Das Gehirn – das Mass aller Dinge Glaube und Gehirn Winterthur 07.01.2013 Martin Meyer Institut für Psychologie Neuroplasticity of the Healthy Aging Brain Universität Zürich Aristoteles (384-322 v.Chr.) Mentalismus Verhalten wird durch Psyche oder Seele bestimmt Mentale Vorgänge sind nicht untersuchbar, da nicht objektivierbar Folgende Funktionen sollen durch die Psyche hervorgerufen werden: Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Empfindung, Vorstellung, Emotion, Motivation, Gedächtnis 4 Descartes (1596-1650) Dualismus Immaterielle Psyche und materieller Körper Schlägt Brücke zwischen Leib und Psyche (Seele) Findet durch Freisetzung von Flüssigkeit an der Zirbeldrüse statt Die Psyche wirkt dabei mechanisch auf den Körper, dieser wird also von der Psyche bestimmt 5 Darwin (1809-1892) • Materialismus Verhalten wird durch die Arbeitsweise des Gehirns beschrieben Alle haben eine gemeinsame Herkunft und entwickeln sich durch Selektion und Vererbung (nicht durch Zucht) Gene kodieren und bestimmen das Verhalten Natürliche Auswahl durch Selektion (nicht Züchtung) Evolution hat kein Ziel Survival of the fittest (and not the strongest) 6 Wolf Singer & Gerhard Roth Der Mensch hat keinen freien Willen Das Gehirn ist ein selbstorganisierendes dynamisches System (Willens-)freiheit ist eine Illusion Naturwissenschaftliches Kausalmodell sieht die Welt als geschlossenes deterministisches System Existenz eines „realen“ und eines „wirklichen“ Gehirns, welches Teil der erlebbaren Wirklichkeit ist, welche wiederum eine Konstruktion des „realen Gehirns“ Schwerwiegende Implikationen für gesellschaftliche Fragestellungen 7 Brain Theory „Modern psychology takes completely for granted that behavior and neural function are perfectly correlated, that one is completely caused by the other. There is no separate soul or life force to stick a finger into the brain now and then and make neural cells do what they would not otherwise.“ Donald Hebb, The organization of behavior (1949) 8 Karl Popper & John C. Eccles Das Ich und sein Gehirn Ablehnung des Materialismus Existenz eines „Ich“-Bewusstseins, welches mit der Zeugung entsteht Gehirn = Computer, Geist = Programmierer Existenz eines „masse- und energielosen Geistes“ Interaktion Geist-Gehirn auf quantenphysikalischer Ebene 9 Die Krise der Hirnforschung Der kartographische Imperativ Frühe „Hirnkarten“ Zytoarchitektonische Karten K. Brodmann, 1909, Leipzig Der BOLD-Effekt … … ist träge und reflektiert nicht die neurophysiologische Aktivität des Gehirns Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) Voodoo-Korrelationen Korrelativer Ansatz kein Kausalzusammenhang viel Interpretationsraum Überinterpretation von einfachen Resultaten Fehlen einer überzeugenden Gehirntheorie (Kompetenz oder Inkompetenz) Das Gehirn ist unberechenbar !! Kleine Ursache – fatale Folge Monica Lierhaus «Am 14. Januar 2009 gab die ARD bekannt, dass Monica Lierhaus vorerst nicht mehr auftreten wird. Zuletzt hatte sie am 6. Januar 2009 die Vierschanzentournee in der ARD moderiert. Bei einer Gehirn-Operation (Aneurysma) soll es Komplikationen gegeben haben und die Sportschau-Moderatorin, die ihre TVKarriere 1992 bei Sat.1 im Hamburger Lokalfernsehen begann, wurde ins künstliche Koma versetzt worden sein.. Ärzte bezeichnen ein Aneurysma als die "schwierigste neurologische Operation überhaupt". Zu einem Aneurysma kommt es in der Regel aufgrund einer angeborenen Schwäche der Gefäßwand. Ein Riss der Gefäßwand ist auch aufgrund einer stumpfen oder schweren Verletzung möglich. Bei der OP am offenen Gehirn muss verhindert werden, dass die Arterie platzt. Das Aneurysma gilt bei Fachärzten als nicht seltene Krankheit. Im Verhältnis 5:3 sind Frauen eher als Männer betroffen.» http://www.bz-berlin.de/kultur/fernsehen/aneurysma-monica-lierhaus-krankheit-article1111341.html Grosse Ursache – kaum Folgen Gabrielle Giffords Die bei einem Attentat schwer verletzte US-Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords kann wieder selbstständig atmen. Sie sei wach und reagiere auf die Ärzte, teilte der Neurochirurg Michael Lemole am Dienstag mit. Giffords habe aber weiter einen Beatmungsschlauch, um ihre Atmung zu unterstützen. Giffords war am Samstag von einem Einzeltäter in den Kopf geschossen worden, als sie in Tucson eine öffentliche Veranstaltung besucht hatte. Ein Geschoss aus der halbautomatischen Waffe des Attentäters hatte ihr Gehirn durchquert und dabei auch das Sprachzentrum getroffen. Bei dem Attentat waren sechs Menschen getötet und 14 