Predigt zum Thema: Albert Schweitzer

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Predigt am 8. Mai 2016 in der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde,
Frankfurt-Nordweststadt
über den Arzt, Musiker und Theologen Albert Schweitzer
TEXT:
„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte
unter ihnen.“ (1. Kor.13,13).
Liebe Gemeinde,
Kurz vor Ostern drohte Albert Schweitzers Urwald-Hospital in Lambarene im Staat
Gabun das „Aus“. Die Einrichtung war und ist in ihrer Existenz gefährdet. Es gibt
hohe Schulden, und ein Tropensturm hat viele der Gebäude beschädigt. Es wäre
wirklich sehr schade, wenn dieses Krankenhaus geschlossen werden müsste. Denn
es hat vielen Menschen Heilung gebracht und Hoffnung gemacht. Ein Krankenhaus
mitten im Urwald. Erdacht und erbaut von einem engagierten Christen, der zugleich
Arzt, Theologe und ein hochbegabter Musiker war. Albert Schweitzer, der
Friedensnobelpreisträger. Die Älteren unter ihnen werden den Namen kennen. Die
Jüngeren wohl kaum noch. Albert Schweitzer war ein Prophet der Nächstenliebe. An
ihn muss man erinnern! Gerade in unserer Welt, die Nächstenliebe so dringend
braucht und nötig hat. In einer Welt der Krisen und Kriege. In einer Welt der
Flüchtlingsströme. In einer Welt, in der Terror und unbarmherziger Hass gezüchtet
werden und vielen Menschen das Leben kosten. In einer Welt, in der Fanatiker und
Extremisten, Hassprediger und Hetzer immer mehr Zulauf finden. In so einer Welt, in
der wir leben, da muss man an Albert Schweitzer erinnern. Er war ein Mensch, der
die Nächstenliebe predigte und lebte. In seiner Theologie stand sie für ihn im
Mittelpunkt, so wie für den Apostel Paulus:
„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte
unter ihnen.“ (1. Kor.13,13).
Als Mediziner heilte Schweitzer Menschen im Geist der Nächstenliebe. Als Musiker
spielte er Orgelstücke, die Nächstenliebe in Klang, in Melodien und Takte
umwandelte. Seine Formel für die universelle Nächstenliebe lautete: „Ehrfurcht vor
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dem Leben“. Diese Formel fand er vor fast genau hundert Jahren, mitten im Ersten
Weltkrieg.
Hundert Jahre ist das jetzt her. Der Erste Weltkrieg tobte in Europa. Die entsetzliche
Schlacht von Verdun war im Gang, die so genannte „Blutpumpe“. In unserer Familie
war das immer ein Thema. Denn mein Urgroßvater hatte in dieser Schlacht seinen
rechten Arm verloren. Später, im Zweiten Weltkrieg, verlor er auch seinen geliebten
Sohn. Kriege – wie sinnlos, wie schrecklich sie sind! Vor hundert Jahren wütete der
Weltkrieg nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika, wo Albert Schweitzer damals
schon lebte. Im September des Jahres 1915 war er auf dem Fluss Ogowe
unterwegs. Schweitzer war damals schon in Lambarene als Arzt tätig. Als Denker
aber suchte er eine neue Grundlegung für die Ethik. Er stellte sich mit Immanuel
Kant die Frage: Was sollen wir tun, wie sollen wir handeln? Schweitzer wusste von
den Grausamkeiten und Gräueln des Weltkrieges. Als gebürtiger Elsässer war er
noch dazu besonders zerrissen, da sein Herz für Deutschland ebenso wie für
Frankreich schlug. Hier seine eigene Schilderung jener Ereignisse vor hundert
Jahren:
„Monatelang lebte ich in einer stetigen Aufregung dahin. Ohne jeglichen Erfolg ließ
ich mein Denken in einer Konzentration, die auch durch die tägliche im Spital getane
Arbeit nicht aufgehoben wurde, mit dem Wesen der Welt- und Lebensbejahung und
der Ethik und mit dem, was sie miteinander gemeinsam haben, beschäftigt sein. Ich
irrte in einem Dickicht umher, in dem kein Weg zu finden war. Ich stemmte mich
gegen eine eiserne Tür, die nicht nachgab.
