede vom „neuen Menschen“………………………...16
2. Die Apokalypse der neuen Schöpfung. Zur paulinischen Rede
vom „neuen Menschen“
2.1 Die paulinische Modifikation der Zwei-Äonen-Lehre als apokalyptischer
Referenzrahmen der Rede vom „neuen Menschen“…………………………………………………..19
2.2 Der „neue Mensch“ als Gottes Ebenbild……….………………………………………………….21
2.3 Ecce Homo – Das Kreuz Christi als Apokalypse des „neuen Menschen“………………………...25
3. Konturen einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“
im Blick auf die aktuelle biomedizinethische Debatte
3.1 Der Gegenstand einer apokalyptischen Ethik: Der „neue Mensch“ als
Subjekt ethischen Handelns……………………………………………………………………………31
3.2 Biomedizinethische Konsequenzen….…………………………………………………………….33
3.3 Eine Klarstellung zu den kreuzestheologischen Implikationen einer apokalyptischen
Ethik des „neuen Menschen“…………………………………………………………………………..37
3.4 Ethik des „neuen Menschen“ als kirchliche Ethik.………………………………………………...40
3.5 Schlussbemerkung…….……………………………………………………………………..…43-44
Herausgeber:
Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass
Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann
Prof. Dr. med. Michael Zenz
Zentrum für Medizinische Ethik Bochum,
Ruhr-Universität Bochum, Gebäude GA 3/53,44780 Bochum,
TEL +49 234 32-22749/50, FAX +49 234 3214-598
Email: [email protected]
Internet: http://www.medizinethik-bochum.de
Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS FÜR
MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Das Copyright liegt beim
Autor.
© Marco Hofheinz
Schutzgebühr: € 6,00
Bankverbindung:
Sparkasse Bochum Kto.-Nr. 133 189 035
BLZ: 430 500 00
ISBN: 978-3-931993-54-2
1. Auflage Juni 2007
Apokalyptik im biomedizinethischen Diskurs.
Eine theologische Analyse der aktuellen Debatte
Marco Hofheinz
1. DIE RENAISSANCE DER APOKALYPTIK IN DER BIOMEDIZINETHISCHEN
DEBATTE
1.1 Einleitung: Der „bioapokalyptische“ Argumentationstyp
Zu Beginn der 90er Jahre stellte U.H.J. Körtner fest: „Es zeichnet die zeitgenössische
Diskussion um die ökologische Krise und die Gefahr eines atomaren Weltkrieges aus, daß sie
in abgewandelter Form von apokalyptischen Deutungsmustern Gebrauch macht, die von den
angesprochenen Gefahren unabhängig bestehende Bewußtseinsphänomene sind.“ 1 Diese
Beobachtung dürfte gegenwärtig auch auf die biomedizinethische Debatte zutreffen. Die
Wiederkehr apokalyptischer Deutungsmuster lässt sich – wie im Folgenden gezeigt werden
soll – in dem ca. 30 Jahre alten, mit dem Schlagwort „Biomedizinethik“ bezeichneten Diskurs
unschwer nachweisen 2. Was seine Reichweite betrifft, so ist er keineswegs an die engen
Grenzen der akademischen Disziplin „Biomedizinethik“ gebunden, vielmehr sind an ihm –
wie die folgende Darstellung der Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen
Debatte zeigt – Journalisten und Politiker, Mediziner und Philosophen, Biologen und
Theologen, Bischöfe und Verfassungsrichter beteiligt.
Wenn von der Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen Debatte im
Weiteren die Rede ist, so bezeichnet der Begriff „Apokalyptik“ das, was der französische
Soziologe J. Baudrillard den „Subtext“ oder den „Geist“ genannt hat, den bestimmte
biotechnische Praktiken wie etwa das Klonen widerspiegeln bzw. induzieren 3. Dieser findet
seinen Niederschlag in den Argumentationsgängen des biomedizinethischen Diskurses. Was
den konkreten Be-griffsgebrauch betrifft, so wird ein bestimmter, vielfach wiederkehrender
Argumentationstyp, der im Folgenden herausgearbeitet werden soll, als „apokalyptisch“
rubriziert.
1
U.H.J. KÖRTNER, Weltende. Zur theologischen Herausforderung apokalyptischen Denkens im Zeichen globaler
Bedrohung, EvErz 45 (1993), (286-300) 295.
2
Zur Geschichte der „Bioethik“ und der Darstellung ihrer grundlegenden Theorieansätze vgl. J.S. ACH / CHR.
RUNTENBERG, Bioethik. Disziplin und Diskurs. Zur Selbstaufklärung angewandter Ethik, Kultur der Medizin.
Geschichte – Theorie – Ethik Bd. 4, hg. v. A. Frewer, Frankfurt a.M. 2002; M. DÜWELL / K. STEIGLEDER (Hg.),
Bioethik. Eine Einführung, stw 1597, Frankfurt a.M. 2003; CHR. REHMANN-SUTTER, Art. Bioethik, Handbuch
Ethik, hg. v. M. Düwell u.a., Stuttgart / Weimar 2002, 247-252.
3
Vgl. z.B. J. BAUDRILLARD, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992, 131-142;
ders., Vom zeremoniellen zum geklonten Körper: Der Einbruch des Obszönen, in: D. Kamper / Chr. Wulf (Hg.),
Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a.M. 1982, (350-362) bes. 354-359.
1
Der Begriff „Apokalyptik“ wird also hier in einem weiten Sinne zur Bezeichnung jenes
Gesamtphänomens
einer
geistigen
Strömung
gebraucht,
das
verschiedene
Erscheinungsweisen zeitigt – von der frühjüdischen und urchristlichen Apokalyptik
angefangen, bis hin zu den beschnittenen, „kupierten“ 4 oder „nackten Apokalypsen“ 5 der
Gegenwart, die im biomedizinethischen Diskurs neue Urstände feiern. Eine „harte“
Ausgangsdefinition mit einem strengen Kriterienkatalog wird damit bewusst nicht geliefert.
Gleichwohl kehren bestimmte Merkmale wieder, die bis zu einem gewissen Grad eine
Gegenprüfung erlauben. Dieser vage anmutende Definitionsversuch hat den Vorteil, dass er es
erlaubt,
bestimmte
Erscheinungsweisen
der
„Apokalyptik“,
wie
sie
etwa
im
biomedizinethischen Diskurs unserer Tage ansichtig werden, auf die Ursprünge des
Phänomens zurückzubeziehen, um inhaltliche Verschiebungen innerhalb der Tradition
kenntlich zu machen.
Indem der biomedizinethische Diskurs in einem apokalyptischen Deutungsrahmen
erscheint, ist es möglich, die Renaissance der Apokalyptik in der biomedizinethischen Debatte
im Lichte des kritischen Potentials der urchristlichen, insbesondere der paulinischen
Apokalyptik zu sehen. Insofern wird dem Desiderat von Chr. Frey und M. Wolter Folge
geleistet, welche fordern:
„Wenn apokalyptische Stimmungen und Visionen Konjunktur haben, muß zumindest im kirchlichen
Binnenraum sowie im Religionsunterricht die Frage gestellt werden, ob sie durch diejenigen biblischen (und
außerbiblischen) Traditionen zu legitimieren sind, auf die sich der im 19. Jahrhundert geprägte Begriff der
Apokalyptik im strengen Sinn bezieht.“ 6
Mir kommt es darauf an, die verschiedenen „bioapokalyptischen“ Argumentationstypen
bzw. Denkmuster zu beschreiben und fernerhin zu zeigen, inwiefern sie inhaltlich gerade
4
Den Begriff der „kupierten Apokalypse“ hat K. VONDUNG, Inversion der Geschichte. Zur Struktur des
apokalyptischen Geschichtsdenkens, in: D. Kamper / Chr. Wulf (Hg.), Das Heilige. Seine Spur in der Moderne,
Frankfurt a.M. 1987, (600-624) 615, geprägt. Nach O. BRIESE, Einstimmung auf den Untergang. Zum
Stellenwert „kupierter“ Apokalypsen im gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Diskurs, AZP 20 (1995),
(145-156) 145, dominieren „kupierte“ Apokalypsen den gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Diskurs und
zeugen vom Zerbrechen des einstigen Grundschemas der Dialektik von Untergang und Erneuerung: „Die
Umkehrstruktur von Apokalypsen – Katastrophe und Rettung wird um den zweiten Teil beschnitten: Die
Katastrophe ist die Katastrophe. Sie stellt sich nicht um möglicher Errettung willen ein – ein Motiv jeder
Theodizee oder Anthropodizee –, sondern sie zeitigt unwiderruflich das Ende. Apokalypse ist Finale. Sie ist aber
nicht Höhepunkt, sondern Schlußpunkt.“
5
G. ANDERS, Die atomare Drohung (= 4. Aufl. von „Endzeit und Zeitende“ (1959)), München 1983, 207,
identifizierte in den 50er Jahren angesichts der atomaren Bedrohung die „nukleare Apokalypse“, die den
Weltuntergang als von Menschen verursachte und gemachte Vernichtung erwarte und als gottlose Apokalypse
weder Gericht noch Gnade kenne, als „eine nackte Apokalypse, d.h. die Apokalypse ohne Reich“. Nach Anders
ist der im teleologisch orientierten Fortschrittsglauben vorhandene Gedanke des „Reiches ohne Apokalypse“
gegen den Gedanken von der „Apokalypse ohne Reich“ einzutauschen.
6
CHR. FREY / M. WOLTER, Kennwort „Apokalyptik“, GlLern 14 (1999), (11-22) 13.
2
nicht mit der urchristlichen Apokalyptik kompatibel sind. Meine These besagt, dass die
profanen, neuzeitlich-säkularisierten Apokalypsen kupierte Apokalypsen sind, deren
entscheidendes Defizit darin besteht, dass sie die biblische Rede von der „neuen Kreatur“
ausblenden und so die Pointe biblischer Apokalyptik umgehen. Gerade darin besteht, aus
binnenkirchlicher Perspektive geurteilt, ihre theologische Illegitimität. Dabei ist allerdings aus
einer solchen Perspektive heraus selbstkritisch der indirekte Beitrag zu beachten, den die
Theologie dazu lieferte, indem sie nämlich besagte Pointe vielfach kaum oder gar nicht
artikulierte und dadurch jenes Vakuum entstehen ließ, das anderweitig gefüllt werden
konnte 7.
Die einzelnen Themen und Probleme der Biomedizinethik wie etwa die Frage nach dem
moralischen Status menschlicher Embryonen, nach Präimplantationsdiagnostik (PID),
Reproduktionsmedizin,
Klonen,
Transplantationsmedizin,
Hirntod,
Sterbehilfe
und
Euthanasie, Humanexperimenten, Gesundheitsökonomie etc. sind emotional stark besetzt 8.
Angesichts der Tatsache, dass sie mit zunehmender Dynamik in die verschiedensten
Lebensbereiche unserer Gesellschaft und auch das Leben des Einzelnen eingreifen und dabei
die Frage nach dem Selbstverständnis der Gattung aufwerfen, verwundert dies nicht.
Befürworter und Gegner stehen sich häufig unversöhnt gegenüber, diffamieren einander als
„religiöse Fundamentalisten“, „Technikfeinde“ oder „Erfüllungsgehilfen der Großindustrie“,
die den Körper dank innovativer Methoden als Handelsgut auf dem Markt der Möglichkeiten
anbieten 9.
Die biomedizinethischen Debatten, die einst in Fachkreisen begannen, sind längst
„biopolitisch“ in den Parlamenten eskaliert und justitiabel geworden 10. Dass die
Kombattanten in naher Zukunft die Liebe zum Kammerton entdecken, steht nicht zu erwarten.
Es macht sich bemerkbar, dass es hierzulande kein dominantes konsensorientiertes Paradigma
gibt, an dem sich die Theoriebildung abarbeitet. Die intensive Debatte ist immer noch stark
vom prinzipienethischen Widerstreit zwischen deontologischen und teleologischen bzw.
konsequentialistischen Ansätzen geprägt 11, an denen entlang die Argumentationslinien
verlaufen. Mitunter gerät der Biomedizinethikbegriff selbst unter die sich fundamentalkritisch
7
Darauf macht D.L. MIGLIORE, Faith Seeking Understanding. An Introduction to Christian Theology, Grand
Rapids 1991, 235, zu Recht aufmerksam.
8
Vgl. R. ANSELM / U.H.J. KÖRTNER (Hg.), Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung,
Göttingen 2003, und dazu: W. SCHOBERTH, Pluralismus und die Freiheit evangelischer Ethik, in: ders. / I.
Schoberth (Hg.), Kirche – Ethik – Öffentlichkeit. Christliche Ethik in der Herausforderung. FS H.G. Ulrich,
EThD 5, Münster 2002, 249-264.
9
Vgl. P. GEHRING, Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a.M. 2006.
10
Vgl. CHR. GEYER (Hg.), Biopolitik. Die Positionen, Frankfurt a.M. 2001.
11
Vgl. CHR. FREY, Argumentieren angesichts der Gentechnik. Die Aufgabe der evangelischen Ethik in der
gegenwärtigen genethischen Debatte, WzM 54 (2002), 453-468; O. HÖFFE, Medizin ohne Ethik, Frankfurt a.M.
2002, 41ff.
3
gerierende Verdächtigung: Als utilitaristisch-biologistisches Theoriedesign diene er allein der
Akzeptanzbeschaffung für moderne Technologien und unterminiere zu diesem Zweck die
geltenden Wertfundamente humanen Zusammenlebens.
Wie pluralistisch und selbstreflexiv ist der biomedizinethische Diskurs tatsächlich
angelegt? Und welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die „Apokalyptik“? Bestätigt
sich etwa hinsichtlich der biomedizinethischen Debatte das ironische Diktum H.M.
Enzensbergers: „Die Apokalypse gehört zu unsrem ideologischen Handgepäck“ 12?
1.2 Schöne neue Menschenwelt? Der „neue Mensch“ im Spannungsfeld von positiver
und negativer Utopie
Die dynamische Entwicklung der Biotechniken wird bereits seit Jahrzehnten von
Befürwortern wie Gegnern mit Szenarien einer künftigen Gesellschaft „apokalyptisch“
begleitet. Ein Blick in die Kultur- und Literaturgeschichte genügt, um festzustellen, dass die
Geschichte der Utopie vom apokalyptischen Motiv des „neuen Menschen“ durchdrungen ist.
Visionen vom „künstlichen Menschen“ reichen vom Pygmalion-Mythos über die
Homunkulusschilderung in Goethes „Faust II“ bis hinzu zu A. Huxleys zukunftskritischem
Roman „Brave New World“ 13 (1932). Mit zunehmender technischer Entwicklung werden, so
hat es den Anschein, die Szenarien düsterer. Aus utopischen Paradiesvorstellungen werden
Gegenutopien 14.
An die Stelle von F. Bacons unvollendeter, positiver Utopie „Nova Atlantis“, einem
romanhaften Reisebericht, der die Utopie eines vollkommenen Staatswesens entwickelt, das
seine Stabilität den ständig wachsenden Ergebnissen der empirischen Wissenschaften
verdankt, tritt die negative Utopie 15. F. Bacon verkündigte vor mehr als 350 Jahren die
Devisen: „Wissen ist Macht“ und „tantum possumus quantum scimus“ („wir können so viel,
wie wir wissen“). Er verknüpfte mit ihnen die Forderung, „die Ursachen und Bewegungen
12
H.M. ENZENSBERGER, Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang, in: ders., Politische Brosamen, Frankfurt
a.M. 1985, (225-236) 225.
13
Der Titel enthält eine Anspielung auf W. Shakespeares Theaterstück „The Tempest / Der Sturm“, in welchem
die weibliche Hauptfigur Miranda, Tochter des rechtmäßigen Herzogs von Mailand, beim ersten Anblick eines
Mannes, der sich später als schlimmster Feind der Familie herausstellen wird, entzückt ausruft: „O schöne neue
Welt, die solchen Menschen Wohnung gibt!“ W. SHAKESPEARE, The Tempest / Der Sturm. English / Deutsch,
übers. und hg. v. G. Stratmann, Stuttgart 1982, 143 (Akt V, Szene 1).
14
K. MANNHEIM, Ideologie und Utopie, Frankfurt a.M. 1969, 169, kennzeichnet die Utopie als ein über die
gegenwärtige Realität hinausstrebendes Denken: „Utopisch ist ein Bewußtsein, das sich mit dem umgebenden
‚Sein’ nicht in Deckung befindet“.
15
M. WINTER, Don Quijote und Frankenstein. Utopie als Utopiekritik: Zur Genese der negativen Utopie, in: W.
Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie Bd. 3, Stuttgart 1982, (86112) 105, unterteilt die utopische Literatur in positive, negative und libertine Utopien: „Die positive Utopie (Typ
Morus) zielt auf den Fortschritt der Humanität [...]. Die negative Utopie (Typ Huxley, Orwell) zielt neben ihrer
Kritik an der Utopie auf dasselbe [...]. Die libertine Utopie kehrt das humane Telos der positiven und negativen
Utopie in ein antihumanes um“.
4
sowie die verborgenen Kräfte in der Natur zu ergründen und die Grenzen der menschlichen
Macht soweit wie möglich zu erweitern“ 16. Seine positive Utopie wich in dem Moment, in
dem seine Utopie der Herstellung von Pflanzen und Tierarten durch „künstliche Mittel“, d.h.
synthetische Biologie, dank der heutigen Molekulargenetik tatsächlich Wirklichkeit wurde,
jenen literarischen Antiutopien des 20. Jahrhunderts, die die Vorstellung von jener „schönen
neuen Welt“ parodierten bzw. zur Satire werden ließen.
Huxleys gleichnamiger Roman entfaltet das Gegenmodell einer „negativen Utopie“ oder
„Antiutopie“ zu Bacons Wunschtraum 17: Menschliche Wesen werden nicht mehr geboren,
sondern in Reagenzgläsern – in Huxleys Roman mittels des auf dem Prinzip der Knospung
basierenden
„Bokanowsky-Verfahrens“ 18
–
gezüchtet.
Wissenschaft
und
Technik,
repräsentiert durch den BUND („Brut- und Normenzentralen-Direktor“) und seine Studenten,
sorgen dafür, dass die Embryonen genau jene körperlichen und geistigen Eigenschaften
erhalten, die ihre vorherbestimmte Rolle im späteren Leben verlangt. Missbildungen können
lediglich durch Fehler oder Irrtümer der Labortechniker entstehen. Krankheiten gibt es nicht
mehr. Männer und Frauen behalten ihre Jugendlichkeit; das Gefühl von Glück und
Zufriedenheit ist ihnen angezüchtet.
Ähnlich verhält sich „Der synthetische Mensch“ 19 in dem bekannten Gedicht Erich
Kästners, das ebenfalls als negative Utopie gelten kann. Der synthetische Mensch wird als
Fertigartikel aus der Menschenfabrik des Professor Bumke beschrieben. Das „Gute“ an ihm
ist nach Auskunft desselben, dass der synthetische Mensch fix und fertig zur Welt komme,
immer konstant sei und sich nicht erst entwickeln müsse. Phantasie und Kreativität sind nach
Kästners ironisch-satirischer Zukunftsvision ebenso wenig wie nach derjenigen Huxleys
gefragt. Die Ideologie des Bumke’schen Geburtsinstituts wie der „Brut- und Normzentrale
Berlin-Dahlem“ pointiert der Wahlspruch des „neuen Weltstaates“, der im Befruchtungsraum
des BUND im Entstehen begriffen ist: „Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit“.
Rezeptionsästhetisch geurteilt, rücken Huxleys und Kästners Negativ-Utopien die
modernen biomedizinischen Techniken in eine kritische Perspektive. Sie bilden gleichsam
den apokalyptischen Deutungsrahmen um die Fragen herum, die durch die zeitgenössische
Lektüre bei Leserinnen und Lesern evoziert werden: Haben die Zukunftsvisionen Huxleys
und Kästners nicht schon längst konkrete Gestalt angenommen? Geschah nicht genau dies auf
16
F. BACON, Neu-Atlantis. Ins Deutsche übertr. v. G. Gerber und mit Anm. versehen v. F.A. Kogan-Bernstein,
Berlin 1959, 89.
17
Vgl. U.H.J. KÖRTNER, Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen
1988, 280; B. BENDER-JUNKER, Art. Utopie, 3EKL 4 (1996), (1086-1090) 1088.
18
Vgl. A. HUXLEY, Schöne Neue Welt, Frankfurt a.M. 1974, 17-21.
19
E. KÄSTNER, Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke, Stuttgart / München 2000, 59-61.
5
dem Feld der neuen biomedizinischen Technologien, wenn man beispielsweise an
Genmanipulation oder das Klonen von Duplikaten denkt? Entsprechen nicht die aktuellen
biomedizinischen Entwicklungen, von denen die Tageszeitungen berichten, exakt den
Schilderungen Kästners und Huxleys? Müssen ihre bissigen Beschreibungen der technischen
Neuschaffung des zur Massenproduktion verkommenden und in Serie gehenden Menschen
nicht geradezu als „prophetisch“ erachtet werden?
Der Roman Huxleys und das Gedicht Kästners verfolgen zweifelsohne die Absicht, eine
Welt zu kritisieren, in der der Mensch zum „Experimentierfeld“ wird. In beiden Werken tritt
paradigmatisch die Funktion der negativen Utopie in Erscheinung: Mit dem visionären Blick
in die Zukunft soll nicht etwa wie im Fall der sog. positiven Utopien das „Utopia“ des
Thomas Morus ein Traum bzw. ein erdachtes Land, wo ein gesellschaftlicher Idealzustand
herrscht, prospektiv in den Blick gefasst werden, um die Richtung gesellschaftlicher
Veränderungen anzugeben und Aufbruchsstimmung motivational zu erzeugen. Die negative
Utopie 20 entwirft ein Horrorszenario, um gesellschaftliche Tendenzen zu kritisieren und vor
Gefährdungen zu warnen 21.