verwundet worden. Sechs von ihnen sind noch im Krankenhaus. Die Ärzte hatten es zuvor «ein Wunder» genannt, dass die 40-Jährige den glatten Kopfdurchschuss überhaupt überlebt habe. Sie könne hören, verstehen und befolge Anweisungen, sagte Mediziner Peter Rhee. Das zeige, dass Denkprozesse «auf einem ziemlich hohen Niveau» funktionierten. Die Politikerin gehöre zu einer «sehr kleinen Gruppe», die eine solche Verletzung überlebten, hiess es von den Ärzten. http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/amerika/Gabrielle-Giffords-atmet/story/14359329 Ignoramus et Ignorabimus “Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen Emil Heinrich du Bois-Reymond (1872) „Wenn das Gehirn so einfach wäre, dass wir es verstünden, wären wir so einfach, dass wir es nicht verstehen könnten …“ Emerson Pugh, 1977 Gehirne von Vertebraten Zwei asymmetrische Hemisphären Gannon et al. 2005 Entwicklung des Menschen – Evolution des Gehirns Entstehung einer Protosprache wahrscheinlich vor circa 2 Millionen Jahren Homo habilis: Hirnwachstum um 45%, komplexeres Windungsmuster (Konvexe Ausformung der Broca Area und des perisylvischen Kortex) Gehirngrössenverhältnisse Enzephalisations-Quotient EQ = C / durchschnittl. Gehirngewicht C = Cephalisationsindex Telecephalisation Telencephalisation (Phylogenese) Überproportionales Wachstum der Grosshirnrinde Besonders ausgeprägt für Frontal- und Temporallappen Der „kleine“ Unterschied: Konnektivität Schimpanse Makake Prominentere intra- und interhemisphärische Faserverbindungen in perisylvischen Regionen Rilling et al. (2008), Cereb Cortex Mensch Neuroanatomie – Architektur und Funktion 31 32 Insula – das „neue Sprachzentrum“ ?? Dronkers (1996), Nature Deary et al. (2004), NeuroImage Diskrimination ultrakurzer Zeitintervalle Wise et al. (1999), Lancet Zempleni et al. (2010), NeuroImage Blasenkontrolle 34 Witelson et al. (1999) Was ist das Besondere an Einsteins Gehirn ?? Struktur und Funktion Gibt es eine Verbindung zwischen der zellarchitektonischen Struktur und der Funktion der einzelnen Gehirngebiete? Sprachzentren in der linken Hirnhälfte (ca. 1875) Sprachproduktion Sprachwahrnehmung Vigneau et al. (2006), NeuroImage Phonologie Semantik Syntax Sylvische Fissur / Perisylvische Region Der Mythos von der linken analytischen und der rechten kreativen Hemisphäre Arbeitsteilung der Hemisphären 40 Plastizität und Lernen “Start early and your brain gets big !“ „Use it or lose it !“ Giraud et al. 2001 Gibt es Talent zum Sprachenlernen ??? Vor dem Training Nach dem Training Wong et al. (2007), HBM Markante Veränderungen bei Kindern Hyde et al. (2009) Oechslin et al. (2010) Veränderungen in der weissen Substanz bei Musikern „Fabrik“-Metapher „Computer“-Metapher Nervennetzwerk Es gibt Milliarden von Neuronen in unserem Gehirn, aber was sind Neuronen? Nur Zellen. Das Gehirn hat kein Wissen, bevor Verbindungen zwischen Neuronen entstehen. Alles, was wir wissen, was wir sind, kommt von der Art und Weise unserer Neuronenverbindungen. Neuronale Netze Hebbsche Lernregel Fire together – wire together Statistisches Lernen je häufiger Neurone gemeinsam aktiviert werden, desto stärker wird ihre Verbindung. Habituation und Sensitisierung bei Aplysia Strukturelle Veränderungen durch Erregung an Synapse ! Lernen ändert synaptische Mechanismen gesteigerter Transport Vergrösserung der Axonterminale (Fläche) Steigerung der Vesikelanzahl Dichte-Vergrösserung der Kontaktzonen Vergrösserung der Spaltengrösse Vergrösserung der Postsynapse 51 Verbesserung des Proteintransports Neurotransmitter Cholinerg - Acetylcholin Mittelhirnkerne, basales Vorderhirn, Gedächtnis (+), Lernen (+), Wachheit (+), Abbau bei AlzheimerKrankheit (-) Dopaminerg - dopamin Substantia nigra, Frontalkortex, Motorkontrolle, Parkinson (-), Euphorie (+), Lernen (+), Verstärkung (+), Sucht (+) Noradrenerg - Noradrenalin Locus coeruleus, Thalamus, emotionale Grundstimmung, Depression (-), Manie (+) Serotonerg - Serotonin Raphe-Kerne, Wachheit, Zwänge (-), Tics (+), Depression (-), Schlafstörungen (-), Tinnitus (-), Verliebtheit (++) 52 Das menschliche Gehirn … • ist ein hochvernetzter Apparat mit oberflächlicher Arbeitsteilung. • verändert sich ein Leben lang • ist ein selbst-organisierendes, ‘basis-demokratisches System’ • ist auf Mustererkennung (Sprache, Gesichter) und multisensorisches Lernen spezialisiert • Ist jedes für sich ein Wunderwerk und die komplexeste Struktur des Universums Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit !!! Before brain imaging always think of