Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Donnerstag, 22.08.2002 Nr.193 52 Der Islam – nicht nur für Kinder Tahar Ben Jelloun erklärt den muslimischen Glauben Es gibt wohl kaum Erwachsene, bei denen der 11. September 2001 nicht einen nachhaltigen Eindruck und viele Fragen hinterlassen hat. Doch um wie viel stärker muss der Eindruck bei Kindern gewesen sein? Bei Kindern, die tagelang die schrecklichen Bilder und vor allem ratlose Erwachsene sahen. «Kinder», so damals der ZDFProgrammdirektor und einstige Kinderfernsehmacher Markus Schächter, «kriegen das mit. Sie kriegen sogar das ambivalente Faszinosum der Bilder mit.» Trotz diesen Erkenntnissen gibt es in der Literatur zwar eine Flut von Versuchen, das scheinbar Unfassbare und die fremde Welt des Islam zu erklären. Doch kaum einer ist geeignet, die oftmals einfachen Fragen der Kinder zu beantworten. Einen der wenigen, vielleicht den ersten ernsthaften Versuch hat der renommierte marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun unternommen. Auf kindgerechten 100 Seiten unternimmt Ben Jelloun in «Papa, was ist der Islam?» mit für einen Schriftsteller bemerkenswert einfachen Worten eine Erklärungsreise durch die Welt des Islam und die vielen Verwerfungen, die der 11. September in dieser Welt wie auch darüber hinaus hervorgerufen hat. An manchen Stellen gleicht das Werk einem Wörterbuch. In Grossbuchstaben sind Begriffe hervorgehoben und erklärt, nicht selten nach eingeschobenen Fragen der Tochter in dem als Gespräch konzipierten Bändchen. «Papa, was ist ein TERRORIST?», heisst es dort. «Was bedeutet KORAN?», «Was ist eine OFFENBARUNG?» Begriffe, auf die nicht einmal jeder Erwachsene rasch eine einfache Antwort geben könnte – wenn überhaupt. Doch das Buch liefert mehr als Stichworte. Es versucht, Grundzüge des Islam zu erklären. Ben Jelloun erzählt die Entstehung im Mekka des 7. Jahrhunderts. Er beschreibt das grosse Zeitalter einer einst grossen Kultur im Mittelalter, erzählt von den Bibliotheken in Bagdad oder Cordoba und dem Wissensdrang der arabischen Herrscher bis zu den Errungenschaften in Astronomie, Medizin oder Philosophie. Und er schliesst mit dem Niedergang und mit den Problemen der Araber und Muslime in und mit der heutigen Welt – vom Zerfall der islamischen Reiche und den Kämpfen untereinander bis zu neuen Strömungen und falschen Propheten. Auch unangenehme © 2002 Neue Zürcher Zeitung AG Themen wie die Stellung der Frau oder die selbst erlebten Zustände an Koranschulen umgeht der Autor nicht. Doch auf alles weiss Ben Jelloun nicht Antwort. Nach der Motivation der islamistischen Selbstmordattentäter befragt, gibt er ohne Umschweife seine Ratlosigkeit zu, versteckt sie nicht wie viele «Wissende» hinter soziologischen und anderen Erklärungsversuchen. Trotzdem gibt er in dem Ritt durch die islamische Geschichtsund Geisteswelt und in seiner kleinen Enzyklopädie viele Erklärungen, mit deren Hilfe man vielleicht selbst Antworten finden kann. Dass es keine einfachen Antworten sind, weiss er. «Hüte dich vor Leuten, die vorgeben, auf alle Fragen eine Antwort zu haben», sagt er seiner Tochter. Nicht von ungefähr haben in seinem kleinen Lexikon auch Begriffe wie «Zweifel» und «Scheinheilige» oder Fragen wie jene, ob Gott denn ein Araber sei, ihren Platz. Die Kritik hat das jüngste Werk Ben Jellouns (aus seiner Feder stammte bereits der Bestseller «Papa, was ist ein Fremder?») nicht sehr gnädig aufgenommen. «Zu naiv» und «keine Lösungen» waren die Vorwürfe, welche insbesondere Kritiker der «Frankfurter Allgemeinen» und der «Süddeutschen Zeitung» dem Autor machten. Einer machte sich gar Gedanken über die Psyche Ben Jellouns, da er seine Tochter (ein Kind und noch dazu weiblich) als Stichwortgeber missbrauche. Nun könnte man diesen Kritikern entgegenhalten, dass sie offenbar weder das Buch selbst noch den Klappentext genau gelesen haben. Ben Jelloun erklärt explizit, nicht überzeugen zu wollen, keine Predigt und kein Plädoyer zu halten, sondern lediglich Kindern den Islam und die arabische Zivilisation zu erklären. Dass er selbst keine Antworten hat, sagt er zudem oft genug. Es ist kein Kunststück, ihm dies vorzuwerfen. Dass er es zugibt, zeigt zudem, dass er die Kinder ernster zu nehmen scheint, als dies viele andere Erwachsene in unserer Zeit zu tun pflegen. Doch die Kritik verfehlt auch sonst ihr Ziel. «Gut meinend, wenig wissend, stark wertend», schrieb vor Jahren der jüdische Historiker Michael Wolffsohn zu den Diskussionen um den israelisch-palästinensischen Konflikt. Dieser Dreiklang lässt sich wohl heute auch sehr leicht auf die Auseinandersetzung mit der islamischen Welt übertragen. Es scheint eine Besonderheit der Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Erwachsenen unserer Tage zu sein, die Welt, die sie nicht verstehen, möglichst kompliziert zu (v)erklären, und vor allem erst einmal nach Lösungen zu rufen, bevor sie wissen, worum es geht. Auch für das Buch von Ben Jelloun gilt: Warum sollte der Autor Lösungen präsentieren, wenn die Kinder erst einmal das Geschehene verstehen wollen? Und da sollte es nur naheliegend sein, dass man bei so unterschiedlichen Themen wie «Was sind die Werte des Islam?», «Was ist eine Kultur?», «Was ist Philosophie?», «Was ist ein Fanatiker?», «Welche Fehler hat der Westen gemacht?» nichts seitenlang abhandeln kann. Dass manches verkürzt ist und manches beschönigend klingt, ist durchaus einzuräumen, aber © 2002 Neue Zürcher Zeitung AG Donnerstag, 22.08.2002 Nr.193 52 auch verständlich. Schliesslich schreibt ein Muslim zuerst für muslimische Kinder. Vielleicht wäre es deshalb gut, wenn Eltern das Buch läsen, um dann mit ihren Kindern zu sprechen. Doch vielleicht unterschätzt man damit auch einfach die Kinder. Sollte man ihnen unbedingt gleich Lösungen mit präsentieren? Sollten Kinder nicht so erzogen sein, dass sie aus den Fakten heraus selbst Lösungen suchen können? Volker S. Stahr Tahar Ben Jelloun: Papa, was ist der Islam? Aus dem Französischen von Christiane Kayser. Berlin-Verlag, Berlin 2002. 119 S., Fr. 21.10. Blatt 2