Genau dies findet sich in den beiden negativen Utopien Huxleys und Kästners wieder, die
auf die Potentialität und Aktualität der mit der (bio-)technischen Machbarkeit und Planbarkeit
des Menschen einhergehenden Gefahren hinweisen. Sie zielen dabei auf Umkehr ab und
lassen sich intentional insofern als Negativ-Teleologie verstehen. Anders als die positive
Utopie besagt die negative Utopie nämlich nicht: „Da wollen wir hin. Lasst uns dahin
aufbrechen!“, sondern: „Da wollen und dürfen wir auf keinen Fall hinkommen. Deshalb lasst
uns umkehren!“ Nicht „eine Antizipation des durch das Handeln zu verwirklichenden
Zustandes“ 22 wird intendiert, sondern die Antizipation des durch das Handeln zu
vermeidenden Zustandes. Denn die negative Utopie entfaltet nicht den „Traum von der
‚wahren’ und gerechten Lebensordnung“ 23, sondern vielmehr einen Alptraum. Dieser
Alptraum hat apokalyptische Züge. Als apokalyptisch sind diese Züge freilich im Sinne eines
säkularen Gebrauchs des Begriffs „Apokalyptik“ zu qualifizieren, der dazu tendiert, den
Begriff der „Apokalyptik“ zum Synonym und zu einer Art „Passepartout“ für alles
Katastrophische werden zu lassen.
20
U.H.J. KÖRTNER, Weltangst, 279f., konstatiert: „Die negative oder Anti-Utopie meint [...] nicht einen
fortschrittsgläubigen naiven Utopismus, der Gegenstand konservativer Utopiekritik sein könnte, vielmehr eine
Literaturform, die mit den Spielregeln der Utopie deren Intentionen und Hoffnungen in ihr Gegenteil verkehrt.
Eher schon ließe sich umgekehrt sagen, daß die Anti-Utopie eine Utopiekritik mit Mitteln der Utopie darstellt,
formal betrachtet aber eine ‚Unterart der Utopie’ bildet.“
21
Vgl. F. KUSTER, Art. Utopie / Utopisten I. Philosophisch, TRE 34 (2002), (464-473) 471.
22
G. PICHT, Zukunft und Utopie. Vorlesungen und Schriften, hg. v. C. Eisenbart, Stuttgart 1992, 10.
23
M. HORKHEIMER, Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie (1930), in: ders., Gesammelte Schriften
Bd. 2: Philosophische Frühschriften 1922-1932, hg. v. G. Schmid Noerr, Frankfurt a.M. 1987, (177-268) 179f.
6
1.3 Der südkoreanische „Klon-Erfolg“. Zur bioapokalyptischen Beschreibung einer
manipulierten biomedizinischen Innovation
Im Sinne dieses Gebrauchs wird der Begriff Apokalyptik im gegenwärtigen
biomedizinethischen Diskurs von manchem Diskursteilnehmer sogar explizit verwandt. Der
Journalist C. Amery (1922-2005) beispielsweise bezeichnete sich selbst als einen „Warner“,
der „das undankbare Kassandrageschäft, die Beschwörung der Apokalypse“ 24 betreibe. Der
Molekularbiologe E. Chargaff (1905-2002), der im Jahr 1951 die „Komplementarität“ der
Nukleotidbasen entdeckte und damit die Grundlage für die „Grammatik der Biologie“ legte,
welche J. Watson und F. Crick im Jahr 1953 die Präsentation des Strukturmodells der DNS
ermöglichte, etikettiert sich in ähnlicher Weise als einen „ungehörten Propheten“. Nach
seinem „prophetischen“ Urteil handelt es sich bei den Eingriffen in Grundsteine des Lebens,
nämlich die Erbanlagen – insbesondere ins Genom der Keimzellen –, um einen zweiten
Sündenfall der Naturwissenschaft. Seine suggestive Frage: „Bin ich wirklich der einzige
Naturwissenschaftler, der ein Beben unter dem Boden spürt?“, verrät unzweifelhaft ein
apokalyptisches Pathos spätprophetischer Provenienz. Die Beispiele apokalyptischer
Selbststilisierung ließen sich leicht vermehren.
Daneben manifestiert sich das Bemühen apokalyptischen Gedankenguts in den
verschiedensten Beschreibungen biomedizinischer Innovationen. Als etwa „Der Spiegel“ im
Frühjahr 2004 über den „Klon-Erfolg“ südkoreanischer Wissenschaftler berichtete, der sich
einige Monate später, im Dezember 2005, als Fälschung erweisen sollte, titelte das
Hamburger Nachrichtenmagazin mit einem Zitat des Physiologen und Kölner Forschers an
embryonalen Stammzellen J. Hescheler, der den „Durchbruch“ beim therapeutischen Klonen
mit der Bemerkung kommentierte: „Da explodiert gerade etwas.“ 25
Während
J.
Hescheler
als
vehementer
Befürworter
der
verbrauchenden
Embryonenforschung, bei der im Unterschied zur Forschung an adulten Stammzellen sog.
„überzählige“ Embryonen für die Stammzellengewinnung getötet werden müssen, diese
Explosion als „Durchbruch“ feierte, wiegelten andere, etwa der Hirnforscher O. Wiestler, der
ebenfalls mit importierten embryonalen Stammzellen arbeitet, ab: „Eine Dramatik oder gar
einen Durchbruch kann ich da überhaupt nicht erkennen. Mit dieser Entwicklung musste man
rechnen.“ 26 O. Wiestler wies darauf hin, dass durch die koreanische Gewinnung von
24
C. AMERY, Vom Ende der Natur: Aktuelle apokalyptische Visionen, in: G. Fuchs (Hg.), Mensch und Natur.
Auf der Suche nach der verlorenen Einheit, Frankfurt a.M. 1989, (31-50) 39.
25
Der Spiegel 8/2004, 120f.
26
Interview „Teure Irrwege. Otmar Wiestler zur Bedeutung der Klon-Embryos für die Forschung“, in:
Süddeutsche Zeitung Nr. 37 vom 14./15.02.2004, 11.
7
Spenderzellen für die Zellverpflanzung, d.h. die Züchtung embryonaler Stammzellen, die den
geklonten Embryonen entnommen wurden, kein wesentliches Ergebnis erzielt worden sei, da
die Steuerung des genetischen Programms der so gewonnenen Zellen defekt sei. Dies stelle
auch die Ursache dafür dar, warum von den koreanischen Forschern 242 Ausgangszellen und
30 erhaltene Blastozyten zur Gewinnung von lediglich einer einzigen Zell-Linie verbraucht
worden seien: „Medizinisch ist es völlig inakzeptabel, eine Zelle mit gestörtem Erbprogramm
zu verpflanzen.“ 27
Wiederum andere Zeitgenossen konnten sich zwar der apokalyptischen Qualifikation J.
Heschelers anschließen, beurteilten die vermeintliche „Explosion“ aber keineswegs im
positiven Sinne als Durchbruch, sondern – wie etwa der Mediziner und Sprecher der SPD in
der parlamentarischen Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ W.
Wodarg – negativ als einen historisch analogielosen Tabubruch: „Erstmals in der Geschichte
der Menschheit wird damit menschliches Leben bewusst zum Zweck des Verbrauchs und der
Vernutzung erzeugt. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass diese Ergebnisse
ausgerechnet am 200. Todestag Immanuel Kants publiziert wurden, der durch seine praktische
Philosophie den Grundstein des modernen Menschenwürde-Gedankens gelegt hat.“28
W. Wodarg konnte dem Hinweis, dass es sich bei dem koreanischen „Klon-Erfolg“ um
therapeutisches und nicht reproduktives Klonen handle, hinsichtlich der Legitimation
besagten Verfahrens keine ethische Plausibilität abgewinnen:
„Die Idee zwischen Klonen und Klonen zu unterscheiden, erweist sich aber gerade mit den
Forschungsergebnissen aus dem Fernen Osten einmal mehr als trügerisch. Die südkoreanischen Wissenschaftler
haben die präzise Anleitung dafür geliefert, wie man menschliche Embryonen klont. Sie einer Frau zu
implantieren und heranwachsen zu lassen, ist nun die leichteste Übung. Ein Bann, der nur das ‚reproduktive’,
nicht aber das ‚therapeutische’ Klonen trifft, ist kein Verbot, einen geklonten Embryo zu implantieren und
heranwachsen zu lassen. Da die Implantation für den Embryo die einzige Überlebenschance ist, wäre ein
halbiertes Klonverbot nichts anderes als die Anweisung, geklonte Embryonen zu vernichten.“ 29
Die Forderung einer einseitigen internationalen Ächtung des reproduktiven Klonens
überzeugte W. Wodarg ebenso wenig wie der Hinweis der südkoreanischen Forscher, ihr Ziel
sei es nie gewesen, Babys zu klonen 30, sondern die Ursachen von Krankheiten zu verstehen,
27
Ebd.
W. WODARG, Die koreanische Lüge. Was die Klon-Forscher verschweigen, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 37
vom 14./15.02.2004, 11.
29
Ebd.
30
Vgl. H. WORMER, „Unser Ziel ist es nicht, Babys zu klonen“, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 37 vom
14./15.02.2004, 5.
28
8
da auch beim „Forschungsklonen“ von Embryonen zu therapeutischen Anwendungszwecken
de facto genetisch identische Menschen hergestellt würden:
„Ohnehin ist die Abgrenzung des ‚reproduktiven’ gegen das ‚therapeutische Klonen’ ideologisch schon
höchst aufgeladen. Denn was geschieht beim sogenannten ‚therapeutischen Klonen’? Da wird ein Embryo – ein
Mensch in der frühsten Phase seiner Existenz – geschaffen, um ihn zu Forschungs- oder Therapiezwecken sofort
wieder zu vernichten. Wird dabei etwa kein Mensch ‚reproduziert’?“ 31
In dem dargestellten Argumentationsgang wird der „bioapokalyptische“ Argumentationstyp
der Gegner bestimmter biomedizinischer Praktiken m.E. hinreichend transparent: Weil de
facto beim Versuch therapeutischen Klonens verbrauchende Stammzellenforschung und
damit die Vernichtung menschlichen Lebens – nämlich der geklonten Embryonen nach
Entnahme der Stammzellen – vollzogen werde, könne die Artikulation der Inakzeptanz bzw.
strikten Ablehnung eines solchen moralisch verwerflichen Verfahrens nur zum äußersten
Ausdrucksmittel greifen. Denn wo es, wie beim therapeutischen Klonen, um die Freigabe von
Tausenden von Embryonen zur Tötung gehe, da sei sprachlich zwar nicht jedes, aber doch
zumindest das Mittel des Rekurses auf die Äonenwende recht.
Kennzeichnend für die Apokalyptik im Sinne einer weltanschaulich-theologischen
Geistesströmung ist u.a. die Botschaft vom Ende des jetzigen Äons. Genau auf dieses Ende
rekurrieren vielfach verschiedene Gegner bestimmter biotechnischer Anwendungen und
Verfahren wie beispielsweise des therapeutischen Klonens und/oder der verbrauchenden
Stammzellforschung. Befürchtet wird, dass sich durch die Vernichtung menschlichen Lebens
jene kosmische Katastrophe ereignet, die den Zeitpunkt des Weltendes bedeutet. Das
Weltende in Ge-stalt der Vernichtung menschlichen Lebens beschreibt gleichsam den
moralischen Tod der Spezies bzw. des Gattungswesens „Mensch“, also gleichsam den ethisch
eindeutigen Supergau.
Die für die Apokalyptik typische Kontrastierung von gegenwärtigem und neuem Äon
schlägt sich auch in der bewussten Stilisierung des schroffen Gegensatzes von „natürlichem“
und „biotechnischem“ Zeitalter nieder: Die jetzige Zeit sei die „Wendezeit“, in welcher sich
der endgültige „Verlust“ von Humanität bzw. ihrer disparaten Relikte ereigne oder eben nicht.
Die Alternative zwischen positiver und negativer Eugenik 32, biologischer Selektion und
natürlicher Auslese, Zeugung in vivo und in vitro etc. stehe für die Menschheit am
31
W. WODARG, a.a.O., 11.
Vgl. zur Differenz zwischen positiver und negativer Eugenik H. JONAS, Technik, Medizin und Ethik. Zur
Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a.M. 1985, 175ff.
32
9
Scheideweg mit der Einführung besagter Biotechnologien auf dem Spiel. Denn mit dem alles
entscheidenden nächsten Schritt könne der Weg in die irreversible Katastrophe angetreten und
diese somit real werden, wenn man sie nicht durch gegenläufige rechtliche Regelungen wie
etwa ein sofortiges weltweites Klonverbot verhindere.
1.4 Dammbruch, Rubikon, schiefe Ebene. Die „bioapokalyptische“ Metaphorik
Immer wieder tauchen in diesem apokalyptischen Argumentationszusammenhang die
Metaphern vom „Dammbruch“, vom „Überschreiten des Rubikons“ oder auch das Argument
der schiefen Ebene („slippery slope“ 33) auf. Diesbezüglich kann als Beleg auf ein prominentes
Beispiel
verwiesen
werden,
nämlich
die
sog.
Berliner
Rede
des
verstorbenen
Bundespräsidenten Johannes Rau (1931-2006) vom 18.05.2001. Im letzten Abschnitt seiner
Rede „Wird alles gut? – Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß“ formuliert J. Rau sein
vielbeachtetes Plädoyer für „Aufklärung“ in der gegenwärtigen biomedizinethischen Debatte:
„Wir brauchen Aufklärung im besten Sinn des Wortes. Aufklärung richtet sich gleichermaßen
gegen irrationale Ängste und apokalyptische Vorstellungen wie gegen pure technische
Machbarkeits-phantasien“ 34.
Obwohl J. Rau sich hier zweifelsfrei apokalyptik-kritisch äußert, schlägt sich in seinem
Plädoyer für einen durch das „menschliche Maß“ begrenzten Fortschritt, der die als Ergebnis
aufgeklärten Denkens und Handelns installierten Tabus anerkennt, interessanterweise ein
auffälliger Gebrauch apokalyptischer Metaphorik nieder. So bemerkt J. Rau mit Blick auf das
den Raum des wissenschaftlichen Fortschritts markierende Tabu: „Es gibt viel Raum diesseits
des Rubikon“ 35. Mehrfach gebraucht er auch das Argument der schiefen Ebene: „Wer einmal
anfängt, menschliches Leben zu instrumentalisieren, wer anfängt zwischen lebenswert und
lebensunwert zu unterscheiden, der ist in Wirklichkeit auf einer Bahn ohne Halt.“ 36
Auch hinsichtlich der umstrittenen Frage nach aktiver Sterbehilfe macht J. Rau gegenüber
dem Argument, „man dürfe etwas nicht allein deshalb verbieten, weil es zu ungewollten
schlimmen Konsequenzen oder auf eine schiefe Bahn führen könne“ 37, die Notwendigkeit
einer Fehlentwicklungsprävention durch entsprechende Regelungen geltend. Und mit Blick
auf
die
wachsende
Zahl
der
Befürworter
33
eines
reglementierten
Einsatzes
der
Vgl. zum Slippery-Slope-Argument, wonach auf die Praxis oder die Entscheidung A zwangsläufig das
fragwürdige B folgt, M. ZIMMERMANN-ACKLIN, Euthanasie. Eine theologisch-ethische Untersuchung, SThE 79,
Freiburg i.Br. u.a. 1997, 351-417; G. DEN HARTOGH, The Slippery Slope Argument, in: H. Kuhse / P. Singer
(Hg.), A Companion to Bioethics, Oxford / Malden 1998, 280-292.
34
J. RAU, Wird alles gut? – Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß, in: S. Graumann (Hg.), Die
Genkontroverse. Grundpositionen, Herder spektrum 5224, Freiburg i.Br. u.a. 2001, (14-29) 29.
35
A.a.O., 18.
36
A.a.O., 26.
37
A.a.O., 24.
10
Präimplantationsdiagnostik (PID), d.h. der genetischen Untersuchung künstlich befruchteter
Embryonen vor Einpflanzung in den Mutterleib, fragt J. Rau kritisch an:
„Wäre eine solche Beschränkung einzuhalten, wenn die Erlaubnis einmal grundsätzlich gegeben ist?
Widerspricht das nicht aller Lebenserfahrung? Und muss man deshalb nicht die Befürchtungen jener verstehen,
die glauben, dass mit dieser neuen Form der Diagnostik die Tür geöffnet wird oder geöffnet werden soll zu ganz
anderen Zielen?“ 38
Bereits zu Beginn der Rede eingeführt 39, steht J.W. Goethes „Zauberlehrling“ im Duktus
des Argumentationsgangs Pate für die „apokalyptische“ Denkungsart. Das Beispiel der
Berliner Rede J. Raus veranschaulicht somit: Wenn vom „Dammbruch“ oder vom
„Überschreiten des Rubikons“ gesprochen oder auch das Argument der schiefen Ebene
bemüht wird, dann geht es um mehr als lediglich jene Kritik, die sich auf die langfristigen
negativen Folgen eines bestimmten Handelns beruft und etwa auf der Grundlage einer
kulturpessimistischen Epochendiagnose eine gleichsam schleichende Unterminierung des
Respekts vor menschlichem Leben zu bedenken gibt. Der Einwand gegen bestimmte
biomedizinische Praktiken, der sich in diesem Metapherngebrauch manifestiert, rekurriert
vielmehr auf ein apokalyptisches Paradigma, um jenes apokalyptische Finalbewusstsein zu
wecken, das als Widerstandsgeist gegenüber besagten Innovationen moralisch Front macht.
Wenn man etwa in Bezug auf das therapeutische Klonen apokalyptische Qualifikationen
gebraucht, dann wird dieser Schritt als der alles entscheidende Schritt in die
Unkalkulierbarkeit von Folgehandlungen charakterisiert 40.
Um nicht missverstanden zu werden: Mir geht es hier weder um eine despektierliche
Beurteilung der aufgeführten Positionen unter dem Kennzeichen „Apokalyptik“, noch um
eine Abwürdigung des gesamten Phänomens „profane Apokalyptik“, so als wäre mit dieser
Kennzeichnung bereits ein qualifiziertes Urteil über diesen Argumentationstyp gefällt bzw.
eine ernste inhaltliche Auseinandersetzung hinsichtlich der Wertigkeit seiner Argumente
38
A.a.O., 22.
Vgl. a.a.O., 14.
40
Für diese Argumentationsstrategie ist kennzeichnend, „dass sie aus einer einmal getroffenen Entscheidung
eine unausweichliche Konsequenz weiteren Verhaltens ableite[t]. Die ethischen Deichwärter argumentieren auf
die Zukunft bezogen. Aus einer ‚Heuristik der Furcht’ entwickeln sie ihren syllogismus practicus, der vom
Überschreiten einer bestimmten Grenze auf eine nicht mehr aufzuhaltende Entwicklung hin zu moralisch
fragwürdigen Praktiken schließt. Man unterstellt dabei, dass sich ein technisches Verfahren oder eine rechtliche
Regelung in einer Weise verselbständigt, dass die Unterscheidungs- und Wahlmöglichkeiten zwischen legitimer
und illegitimer Anwendung nicht mehr gegeben ist.“ P. DABROCK / L. KLINNERT, Würde für verwaiste
Embryonen? Ein Beitrag zur ethischen Debatte um embryonale Stammzellen, Medizinethische Materialien 130,
Bochum 2001, 6f.
39
11
erfolgt. Wenn hier der ethisch signifikante Begriff der „Apokalyptik“ als Deutungsrahmen für
die biomedizinethische Debatte gebraucht wird, so handelt es sich zunächst um eine „rein“
deskriptive Erörterung eines bestimmten Argumentationstypus, der in der aktuellen
biomedizinethischen Debatte häufig wiederkehrt. Im Zuge der Sichtung bzw. Erfassung des
profanapokalyptischen Phänomens innerhalb der biomedizinethischen Debatte zeichnet sich
dabei folgender Befund ab: Der bioapokalyptische Argumentationstyp wird interessanter
Weise nicht nur von den Gegnern umstrittener Biotechniken (wie etwa der PID, des
therapeutischen Klonens oder der Entwicklung von Heilverfahren mittels Zellkulturen aus
embryonalen Stammzellen) bemüht, sondern cum grano salis auch und gerade von
entschiedenen Befürwortern.
So hat der ehemalige Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, der Biologe H. Markl, am
Ende
seiner
Ansprache
„Freiheit,
Verantwortung,
Menschenwürde:
Warum
Lebenswissenschaften mehr sind als Biologie“ auf der Hauptversammlung besagter
Gesellschaft am 22. Juni 2002 auf J. Raus Berliner Rede und dessen Rekurs auf die
apokalyptische Metapher vom „Überschreiten des Rubikons“ repliziert:
„Der Rubikon ist kein Fluß, jenseits dessen das Böse lauert; denn das Böse ist, wenn schon, dann längst
immer mitten unter uns. Der Rubikon ist vielmehr ein Fluß, dem der Mensch selbst ein neues Flußbett bahnt,
weil er das Vertraute vom Unverschlossenen trennt, und den wir deshalb nur wohlbedacht und mit
Verantwortung für unser Handeln überschreiten sollten. Aber wir sollten auch nicht vergessen: Rom liegt auch
künftig jenseits des Rubikon, und Cäsar hat ihn erfolgreich überschritten. Denn der Mensch ist seit jeher ein
Wesen, das seine Grenzen überschreiten muß, um ganz Mensch zu sein, und das sich dabei dennoch immer neue
Grenzen setzen muß.“ 41
Wenn Befürworter umstrittener Biotechnologien wie H. Markl unter Berufung auf die
Gewissensfreiheit
des
Einzelnen
(als
Signatur
der
Menschenwürde)
und
die
Forschungsfreiheit der Wissenschaft ihr individualethisches Plädoyer formulieren und dabei
auf apokalyptische Motivik bzw. Metaphorik zurückgreifen, so vollzieht sich dabei eine
entscheidende Modifikation des dargestellten apokalyptischen Argumentationstyps: Aus der
kupierten Apokalyptik der Befürworter wird gleichsam eine positive Utopie. Das Land
jenseits des Rubikons ist nun nicht mehr im Sinne einer negativen Utopie der Ort der
Katastrophe und des selbstverhängten Endgerichts, sondern der Ort der messianischen
Erfüllung, sprich: der Ankunft des Erlösers.