Alles, was ich aus der Philosophie über Ethik wusste, ließ mich im Stich. Die
Vorstellungen vom Guten, die sie ausgebildet hatte, waren alle so unlebendig, so
unelementar, so eng und so inhaltslos, dass sie mit Welt- und Lebensbejahung gar
nicht zusammenzubringen waren.
In diesem Zustande musste ich eine längere Fahrt auf dem Fluss unternehmen. Als
einzige Fahrgelegenheit fand ich einen gerade im Abfahren begriffenen kleinen
Dampfer, der einen überladenen Schleppkahn mit sich führte. Außer mir waren nur
Schwarze, unter ihnen Emil Ogouma, mein Freund aus Lambarene, an Bord. Da ich
mich in der Eile nicht hatte genügend verproviantieren können, ließen sie mich aus
ihrem Kochtopf mitessen.
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Langsam krochen wir den Strom hinauf, uns mühsam zwischen den Sandbänken –
es war trockene Jahreszeit – hindurchtastend. Geistesabwesend saß ich auf dem
Deck des Schleppkahnes, um den elementaren und universellen Begriff des
Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. Am Abend des
dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde
hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht das Wort
‚Ehrfurcht vor dem Leben‘ vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben; der Pfad
im Dickicht war sichtbar geworden. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der
Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind!“
Soweit Albert Schweitzer. „Ehrfurcht vor dem Leben“ – das war von diesem Tag
an der Schlüsselbegriff für ihn. Ehrfurcht vor dem Leben, das bedeutet, dass der
Mensch erkennt: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben
will.“ Jeder Mensch, die Menschheit als ganze sind Teile des Lebendigen, und das
Leben selbst umfasst den Menschen ebenso wie die Tiere und Pflanzen. Es ist dabei
eine große Tragik, dass der Mensch, um selbst leben zu können, anderes Leben
überhaupt töten muss. Aber die Ehrfurcht vor dem Leben gebietet es, anderes
Leben, wo auch immer es begegnet, soweit als möglich zu achten, zu schonen
und zu fördern. Dies ist der Kerngedanke der Ehrfurcht vor dem Leben, das
Vermächtnis des Denkers Albert Schweitzer. Was bedeutet das heute für uns? Zum
Beispiel, wenn ein junges Mädchen schwanger ist: Dann macht ihr Mut, das
werdende Leben auszutragen und großzuziehen – wenn das irgend möglich und
zumutbar ist. Unterstützen Sie das werdende Leben! Das ist Ehrfurcht vor dem
Leben, ganz praktisch. Ein anderes Beispiel: Die Flüchtlinge. Die meisten von ihnen
fliehen ja aus Angst vor Krieg und Terror. Ihnen beizustehen, ihnen zu helfen, wo
immer es geht – das ist Ehrfurcht vor dem Leben. Und ein drittes Beispiel:
Tierschutz. Wo Tierversuche der Schönheit und Kosmetik dienen und nicht der
Medizin, da müssen sie nicht sein. Tierversuche einschränken – auch das ist
Ehrfurcht vor dem Leben. Schließlich ein Gegenbeispiel: Was die islamistischen
Terroristen von Al Kaida, Boko Haram und dem sog. „Islamischen Staat“ heute
Menschen antun, das ist das absolute, das finstere und schreckliche Gegenteil einer
„Ehrfurcht vor dem Leben“.
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Albert Schweitzer war einer der bedeutendsten Deutschen des letzten Jahrhunderts.