41
H. MARKL, Schöner neuer Mensch?, München / Zürich 2002, 59f.
12
Auch die Befürworter arbeiten dabei zweifelsohne als „Apokalyptiker“ mit dem Dualismus
von altem und neuem Äon. Gleichwohl vollzieht sich die Schilderung des schroffen
Gegensatzes unter umgekehrten Vorzeichen. Idealtypisch dargestellt: Während die jetzige
Zeit die Zeit der biotechnischen Entbehrungen, des Leidens, der Drangsal und des Wartens
auf die Therapiemöglichkeiten für Alzheimer, Diabetes, Parkinson etc. ist, stellt sich der
kommende Äon als Zeit der Überwindung dar. Mit Blick auf den progressiven Impetus dieser
positiven Utopie fungiert anders als in der biblischen Apokalyptik nicht Gott, sondern der
Mensch oder genauer der Biotechniker als Agens der Zeitenwende.
Wie bereits in den expressionistischen Schilderungen des beginnenden 20. Jahrhunderts,
während der „Krisenjahre der klassischen Moderne“ (D. Peukert), so schlägt sich auch hier
die Neigung zur Selbstapotheose des Menschen nieder: „Sein ist die Kraft, das Regiment der
Sterne. / Er hält die Welt, wie eine Nuß in Fäusten“ 42. Bis ins Titanische gesteigert, erhielt
damals bereits die Idee des „neuen Menschen“ in appellativer Form ihre plakative
Zuspitzung: „Zerbricht das Ungerechte aller Schöpfung, / Und alle Dinge werden Gott und
eins“ 43. Oder mit dem jungen E. Bloch gesprochen: „Ich selbst bin aber, um zu schaffen.“44 In
die Gegenwart übertragen, können so die Biotechniker als Avantgard der fundamentalen
Erneuerung von Menschheit und Gesellschaft erscheinen.
1.5 Die Sloterdijk-Debatte
Dass es sich bei dem apokalyptischen Pathos nicht um „oratorischen Leerlauf“ handelt,
sondern zumindest partiell um intensives Engagement, wird an bestimmten Konstellationen
des philosophischen Diskurses deutlich. Während etwa der jüdische Philosoph H. Jonas
(1903-1993) von einer „Heuristik der Furcht“ 45 zum Gegenschlag eines neuen kategorischen
Imperativs für die Menschheit angetrieben wurde 46, bemüht der Karlsruher Philosoph P.
42
So F. WERFEL in seinem Gedicht „Der gute Mensch“. Zit. nach K. Pinthus (Hg.), Menschheitsdämmerung. Ein
Dokument des Expressionismus, Hamburg 1959, 275.
43
Ebd. Vgl. auch G. LANDAUER, Aufruf zum Sozialismus, hg. v. H.-J. Heydorn, Frankfurt a.M. 1967, 66f.: Die
„Menschheit“ „will sich schaffen“, in einer geschichtlichen Situation, „wo gewaltige Erneuerung über das
Menschentum kommen muß, wenn nicht der Beginn der Menschheit ihr Ende sein soll“.
44
E. BLOCH, Geist der Utopie (1923), Frankfurt a.M. 1973, 210.
45
H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M.
1979, 63.
46
H. JONAS, Prinzip, 36, entwirft einen neuen kategorischen Imperativ gesamtmenschheitlicher Verantwortung:
„‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen
Lebens auf Erden’; oder negativ ausgedrückt: ‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht
zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens’; oder einfach: ‚Gefährde nicht die Bedingungen
für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden’; oder, wieder positiv gewendet: ‚Schließe in deine
gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein’.“ Den
Hintergrund von H. Jonas’ neuem kategorischen Imperativ bildet die apokalyptische Überzeugung, dass „[d]ie
moderne Technik [...] Handlungen von so neuer Größenordnung, mit so neuartigen Objekten und so neuartigen
Folgen eingeführt [hat], daß der Rahmen früherer Ethik sie nicht fassen kann.“ A.a.O., 26.
13
Sloterdijk jenen anderen säkularapokalyptischen Argumentationstyp, der statt der Warnung
vor dem das Weltende bedeutenden neuen Äon die Grenzüberschreitung propagiert. In seiner
umstrittenen Elmauer Rede „Regeln für den Menschenpark“, die den Ausgangspunkt für die
sog. „Sloterdijk-Debatte“ 47 bildete, wird dies anschaulich.
Da der abendländische Humanismus als vergeblicher Versuch der Selbstzähmung des
„nicht festgestellten Tieres Mensch“ gescheitert sei, plädiert Sloterdijk – M. Heidegger, F.
Nietzsche und Platon bemühend – angesichts der neuen Biotechnologie für Selbstzüchtung
statt Selbstzähmung. An die Stelle des alten Menschenbildes soll ein neuer „Codex der
Anthropotechniken“ 48, an die Stelle des alten Menschen ein neuer Übermensch, ein „ÜberHumanist“ 49, treten: „Da bloße Weigerungen oder Demissionen an ihrer Sterilität zu scheitern
pflegen, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen
Codex der Anthropotechniken zu formulieren.“ 50 Der neue Äon wird unter Aufnahme
Heideggerscher Terminologie als die „Lichtung“ des evolutionären Horizontes beschrieben:
„Ob [...] die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen
wird – ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die
Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen
Selektion wird vollziehen können – dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht
geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.“ 51
P. Sloterdijk versteht den neuen Äon der Lichtung des evolutionären Horizontes allerdings
insofern nicht als ein kontingentes Geschehen, als dass er sie als logische Fortsetzung unserer
Zivilisationsgeschichte auffasst 52. Im anthropotechnischen Zeitalter werde der Mensch
47
Vgl. H.-U. NENNEN, Philosophie in Echtzeit. Die Sloterdijk-Debatte: Chronologie einer Inszenierung. Über
Metaphernabschätzung, die Kunst des Zuschauers und die Pathologie der Diskurse, Würzburg 2003.
48
P. SLOTERDIJK, Das Menschentreibhaus. Stichworte zur historischen und prophetischen Anthropologie. Vier
große Vorlesungen, Medien 5, hg. v. C. Pias u.a., Weimar 2001, 12f., bemerkt retrospektiv zum Ausdruck
„Anthropotechnik“: „Dieser Terminus wurde jüngst in einer umfangreichen Debatte als Synonym für das
Konzept einer zentralisierten, strategisch planenden Humanbiotechnik mißverstanden und mit den Erregungen
aufgeladen, die sich in einer quasi religiös motivierten Schlacht um den Menschen melden können. Hingegen
steht der Ausdruck Anthropotechnik für ein klar umrissenes Theorem der historischen Anthropologie: nach ihm
ist der Mensch von Grund auf ein Produkt und kann daher in den engen Grenzen bisherigen Wissens nur
verstanden werden, wenn man seinem Produktionsverfahren analytisch nachgeht [...]. Die menschliche
Kondition ist durchwegs Produkt und Resultat“.
49
Vgl. ders., Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus,
Frankfurt a.M. 1999, 54.
50
A.a.O., 45.
51
A.a.O., 46f.
52
In puncto „Kontinuität“ wird eine Differenz zur Apokalyptik des Judentums ansichtig, zumal nach deren
Vorstellung „die alte Welt [...] erst vergehen [muß], bevor die neue Welt Gottes in Erscheinung tritt. Es gibt
zwischen beiden keine Kontinuität [...]. In diesem und aus diesem Äon [ist] das Heil nicht zu erwarten“. P.
VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die
Apostolischen Väter, Berlin / New York 1975, 491.
14
unabweislich in die Rolle des Selektors gedrängt 53. Eine gentechnische Veränderung des
Menschen sei in Zukunft unumgänglich.
Der neue Äon trägt nach Sloterdijk die Signatur der aktiven und subjektiven Selektion
durch den Menschen 54. Sloterdijks Blick streift den neuen Äon, in dem Humanismus
endgültig passé sei und Unrecht und Ungerechtigkeit keinen Skandal mehr darstellten. Seine
Vorausschau in den neuen Äon des „biotechnische[n] Zeitalters“ fördert zu Tage, dass vor uns
ein Weltalter liege, „in dem der Unterschied zwischen Siegern und Verlierern“ wieder mit
„antiker Härte und vorchristlicher Unbarmherzigkeit an den Tag tritt.“ 55
Am vermeintlichen Ende der Ära des neuzeitlichen Humanismus angelangt, misst
Sloterdijk der Jetztzeit besondere Bedeutung bei, insofern „die nächsten langen Zeitspannen
für die Menschheit Perioden der gattungspolitischen Entscheidungen sein werden.“ 56 So wie
es für die urchristliche Apokalyptik „trotz aller erfahrbaren und noch bevorstehenden
Katastrophen bereits einen Heilsanbruch in der Gegenwart gibt“ 57, so fällt auch für Sloterdijk
das Ende (der humanistischen Ära) mit dem Heilsanbruch des biotechnischen Zeitalters
zusammen: „Endgültiges Heil gibt es nicht erst in einer noch fernen oder schon nahen
Zukunft, sondern es bricht bereits in der Gegenwart und mitten in der noch bestehenden Welt
an.“ 58
Die apokalyptisch qualifizierte Einschätzung der Jetztzeit teilt P. Sloterdijk mit seinem
Antipoden J. Habermas, wenngleich dieser sie – im Unterschied zu Sloterdijk – nicht unter
positivem, sondern unter negativem Vorzeichen sieht 59. Habermas urteilt, dass mit der
gentechnischen Manipulation menschlichen Erbgutes das ethische Selbstverständnis der
Gattung auf dem Spiele stehe. Dies veranlasst den bekannten Sozialphilosophen und
Diskurstheoretiker dazu, seine selbstauferlegte „postmetaphysische Enthaltsamkeit“ zu
überwinden, zumal dieselbe dort an ihre Grenzen stoße, wo es um Fragen der Gattungsethik
gehe: „Sobald das ethische Selbstverständnis sprach- und handlungsfähiger Subjekte im
53
Vgl. P. SLOTERDIJK, Regeln, 44.
Vgl. a.a.O., 37: „Die Lichtung ist zugleich ein Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und der Selektion.“
55
P. SLOTERDIJK in den „Tagesthemen” der ARD, zit. nach T. ASSHEUER, Was ist deutsch? Sloterdijk und die
geistigen Grundlagen der Republik, „Die Zeit“ vom 30.09.1999.
56
P. SLOTERDIJK, Regeln, 45f.
57
F. HAHN, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung, BThSt 36, Neukirchen-Vluyn 1998,
4.
58
A.a.O., 6.
59
H. KRESS, Medizinische Ethik. Kulturelle Grundlagen und ethische Wertkonflikte heutiger Medizin, Stuttgart
2003, 12, kennzeichnet J. Habermas’ Rede von der „liberalen Eugenik“ als Drohgebärde bzw. seine
biomedizinethischen Entwurf als „negative Vision“.
54
15
Ganzen auf dem Spiel steht, kann sich die Philosophie inhaltlichen Stellungnahmen nicht
entziehen.“ 60
Durch die Möglichkeiten der Gentechnik sieht Habermas diese Situation gegeben, in der
ein Mensch für einen anderen irreversible Entscheidungen treffen könne, die dessen
organische Anlagen fundamental betreffen und „die unter freien und gleichen Personen
bestehende Symmetrie der Verantwortung“ 61 einschränken würden. Anders als Sloterdijk, der
nicht ethisch argumentiert, sondern den Unterschied zwischen gen-technisch Machbarem und
gen-ethisch Gewünschten assoziativ überspielt und damit das „Bedingungsverhältnis
zwischen Moral und Züchtung auf den Kopf stellt“ 62, urteilt Habermas aus diskursethischer
Perspektive im Blick auf die verbrauchende Embryonenforschung:
„[M]it der Instrumentalisierung des vorpersonalen Lebens [steht] ein gattungsethisches Selbstverständnis auf
dem Spiel, das darüber entscheidet, ob wir uns auch weiterhin als moralisch urteilende und handelnde Wesen
verstehen können. Wo uns zwingende moralische Gründe fehlen, müssen wir uns an den gattungsethischen
Wegweiser halten“ 63.
1.6
Die
Apokalypse
des
„neuen
Menschen“.
Das
implizite
Menschenbild
biomedizinischer Forschung und die Leitbildfunktion der Rede vom „neuen Menschen“
Sloterdijk
spielt
mit
seinen
postethischen
und
posthumanen
Gedanken
zum
„Menschenpark“ auf ein neues, verbindliches Weltbild an. In ihm kommt – wie Sloterdijks
ungehemmt visionäre Apologetik der Menschenzüchtung verrät – dem Übermenschen
entscheidende Bedeutung zu. Bei aller berechtigten Kritik an Sloterdijks Ausführungen wird
man ihm zugestehen müssen, dass es ihm bis in die Platon extemporierenden, die Aura antiker
und elitärer Erhabenheit verbreitenden Schlusspassagen seiner Elmauer Rede hinein gelingt,
dasjenige kenntlich zu machen, worum es so manchem – wenngleich vielfach auch nur nolens
volens – in der biomedizinethischen Debatte der Gegenwart geht. Es geht, wie Sloterdijk
explizit bemerkt, um „eine Anthropodizee – das heißt eine Bestimmung des Menschen
angesichts seiner biologischen Offenheit und seiner moralischen Ambivalenz.“ 64
60
J. HABERMAS, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a.M.
2002, 27.
61
A.a.O., 31.
62
So E. TUGENDHAT, Es gibt keine Gene für die Moral. Sloterdijk stellt das Verhältnis von Ethik und
Gentechnik schlicht auf den Kopf, „Die Zeit“ vom 23.09.1999. Vgl. R. SPAEMANN, Wozu der Aufwand?
Sloterdijk fehlt das Rüstzeug, in: ders., Grenzen. Zur ethischen Dimension des Handelns, Stuttgart 2001, 406410.
63
J. HABERMAS, a.a.O., 121.
64
P. SLOTERDIJK, Regeln, 19.
4
16
Hinsichtlich dieser Benennung des mehr oder weniger latenten Gegenstandes der ethischen
Auseinandersetzung mit den modernen Lebenswissenschaften stimmt Sloterdijk mit der
Einschätzung des Berliner Bischofs und EKD-Ratsvorsitzenden W. Huber überein, der die
Frage nach dem Menschenbild, an dem wir uns biomedizinethisch orientieren wollen, als die
Zentralfrage bezeichnet: „Auf ihre Weise wird die Frage nach unserem Bild vom Menschen
die entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts sein.“ 65 Wenn es um konkrete biopolitische
Entscheidungen, etwa die Zulassung der PID, geht, dann steht in der Tat das humane
Selbstbild bzw. Selbstverständnis zur Debatte.
So wirft die PID die Frage auf, an welchem Selbstbild und welchen Kriterien sich
Menschen orientieren, wenn bei einem im Reagenzglas befindlichen Embryo eine nicht
therapierbare Krankheit diagnostiziert wird und eine Entscheidung über dessen „Schicksal“
ansteht 66. Mit derartigen biopolitischen Entscheidungen erhält das gesellschaftliche
Menschenbild nolens volens neue Kontur. Wir werden so mit Problemen konfrontiert, die eine
metaphysische Situation bedingen. Sie resultiert nach H. Jonas aus dem apokalyptischen
Potential der Technik, das die metaphysische Frage aufwirft, „mit der die Ethik nie zuvor
konfrontiert war, nämlich, ob und warum es eine Menschheit geben soll; warum daher der
Mensch, so wie ihn die Evolution hervorgebracht hat, erhalten bleiben, sein genetisches Erbe
respektiert werden soll.“ 67
Mit den aktuellen biopolitischen Entscheidungen stolpern wir, so Jonas, „in weit offene und
gänzlich metatechnische Fragen, sobald wir uns erkühnen, ‚schöpferische’ Hand an die
physische Konstitution des Menschen selbst zu legen. Sie alle kulminieren in der einen Frage:
nach welchem Leitbild?“ 68 Alle biotechnische Forschung operiert mit Anwendungszielen, auf
die die Wahl der zur Erreichung dieses Ziels brauchbaren Methoden abgestimmt wird. Diese
Anwendungsziele sind nicht einfach nur von der operationalisierenden Vernunft exakt
vorgezeichnet, sondern sie basieren auf einem impliziten Menschenbild. Dieses gilt es explizit
zu machen. Denn es bedarf der Verständigung darüber, welches Leitbild vom gelingenden
Leben und von einer lebenswerten Welt im Blick auf die Zukunft des Menschen für
wünschenswert erachtet wird. Wird eine Welt imaginiert und projektiert, in der es Raum gibt
für Krüppel und Kranke, Alte und Schwache, und in der es vielleicht mehr noch als Raum für
sie gibt, nämlich Liebe für die, die unter ökonomischen Gesichtspunkten nutzlos, als
65
W. HUBER, Der gemachte Mensch. Christlicher Glaube und Biotechnik, Berlin 2002, 79.
Vgl. zur PID W. HÄRLE, Gefährliche Schritte. Warum man auf die Legalisierung der
Präimplantationsdiagnostik verzichten sollte, Zeitzeichen 6/2004, 12-14; H.G. ULRICH, Leben als Humanum
oder Leben aus dem Humanpool?, in: V. Hörner / K. Patzer (Hg.), Optionen für eine Medizin der Zukunft?
Präimplantationsdiagnostik und Stammzellforschung, Speyrer Texte 6/2001, 66-87.
67
H. JONAS, Technik, 48. So auch a.a.O., 10.12.15.61.103.153.157 u.ö.
68
A.a.O., 170.
66
17
„finanzielle Belastung für den Sozialstaat“ erscheinen? Oder eine Welt, die von „unnötigen“
Behinderungen dadurch befreit wird, dass man pränatale Selektion walten lässt?
Zur Klärung dieser grundlegenden Fragen bedarf es nach H. Jonas der „Bedrohung des
Menschenbildes – und durchaus spezifische[r] Arten der Bedrohung – um uns im Erschrecken
davor eines wahren Menschenbildes zu versichern. Solange die Gefahr unbekannt ist, weiß
man nicht, was es zu schützen gibt und warum“ 69. Deshalb gilt es – so H. Jonas – das
apokalyptische Potential der Biotechnik kenntlich zu machen, wobei seine an den
vorhandenen Gefahren und Ängsten orientierte Ethik die Maxime ausgibt, „dass der
Unheilsprophezeiung mehr Gehör zu geben ist als der Heilsprophezeiung.“ 70
Der frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft W. Frühwald hat die aktuelle
biomedizinethische
Kontroverse
dahingehend
charakterisiert,
dass
sie
„zu
einer
Auseinandersetzung um ein christliches, zumindest kantianisches Menschenbild auf der einen
und ein szientistisch-sozialdarwinistisches Menschenbild auf der anderen Seite geworden“ 71
sei. Ob diese bipolare Zuordnung im Blick auf die aktuelle Diskurskonstellation eine
unzulässige Simplifikation darstellt oder nicht, ist umstritten und mag hier dahingestellt
sein 72. Dass sie jedoch in Bezug auf die Beschreibung der vermeintlichen Frontlinie mit
einem Dualismus arbeitet, der in formaler Hinsicht für apokalyptische Vorstellungen typisch
ist, dies dürfte ebenso unumstritten sein, wie das „Dass“ des Herausgefordertseins von
(Christen- und sog. „Welt“-)Menschen hinsichtlich ihres Menschenbildes 73.
Virulent ist – mit anderen Worten – die Frage: Wie sieht der wahre Mensch aus? Entspricht
die Figur des „neuen Menschen“, wie sie implizit so mancher biotechnischen Anwendungen
zugrunde liegt und wie sie bisweilen unverhohlen als Zielpunkt einer „neuen Zeit“ mit „neuen
Werten“ anvisiert wird, der biblischen Vorstellung vom „neuen Menschen“? Wie verhält sich
die christliche Erlösungshoffnung, die sich auf einen neuen oder erneuerten Menschen stützt,
zu jenen entscheidenden Veränderungen, die in der Moderne einsetzten und bis in die spät69
Ders., Prinzip, 63. Dort z.T. kursiv.
A.a.O., 70. Dort z.T. kursiv.
71
Zit. nach W. HUBER, a.a.O., 27.
72
U.H.J. KÖRTNER, Der gerechtfertigte Mensch. Die reformatorische Anthropologie aus heutiger Sicht, in: ders.,
Freiheit und Verantwortung. Studien zur Grundlegung theologischer Ethik, SThE 90, Freiburg u.a. 2001, (57-68)
57, weist darauf hin, „dass die Rede von dem christlichen Menschenbild eine Vereinfachung darstellt. Es gibt
gewiss grundlegende Gemeinsamkeiten zwischen den christlichen Konfessionen, was die Sicht des Menschen,
seiner Größe und seines Elends, seiner Bestimmung, seiner Not und Verheißung betrifft. Doch zwischen den
Sichtweisen der großen christlichen Traditionen bestehen durchaus signifikante Unterschiede. Damit hängt
zusammen, dass die Antworten der Kirchen und der einzelnen Christen in ethischen Fragen durchaus
unterschiedlich ausfallen können. Die christliche Sicht des Menschen weist also eine gewisse Pluralität auf, die
z.T. sogar quer zu den Konfessionen besteht. Insofern ist es sachgemäßer, statt von dem christlichen
Menschenbild von christlichen Menschenbildern im Plural zu sprechen.“
73
H. BEDFORD-STROHM, Biotechnologie und christliches Menschenbild, DtPfrBl 100 (12/2000), (669-672), 670,
formuliert zugespitzt: „Es geht in den Debatten um die neuen Möglichkeiten der Biotechnologie tatsächlich um
den Versuch einer grundlegenden Verschiebung in dem bisher in unserer Kultur geltenden Bild des Menschen.“
70
18
oder postmoderne Gegenwart anhalten? 74 Ist ihr „neuer Mensch“ der säkularisierte „neue
Adam“ der christlichen Heilsbotschaft? Oder repräsentiert der biblische „neue Mensch“ den
segregierten „alten Adam“ eines neuen Zeitalters? Stehen die säkular-apokalyptischen
Hoffnungen auf einen neuen Menschentyp in Kontinuität und Kompatibilität zur biblischen
Rede vom „neuen Menschen“? Bilden sie dessen profanmessianische Prolongatur? Gibt es
vielleicht theologisch qualifizierte Gründe dafür, im Blick auf die biblische Rede vom „neuen
Menschen“ dem Streben nach einer „anthropologischen Revolution“ (E. Gentile) zu
entsprechen?
Zur Beantwortung dieser Fragen, die hier mit P. Sloterdijk zur Frage zusammengefasst
werden, „wie der Mensch zu einem wahren oder wirklichen Menschen werden könne“ 75,
bedarf es der Sichtung der urchristlichen Apokalyptik und ihrer Rede vom „neuen
Menschen“.
2. DIE APOKALYPSE DER NEUEN SCHÖPFUNG. ZUR PAULINISCHEN REDE
VOM „NEUEN MENSCHEN“
2.1
Die
paulinische
Modifikation
der
Zwei-Äonen-Lehre
als
apokalyptischer
Referenzrahmen der Rede vom „neuen Menschen“
Nicht nur die Reich-Gottes-Predigt Jesu trägt apokalyptische Züge. Apokalyptische
Vorstellungen finden sich ebenso wenig ausschließlich in der Johannesapokalypse, sondern
schon in den synoptischen Evangelien und bei Paulus, wobei das Denken der zeitgenössischen
jüdischen Apokalyptik dort wohlgemerkt entscheidend modifiziert wird 76. Die Modifikation,
die keineswegs gleichzusetzen ist mit einer „Entapokalyptisierung“, resultiert aus der
Zuordnung des traditionellen apokalyptischen Gedankenguts zum Christusgeschehen, wonach
Kreuz und Auferweckung Jesu Christi ein die Welt grundlegend und endgültig umwandelndes
74
Nach G. KÜENZLEN, Der neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne,
Frankfurt a.M. 1997, 20, besagen diese Veränderungen: „Der Mensch wird [...] als durch die gesellschaftlichen
Kräfte herstellbar, planbar und in der Vorstellungswelt einiger Strömungen auch biologisch züchtbar gedacht.“
75
P. SLOTERDIJK, Regeln, 19.
76
Vgl. M. HENGEL, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften
III, WUNT 141, Tübingen 2002, 302-417, der die apokalyptischen Voraussetzungen des paulinischen Denkens
und deren Bedeutung für die futurische Eschatologie des Paulus rekonstruiert. Hengel sieht die paulinischen
Parusietexte (1Thess 4,13-5,11; 1Kor 15; 2Kor 4,16-5,10; Phil 3,20f.; Röm 8,18-25) traditionsgeschichtlich in
den synoptischen Evangelien bzw. beim „historischen Jesus“ (vgl. Mk 13,28-32; Lk 17,22-24.26-30.34-37 = Mt
24,23.26-28.40f.) verankert. Anders U.B. MÜLLER, Apokalyptische Strömungen, in: ders., Christologie und
Apokalyptik (GAufs), ABG 12, Leipzig 2003, 223-267, bes. 232ff. Auch J. BAUMGARTEN, Paulus und die
Apokalyptik. Die Auslegung apokalyptischer Überlieferung in den echten Paulusbriefen, WMANT 44,
Neukirchen-Vluyn 1975, 234, mit dem sich M. Hengel auseinandersetzt, spricht im Blick auf die paulinische
Eschatologie von einem „Bruch mit der Apokalyptik“.
19
Heilsgeschehen sind. Die paulinische Ethik ist apokalyptisch grundiert. Der Neutestamentler
R.B. Hays bemerkt treffend:
„According to Paul, the death and resurrection of Jesus was an apocalyptic event that signaled the end of the
old age and portended the beginning of the new. Paul’s moral vision is intelligible only when his apocalyptic
perspective is kept clearly in mind: the church is to find its identity and vocation by recognizing its role within
the cosmic drama of God’s reconciliation of the world himself. […] The image of ‘new creation’ belongs to the
thought-world of Jewish apocalypticism.” 77
Was die paulinische Rezeption jüdischer Apokalyptik angeht, so rekurriert Hays auf die
gängige
These,
wonach
Paulus
die
apokalyptische
Zwei-Äonen-Lehre 78
kritisch
aufgenommen hat. Der Dualismus der zwei Äonen ist der „wesentlichste Grundzug“ 79 der
jüdischen Apokalyptik. Für Paulus gehört – wie Hays betont – das apokalyptische Motiv der
neuen Schöpfung (2Kor 5,17; Gal 6,15) genau in den Zusammenhang der Rezeption dieser
zentralen Vorstellung. Dass Paulus apokalyptische Vorstellungen benutzt, um der
christologisch begründeten Hoffnung von Christenmenschen Ausdruck zu verleihen, wird
nach Hays im Kontext der Erwartung von Christi Parusie (vgl. 1Thess 4f.; 2Kor 5; Röm 8)
evident.
Paulus kann den Gedanken der zwei Weltzeiten aufnehmen (2Kor 5,17; Gal 1,4) und von
der Vollendung der Zeiten reden (Gal 4,4), wobei ihm zufolge die erwartete „Äonenwende“
nicht erst am Ende aller Tage geschieht, sondern im Geschehen von Kreuz und Auferweckung
bereits geschehen ist und infolgedessen jetzt schon gilt. Mitten in dieser unerlösten, ihrem
Ende entgegeneilenden Welt gibt es gemäß der überlappenden Gleichzeitigkeit von altem,
sukzessive absterbendem Äon und neuem, bereits begonnenem Äon, welche für die Dialektik
des „schon jetzt“ und „noch nicht“ konstitutiv ist, „die neue Schöpfung“: „Ist jemand in
Christus – neue Schöpfung“ (2Kor 5,17; vgl. Jes 65,17-19) 80.
Hays, der die paulinische Eschatologie in einem apokalyptischen Referenzrahmen entfaltet
sieht 81 und diesbezüglich von „Paul’s vision of Christian existence between the times” 82
77
R.B. HAYS, The Moral Vision of the New Testament. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics,
New York / San Francisco 1996, 19f.
78
Vgl. 4Esr 1,50; 7,50; 8,1; grHen 66,6; syrBar 15,7f.; 44,8-15.
79
So P. VIELHAUER, Einleitung, in: E. Hennecke, Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, hg.
v. W. Schneemelcher, Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 31964, (407-422) 412.
80
Dass Paulus in 2Kor 5,17 auf die jüdisch-apokalyptische Zwei-Äonen-Lehre rekurriert und sich hier in einem
genuin apokalyptischen Deutungsrahmen bewegt, betonen u.a. V.P. FURNISH, II Corinthians, AncB 32A, Garden
City (NY) 1984, 332; E. GRÄSSER, Der zweite Brief an die Korinther Kapitel 1,1-7,16, ÖTK 8/1, Gütersloh /
Würzburg 2002, 223; CHR. WOLFF, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 8, Berlin 1989, 127.
81
So R.B. HAYS, a.a.O., 27.
82
A.a.O., 25.
20
sprechen kann, kommentiert diesen Vers wie folgt: „[T]he new creation is not just a future
hope, as in most forms of Jewish apocalyptic thought; rather, the redemptive power of God
has already broken into the present time, and the form of this world is already passing
away.” 83 Paulus sieht in der „neuen Schöpfung“ eine gegenwärtige Realität 84, die er freudig
jubelnd begrüßt 85. Der an der neuen Schöpfung teilhabende Mensch, der „im Geist“ 86 bereits
präsentisch der „neue Mensch“ ist – er ist der wahre Mensch.
2.2 Der neue Mensch als Gottes Ebenbild
Wie aber sieht die „neue Schöpfung” nach Paulus aus, an der der in bestimmter Weise
qualifizierte Mensch partizipiert und insofern als „neuer Mensch“ identifiziert werden kann?
Der „neue Mensch“ staunt mit Paulus über das unbegreifliche Neuschöpfungswunder: „Nicht
ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). Der „neue Mensch“ hat demnach sein
wahres Sein außerhalb seiner selbst, extra se in Christo 87. Das „Ich“ des „neuen Menschen“
kann in seiner geschichtlichen Daseinsstruktur nur „christologisch“ erfasst werden, da
Christus selbst die Person des „neuen Menschen“ ist 88. Die Menschwerdung des Menschen
gehört somit in die Christologie hinein. Eine die Geschöpflichkeit des Menschen
fokussierende theologisch-ethische Grundlagenreflexion wäre unter Absehung von Christus
(remoto Christo) eine konzeptionelle Verfehlung, die geradezu zwangsläufig eine defizitäre
Anthropologie und Schöpfungstheologie evozierte. Die Wirklichkeit des „neuen Menschen“
würde anders als in christologischer Rede verfehlt. Denn der „neue Mensch“ lebt „in
Christus“ bzw. in dessen Geist.
Luther kann etwa „die christologischen Aussagen von Phil 2,5ff. unmittelbar auf das Sein (nicht auf die
‚Ethik’, wie man im Neuprotestantismus gemeint hat) des Christenmenschen anwende[n] und ihn selbst um der
lebendigen Präsenz Christi in ihm willen, die ihn ganz umfaßt und erfüllt, als einen ‚Christus’ für seinen
‚Nächsten’ anspr[echen]. ‚Christus in uns’ heißt zugleich: ‚wir außer uns, d.i. in Christus’. Das reformatorische
‚in nobis’ sichert sich gegen das Mißverständnis, als ob wir da etwas in besitzende Verfügung bekommen hätten,
durch den Hinweis auf das ‚extra nos’.“ 89
83
A.a.O., 21.
CHR. WOLFF, a.a.O., 127, identifiziert in 2Kor 5,17 einen „Realis der Gegenwart“. Vgl. V.P. FURNISH, a.a.O.,
333: „Paul can affirm that the new age has already broken in […], that the new creation is already a reality.”
85
V.P. FURNISH, a.a.O., 333, spricht von einem „exultant cry“. R.B. HAYS, a.a.O., 20, von „an exclamatory
interjection”.
86
So O. WISCHMEYER, Physis und Ktisis bei Paulus. Die paulinische Rede von Schöpfung und Natur, ZThK 93
(1996), (352-375) 360.
87
Zum „in-Christo“-Motiv vgl. T.K. HECKEL, Die Identität des Christen bei Paulus, in: A. Deeg u.a. (Hg.),
Identität. Biblische und theologische Erkundungen, BThS 30, Göttingen 2007, 41-65.
88
Vgl. E. WOLF, Politia Christi. Das Problem der Sozialethik im Luthertum, in: ders., Peregrinatio. Studien zur
reformatorischen Theologie und zum Kirchenproblem, München 1954, (214-242) 229.241.
89
Ders., Sola Gratia? Erwägungen zu einer kontroverstheologischen Formel, in: ders., a.a.O., (113-134) 127.
84
21
Wenn vom „neuen Menschen“ in einem theologisch qualifizierten Sinne die Rede sein soll,
gilt es das „extra nos“ der christlichen Identität in seiner inklusiven, die Identität des „neuen
Menschen“ garantierenden Bedeutung zur Geltung zu bringen:
„Das wirkliche und wahre Wesen des Menschen, das wir in den Augen und vor dem Angesicht Gottes sind –
das ist in ihm in einem einzigartigen Augenblick Geschichte geworden, der Mensch ist erschienen. Seine
Geschichte mit Gott und Gottes Geschichte mit ihm ist Ereignis geworden, und wir alle hängen von dort ab. Wir
haben keine Geschichte mit Gott, abgesehen von dieser Mitte, von diesem Einen.“90
Deshalb ist „zuletzt und entscheidend im Spiegel des Christusgeschehens zu begreifen, was
der Mensch ist.“ 91 In diesem Zusammenhang sei auf 2Kor 3,18 verwiesen 92, wo von der
„Herrlichkeits-Metamorphisierung“ der Gläubigen gemäß dem Spiegelbild Jesu Christi die
Rede ist. Diese geschieht durch die Wirksamkeit des Geistes 93: „Durch die unverhüllte Schau
der doxa Jesu Christi aber werden die Schauenden – d.h.: die Jesus Christus als den Herrn
Erkennenden – ‚in dasselbe Bild’ verwandelt’, so daß sie eine bleibende und unerschöpfliche
Herrlichkeit empfangen. Gemeint ist: Sie werden ‚in Christus’ eine kainē ktisis – Menschen,
die von ihrer alten, der Sünde verfallenen Existenz befreit und mit einer neuen, heilvollen
Existenz beschenkt sind. Diese ‚Verwandlung’ aber ist das Werk des im Evangelium
präsenten schöpferischen Geistes Gottes, der die Toten lebendig macht (3,6b).“ 94
Wenige Verse später greift Paulus im vierten Kapitel des zweiten Korintherbriefes die
Wendung von „der Herrlichkeit des Herrn“ auf und bezeichnet Christus als das „Ebenbild
Gottes“ (2 Kor 4,4). Daneben findet sich eine christologische Verortung des Imagogedankens
auch in Kol 1,15 und – leicht terminologisch variiert, aber gleichwohl in synonymem
Gebrauch – in Phil 2,6 und Hebr 1,3 95. Mit der Prädizierung Jesu Christi als Ebenbild Gottes
90
H.J. IWAND, Christologie. Die Umkehrung des Menschen zur Menschlichkeit, Iwand Nachgelassene Werke
N.F. Bd. 2, Gütersloh 1999, 377.
91
G. EICHHOLZ, Die Theologie des Paulus im Umriß, Neukirchen-Vluyn 71991, 14.
92
Vgl. R.B. HAYS, a.a.O., 24.
93
Vgl. E. WOLF, Sola Gratia, 126f.
94
O. HOFIUS, Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, in: ders., Paulusstudien, Tübingen 21994, (75-120)
116.
95
In Bezug auf die neutestamentliche Rede vom Bild Gottes unterscheidet J. JERVELL, Art. Bild Gottes 1.
Biblische, frühjüdische und gnostische Auffassungen, TRE 6 (1980), (491-498) 494, zwischen drei Texttypen:
„1. christologische Aussagen innerhalb von Hymnen und hymnenähnlichen Bekenntnisaussagen über Christus
als Bild Gottes (II Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3; auch Phil 2,6); 2. anthropologische Aussagen über den
christlichen Menschen als Gottes oder Christi Abbild, teils in paränetischen Texten, die wahrscheinlich dem
Taufunterricht zuzurechnen sind (Kol 3,9; Eph 4,9), teils in belehrendem und verkündigendem Zusammenhang
(II Kor 3,18; Röm 8,29; I Kor 15,49; vgl. Röm 1,23); 3. vereinzelt stehenden Aussagen in Texten paränetischen
Charakters über den ‚natürlichen’ Menschen als Gottes Ebenbild (I Kor 11,7; Jak 3,9).“ So auch ders., Imago
Dei. Genesis 1,26f. im Spätjudentum, in der Gnosis und in den paulinischen Briefen, FRLANT 58, Göttingen
1960, 8f.
22
bewegt sich Paulus im Raum der apokalyptischen Zwei-Äonen-Vorstellung, wie der
Ausdruck „dieser Äon“ bzw. „Gott dieses Äons“ (= Satan) in demselben Vers (2 Kor 4,4)
indiziert 96. Das Evangelium, das den Gekreuzigten und Auferstandenen proklamiert, bringt
die wahre Offenbarung Gottes in der Herrlichkeit Jesu Christi zur Sprache. Die Wendung
„Ebenbild Gott“, die auf Jesus Christus referiert, unterstreicht in diesem Vers, dass Jesus
Christus sowohl „Repräsentant Gottes“ 97
als
auch
„Repräsentant
der
erneuerten
Menschheit“ 98 ist. Die altkirchlich ausgeprägte Zwei-Naturen-Lehre wird hier, wenn man so
will, präformiert. Sie erweist sich als theologisch sachnotwendige Explikation im
Begründungszusammenhang paulinischer Christologie 99.
Nach der Zwei-Naturen-Lehre hat Gott innertrinitarisch in sich selbst das Bild seiner selbst
im Sohn. Der ewige Sohn des Vaters ist „Abglanz seiner Herrlichkeit und Abdruck seines
Wesens“ (Hebr 1,3). Neben dieser innertrinitarischen Verhältnisbestimmung, die mit der
Prädikation Christi als Bild des Vaters die Gottheit Christi betont, tritt gemäß der ZweiNaturen-Lehre ein zweites Moment, nämlich die Menschheit Christi: Die neutestamentlichen
Aussagen, die Christus das Ebenbild Gottes nennen, verkünden uns, „dass der Sohn gerade als
der Menschgewordene Bild Gottes ist. Mit der Inkarnation wird das Bild Gottes im Bereich
der Kreatur aufgerichtet. Der Mensch Jesus, der der ewige Sohn ist, ist auch als Mensch Bild
Gottes.“ 100 Selbst wenn man in der Prädizierung Jesu Christi als Gottes Ebenbild im
Unterschied zu diesen Ausführungen (etwa bezüglich Kol 1,15) eine Referenz auf den
Erhöhten 101 oder gar Präexistenten 102 sehen wollte, so wäre doch festzuhalten:
„Der Ermöglichungsgrund für die kühne Prädizierung Jesu Christi als Ebenbild Gottes ist in der
Menschengestalt Jesu, im irdischen Weg Jesu zu suchen. Wenn Jesus Christus zum Spiegel göttlicher
Herrlichkeit wird, dann hat die Aussage von seiner exklusiven Gottebenbildlichkeit tiefgreifende Auswirkungen
auf das Verständnis der Doxa Gottes. Es ist der irdische Weg Jesu, der Gottes Herrlichkeit auf Erden abbildet. So
stellt für Paulus der gekreuzigte Jesus als Träger von Gottes Herrlichkeit das christologische Fundament des
Evangeliums dar.“ 103
96
So auch V.P. FURNISH, a.a.O., 247; E. GRÄSSER, a.a.O., 152; CHR. WOLFF, a.a.O., 85.
So Chr. WOLFF, a.a.O., 86.
98
So H. WINDISCH, Der zweite Korintherbrief, KEK 6, hg. v. G. Strecker, Göttingen 91970, 137.
99
Treffend W. SCHOBERTH, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006, 129: „Die
christologische Formel von Chalzedon, nach der Jesus Christus als wahrer Gott und wahrer Mensch bekannt ist,
hat demnach auch einen anthropologischen Sinn: Was der Mensch in Wahrheit ist, entscheidet sich theologisch
an dem Christus, nicht schon in der Betrachtung und Analyse empirischen Menschseins.“
100
So P. BRUNNER, Der Erstgeschaffene als Gottes Ebenbild, in: ders., Pro Ecclesia. GAufs zur dogmatischen
Theologie, Berlin / Hamburg 1962, (85-95) 86. Dort z.T. kursiv.
101
So etwa E. LOHSE, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon, KEK IX/2, Göttingen 1968, 84.
102
So etwa A. LINDEMANN, Der Kolosserbrief, ZBK.NT 10, Zürich 1983, 26.
103
So S. VOLLENWEIDER, Der Menschgewordene als Ebenbild Gottes. Zum frühchristlichen Verständnis der
Imago Dei, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen
Theologie, WUNT 144, Tübingen 2002, (53-70) 62.
97
23
So gewiss das Bild Gottes in Jesus Christus infolge der unio hypostatica das Bild Gottes in
Adam überragt, so gewiss hebt „diese einmalige, unaufhebbare Besonderheit [...] die Tatsache
nicht auf, daß in dem Menschen Jesus das Geschöpf vor uns steht, das Bild Gottes ist und
daher unbeschadet seiner bleibenden Kreatürlichkeit in den Grenzen der Kreatürlichkeit die
Wirklichkeit
göttlichen
Gottebenbildlichkeit
Wesens
verweist
vollgültig
damit
auf
die
repräsentiert.“ 104
von
E.
Der
Käsemann
Topos
der
identifizierte
Fundamentalaussage neutestamentlicher Apokalyptik: „Weil Christus den Schöpfer und das
Geschöpf wiederzusammenführt, ist er unser Herr, meint sein Regiment Gnade für die,
welche es annehmen, Gericht für die, welche sich ihm wiedersetzen.“ 105
Die Aussage, dass Paulus Jesus Christus als das Ebenbild Gottes bezeichnet und damit die
Sichtbarkeit des unsichtbaren Gottes im Angesicht Jesu Christi benennt, identifiziert A.