1953 wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen, und in Deutschland erhielt er den
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bekannt wurde er vor allem durch seine
Arbeit als praktisch tätiger Arzt in Lambarene/Gabun, wo er bis zu seinem Tode ein
von ihm selbst aufgebautes Krankenhaus leitete und kranke Afrikaner medizinisch
behandelte. Kranke pflegen und heilen – natürlich ist das Ehrfurcht vor dem Leben!
Schweitzer war jedoch nicht nur als Mediziner tätig, sondern auch in der Musik und in
der Theologie. Er hatte drei Fächer studiert, und in allen drei Bereichen war er richtig
gut bis hervorragend. So hatte er fast etwas von einem Universalgelehrten an sich,
eine Gattung, die es in der Gegenwart kaum noch gibt. Als Pfarrersohn im Elsass
geboren, widmete er sich zunächst ausführlich den Studien der Musik. Er schätzte
Johann Sebastian Bach und Richard Wagner hoch. Im Fach Theologie, das er mit
Anfang 20 studierte, war er einer der führenden liberalen Theologen zu Beginn des
20. Jahrhunderts. Liberale Theologen, das sind Wissenschaftler, die die Freiheit des
Denkens über alles schätzen und für höher erachten als kirchliche Dogmen. Sein
Lieblingstheologe in der Bibel war ohne Zweifel der Apostel Paulus. Er sah in Paulus
einen Denker, dem die „Liebe“ das wichtigste Anliegen war. Soweit Schweitzer sich
auf 1. Korinther 13 beruft, ist das einleuchtend. Obwohl die Gelehrten sich streiten:
War Paulus vielleicht doch der Glaube wichtiger als die Liebe? So sehen das in der
Regel Theologen, die sich direkt auf Martin Luther berufen. Aber Luther, so hoch ich
ihn auch schätze, ist ja nur ein kluger Kopf unter den vielen klugen Köpfen, die die
Reformation hervorgebracht hat. Schweitzer denkt an diesem Punkt über Paulus
anders als Luther.
Und Paulus schrieb ja doch das wunderbare 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes, das
man auch das „Hohelied der Liebe“ nennt, in Anspielung auf das Hohelied Salomos
im Alten Testament. Und dieses Kapitel endet mit dem ganz starken Satz: „Nun aber
bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter
ihnen.“ (1. Kor.13,13). Glaube, Hoffnung, Liebe – mit diesen drei Worten fasste
Paulus seine Theologie in verschiedenen seiner Briefe zusammen. Glaube, das
heißt, ein unbedingtes Vertrauen zu Gott dem Schöpfer der Welt. Hoffnung, das
heißt, sich von der Zukunft Gutes zu versprechen, weil Gott uns eine gute Zukunft
schenken will. Und Liebe, das heißt, für andere Menschen da sein, ihnen Gutes tun,
damit sie und wir alle eine gute Zukunft haben. Glaube, Hoffnung, Liebe – für Paulus
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sind das die drei Schlüsselwörter für die menschliche Existenz. Und das wichtigste
der drei Wörter war ihm offenbar das letzte: die Liebe. So sah das auch Schweitzer.
Mit Anfang 30 fing Schweitzer noch einmal ein Studium an, das der Medizin. Er
wollte Menschen eben praktisch helfen – der Vorrang der Liebe vor dem Glauben,
ganz so, wie er Paulus verstanden hatte. Die erste Operation, die er in Afrika
absolvierte, war eine Leistenbruch-Operation, eine Art von Behandlung, die ich auch
schon einmal über mich ergehen lassen musste und über deren Notwendigkeit ich
daher bestens orientiert bin. Bis zu seinem Tode leitete er das von ihm geführte
Krankenhaus in Lambarene. Und danach war es noch für viele Jahrzehnte eine
Vorzeige-Einrichtung. Heute ist es, wie am Anfang gesagt, von der Schließung
bedroht. Wenn das so käme, wäre es sehr traurig, denn dieses Krankenhaus ist ein
Symbol und hat vielen Menschen Hoffnung gegeben, nicht nur in Afrika, sondern weit
darüber hinaus.