Schlatter als „den zentralsten Satz seiner [sc. Paulus’; M.H.] Theologie“ 106. Die Leben
schenkende Erkenntnis Gottes ist nämlich für Paulus „die Erkenntnis Christi und seiner
göttlichen doxa, – d.h. die Erkenntnis, daß er in einzigartiger Weise die eikōn Gottes ist, dass
er – der Gekreuzigte und Auferstandene – der Kyrios ist und dass in ihm die Versöhnung der
Welt mit Gott und also das Heil der verlorenen Menschen beschlossen liegt.“ 107
Wenn die beiden Verse Gen 1,26f. LXX Adam hinsichtlich seiner Funktion als die „Eikon
Gottes“ bezeichnen, 2Kor 4,4 und Kol 1,15 hingegen Jesus Christus als dieselbe, so wird
evident, dass die Prädikation Christi als Ebenbild Gottes das entscheidende Interpretament des
Theologumenons von der Gottebenbildlichkeit ist 108. Eine theologische Anthropologie kommt
demzufolge nicht ohne christologische Bezüge aus. Darauf verweist die neutestamentliche
Rede von der Gottebenbildlichkeit Christi:
„Meine Geschöpflichkeit – wir können auch mit der traditionellen Formel sagen – die Gottebenbildlichkeit
des Menschen, kann ich nur von dem Menschen her bestimmen, der in einzigartiger Weise das Ebenbild des
unsichtbaren Gottes genannt wird: Jesus Christus. Er ist der vere homo. An ihm geht mir erst auf, wer ich als
Geschöpf sein sollte.“ 109
104
P. BRUNNER, a.a.O., 87.
Nach E. KÄSEMANN, Der Ruf der Freiheit, Tübingen 51972, 240, führt Christus „Gott und Mensch als der
Gekreuzigte zusammen“, nach P. Brunner tut er dies bereits als der Inkarnierte. Inkarnationschristologie und
Kreuzestheologie müssen gleichwohl nicht miteinander konkurrieren, wie im Folgenden gezeigt wird.
106
A. SCHLATTER, Paulus, der Bote Jesu. Eine Deutung seiner Briefe an die Korinther, Stuttgart 51985, 528.
107
O. HOFIUS, Wort Gottes und Glaube bei Paulus, in: ders., Paulusstudien, Tübingen 21994, (148-174) 161.
108
Den engen traditionsgeschichtlichen Zusammenhang mit Gen 1,26f. hat für 2Kor 3f. J. JERVELL, Imago Dei,
173ff., geltend gemacht.
109
W. KRECK, Grundfragen christlicher Ethik, KT 80, München 41990, 115. So auch W. SCHOBERTH,
Einführung, 29.114.
105
24
Von Christus als dem Ebenbild Gottes her erweist sich die theologische Unabweisbarkeit
des christologischen Reflexionsmotivs in Bezug auf die Anthropologie. Das wahre, Gottes
Willen entsprechende Geschöpfsein, des Menschen Gottebenbildlichkeit, bliebe ansonsten
unterbestimmt.
Bereits J. Calvin weist auf diesen christologischen Erschließungszusammenhang hin:
„Christus ist das vollkommenste Ebenbild Gottes, ihm sollen wir gleichgestaltet und dadurch
derart erneuert werden, daß wir in wahrer Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Reinheit und
Erkenntnis das Ebenbild Gottes tragen.“ 110 W. Niesel kommentiert diese Aussage Calvins
treffend: „Er lenkt unsern Blick auf den zweiten Adam, auf Christus, der das vollkommenste
Ebenbild Gottes ist. In Christus, dem Fleisch gewordenen Worte Gottes, erkennen wir, worin
die Gottesebenbildlichkeit des Menschen besteht. Das wahre Wesen des Menschen wird uns
allein in ihm erschlossen.“ 111 Die Rede von der imago Dei ist für Calvin in noetischer
Hinsicht exklusiv christologische Rede, weil die Bestimmung des Menschen zum Ebenbild
Gottes nur dem zu entnehmen ist, was die Schrift von seiner Erneuerung durch Christus sagt.
Das Theologumenon von der Gottebenbildlichkeit Jesu Christi besagt in anthropologischer
bzw. schöpfungstheologischer Hinsicht, dass von einer Geschöpflichkeit des Menschen nicht
im Sinne ontologischer Spekulation geredet werden soll, die die Relationalität des Menschen
zum
dreieinigen
Gott
ausblendet.
Weil
der
Gott,
den
die
alttestamentlichen
Schöpfungsberichte preisen, kein anderer als der Gott des Paulus ist, deshalb ist die imago
Dei-Qualifikation aus der Isolation einer letztendlich untrinitarisch ontologisierenden
Wesensbestimmung zu befreien, in welche sie unter Ausblendung der pneumatologischen und
christologischen Konstituenten der Gottebenbildlichkeit gelangt.
2.3 Ecce Homo – Das Kreuz Christi als Apokalypse des „neuen Menschen“
Das paulinische Denken hat nicht nur apokalyptische Voraussetzungen. Der verstorbene
holländische, ehemals am Princeton Theological Seminary unterrichtende Theologe J.Chr.
Beker 112 (1924-1999) lehrte die paulinische Theologie insgesamt als christologische
110
J. CALVIN, Institutio (1559) I,15,4.
W. NIESEL, Die Theologie Calvins, München 21957, 68. Vgl. A.I.C. HERON, Homo Peccator and the Imago
Dei according to Calvin, in: C.D. Kettler / T.H. Speidell (Hg.), Incarnational Ministry. The Presence of Christ in
Church, Society and Family. Essays in Honor of R.S. Anderson, Colorado Springs 1990, 32-57.
112
Vgl. J.CHR. BEKER, Der Sieg Gottes. Eine Untersuchung zur Struktur des paulinischen Denkens, SBS 132,
Stuttgart 1988; ders., Paul’s Apocalyptic Gospel. The Coming Triumph of God, Philadelphia 1984; ders., Paul
the Apostle. The Triumph of God in Life and Thought, Edinburgh / Philadelphia 1980. Beker hat in
methodologischer Hinsicht die linguistische „Transformationsgrammatik“ von N. CHOMSKY (vgl. ders., Aspekte
der Syntax-Theorie, Frankfurt a.M. 1972, 165-187) für das Verständnis des Corpus Paulinum durch die
Unterscheidung zwischen Kontingenz und Kohärenz der paulinischen Theologie fruchtbar gemacht: „His
111
25
Reinterpretation der Apokalyptik zu begreifen 113, in deren Zentrum die Auferweckung des
Gekreuzigten stehe. Beker zufolge ist das apokalyptische Geschichtsdenken für Paulus nicht
von akzidentieller, sondern struktureller Bedeutung 114.
Wie Beker gezeigt hat, avanciert die Apokalyptik bei Paulus zu einem Interpretament der
Beschreibung des Triumphes Gottes im Christusgeschehen. Paulus unternimmt demzufolge
eine apokalyptische Deutung des Christusgeschehens. Beker kann die apokalyptische
Weltanschauung als das Kohärenz-Zentrum der paulinischen Theologie identifizieren 115. Das
Geschehen von Kreuz und Auferweckung lässt sich ohne „Substanzverlust“ bzw.
Verfälschung in der Tat nicht durch einen hermeneutischen „Trick“ von seinen
apokalyptischen Koordinaten befreien 116. Freilich wird durch das Christusereignis die
Struktur der jüdischen Apokalyptik verändert 117. Christi Kreuzestod bezeichnet die
apokalyptische Krisis über alle Menschen, die auf das Ende der alten Weltzeit verweist, und
seine Auferweckung wird von Paulus verkündigt als das sola gratia des neuen Lebens, als
Anfang der neuen Schöpfung 118.
Für solche, die sich dem apostolischen Christuszeugnis des Apostels Paulus verpflichtet
wissen, bildet das Christusereignis das theologische Gravitationszentrum 119, ja „Kern und
Stern“ biblischer Apokalyptik. Für die urchristliche Apokalyptik ist charakteristisch, dass in
die Mitte aller die Wende von der alten Weltzeit zur neuen Schöpfung bekundenden Zeichen
und Bilder der gekreuzigte und auferweckte Christus tritt: „In seinem Tod und in seiner
Auferweckung ist die letzte (eschatologische) Wende geschehen – in Verborgenheit und
Verkennung.“ 120 Dabei gilt es zu beachten, dass für die Apokalyptik, wie sie im Neuen
Testament rezipiert wird, der auferweckte und erhöhte Jesus Christus zugleich immer auch
der gekreuzigte Jesus Christus ist: „The Jesus of apocalyptic thought is crucified.“ 121 Die
[Paul’s] hermeneutic consists in the constant interaction between the coherent center of the gospel and its
contingent interpretation“. Ders., Paul, 11. So auch ders., Sieg, 21. Nach eigener Aussage folgt J.CHR. BEKER,
Sieg, 62, in der Charakterisierung der Apokalyptik den Definitionen von P. Vielhauer und K. Koch und ihren
Beschreibung der drei Wesensmerkmale der Apokalyptik: historischer Dualismus, Universalität und
Naherwartung. Bei Paulus entdeckt Beker vier zentrale Motive der jüdischen Apokalyptik: „1. die Treue und
Rechtfertigung Gottes, 2. die universale Erlösung der Welt, 3. die dualistische Struktur der Welt und 4. das
bevorstehende Kommen Gottes in Herrlichkeit.“ A.a.O., 26.
113
Vgl. ders., Paul, 16f.
114
M. HENGEL, Paulus, 387f., fasst das paulinische Denken gar als „eine letzte himmelsstürmende Steigerung“
der Apokalyptik auf, die die Grenzen des bleibenden jüdischen Hintergrundes unverkennbar sprenge.
115
Vgl. J.CHR. BEKER, Paul, 135.
116
So a.a.O., 171.
117
Vgl. a.a.O., 192ff.
118
Vgl. a.a.O., 193.
119
Dass die Mitte der paulinischen Theologie die Christologie ist, die „entscheidend Gottes Handeln in Jesus
Christus“ aussagt, akzentuiert G. EICHHOLZ, a.a.O., 155. So auch a.a.O., 33.111.
120
H.-J. KRAUS, Systematische Theologie im Kontext biblischer Geschichte und Eschatologie, NeukirchenVluyn 1983, 26.
121
L.P. JONES / J.L. SUMNEY, Preaching Apocalyptic Texts, St. Louis 1999, 35.
26
theologische Signifikanz dieses Satzes kann in anthropologischer wie ethischer Hinsicht kaum
überschätzt
werden.
Ein
Blick
auf
den
bereits
angesprochenen
exegetischen
Textzusammenhang aus dem 2. Korintherbrief oder auch den kreuzestheologisch orientierten
Diskurs über die Weisheit in 1Kor 1-4 veranschaulicht dies, wie folgende Beobachtungen
demonstrieren:
Die paulinische Argumentation bewegt sich in 1Kor1-4 unzweifelhaft im Horizont einer
apokalyptischer Theologie 122, für die das Christusereignis die eschatologische Wende in
Abkehr von „diesem Äon“ (1Kor 1,20; 2,6-8; 3,18) markiert. Anthropologisch und ethisch
signifikant ist in Bezug auf die „Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi“ die
Beobachtung, dass „der Gekreuzigte der auferweckte Heilsbringer ist, der als solcher die
Doxa Gottes besitzt und offenbart“ 123. Die Doxa, die den alten Menschen verwandelt (2 Kor
3,18), ihn zu einem Teil der neuen Schöpfung erschafft (2Kor 5,17), ist im Evangelium
präsent, „weil in ihm der gekreuzigte und auferstandene Herr selbst präsent ist“ 124.
Das Evangelium von der Herrlichkeit Christi, „der als die eikōn Gottes die Erscheinung der
göttlichen doxa selbst ist“ 125 (2 Kor 4.4.6), meint präzise das „Wort vom Kreuz“ (1Kor
1,17f.), die Proklamation des gekreuzigten Jesus Christus (1Kor 2,2) 126. Das heißt: „Für
Paulus bleibt Jesus auch nach der Auferstehung der Gekreuzigte (Partizip Perfekt: 1Kor 1,23;
2,2; Gal 3,1; vgl. Mk 16,6 par. Mt).“ 127 Weder die Auferstehung noch das Kreuz bilden den
isolierten oder isolierbaren Ansatzpunkt paulinischer Theologie. Deshalb sollte man nicht eine
theologia resurrectionis gegen eine theologia crucis ausspielen und umgekehrt 128.
Ebenso wie bei Paulus wird Jesus auch am Schluss des Markusevangeliums mit dem
Partizip Perfekt to estauromenos (Mk 16,6) als der bleibend Gekreuzigte bezeichnet. Für die
Kreuzestheologie des Evangelisten Markus ist besonders signifikant, dass die christologischen
Hoheitstitel („König der Juden“, „Christus“, „König in Israel“, „Gottes Sohn“) ausgerechnet
in der Schilderung der Kreuzigung gebraucht werden 129. Auch Paulus kann den Kyriostitel im
122
S. VOLLENWEIDER, Weisheit am Kreuzweg. Zum theologischen Programm von 1Kor 1 und 2, in: A.
Dettwiler / J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament, WUNT 151, Tübingen 2002, (43-58) 56.
123
CHR. WOLFF, a.a.O., 87.
124
O. HOFIUS, Gesetz, 109.
125
A.a.O., 116.
126
V.P. FURNISH, a.a.O., 248.
127
H.-W. KUHN, Art. Kreuz II. Neues Testament und frühe Kirche (bis vor Justin), TRE 19 (1990), (713-725)
720. So auch W. SCHRAGE, Der gekreuzigte und auferweckte Herr. Zur theologia crucis und theologia
resurrectionis bei Paulus, ZThK 94 (1997), (25-38) 33.
128
So W. KRECK, Die Zukunft des Gekommenen. Grundprobleme der Eschatologie, München 21966, 164. So
auch J.CHR. BEKER, Paul, 196, der in Bezug auf Kreuz und Auferstehung von zwei verschiedenen Ereignissen
(„two distinct historical events“) spricht, die weder vermischt noch getrennt werden sollen.
129
Diesen Hinweis verdanke ich U. BACH, Getrenntes wird versöhnt. Wider den Sozialrassismus in Theologie
und Kirche, Neukirchen-Vluyn 1991, 184.
27
Zusammenhang mit Todesaussagen verwenden (z.B. 1Kor 11,23). Für Markus gilt daher
ebenso wie für Paulus: Als der Gekreuzigte ist Jesus Christus der „Herr der Herrlichkeit“
(1Kor 2,8). Mit dieser Sentenz wird geradezu der Prototyp des Paradoxon umschrieben. Denn
nach dem Urteil der „Welt“ ist diese Aussage eine falsche Aussage.
Dass „just dem Geschändeten, dem Gekreuzigten, Ehre und Ansehen zu[kommt]“ 130, wie
der Kyriostitel für den Gekreuzigten signalisiert, sprengt menschliches Denk- bzw.
Vorstellungsvermögen. Der Kreuzestod Jesu erscheint nach weltlicher Kriteriologie nicht als
„herrlich“, sondern als etwas Skandalöses und Törichtes (1Kor 1,18.23). Das Kreuz lässt sich
in die Orientierungsmuster der nach Machterweisen fragenden Juden sowie der nach Weisheit
trachtenden Griechen nicht integrieren. Der mit Schande besetzte Ort des Kreuzes131, der nach
herkömmlichem Urteil nichts als die Schändlichkeit des Todes enthüllt, steht quer zu den
weltlichen Bewertungsparametern.
Wenn die christliche Gemeinde („wir aber“) Christus als den Gekreuzigten verkündigt
(1Kor 1,23), so geschieht dies im paradoxen Modus sub contrario. Sie handelt somit paradox, wider den Schein des Angesehenen. Die christliche Gemeinde kann nicht anders von der
Herrlichkeit Christi reden, weil Christi Herrlichkeit selbst sub contrario verborgen erscheint:
„In der Theologie des Kreuzes (theologia crucis) heißt Glauben: in diesem Gekreuzigten den Herrn sehen, in
dem Verworfenen den Erwählten, in dem zu den Toten Gerechneten den ewig Lebenden; in der Schmach die
Ehre, in der Ausgestoßenheit das Heil finden, überhaupt in diesen Gegensätzen die Wirklichkeit Gottes
erfassen“ 132.
Die Wirklichkeit aus der Perspektive des Kreuzes zu sehen – das ist der
Wahrnehmungsblickwinkel des „neuen Menschen“, der sich auch in seinem Glaubensurteil
entsprechend niederschlägt. Die Wahrnehmungsperspektive des „neuen Menschen“ ist die
Perspektive des Kreuzes. Der „alte Mensch“ hingegen „hat sein Werturteil verloren, er wertet
falsch. Er wertet Leiden und Schmach als etwas Schlimmes, als etwas Böses. Er sucht das
Gute dort, wo es nicht ist. Darum lebt er verkehrt.“ 133 Er erkennt nicht das dem Menschen
zugewandte und sichtbare Wesen Gottes im Leiden und Kreuz Christi: „Das (dem Menschen)
130
CHR. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus
kulturanthropologischer Perspektive, FRLANT 185, Göttingen 1999, 291.
131
Zur Schande als Konnotation des Kreuzes vgl. M. HENGEL, Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der
antiken Welt und die „Torheit“ des „Wortes vom Kreuz“, in: J. Friedrich u.a. (Hg.), Rechtfertigung. FS E.
Käsemann, Tübingen / Göttingen 1976, 126-184; M. WOLTER, „Dumm und skandalös“. Die paulinische
Kreuzestheologie und das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, in: R. Weth (Hg.), Das Kreuz
Jesu. Gewalt – Opfer – Sühne, Neukirchen-Vluyn 2001, 44-63, 46f.
132
H.J. IWAND, Christologie, 409.
133
Ders., Theologia crucis, in: ders., Nachgelassene Werke Bd. 2: Vorträge und Aufsätze, hg. v. D. Schellong
und K.G. Steck, München 1966, (381-398) 388.
28
zugewandte und sichtbare Wesen Gottes ist das Gegenteil des Unsichtbaren, nämlich seine
Menschheit, Schwachheit, Torheit, wie 1. Kor 1,25 von der göttlichen Schwachheit und
Torheit spricht“ 134 – so pointiert Luther in der 20. These der Heidelberger Disputation (1518).
Indem die Gemeinde die Perspektive des Kreuzes einnimmt und die Christusverkündigung
vollzieht, illustriert sie zugleich die Irrelevanz der üblichen Statusindikatoren, ja, die
Abrogation bzw. Inversion der weltlichen Werteskala: „Die hochgeschätzte, ‚weltliches’
Ansehen bietende Weisheit wird zur Torheit vor Gott, das vor der ‚Welt’ Törichte, wie es in
der Torheit des Kreuzes [1Kor 2,8.12] seinen dichten Ausdruck findet, aber zur Weisheit.“ 135
In der Schwachheit kommt die Kraft Gottes zur Entfaltung (1Kor 2,1-5). Weil Christus seine
Herrlichkeit am Kreuz und das heißt in der Schwachheit, Schändlichkeit und Hässlichkeit des
Kreuzes verborgen hat, deshalb kann Paulus sein Auftreten „in Schwachheit und in Furcht
und
mit
großem
Zittern“
(1Kor
2,3)
als
positives
Merkmal
seiner
eigenen
Verkündigungspraxis darstellen (vgl. z.B. 1Kor 4,6-13; 2Kor 11f.). Der Apostel, der sich
nicht in den Vordergrund stellt und von sich aus mit Eloquenz zu glänzen versucht, ist in
seiner Verkündigungspraxis transparent für den Glanz und hellen Schein, der vom Kreuz her
in die Herzen von Menschen fällt (vgl. 2Kor 4,6).
Das Kreuz destruiert demnach die übliche Matrix sozialer Anerkennung. Es „konstruiert“
eine veränderte Weltwahrnehmung, die in einer Neustrukturierung sozialer Wertigkeiten
resultiert. Das Kreuz hat apokalyptische Dignität: Es enthüllt den falschen Schein. Deshalb
verwundert es auch nicht, dass sich Paulus in diesem Zusammenhang eines traditionell
apokalyptischen Motivs bzw. apokalyptisch kolorierten Gedankens bedient 136: der
Offenbarung des Geheimnisses Gottes für die Auserwählten. Das Kreuz enthüllt das
„Geheimnis Gottes“ (1Kor 2,1), die verborgene Weisheit des urzeitlichen Heilsratschlusses
Gottes (1Kor 2,7). Dieses Geheimnis Gottes bezieht sich auf sein Erwählungshandeln: „Was
der Welt als töricht gilt, das hat Gott erwählt, um die Weisen zuschanden zu machen, und was
der Welt als schwach gilt, das hat Gott erwählt. Um das, was stark ist, zuschanden zu machen,
und was der Welt als unedel und verächtlich gilt, das hat Gott erwählt, das, was nichts gilt, um
das, was etwas gilt, zunichte zu machen, – damit sich kein Fleisch vor Gott rühme“ (1Kor
1,27f.).
134
WA 1, 362,4f.: „Posteriora et visibilia Dei sunt opposita invisibilium, id est, humanitas, infirmitas, stulticia,
Sicut 1. Cor. 1. vocat infirmum et stultum Dei.“
135
M. KONRADT, Die korinthische Weisheit und das Wort vom Kreuz. Erwägungen zur korinthischen Problemkonstellation und paulinischen Intention in 1Kor 1-4, ZNW 94 (2003), (181-214) 198.
136
So ders., a.a.O., 204. Vgl. äthHen 61,13; 106,19; 4Esr 10,38; 12,36.38; syrBar 48,3.
29
Die Realisierung des Heilsratschlusses Gottes im Kreuz Christi 137 impliziert nicht nur eine
ontische, sondern auch noetische Valenz. „Crux probat omnia“ 138 – so formuliert M. Luther.
Der paulinische Argumentationsduktus verdeutlicht, dass dieser Satz selbst die „Tiefen der
Gottheit“ (1Kor 2,10) einschließt.
Mit der Rede von deren Erforschung wird von Paulus „gut apokalyptisch, ‚tiefgreifende’ theologische
Erkenntnis im Sinne der dem menschlichen Erkennen an sich verborgenen Erkenntnis der Geheimnisse Gottes
angesprochen [...], und diese wird als zentral, ja exklusiv durch das Kreuz besetzt ausgegeben, so dass das Kreuz
nicht nur als unbedeutender Bestandteil der theologischen Erkenntnis – im Unterschied zum fortgeschrittenen
Erkennen – erscheint. Die theologische Weisheit ist vielmehr voll und ganz mit dem logos tou staurou zur
Deckung gebracht – wie Paulus ‚beschlossen’ hatte, unter den Korinthern nichts anderes zu wissen als allein
‚Jesus Christus, und diesen als Gekreuzigten’ (2,2).“ 139
Mit Luther gesprochen, liegt in „Christus dem Gekreuzigten die wahre Theologie und
Erkenntnis Gottes.“ 140 In Christi Leiden und Kreuz ist Gott zu finden 141. So genügt und nützt
es nach Luther keinem schon, „Gott in seiner Herrlichkeit und Majestät zu erkennen, wenn er
ihn nicht zugleich in der Niedrigkeit und Schande des Kreuzes erkennt.“ 142
Zusammenfassend lässt sich im Blick auf die (unter 3.) dargestellte paulinische Rede vom
„neuen Menschen“ feststellen: Der Apokalyptiker Paulus beantwortet die anthropologische
Frage, was es um den Menschen, sein wahres Wesen und die Offenbarung desselben in der
Zukunft sei, mit Verweis auf den Gekreuzigten als den wahren Menschen. Hier enthüllt sich,
wer und was der Mensch ist:
„Die Antwort auf die Frage des Menschen nach seinem Wesen enthüllt sich im ecce homo, am Kreuz. Hier,
und nur hier, wird dem Menschen gesagt, was es um ihn ist und was er nach dem Willen Gottes sein soll, wie er
durch Gottes Kondeszendenz in Jesus Christus ‚zurechtgebracht’ wird.“ 143
Das Kreuz Christi bedeutet mithin die Apokalypse des „neuen Menschen“ 144. Er, Jesus
Christus, ist der wahre, neue Mensch 145. Und weil Jesus Christus der wahre Mensch ist,
137
Vgl. H.-CHR. KAMMLER, Kreuz und Weisheit. Eine exegetische Untersuchung zu 1Kor 1,10-3,4, WUNT 159,
Tübingen 2003, 246.
138
WA 5, 179,31.
139
M. KONRADT, a.a.O., 211. Als Belege verweist er auf Dan 2,22; äthHen 63,3; syrBar 14,8; [54,12]; 1QS
11,18-20.
140
WA 1, 362,18f.: „Ergo in Christo crucifixo est vera Theologia et cognitio Dei.”
141
Vgl. WA 1, 362,28f.: „At Deum non inveniri nisi in passionibus et cruce“.
142
WA 1, 362,11ff.: „Ita ut nulli iam satis sit ac prosit, qui cognoscit Deum in gloria et maiestate, nisi cognoscat
eundem in humilitate et ignominia crucis.“
143
E. WOLF, Sozialethik. Theologische Grundfragen, hg. v. T. Strohm, Göttingen 31988, 13.
144
Vgl. G. EICHHOLZ, a.a.O., 58.161.
30
scheitern alle anthropologischen Versuche, das Wesen des Menschseins extra Christum zu
bestimmen: „Das ist das eigentliche Thema der Menschwerdung, daß die Gnade Gottes
gleichwertig, ja identisch ist mit dem Menschen Jesus.“ 146 Das Kreuz ist der Spiegel, in dem
Gotteserkenntnis und Menschenerkenntnis zusammenfallen. Die Offenbarung des wahren
Menschen am Kreuz ist somit Konstituens „für den sinnvollen Vollzug menschlicher
Daseinsanalyse“ 147.
3. KONTUREN EINER APOKALYPTISCHEN ETHIK DES “NEUEN MENSCHEN”
IM BLICK AUF DIE AKTUELLE BIOMEDIZINETHISCHE DEBATTE
3.1 Der Gegenstand einer apokalyptischen Ethik: Der „neue Mensch“ als Subjekt
ethischen Handelns
Wenn die mit seiner apokalyptischen Perspektive verbundene Hoffnung auf Jesus Christus
Paulus keineswegs „to ethical passivity, but to active participation in God’s redemptive
will” 148 gereicht, dann stellt sich die Frage, welche Konsequenzen diese Hoffnung etwa im
Blick auf die biomedizinethische Debatte der Gegenwart zeitigen kann. Wie können die
Konturen einer apokalyptisch orientierten Ethik aussehen?
Nach allem bislang ausgeführten dürfte klar sein, dass sich die gesuchten Konturen nur im
Lichte der apokalyptischen Grundüberzeugung der urchristlichen Gemeinde gewinnen lassen,
die „den Tod und die Auferstehung des Christus Jesus verkündigt und geglaubt [hat] als die
sub contrario crucis vollzogene Wende von der alten Weltenzeit zur neuen Schöpfung.“ 149
Eine solche theologische Ethik muss folglich eine Ethik sein, in der der „neue Mensch“ die
entscheidende Rolle spielt und die sich darin als apokalyptisch konturiert erweist, dass sie
gegenüber den grassierenden Vorstellungen vom „neuen Menschen“ den gekreuzigten
Christus als den wahren Menschen vor Augen stellt. Im Zusammenhang der neuen Existenz
des Menschen spielt zumindest bei Paulus die Kreuzestheologie die entscheidende Rolle 150.
Für Paulus gilt:
145
Vgl. B. PASCAL, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées), hg. v. E. Wachsmuth,
Heidelberg 1946, Nr. 527, 238: „Das Wissen von Gott ohne Kenntnis unseres Elends zeugt den Dünkel. Das
Wissen unseres Elends ohne Kenntnis von Gott zeugt die Verzweiflung. Das Wissen von Jesus Christus schafft
die Mitte, weil wir in ihm sowohl Gott als unser Elend finden.“
146
H.J. IWAND, Christologie, 283.
147
E. WOLF, Sozialethik, 16.
148
J.C. BEKER, Apocalyptic Gospel, 16.
149
H.-J. KRAUS, a.a.O., 26.
150
So J.CHR. BEKER, Sieg, 81-85.
31
„Der Weg Jesu zum Kreuz begründet die christliche Existenz und ist zugleich das wesentliche Kriterium
dieser Existenz. Das ethische proprium christianum ist somit Christus selbst, und die Ethik umfasst bei Paulus
die Handlungsdimensionen der Christusteilhabe. So ergibt sich: Das leitende Thema der paulinischen Ethik ist
die Entsprechung der Existenz zum neuen Sein in Christus.“ 151
Die Wirklichkeit der nova creatura umschreibt den Gegenstand christlich-theologischer
Ethik. Sie thematisiert die Handlungsaspekte des neuen Seins in Christus: „Ist der Ethik [...]
die Frage aufgegeben, wer die Menschen sein können, wollen und sollen, dann wird das
Thema des neuen Menschen zum Schlüssel, dann wird die Christologie den theologischen
Ansatzpunkt bilden und von sich aus erst den Blick auf ein wahres Schöpfungsverständnis
freilegen.“ 152 Insofern die Ethik beim „neuen Menschen“, beim „geschöpflichen Wesen des
Menschen“ 153 ansetzt, setzt sie beim extra nos der Begründung und Enthüllung (Apokalypse)
der Wirklichkeit im Christusereignis an.
Mit der von Paulus in apokalyptischem Deutungsrahmen interpretierten Realität der nova
creatura ist also eine bestimmte Ethik verbunden. Insofern dieses paulinische
Theologumenon der nova creatura als apokalyptisches Theologumenon zu verstehen ist, ist
auch die mit diesem Theologumenon verbundene Ethik als eine genuin apokalyptische Ethik
zu verstehen. Bei dieser apokalyptischen Ethik handelt es sich mit anderen Worten um eine
Ethik der Geschöpflichkeit 154. Diese Bestimmung resultiert aus dem Subjektstatus des „neuen
Menschen“ als Teil der neuen Schöpfung Gottes. Nur der „neue Mensch“, d.h. derjenige, der
in Christus Teil der neuen Schöpfung Gottes ist, „erkennt die Schöpfung als Schöpfung“ 155.
Nur er erkennt sich „durch den Dienst aus Glaubensgehorsam in ihr, als ‚Mitarbeiter’“ 156. Er
allein weiß: „[E]s gibt für das Geschöpf keinen echten Lebensraum außer beim Schöpfer.“ 157
Der in Christus „neue Mensch“ ist als solcher das „Subjekt des ethischen Handelns“ 158. Er
und nicht etwa der allgemein sittliche Mensch ist das Subjekt der Ethik.
151
U. SCHNELLE, Die Begründung und die Gestalt der Ethik bei Paulus, in: R. Gebauer / M. Meiser (Hg.), Die
bleibende Gegenwart des Evangeliums. FS O. Merk, MThSt 76, Marburg 2003, (109-131) 119f.
152
CHR. FREY, Theologische Ethik, Neukirchen-Vluyn 1990, 52. Dort z.T. kursiv.
153
E. WOLF, Sozialethik, 16.
154
Den ausgeführten Entwurf einer „Ethik der Geschöpflichkeit“ hat H.G. ULRICH, Wie Geschöpfe leben.
Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005, vorgelegt. Zur Apokalyptik vgl. a.a.O., 199f., und zur
biomedizinischen Ethik a.a.O., 624-678. Vgl. auch ders., Katastrophenstimmung und Schöpfungsethik, in:
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hg.), Klima. Vorträge des Studium Generale im Wintersemester
1992/93, Heidelberg 1993, 165-177. Um die Anwendung einer christologisch konturierten „Ethik der
Geschöpflichkeit“ im Blick auf die Reproduktionsmedizin habe ich mich in meiner Dissertation bemüht. Vgl. M.
HOFHEINZ, Gezeugt, nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, EThD 15, Münster 2007
(im Druck).
155
E. WOLF, Politia Christi, 236.
156
A.a.O., 237.
157
E. KÄSEMANN, Ruf, 240.
158
E. WOLF, Sozialethik, 16.
32
Eine wahrhaft subjektgebundene Ethik denkt der externen Konstitution des zum Handeln
befreiten und in seiner Wahrnehmung erneuerten Subjektes (Röm 12,1f.) durch die
Begegnung mit Christus im schöpferischen und neuschöpferischen Wort nach 159. Die
Konstituierung der nova creatura gründet dabei im geistgewirkten Glauben. Die fides Christi
ist zugleich creatio nova.
Dieser angezeigte theologische Erkenntniszusammenhang ist ein eminent christologischer
Verstehenszusammenhang. Im Rahmen der apokalyptischen Rede vom „neuen Menschen“
erweisen sich „Christologie und Ethik [als] engstens miteinander verklammert“ 160. Der
Einsatz der Ethik beim „neuen Menschen“ verdeutlicht, dass ihr Ansatz in der Christologie zu
suchen ist. Weil Jesus Christus der neue, der wahre Mensch ist, wird eine Ethik, deren Gegenstand die Wirklichkeit des „neuen Menschen“ darstellt und die sich deshalb vor die Aufgabe
der theologischen Explikation seiner Existenz gestellt sieht, in der Christologie und nicht etwa
einer allgemeinen Anthropologie ihren Ausgangspunkt sehen.
Erst vom „neuen Menschen“ her werden die Strukturen menschlichen Seins erkennbar und
die ethische Explikation theologischer Anthropologie somit möglich. Weil die Wirklichkeit
des handelnden Menschen durch die Wirklichkeit des den Mensch neuschöpfenden Gottes in
Jesus Christus bestimmt ist, deshalb hat auch der im Bezugsrahmen der Ethik erfolgende
Vollzug menschlicher Daseins- und Gegenwartsanalyse von der Wirklichkeit der Bestimmung
des Menschen durch Gott auszugehen. Diese für das theologische Wirklichkeitsverständnis
schlechthin konstitutive Bestimmung besagt nichts anderes als: nova creatura in Christo! Der
Neutestamentler U. Schnelle stellt deshalb treffend die Entsprechung zum neuen Sein in
Christus, sprich: die Christuskonformität der neuen Existenzweise des ethischen Subjektes als
Grundgedanken der paulinischen Ethik dar:
„Ausgangspunkt und Begründung der Ethik ist bei Paulus die Lebens- und Handlungseinheit des neuen Seins
als Teilhabe am Christusgeschehen. Jesus Christus begründet und prägt zugleich das Leben der Christen, die
ihrerseits in der Kraft des Geistes im Raum des Christus leben und dem neuen Sein in ihren Handlungen
entsprechen.“ 161
3.2 Biomedizinethische Konsequenzen
Eine apokalyptische Ethik der Geschöpflichkeit ist – wie soeben ausgeführt – eine Ethik,
deren Gegenstand die Wirklichkeit des „neue Mensch“ als explicandum darstellt und die sich
darin als apokalyptisch konturiert erweist, dass sie im Kontrast zu den grassierenden
159
Vgl. ders., Menschwerdung, 138.
G. EICHHOLZ, a.a.O., 104.
161
U. SCHNELLE, a.a.O., 122. Dort z.T. kursiv.
160
33
Vorstellungen vom „neuen Menschen“ den gekreuzigten Christus als den wahren Menschen
vor Augen führt.
Die Identifikation des Gekreuzigten als „Herrn der Herrlichkeit“ (1Kor 2,8), dieses
paulinische Paradoxon, besagt 162: Der Gekreuzigte – in der christlichen Auslegungsgeschichte
vielfach interpretiert als der Gottesknecht nach Jes 53, der „keine Gestalt und Schöne“ hatte, –
ist in Person die rettende Macht und Herrlichkeit Gottes. Bei ihm kann und soll die
theologische Ethik in der aktuellen biomedizinischen Debatte, die ebenfalls den „neuen
Menschen“ anvisiert, ansetzen. Mit der christlichen Apokalyptik hat die theologische
Anthropologie und mit ihr die Ethik nämlich „nicht an einer allgemeinen Idee des Menschen
und seiner Idealgestalt, sondern am leidenden und gekreuzigten Christus Maß [zu nehmen],
der ‚keine Gestalt’ hatte, ‚die uns gefallen hätte’ (Jes 53,2). Von hier aus ist die
Gottebenbildlichkeit des Menschen, die im Rahmen der christlichen Schöpfungslehre
ausgesagt wird, näher zu bestimmen.“ 163
Der „wahre Mensch“, als den etwa die paulinische Theologie in ihrem apokalyptischen
Deutungsrahmen niemand anderen als Jesus Christus darstellt, ist die „Krisis des Schönen“164,
die Krisis des „neuen Menschen“, wie er uns als das Leitbild der Leidensfreiheit und des
Nichtbehindert-Seins vor Augen tritt. Es stellt sich die Frage, ob nicht genau dieses Leitbild
den Hintergrund vieler biomedizinischer Techniken bildet. Im Gekreuzigten wird
demgegenüber ein ganz anderes Leitbild ansichtig: Er ist der „neue Mensch“, der in all seiner
Anstößigkeit und Abstößigkeit von Gott bereits ins Bild gesetzt wurde. Indem uns die
biblische Apokalyptik, wie Paulus es ausdrückt, den Gekreuzigten „vor Augen malt“ (Gal
3,1), tritt ein kon-trastives Bild in Erscheinung, das sich abhebt von jenem „neuen Menschen“
im Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und Freiseins
von Krankheit und Gebrechen. Es kritisiert die Utopie des perfekten Körpers und der
„alterlosen Gesellschaft“, jene Ideologie, die sich gegen jede Infragestellung, auch gegen die
ethische, immunisiert und der nach H. Haker die Biomedizin zu erliegen droht:
„Der Körper eines schwer behinderten Kindes, der nicht nur den Gesundheitsvorstellungen, sondern ebenso
(oder sogar noch mehr?) den normalen Schönheitsvorstellungen widerspricht, stellt eine Bedrohung dar,
während der genetisch, hormonell oder biochemisch verbesserte ewig junge, dadurch scheinbar unsterbliche
162
Vgl. z.B. 1Kor 4,7ff.; 12,9f.; 13,4.
U.H.J. KÖRTNER, Mensch, 67.
164
H. VOGEL, Die Krisis des Schönen. Ein Umweg zur Grundfrage der menschlichen Existenz, Berlin 1931.
Ähnlich E. JÜNGEL, „Auch das Schöne muß sterben“ – Schönheit im Licht der Wahrheit. Theologische
Bemerkungen zum ästhetischen Verhältnis, ZThK 81 (1984), (106-126) 124: „Die Offenbarung Gottes in Jesus
Christus tilgt allen schönen Schein. Sie muß ihn tilgen, weil sie nicht Vorschein der Wahrheit, sondern die
Wahrheit selbst ist. Diese Wahrheit ereignet sich aber nach neutestamentlichem Verständnis grundlegend als
Krisis. [...] Sie tut das, indem sie, wie Paulus sich ausdrückt, uns den Gekreuzigten ‚vor Augen malt’ (Gal 3,1).“
163
34
Körper als Verlockung erscheint. Der kranke oder gealterte Körper widerspricht dem sozialen Fetisch, das heißt
dem Jugendideal einer Körperkultur, die den Körper nicht als Erscheinungsform der Individualität und
Geschichte eines Menschen wahrnimmt, sondern als Machtinstrument mit dem gehandelt wird.“ 165
Das Bild des Gekreuzigten visualisiert das kritische Potential einer apokalyptischen Ethik
des „neuen Menschen“ gegenüber einem sich verselbständigenden biomedizinischen
Fortschritt, hinter dem ein utopischer bzw. säkular-apokalyptischer Gesundheitsbegriff steht.
Eine Biomedizin, welche diesem säkular-apokalyptischen Gesundheitsbegriff und dem damit
transportierten Bild vom neuen, gesunden Menschen verpflichtet wäre, würde von der
Heilkunst zur Heilslehre avancieren. Die eschatologische Dimension menschlichen Lebens,
dessen Vollendung die endzeitliche Hoffnung des christlichen Glaubens ist, würde damit –
wie für kupierte säkulare Apokalyptik typisch – ins Diesseits verlagert. Das Heil würde dann
in Form vollkommener Gesundheit im Diesseits als dem „neuen Äon“ nicht von Gott, sondern
der Biomedizin als menschlicher Leistung erwartet. Mit der Biomedizin als apokalyptischer
Wende bräche dieser Äon gleichsam in die Welt ein, um mit dem Ende des alten, kranken
Menschen zugleich den Beginn der Neuschöpfung von gesunden Menschen zu markieren. Die
Diagnose eines journalistischen Zeitgenossen lautet:
„Auch wenn wissenschaftlich noch gewaltige, manchmal sogar unüberwindlich scheinende Probleme zu lösen
sind und Experten sich in ethischen Kommissionen noch jahrelang die Köpfe heiß reden werden – das Ziel wird
immer deutlicher: eine Zukunft, in der Menschen gesund und intelligent geboren werden und erst nach 150 oder
200 Jahren ein erfülltes und rundum glückliches Leben schmerzfrei beenden.“ 166
Eine Gesellschaft, die einem solchen Gesundheitsideal folgt, wird „auf das Ziel hin geplant
und organisiert, den Schmerz zu beseitigen, die Krankheit auszutilgen und den Tod zu
bekämpfen.“ 167 Das Kreuz hingegen als der Ort, an dem sich die Versöhnung und das Heil im
Geschehen der den alten Menschen inkludierenden Stellvertretung ereignet hat, entlastet nicht
nur von solchen soteriologischen Ansprüchen an biomedizinisches Handeln, es deckt diese
auch auf. Es deckt auf, dass mit einem solchen Bild vom „neuen Menschen“ der Gekreuzigte
faktisch als Ärgernis und Torheit, ja als Perversion abgelehnt wird. Im Kreuz selbst wird
hingegen der „Wahn, in der Teilhabe am Schönen [und Gesunden; M.H.] der andere, neue
165
H. HAKER, Der Perfekte Körper: Utopien der Biomedizin, Conc 38 (2002), (115-123) 115f.
F. OCHMANN, Der Griff nach den Genen, Stern 27/2000, 60.
167
I. ILLICH, Die Enteignung der Gesundheit – Medical Nemesis, Reinbek bei Hamburg 1975, 95.
166
35
Mensch werden zu können, als der Wahn der Selbsterlösung und Selbstvergottung
offenbar“ 168. Das Kreuz hat somit auch genuin apokalyptische Funktion.
Wenn das Kreuz Christi den Willen Gottes offenbart, wenn es sozusagen die
Selbstdefinition Gottes ist, die den Weg exklusiver Gotteserkenntnis auf dasselbe festlegt,
dann entlastet dies den Menschen auch von dem Versuch, Gott in seiner eigenen
gesundheitlichen und körperlichen Vollkommenheit zu suchen bzw. die Gesundheit als
„höchstes Gut“ zum neuen Gott zu stilisieren. Die Medizin wird so von den an sie gerichteten
soteriologischen Erwartungen, von der Zielprojektion der Herstellung eines Zustandes des
Glücks und der Vollkommenheit befreit. Wer Gott im Körperkult und im Gesundheitswahn
sucht, verliert das Kreuz Christi aus den Augen. Insofern dieses Kreuz die „Aufhebung des
Dahinter Gottes, seiner Hinterweltlichkeit und seines ‚unheimlichen’, ‚Heidnischen’, man
kann auch sagen, Metaphysischen“ 169 meint, bedeutet die Gottessuche in der Leidfreiheit und
Leidensunmöglichkeit das Dahinter Gottes in einer ganz und gar antiapokalyptischen
Bewegung neu zu postulieren. Doch dieses Dahinter ist im Kreuz Christi ein für allemal in
den Bereich des Kontrafaktischen verwiesen worden, weshalb seine erneute Postulierung ein
aus theologischer Sicht illegitimes Bemühen darstellt.