Schweitzers Leistungen in der Musik, in der Theologie und in der Medizin waren
mehr als beeindruckend. Da kann man schon ins Staunen kommen. Zum Glück
wuchsen selbst einem Genie wie Schweitzer nicht alle Bäume in den Himmel. So
erzählt er etwa in seinen Lebenserinnerungen, dass er sich in der Schule vor allem
mit Mathematik gemüht habe und später Probleme mit dem Hebräischen gehabt
habe. Das ist, ganz nebenbei, irgendwie beruhigend: Auch Genies haben ihre
Schwächen. Gott sei Dank!
Schweitzer war das Genie, das die „Ehrfurcht vor dem Leben“ entdeckte. Der
Begriff war damals, 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, neu. Aber der Sache nach
entspricht er ganz dem, Paulus will: Denn die Liebe steht auf Platz 1 seiner
theologischen Hitparade. Liebe damit ist nicht bloß Liebe zu Menschen ist gemeint,
nicht bloß Nächstenliebe. Sondern vielmehr Liebe zu allen Geschöpfen dieser Erde.
Also auch zu Pflanzen und Tieren. Schweitzer dachte ökologisch, das war zu seiner
Zeit geradezu revolutionär. Dass es einmal grüne Parteien geben würde, die sich
vorrangig für Umweltschutz einsetzen, das konnte damals niemand ahnen.
Schweitzers Grundgedanke weist also weit in die Zukunft. Was er „Ehrfurcht vor dem
Leben“ nennt, ist in vieler Hinsicht eng verwandt mit den heutigen Diskussionen um
nachhaltige Entwicklung, um Bioethik und Ökologie. Und wenn etwa Papst
Franziskus in seiner großen Enzyklika mit dem Titel „Laudato si“ die ökologische
Dimension des christlichen Glaubens herausarbeiten möchte, dann steht er völlig im
Einklang mit Schweitzer. „Ehrfurcht vor dem Leben als eine ins Universelle erweiterte
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Ethik der Liebe“ schließt so an die Ursprünge unseres Glaubens im Werk des
Apostels Paulus an, gibt uns in der Gegenwart Orientierung und weist zugleich in die
Zukunft. Albert Schweitzer ist damit ein zukunftsweisender Denker.
Dieser wunderbare Mensch starb 1965, somit vor etwas mehr als 50 Jahren und
etwas mehr als 100 Jahre, nachdem er auf dem Fluss Ogowe seine Idee von der
„Ehrfurcht
vor
dem
Leben“
erstmals
ins
Auge
gefasst
hatte.
Seine
Lebenserinnerungen schließen mit dem Satz:
„Wie ich auf die Kraft der Wahrheit und des Geistes vertraue, glaube ich an die
Zukunft der Menschheit. Ethische Welt- und Lebensbejahung enthält optimistisches
Wollen und Hoffen unverlierbar in sich. Darum fürchtet sie sich nicht davor, die trübe
Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.“
Optimistisch sein trotz trüber Wirklichkeit: Es ist, als ob Schweitzer zu uns spricht. Zu
uns in einer Zeit, in der Krieg und Terror und Flüchtlingskrise uns bedrücken und wir
eben nicht wissen, ob wir das schaffen werden, wie unsere Kanzlerin dies meinte.
Wer heute wie Schweitzer auf die Liebe setzt und deshalb Optimist sein will, der
kann sich auf das Pauluswort berufen: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung,
Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1. Kor.13,13). Und
ganz gewiss auch auf die Bergpredigt Jesu!
Übrigens, vor wenigen Tagen las ich in der Zeitung: Schweitzers Krankenhaus in
Lambarene ist zunächst einmal gerettet worden! Denn es hat sich doch noch eine
Finanzierungsmöglichkeit gefunden. Ein Hoffnungszeichen, ein kleines. Ein Sieg des
Lebens und der Macht der Liebe.
Amen. Und der Friede Gottes …
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