Auch wenn die Gestalt des Gekreuzigten in einer Welt, in der Gesundheit das Maß aller
Dinge zu sein scheint, „fremd und im besten Fall bemitleidenswert“ 170 bleibt, so ist der
Gekreuzigte im Geschehen der Auferweckung von den Toten bereits ins Recht gesetzt
worden. Die Auferweckung erweist gleichsam ex post den göttlichen Erfolg und Triumph am
Kreuz, der das weltlich ausgerichtete Erfolgsdenken außer Kraft setzt:
„Dem Erfolgreichen gegenüber erweist Gott im Kreuz Christi die Heiligung des Schmerzes, der Niedrigkeit,
des Scheiterns, der Armut, der Einsamkeit, der Verzweiflung. Nicht als hätte das alles Wert in sich selbst. Aber
es empfängt seine Heiligung durch die Liebe Gottes, die das alles als Gericht auf sich nimmt.“ 171
Indem Paulus das Kreuzesgeschehen in seiner die menschlichen Wertvorstellungen
invertierenden Relevanz zur Geltung bringt, entzieht er jenem biomedizinischen
Statusgebaren den Boden, welches den „neuen Menschen“ per Anthropotechnologie ins
Dasein rufen möchte. Mit dem am Kreuz orientierten Ethos ist dieses Bestreben nicht
vereinbar.
168
H. VOGEL, Der Christ und das Schöne, Berlin 1955, 37.
H.J. IWAND, Glauben und Wissen, Nachgelassene Werke Bd. 1, hg. v. H. Gollwitzer, München 1962, 306.
170
D. BONHOEFFER, Ethik, hg. v. E. Bethge, München 1981, 80.
171
A.a.O., 82.
169
36
3.3 Eine Klarstellung zu den kreuzestheologischen Implikationen einer apokalyptischen
Ethik des „neuen Menschen“
Die obigen kreuzestheologischen Ausführungen mögen bisweilen als polemisch erscheinen.
Wenn jedoch das Stichwort Kreuzestheologie, wie E. Käsemann konstatiert, „in
unpolemischem Gebrauch seinen ursprünglichen Sinn verliert“ 172, dann dürfte die
Charakterisierung „Polemik“ auf dem Hintergrund der paulinischen Polemik keinen
hinreichenden Grund für eine Disqualifizierung darstellen. Um hingegen einigen nahe
liegenden Missverständnissen inhaltlich vorzubeugen, sei klargestellt: Nicht jedes Leiden
firmiert in der projektierten apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ unter dem
Kyriosprädikat. Eine „Theologie der Schmerzen“ oder eine ihr korrespondierende „Ethik der
Schmerzen“ wird mit einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ nicht intendiert.
Es geht vielmehr um eine Theologie, „in der das Leiden neben dem Nichtleiden seinen gleichberechtigten
Platz hat, in der also das Leiden kein Sonderthema sein muss, in der allerdings auch Glück, Freude und Stärke
vorkommen müssen, ohne sich zu schämen, ohne sich als Ausnahmegrößen empfinden zu müssen.“ 173
Leiden und Schmerzen sind nämlich kein Wert an sich und auch kein Selbstzweck, so dass
daraus eine ethica crucis im Sinne einer rein negativen Ethik abgeleitet werden könnte.
Sadomasochistische Schmerzverherrlichung ist „die Sache Christi“ Paulus zufolge jedenfalls
nicht. „Jeder Verherrlichung und Eigenwertigkeit des Leides“ – so der Bonner
Neutestamentler W. Schrage – „wird, und zwar allen Einwänden zum Trotz, das sei dann nur
eine christliche Variation des per aspera ad astra, vor allem durch das hina in den
Peristasenkatalogen unverrückbar ein Riegel vorgeschoben“ 174: „Wir tragen das Sterben
Christi an unserem Leibe herum, damit (hina) auch das Leben Christi an unserem christlichen
Leib offenbar werde“ (2Kor 4,10). Präzise darum geht es im Leben der nova creatura, dass
sie selbst zur Apokalypse Christi (Genitivus obiectivus!) wird, wie Christus selbst in Person
und Werk die Apokalypse des wahren Menschen ist.
Eine rein negative Ethik der Schmerzen und der Niedrigkeit würde verkennen: „Es gibt ja
keine Niedrigkeit, die an sich und als solche auch göttlich wäre, kein allgemeines Prinzip des
Kreuzes also, in welchem wir es (ebenfalls prinzipiell) mit Gott zu tun hätten. Das Kreuz ist
im Neuen Testament nicht so etwas wie das Symbol einer negativ orientierten, à la baisse
spekulierenden Weltanschauung.“ 175 Eine solche Ethik stünde außerdem in der quietistischen
172
E. KÄSEMANN, Paulinische Perspektiven, Tübingen 21972, 67.69.
U. BACH, a.a.O., 27.
174
W. SCHRAGE, a.a.O., 32.
175
K. BARTH, KD IV/1, 209.
173
37
Gefahr, Formen menschlichen Leidens religiös zu überhöhen und damit zu legitimieren, „die
in Wirklichkeit entschiedenen Widerspruch verdient gehabt hätten.“ 176 Eine apokalyptische
Ethik des „neuen Menschen“ darf dies nicht verkennen oder verdrängen. Ebenso wenig darf
sie allerdings auch umgekehrt die Prinzipialisierung bzw. „Baalisierung Gottes“ (U. Bach)
verkennen und verdrängen, in der im biotechnischen Zeitalter die wohl weitaus größere
Gefahr liegen dürfte. Gemeint ist mit dieser Prinzipialisierung das „Dogma“: „Wo Stärke und
Sieg ist, da ist Gott, und im Leiden und im Schmerzen ist Gott nicht.“ 177
Das Kreuz Christi hat mit diesem entsetzlichen „Dogma“ Schluss gemacht und die
Menschheit davon befreit. Und genau dieses sich im Kreuz vollziehende Befreiungsgeschehen
betont eine apokalyptische Ethik des „neuen Menschen“: Gottes Herrlichkeit offenbart sich in
seiner Erniedrigung bis hin zum Tode am Kreuz (vgl. Phil 2,8). Und des Menschen Hoheit
zeigt sich in seinem Gehorsam gegenüber Gott kraft des Angenommenseins durch
denselben 178. Das Kreuz ist bereits Christi bzw. Gottes Königsthron und die Auferstehung die
Offenbarung des gnädigen Urteils Gottes. Mit K. Barth gesprochen: In Gestalt des „Weges
des Sohnes Gottes in die Fremde“ 179, in die Erniedrigung, vollzieht sich Jesu göttliches
Handeln; in diesem seinem Kreuzesgehorsam widerfährt ihm die Erhöhung als Wahrwerden
des Menschseins. Ebenso wie sich in der Versöhnung am Kreuz als Geschichte der Erhöhung
des Menschensohns wahres Menschsein ereignet, erweist sich in der Versöhnung als
Geschichte der Selbsterniedrigung Gottes in Jesus Christus das wahre Gottsein. Der
versöhnte, „neue Mensch“ tritt in Jesus Christus als der wahre, erhöhte Mensch in
Erscheinung; der versöhnende Gott kommt in Jesus Christus als der sich selbst erniedrigende
Gott.
Das Kreuz bedeutet demnach mitnichten die Selbstbeschränkung der Gottheit und den
Verzicht auf ihre Doxa (etwa im Sinne der lutherischen Kenotiker), sondern Jesu
Erniedrigung meint die Betätigung dieser Doxa. Gott kann niedrig sein! Er kann sich im
Schmerz und im Leid offenbaren. Er kann die Schwachheit, die forma servi annehmen, ohne
seine Gottheit aufzugeben: „Er muß offenbar nicht nur hoch, er kann auch niedrig [...] sein. Er
176
H. BEDFORD-STROHM, a.a.O., 670f.
U. BACH, a.a.O., 185.
178
Dies ist die Pointe der beiden ersten Bände von K. BARTHs Versöhnungslehre (KD IV/1 und IV/2), welche
die Erniedrigung und Erhöhung Jesu Christi thematisieren und dabei – in den Formeln der altprotestantischen
Dogmatik gesprochen – die Zwei-Stände-Lehre als Interpretament der Zwei-Naturen-Lehre gebrauchen. Die
theologia crucis bildet bei K. Barth den Ort und den Rahmen der Modifikation und Aktualisierung traditioneller
Christologie. Wie B. KLAPPERT (Die Auferweckung des Gekreuzigten. Der Ansatz der Christologie Karl Barths
im Zusammenhang der Christologie der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 31981, 386ff.; Versöhnung und
Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, NBST 14, Neukirchen-Vluyn 1994, bes. 143) in
mehreren Untersuchungen gezeigt hat, bildet die theologia crucis bei K. Barth den Ort und den Rahmen der
Modifikation und Aktualisierung traditioneller Christologie.
179
K. BARTH, KD IV/1, (§ 59.1) 171ff.
177
38
muß nicht nur richten, er kann auch vergeben. Und gerade indem er niedrig ist, ist er hoch“ 180.
Die forma Dei besteht gerade in der Gnade „in der Gott selbst die forma servi annimmt“181.
Wenn dies aber gilt, dann hat Gott selbst im Versöhnungsgeschehen jenen Prinzipialismus
ein für alle mal beseitigt, der besagt, „Gott wolle nur Stärke, Leiden und Schwäche dagegen
seien das Böse.“ 182 Gott enthüllt am Kreuz diese Aussage als Lüge, indem er im gefolterten,
verachteten, ganz und gar unschönen Menschen Jesus an die Stelle der Menschen tritt. In
seiner Stellvertretung identifiziert sich Gott mit den Schwachen und Verachteten, indem er
sich als einer der ihren kreuzigen lässt und auferweckt wird. In ihnen, den geringsten Brüdern,
will er erkannt werden: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das
habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Als einer der ihren gibt sich Jesus Christus am Kreuz zu
erkennen. Nicht überall und nirgends will Gott erkannt werden – sondern hier, in Jesus
Christus, dem wahren Menschen, der am Kreuz hängt und verachtet wird 183. Und indem er
hier erkannt wird, wird er in einem Verachteten erkannt. Das Stellvertretungsgeschehen hat
eine noetische Dimension von ethischer Valenz.
Es hat Gott gefallen, als Verachteter das Werk der Versöhnung als Geschehen der alle
Menschen einschließenden Stellvertretung zu vollbringen. Damit lenkt Gott das Augenmerk
seiner Kirche auf die Verachteten dieser Welt. In Knechtsgestalt will Gott als der Versöhner
der Welt erkannt werden. Gerade sie ist transparent für das Stellvertretungsgeschehen.
Deshalb nimmt Jesus Christus die Knechtsgestalt an und geht den Weg der Erniedrigung bis
zum Tode am Kreuz und führt so jedem sichtbar vor Augen, dass sein Versöhnungswerk
niemanden, auch und besonders nicht die Verachteten ausschließt, sondern auch ihnen gilt.
Sollte der Mensch die Verachteten, ausschließen, wo Gott sie doch in einzigartiger Weise in
sein Heilswerk einschließt?
An der Enthüllung der fatalen ontischen und noetischen Fixierung Gottes auf das Starke,
Gesunde und Leidfreie ist einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“ gelegen. Sie ist
mit anderen Worten ihrem Charakter nach darin genuin apokalyptisch, dass sie dieses falsche
Gottesbild, welches mit der Identifikation von Gott und Stärke, Gott und Gesundheit, Gott
und Heilung vorliegt, unter Verweis auf das Kreuz Christi als falschen Schein enthüllt.
Insofern erweist sie sich als para-dox, als kritisch wider den (falschen) Schein gerichtet. Sie
180
A.a.O., 208.
A.a.O., 205.
182
U. BACH, a.a.O., 28.
183
Zum gesamten Absatz vgl. die in Anlehnung an H.J. Iwands Christologie erfolgten Ausführungen von G.
PLASGER, Wer ist der Mensch? Zur Argumentation in der gegenwärtigen evangelisch-theologischen Bioethik, in:
M. Freudenberg u.a. (Hg.), Beiträge zur Ethik, Reformierte Akzente 7, Wuppertal 2003, (63-81) es. 78.
181
39
folgt damit der biblischen Apokalyptik, die das Bild des gekreuzigten Christus vor Augen
stellt und sich damit als „Kontra“ gegenüber der Tendenz zu verstehen gibt, alles Sieghafte als
göttlich zu begreifen und alles Niedrige als nur-menschlich 184. Eine der biblischen
Apokalyptik folgende Ethik des „neuen Menschen“ kommt – wie dargestellt – konzeptionell
nicht ohne Versöhnungslehre und Stellvertretungstheologie aus. Wie könnte sie dies, wo sich
doch nach biblischem Zeugnis im Versöhnungsgeschehen die Neukonstituierung des
ethischen Subjektes und die Apokalypse des „neuen Menschen“ ereignet hat?
3.4 Ethik des „neuen Menschen“ als kirchliche Ethik
Der gesamte Weg einer apokalyptischen Ethik kann an dieser Stelle auch in Bezug auf das
sozialethische Themenfeld der Biomedizin nicht ausgeschritten werden. So mag es hier bei
den erfolgten Andeutungen sein Bewänden haben. Zur Konkretion der projektierten Ethik sei
jedoch abschließend noch auf den Programmbegriff einer kirchlichen Ethik verwiesen, der im
Folgenden als Interpretament der zu konturierenden apokalyptischen Ethik des „neuen
Menschen“ dienen mag.
Wenn die Ethik des „neuen Menschen“ als kirchliche Ethik bestimmt wird, so besagt dies,
dass der „neue Mensch“ im formativen Kontext der Kirche verortet ist. Der „neue Mensch“
existiert nicht als Individuum in „splendid isolation“, sondern als Glied der christlichen
Gemeinde. In ihr gewinnt die Teilhabe am neuen Sein in Christo Gestalt. Die Kirche ist der
Ort, wo die neuen Geschöpfe leben. Ihre innere und äußere Ausrichtung wird von Christus her
präfiguriert.
Er
ermöglicht
die
Einheit
der
Gemeinde
(vgl.
Röm
15,5).
Die
Christuskonformität prägt ihr Sein und Handeln.
Dies ist auch für die Konstitution des ethischen Subjekts als Glied der Gemeinde von kaum
zu überschätzender Bedeutung. Die Wirklichkeit des „neuen Menschen“ kann als Gegenstand
der Ethik nicht von der Wirklichkeit der Gemeinde getrennt werden, so dass sich besagte
Verortung auch in der Explikation der ethischen Existenz vor Gott niederschlagen muss, die
der Ethik als Aufgabe aufgetragen ist. Anders gesagt: Die sozialethische Explikation
theologischer Anthropologie vollzieht sich im Interpretationsrahmen der Ekklesiologie 185.
Die kreuzestheologischen Grundlagen einer Ethik des „neuen Menschen“ beinhalten
demnach ekklesiologische Implikationen. Was die Gestalt der Kirche angeht, so weist etwa
184
Vgl. U. BACH, a.a.O., 184.
Vgl. programmatisch R. HÜTTER, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik in der Gegenwart, Evangelium und Ethik Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 1993; A.
RASMUSSON, The Church as Polis. From Political Theology to Theological Ethics as Exemplified by Jürgen
Moltmann and Stanley Hauerwas, Notre Dame 1995; B. WANNENWETSCH, Gottesdienst als Lebensform – Ethik
für Christenbürger, Stuttgart u.a. 1997.
185
40
Paulus darauf hin, dass die soziologische Zusammensetzung einer Gemeinde von
Habenichtsen und Randexistenzen („nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele
Mächtige, nicht viele Vornehme“; 1Kor 1,26) „ein Reflex des Kreuzes Christi“ 186 ist. Gerade
das Kreuz dient nicht nur „primär kritisch zur theologischen bzw. christologischen Standortund Grenzbestimmung“ 187. Es ist für Paulus „zugleich und konstitutiv die Ortsanweisung für
die Christen und die Gemeinde“ 188. Ist die wahre Herrlichkeit in Christus, dem Gekreuzigten,
zu finden, dann stellt das Verhalten der christlichen Gemeinde in Bezug auf die Schwachen,
Behinderten und Leidenden in der Gesellschaft einen Testfall für ihre Kreuzesnachfolge dar.
Der im Kreuz sub contraria specie Erschienene verweist seine Kirche mit seinem Kreuz auf
das, was ihr ebenfalls nur sub contraria specie als schön und anziehend erscheint. Er verweist
sie darauf mit seiner Liebe, die sich gerade nicht (wie der amor hominis) „am Schönen
entzündet, sondern den hässlichen, nämlich sich selbst entstellten homo peccator dadurch
schön macht, dass sie ihn liebt.“ 189 Für den „neuen Menschen“ im Raum der Kirche gilt:
„In dieser neugewonnenen Entsprechung zum Willen Gottes wird das Sein und Handeln der Kirche nun in der
Tat von Niedrigkeit geprägt, erhält es – in Analogie zum Handeln Gottes in Christus – einen ‚durchgehende[n]
Zug nach unten“ 190.
Aus dem Kreuz als „sinnstiftendem Zentrum der christlichen Identitätsmatrix“ 191 folgt ein
Existenzentwurf, der die kulturell etablierten Statuszuteilungen unterläuft und das soziale
Miteinander neu, d.h. diakonisch strukturiert. Die Kirche ist dieser diakonisch neu
strukturierte Raum innerhalb der Gesellschaft. Sie findet „die wahre Quelle der Macht im
Dienen statt im Herrschen“ 192. Für die Glieder der Kirche gilt: „Wir sind als Glieder das
Patientenkollektiv, in dem jeder auf die Hilfe anderer angewiesen ist (auch der Stärkste hat
Unsinn geredet, wenn er sagt: Ich bedarf eurer nicht, 1Kor 12,21) und in dem jedem von uns
das Helfen zugetraut und zugemutet wird.“ 193 Dieses diakonische Miteinander, diese
Wechselseitigkeit, dieses verlässliche Miteinander von Verschiedenen kennzeichnet die
Kirche als einen Raum der „Solidarität zwischen Gesunden und Kranken“ 194.
186
W. SCHRAGE, a.a.O., 31.
Ebd.
188
Ebd.
189
E. JÜNGEL, a.a.O., 124.
190
So M. ZEINDLER, Gott und das Schöne. Studien zur Theologie der Schönheit, FSÖTh 68, Göttingen 1993,
395, K. BARTH (KD IV/1, 207) zitierend.
191
M. KONRADT, a.a.O., 214.
192
S. HAUERWAS, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, Evangelium und Ethik Bd. 4,
Neukirchen-Vluyn 1995, 162.
193
U. BACH, a.a.O., 185.
194
A.a.O., 194.
187
41
Kirche hat sich in Folge dessen jedem Trend zur Entsolidarisierung zu widersetzen. Dies
gelingt am effektivsten, wenn die Kirche selbst Modelle des gelingenden Miteinanders von
Gesunden und Behinderten vorlebt und dabei einladend 195 wirkt 196:
„The Christian’s care for the weak embodies no grand humanistic vision, but only the idea that regardless of
its accomplishments, no society that fails to care for retarded will be worthy or humane. It is just this kind of
vision that exposes the sinful and power-hungry pretensions we hide behind our claims to serve others in the
name of humanity.” 197
Die wahre Kirche wird sich durch das in ihr herrschende Klima der Annahme, Solidarität
und
Nächstenliebe
sichtbar
und
erlebbar
von
jenem
gesellschaftlichen
Druck
unterscheiden 198, dem sich etwa Eltern vielfach ausgesetzt sehen, wenn sie trotz des
humangenetischen Befundes einer Abweichung im Erbgut ihr behindertes Kind wissentlich
austragen 199. Eine Kirche, die sich ihrer Fremdlingschaft in der Welt nicht schämt 200,
unterminiert jenes sich nur allzu leicht einschleichende kollektive Bewusstsein: Behinderte
müssen nicht sein. Behinderte können aussortiert, selektiert werden. Es lohnt sich nicht zu
lernen, mit Behinderten zu leben. Wir müssen sie nicht integrieren, wir müssen sie nicht
teilhaben lassen, wir müssen sie nicht begleiten, wenn sie leiden.
Eine Kirche, die durch ihren alternativen Lebensstil im Umgang mit Behinderten
gesellschaftlich hervorsticht, bildet das beste Präventiv gegenüber jener eugenischen
Mentalität, der das Verlangen nach Menschenzüchtung erwächst. Sie verdeutlicht, dass
gesellschaftlich nicht eine Anthropotechnologie, sondern eine Kultur der Solidarität benötigt
wird. „Deshalb ist das Ziel einer kirchlichen Ethik, die nicht nur den Staat in rechtlicher
Hinsicht als Adressaten vor Augen hat, Alternativen in die Gesellschaft hineinzutragen und
195
Vgl. G. PLASGER, Einladende Ethik. Zu einem neuen evangelischen Paradigma in einer pluralen Gesellschaft,
KuD 52 (2005), 126-156.
196
Vgl. H.S. REINDERS, The Future of the Disabled in Liberal Society. An Ethical Analysis, Notre Dame 2000.
197
S. HAUERWAS, Vision and Virtue. Essays in Christian Ethical Reflection, Notre Dame 1974, 193.
198
Im Blick auf die Sterbehilfe-Debatte hat P.D. BROWNING, Community Care of the Dying: Beyond the
Euthanasia Debate, Encounter 66 (1/2005), 23-44, diese Dimensionen einer kirchlichen Ethik stark gemacht. Auf
diesem Theoriehintergrund zur Biomedizin im Allgemeinen vgl. J.J. SHUMAN, The Body of Compassion. Ethics,
Medicine, and the Church, Boulder 1999.
199
Vgl. G. PLASGER, Mensch, 79: „Immer wieder hören Eltern von Kindern beispielsweise mit der Trisomie 21,
dem Down-Syndrom, dass das doch in der heutigen Zeit nicht mehr nötig sei, ein solches Kind auf die Welt zu
bringen. Die hinter diesen und anderen Auffassungen stehenden Wertmaßstäbe sind nicht mit der Botschaft vom
gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus vereinbar.“
200
Zur Rede von der „Fremdlingschaft der Kirche in der Welt“ vgl. E. BUSCH, Verbindlich von Gott reden.
Gemeindevorträge, Neukirchen-Vluyn / Wuppertal 2002, 183-192; R. FELDMEIER, Die Christen als Fremde. Die
Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief, WUNT 64, Tübingen 1992;
W. KRECK, Grundfragen der Ekklesiologie, München 1981, 283-288. Vgl. 1Kor 4,11; 2Kor 5,6-9; Hebr 11,1316; 13,14; 1Petr 2,11.
42
auch selber danach zu leben. Es gelingt vielen Christen durchaus, modellhaft beispielsweise
mit behinderten Menschen zu leben. Das ist keine sozialromantische Argumentation. Aber es
sind gerade gelingende Modelle des Zusammenlebens, des Ernstnehmens aller Menschen,
verbunden auch mit der Erwartung und Erfahrung, dass Begegnungen nicht nur belasten,
sondern vor allem auch bereichern.“ 201
3.5 Schlussbemerkung
Anhand der umrissenen Konturen einer apokalyptischen Ethik des „neuen Menschen“
dürfte deutlich geworden sein, dass die urchristliche Apokalyptik kein erledigtes Weltbild,
keine veraltete Weltanschauung ist, sondern die unaufgebbare Kategorialität des Evangeliums
vom gekreuzigten und auferweckten Christus selbst bezeichnet. Wie dargestellt, besteht die
genuin apokalyptische Bedeutung der urchristlichen Rede vom „neuen Menschen“ in der
Aussage: „In dieser Christusebenbildlichkeit, die als solche Gottesebenbildlichkeit ist, ist
gleichzeitig enthüllt, was die Gottesebenbildlichkeit des Erstgeschaffenen ist.“ 202
Dies gilt es allzumal angesichts der Eigenart neuzeitlicher Anthropologie zu akzentuieren,
die nach O. Marquard darin besteht, dass der Mensch sich kaum noch unmittelbar theologisch
als Ebenbild Gottes verstehen kann 203. Das Phänomen der Kupiertheit moderner Apokalypsen
korrespondiert dieser Vergessenheit. Man wird sogar als Hypothese die Frage aufwerfen
dürfen, ob die Vergessenheit in Bezug auf die Gottebenbildlichkeit nicht in einer
Beschneidung der Apokalypse resultieren musste. Wurde die säkularisierte Apokalyptik nicht
gerade so zu jener recht diffusen Stimmung, die man auf immer neue Phänomene des „Endes“
angewandt hat?
Als kupierte Apokalyptik tut sie exakt das, was urchristliche Apokalyptik verweigert: Sie
weckt entweder mit mehr oder weniger tiefsinnigen Zeitansagen einen allgemeinen
Katastrophismus bzw. Alarmismus, der im Erschrecken vor dem Ende eher lähmt und
Unentschlossenheit fördert, als dass er motivierend wirkt. Oder sie propagieren den neuen
Äon der Welterneuerung und Humanisierung des Menschen in Gestalt jener Forderungen
nach Züchtung, die den anvisierten „Menschenpark“ im Lichte der biblischen Rede vom
201
G. PLASGER, Mensch, 80. Das Programm einer kirchlichen Ethik unter besonderer Berücksichtigung der
Behindertenthematik hat der amerikanische Ethiker S. HAUERWAS (vgl. Truthfullness and Tragedy. Further
Investigations into Christian Ethics, Notre Dame 1977, 147-183; Suffering Presence. Theological Reflections on
Medicine, the Mentally Handicapped, and the Church, Notre Dame 1986, 159-217; Dispatches from the Front.
Theological Engagements with the Secular, Durham / London 1994, 177-86; Sanctify Them in the Truth:
Holiness Exemplified, Nashville 1998, 143-156) ausgeführt.
202
P. BRUNNER, a.a.O., 88.
203
Vgl. O. MARQUARD, Art. Anthropologie, HWP 1 (1971), 362-374.
43
„neuen Menschen“ als inhuman erweisen. Ein solcher Äon wäre, biblisch-theologisch
geurteilt, kein künftiger Äon des Heils, sondern des Unheils.
So machen es die vermeintlichen Apokalyptiker ihren Gegnern letztlich leicht, die
„Apokalyptik“
unten
den
Generalverdacht
einer
subtil
perhorreszierenden
Argumentationsstrategie zu stellen und als simplifizierende „Schwarzmalerei“ oder schlicht
als „Allmachtswahn“ abzuweisen. Die Schriften biblischer Apokalyptik hingegen sind keine
Schauermärchen, sondern zu einem großen Teil Märtyrerzeugnisse. Sie „verbreiten Hoffnung
in den Gefahren, weil sie im menschlichen und kosmischen Ende den neuen Anfang Gottes
verkünden.“ 204 Der moralische Appell der säkularen Apokalyptiker hingegen kennt entweder
keine Hoffnung auf Erlösung oder aber er stellt einen Zusammenhang zwischen Ende und
Heil, zwischen Endlichkeit und Vollendung her, der auf der Apotheose des Menschen basiert.
Die Hoffnung des Glaubens aber richtet sich nicht auf einen vergöttlichten Menschen,
sondern den Menschen, der in seiner Person „wahrer Gott“ und „wahrer Mensch“ ist. Und
weil sie sich auf ihn richtet und an ihm ausrichtet, ist sie kritisch gegenüber inhumanen
Menschenbildern eingestellt.
204
J. MOLTMANN, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 228. Vgl. a.a.O., 159.
44
Zentrum für Medizinische Ethik
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Medizinethik. Dezember 1994.
Heft 96: Pohlmeier, Hermann: Selbstmordverhütung - Zur Ethik von Selbstbestimmung und
Fremdbestimmung. Dezember 1994.
Heft 97: Epplen, Jörg T.; Rieß, Angelika; Rieß, Olaf: DNA-Diagnostik in der
Humangenetik: Voraussetzungen und Tendenzen. März 1995.
Heft 98: Stotz, Gabriele: Theoretische und ethische Probleme der psychiatrischen Diagnose.
März 1995.
Heft 99: Vollmann, Jochen: Fürsorgen und Anteilnehmen: Ethics of Care. April 1995.
Heft 100: Hinrichsen, Klaus V.; Sass, Hans-Martin: 10 Jahre Zentrum für Medizinische Ethik.
Juni 1996.
Heft 101: Schreiber, Hans-Ludwig: Die Todesgrenze als juristisches Problem - Wann darf ein
Organ entnommen werden? Juli 1995.
Heft 102: Hartmann, Fritz: Lebens- und Hilfeleistungen im Sterben. 2. Aufl. Februar 1996.
Heft 103: Kielstein, Rita (Hg.): Ethische Aspekte in der Nephrologie. 2. Aufl. Februar 1995.
Heft 104: Bernat, Erwin: Antizipierte Erklärungen und das Recht auf einen selbstbestimmten
Tod. Januar 1996.
Heft 105: Richter, Gerd; Schmid, Roland M.: Ethische Perspektiven der Gentherapie 1995.
Januar 1996.
Heft 106: Bauer, Axel: Braucht die Medizin Werte? Gedanken über die methodologischen
Probleme einer „Bioethik“. März 1996.
Heft 107: Tausch, Reinhard: Empirische Untersuchungen zu Sinn-Erfahrungen und
Wertauffassungen. Juli 1996.
Heft 108: Sass, Hans-Martin: Ethik-Unterricht im Medizinstudium; Methoden, Modelle und
Ziele der Integration von Medizinethik in die medizinische Aus- und Fortbildung.
August 1996.
Heft 109: Meyer, Frank P.: Salus aegroti suprema lex; Probleme klinischer Studien aus der
Sicht eines Mitgliedes einer Ethikkommission - Schwerpunkt Onkologie. August
1996.
Heft 110: Sass, Hans-Martin: Reform von Gesundheitswesen und Krankenhäusern in
verantwortungsethischer Perspektive. August 1996.
Heft 111: Sass, Hans-Martin, Kielstein, Rita: Die medizinische Betreuungsverfügung in der
Praxis. Vorbereitungsmaterial, Modell einer Betreuungsverfügung, Hinweise für
Ärzte, Bevollmächtigte, Geistliche und Anwälte. 7. Auflage Dezember 2000.
Heft 112: Spittler, Johann F.: Sterbeprozess und Todeszeitpunkt - Die biologischen
Phänomene und ihre Beurteilung aus medizinischer Sicht. August 1996.
Heft 113: May, Arnd; Gawrich, Stefan; Stiegel, Katja: Empirische Erfahrungen mit
wertanamnestischen Betreuungsverfügungen. 2. Auflage Juli 1997.
Heft 114: Biller, Nikola: Der Personbegriff in der Reproduktionsmedizin. September 1997.
Heft 115: Kaminsky, Carmen: Gesagt, gemeint, verstanden? Zur Problematik der Validität
vorsorglicher Patientenverfügungen. Oktober 1997.
Heft 116: Baumann, Eva: Gesellschaftliche Konsensfindung und Humangenetik. Oktober
1997.
Heft 117: May, Arnd: Betreuungsrecht und Selbstbestimmung am Lebensende. September
1998.
Heft 118: Zülicke, Freddy: Chancen und Risiken von Gentechnik und Reproduktionsmedizin.
September 1998.
Heft 119: Meyer, Frank P.; Sass, Hans-Martin: Klinische Forschung 2000. Oktober 1998.
Heft 120: Grossmann, Wilfried; Maio, Giovanni, Weiberg, Anja: Ethik im Krankenhausalltag
- Theorie und Praxis. Oktober 1998.
Heft 121: Sponholz, Gerlinde; Allert, Gebhard; Keller, Frieder; Meier-Allmendinger, Diana;
Baitsch, Helmut: Das Ulmer Modell medizinethischer Lehre. Sequenzierte
Falldiskussion für die praxisnahe Vermittlung von medizinethischer Kompetenz
(Ethikfähigkeit); Uhl, Andreas; Lensing; Claudia: Perspektiven und Gedanken zur
medizinethischen Ausbildung. August 1999.
Heft 122: Schmitz, Dagmar; Bauer, Axel W.: Evolutionäre Ethik und ihre Rolle bei der
Begründung einer zukünftigen Medizin- und Bioethik. März 2000.
Heft 123: Hartmann, Fritz: Chronisch Kranksein als Grenzlage für Kranke und ihre Ärzte.
März 2000.
Heft 124: Baberg, Henning T.; Kielstein, Rita; Sass, Hans-Martin (Hg.): Der
Behandlungsverzicht im Blick des Bochumer Inventars zur medizinischen Ethik
(BIME). April 2000.
Heft 125: Spittler, Johann F.: Locked-in-Syndrom und Bewusstsein – in dubio pro vita.
August 2000.
Heft 126: Ilkiliç, Ilhan: Das muslimische Glaubensverständnis von Tod, Gericht,
Gottesgnaden und deren Bedeutung für die Medizinethik. September 2000.
Heft 127: Maio, Giovanni: Ethik und die Theorie des "minimalen Risikos" in der
medizinischen Forschung. September 2000.
Heft 128: Zenz, Michael; Illhardt, Franz Josef: Ethik in der Schmerztherapie. November
2000.
Heft 129: Godel-Ehrhardt, Petra; May, Arnd T.: Kommunikation und Qualitätssicherung im
Betreuungsrecht – Ergebnisse einer Befragung zur Mailingliste
[email protected]. März 2001.
Heft 130: Dabrock, Peter; Klinnert, Lars: Würde für verwaiste Embryonen? Ein Beitrag zur
ethischen Debatte um embryonale Stammzellen. Juli 2001.
Heft 131: Meyer, Frank P.: Ethik der Verantwortung. Verkommt »Evidence Based Medicine«
zu »Money Based Medicine«? März 2002.
Heft 132: Sass, Hans-Martin: Menschliche Ethik im Streit der Kulturen. März 2002.
Heft 133: Knoepffler, Nikolaus: Menschenwürde als Konsensprinzip für bioethische
Konfliktfälle in einer pluralistischen Gesellschaft. März 2002.
Heft 134: Quante, Michael: Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung und
Menschenwürde. März 2002.
Heft 135: Köchy, Kristian: Philosophische Grundlagenreflexion in der Bioethik. März 2002.
Heft 136: Hengelbrock, Jürgen: Ideengeschichtliche Anmerkungen zu einer Ethik des
Sterbens. Juli 2002.
Heft 137: Schröder, Peter: Vom Sprechzimmer ins Internetcafé: Medizinische Informationen
und ärztliche Beratung im 21. Jahrhundert. Juli 2002.
Heft 138: Zühlsdorf, Michael T.; Kuhlmann, Jochen: Klinische und ethische Aspekte der
Pharmakogenetik. August 2002.
Heft 139: Frey, Christofer; Dabrock, Peter: Tun und Unterlassen beim klinischen
Entscheidungskonfliktfall. Perspektiven einer (nicht nur) theologischen
Identitätsethik. August 2002.
Heft 140: Meyer, Frank P.: Placeboanwendung – die ethischen Perspektiven. März 2003.
Heft 141: Putz, Wolfgang; Geißendörfer, Sylke; May, Arnd: Therapieentscheidung am
Lebensende - Ein "Fall" für das Vormundschaftsgericht? 2. Auflage August 2003.
Heft 142: Neumann, Herbert A.; Hellwig, Andreas: Ethische und praktische Überlegungen
zur Einführung der Diagnosis Related Groups für die Finanzierung der
Krankenhäuser. Januar 2003.
Heft 143: Hartmann, Fritz: Der Beitrag erfahrungsgesicherter Therapie (EBM) zu einer
ärztlichen Indikationen-Lehre. August 2003.
Heft 144: Strätling, Meinolfus; Sedemund-Adib, Beate; Bax, Sönke; Scharf, Volker Edwin;
Fieber, Ulrich; Schmucker, Peter: Entscheidungen am Lebensende in Deutschland.
Zivilrechtliche Rahmenbedingungen, disziplinübergreifende Operationalisierung
und transparente Umsetzung. August 2003.
Heft 145: Hartmann, Fritz: Kranke als Gehilfen ihrer Ärzte. 2. Auflage Dezember 2003.
Heft 146: Sass, Hans-Martin: Angewandte Ethik in der Pharmaforschung. Januar 2004.
Heft 147: Joung, Phillan: Ethische Probleme der selektiven Abtreibung: Die Diskussion in
Südkorea. Januar 2004.
Heft 148: May, Arnd T; Brandenburg, Birgitta: Einstellungen medizinischer Laien zu
Behandlungsverfügungen. Januar 2004.
Heft 149: Hartmann, Fritz: Sterbens-Kunde als ärztliche Menschen-Kunde. Was heißt: In
Würde sterben und Sterben-Lassen? Januar 2004.
Heft 150: Reiter-Theil, Stella: Ethische Probleme der Beihilfe zum Suizid. Die Situation in
der Schweiz im Lichte internationaler Perspektiven. Februar 2004.
Heft 151: Sass, Hans-Martin: Ambiguities in Biopolitics of Stem Cell Resarch for Therapy.
März 2004.
Heft 152: Ilkilic, Ilhan: Gesundheitsverständnis und Gesundheitsmündigkeit in islamischen
Traditionen. 3. Auflage März 2005.
Heft 153: Omonzejele, Peter F.: African Concepts of Health, Disease and Treatment [A
Future for Traditional Medicines and Spiritual Healings? A Postscript on Peter F
Omonzeleje by Hans-Martin Sass]. April 2004.
Heft 154: Lohmann, Ulrich: Die neuere standesethische und medizinrechtliche Entwicklung
in Deutschland – Wandel des Menschenbildes? Mai 2004.
Heft 155: Friebel, Henning; Krause, Dieter; Lohmann, Georg und Meyer, Frank P.:
Verantwortungsethik. Interessenkonflikte um das Medikament - Wo steht das
Medikament? Juni 2004.
Heft 156: Kreß, Hartmut: Sterbehilfe - Geltung und Reichweite des Selbstbestimmungsrechts
in ethischer und rechtspolitischer Sicht.1. Auflage September 2004, 3. Auflage
März 2005.
Heft 157: Fröhlich, Günter und Rogler, Gerhard: Das Regensburger Modell zur Ausbildung in
klinischer Ethik. Dezember 2004.
Heft 158: Ilkilic, Ilhan; Ince, Irfan und Pourgholam-Ernst, Azra: E-Health in muslimischen
Kulturen. Dezember 2004.
Heft 159: Lenk, Christian; Jakovljevic, Anna-Karina: Ethik und optimierende Eingriffe am
Menschen. 2.Auflage Februar 2005.
Heft 160: Ilkilic, Ilhan: Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. Eine
Handreichung für die Gesundheitsberufe. 1. Auflage Juli 2003 (Tübingen), 5.
Auflage April 2005.
Heft 161: Hartmann, Fritz: Vom Diktat der Menschenverachtung 1946 zur "Medizin ohne
Menschlichkeit" 1960; Zur frühen Wirkungsgeschichte des Nürnberger
Ärzteprozesses. 1. Auflage Februar 2005, 2. Auflage März 2005.
Heft 162: Strätling, Meinolfus u.a.: Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung in
Deutschland. Juni 2005.
Heft 163: Sass, Hans- Martin: Abwägungsprinzipien zum Cloning menschlicher Zellen.
Januar 2006.
Heft 164: Vollmann, Jochen: Klinische Ethikkomitees und klinische Ethikberatung im
Krankenhaus. Ein Praxisleitfaden über Strukturen, Aufgaben, Modellen und
Implementierungsschritte. Januar 2006.
Heft 165: Sass, Hans- Martin: Medizinische Ethik bei Notstand, Krieg und Terror.
Verantwortungskulturen bei Triage, Endemien und Terror. Februar 2006.
Heft 166: Sass, Hans-Martin: Gesundheitskulturen im Internet. E-Health-Möglichkeiten,
Leistungen und Risiken. 1. Auflage Februar 2006, 2. Auflage März 2006.
Heft 167: May, Arnd T.; Kohnen, Tanja: Körpermodifikation durch Piercing: Normalität,
Subkultur oder Modetrend? Mai 2006
Heft 168: Anderweit, Sabine; Ilkilic, Ilhan; Meier-Allmendinger, Diana; Sass, Hans-Martin;
Cheng-tek Tai, Michael: Checklisten in der klinisch-ethischen Konsultation. Mai
2006
Heft 169: Kielstein, Rita; Kutzer, Klaus; May, Arnd; Sass, Hans-Martin: Die Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis. April 2006
Heft 170: Brenscheidt, Juliane; May, Arnd T.; May, Burkard; Kohnen, Tanja; Roovers, Anna;
Sass, Hans-Martin: Zentrum für Medizinische Ethik Bochum 1986 – 2006.
Heft 171: Dabrock, Peter; Schröder, Peter: Public Health Gen-Ethik. 1. Auflage August 2006.
Heft 172: Berg, Michael: Lebensbeendende Behandlungsbegrenzung bei Wachkomapatienten
– „passiver Suizid“ im Spannungsfeld von pflegerischem Berufsethos und
Selbstbestimmungsrecht des Patienten am Beispiel des „Kiefersfeldener-Falles“
1. Auflage Oktober 2006
Bestellschein
An das
Zentrum für Medizinische Ethik
Ruhr-Universität Bochum
Gebäude GA 3/53
44780 Bochum
Tel: (0234) 32 22749
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mehr Exemplaren € 4,00 pro Stück).
Hefte Nummer: _____________________________________________
Zusammenfassung
Apokalyptische Stimmungen und Visionen haben Konjunktur. Auch im gegenwärtigen
biomedizinethischen Diskurs lässt sich etwa im Blick auf den gefakten südkoreanischen
„Klon-Erfolg“ oder die sog. „Sloterdijk-Debatte“ die Wiederkehr apokalyptischer
Deutungsmuster beobachten. Die vorliegende Untersuchung beschreibt die verschiedenen
vorfindlichen „bioapokalyptischen“ Argumentationstypen bzw. Denkmuster und versucht
fernerhin zu zeigen, inwiefern diese inhaltlich mit der urchristlichen Apokalyptik
inkompatibel sind. Es wird die These vertreten, dass die nachweisbaren „Bioapokalypsen“
den profanen, neuzeitlich-säkularisierten Apokalypsen zuzurechnen sind, die sich bei näherem
Hinsehen als kupierte Apokalypsen erweisen: Sie blenden die biblische, genauer:
apokalyptisch-paulinische Rede von der „neuen Kreatur“ aus und umgehen so die Pointe
biblischer Apokalyptik. Gerade darin besteht, aus binnenkirchlicher Perspektive geurteilt, ihre
theologische Illegitimität. Dabei ist allerdings aus einer solchen Perspektive heraus
selbstkritisch der indirekte Beitrag zu beachten, den die Theologie dazu lieferte, indem sie
nämlich besagte Pointe vielfach kaum oder gar nicht artikulierte und dadurch jenes Vakuum
entstehen ließ, das anderweitig gefüllt wurde.
Summary
Millennial fever and apocalyptic visions are widespread and wide-ranging phenomena. For
example, the alleged Korean cloning success and the so called „Sloterdijk-debate“ reveal a
renaissance of apocalyptic interpretations in contemporary bioethical discourse. This
investigation explores the role of apocalyptic argumentation in medical ethics from a
Christian perspective. It demonstrates the incompatibility of the „bio-apocalypses“ frequently
envisioned in bioethics from the authentic hope of early Christianity. These secularized „bioapocalypses“ are a manifestation of neo-apocalypticism. They belong to the „cropped
apocalypses“ of the modern project. From a Christian perspective, they are inadequate
because they lack the Pauline message of the „new creation in Christ“ and therefore miss the
point of Paul's apocalyptic gospel. The failure of the dominant theologies to take seriously the
apocalyptic themes of the Bible has helped to create a theological vacuum that has been filled
by neo-apocalypticism.
ISBN: 978-3-931993-54-2
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