44 Persönlichkeitsstörung Borderline Das schwierige Leben in einer schwarz-weißen Welt Ungefähr 1,5 Millionen Deutsche leiden an der Persönlichkeitsstörung Borderline. Für die meisten ist diese Erkrankung eine Qual: Extreme Stimmungsschwankungen, Gefühle der inneren Leere, Depressionen und Suizidgedanken sind typisch. Beziehungen zu anderen ähneln einer Achterbahnfahrt. Doch es gibt Hilfe W enn es ganz schlimm ist, greift Lilly Hartwig zum Feuerzeug. Mit der offenen Flamme verbrennt sie sich die Arme, es muss richtig wehtun. Manchmal will sich die 26-Jährige damit bestrafen, weil sie sich so wertlos und minderwertig fühlt. Oft versucht sie damit aber auch Emotionen loszuwerden, die nicht zu ertragen sind: Gefühle von Anspannung und innerer Leere zum Beispiel oder quälende Zustände, die sie selbst nicht deuten kann. „Diese Gefühle sind größer als ich, sie bringen mich um“, erklärt Lilly Hartwig. Was genau sie aber fühlt, kann die Hamburgerin nicht sagen. „Ich kann mir hundert Gedanken machen, aber ob ich nun Wut oder Traurigkeit spüre, weiß ich einfach nicht“, sagt sie. Vor wenigen Wochen ist Lilly Hartwig aus dem Asklepios-Klinikum Nord in Hamburg-Ochsenzoll entlassen worden. Hier war sie drei Monate auf einer speziellen Borderlinestation in Behandlung, zum zweiten Mal bereits. Nun kommt die Chemiestudentin noch zwei- mal die Woche zur ambulanten Behandlung in die Klinik und muss ansonsten lernen, ihre heftigen Gefühlszustände im Alltag selbst zu regulieren – keine einfache Aufgabe. Borderline ist vor allem eine Störung der Gefühlsregulation. Wie Lilly Hartwig leben die meisten Betroffenen in einer labilen Gefühlswelt mit extremen Stimmungsschwankungen und heftigen emotionalen Talfahrten. Experten vermuten, dass bei Borderlinern die Reizschwelle besonders niedrig und das Erregungsniveau sehr hoch ist, Gefühle also sehr intensiv erlebt und zugleich schlecht herunterreguliert werden können. Auch das Selbstbild ist fragil, viele Betroffene ringen mit starken Identitätsproblemen und Minderwertigkeitsgefühlen. Etwa die Hälfte aller Borderlinepatienten entwickelt im Verlauf der Störung selbstverletzendes Verhalten, Suchterkrankungen oder Essstörungen – „Ventile“ für einen unerträglichen inneren Druck. Auch Beziehungen und Partnerschaften sind häufig konflikt- Anne-Ev Ustorf beladen, zum Teil weil die Betroffenen die Verhaltensweisen ihrer Mitmenschen nicht gut „lesen“ können und deshalb fehlinterpretieren – mit dem Ergebnis, dass auch Ausbildungs- und Berufswege häufig abgebrochen werden. Martin Bohus vom Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit beschreibt die Borderlinestörung deshalb als „schwerwiegende Störung der Affektregulation, begleitet von einer verzerrten Wahrnehmung des Selbstbildes und Störung des zwischenmenschlichen Verhaltens“. Ungefähr 1,5 Millionen Menschen in Deutschland leiden wie Lilly Hartwig an der Borderlinestörung, Experten schätzen die Lebenszeitprävalenz auf fünf Prozent. Generell sind mehr Frauen als Männer betroffen. Dabei gibt es sehr unterschiedliche Ausprägungen des Störungsbildes. Es gibt viele Borderliner, die einigermaßen gut durchs Leben kommen und beruflich etabliert sind. Oft sind sie interessante und lebendige Gesprächspartner, die schnell Kontakte PSYC H OL OG IE H E U T E Ju l i 20 14 I L L U S T R AT I O N E N : S V E N K A L K S CH M I DT ■ Persönlichkeitsstörung 45 46 Persönlichkeitsstörung „Therapeuten und Partner müssen etwas aushalten können“ Borderlinepatienten ertragen keine Unsicherheit. In Beziehungen wollen sie immer die Kontrolle behalten, was Partnerschaften, aber auch Psychotherapien schwierig macht. Der Psychiater und Borderlineexperte Birger Dulz arbeitet daher mit seinen Patienten daran, ihre Toleranz gegenüber Unwägbarkeiten zu erhöhen Herr Dr. Dulz, als Chefarzt der Asklepios-Klinik für Persönlichkeits- und Traumafolgestörungen in Hamburg-Nord behandeln Sie viele Menschen mit Borderlinestörungen. Es heißt, dass vor allem diese Patienten Ambivalenzen schwer aushalten können. Ist das richtig? B I R G E R D U L Z Das stimmt. Borderliner haben große Probleme mit Ambivalenz. Denn Ambivalenz bedeutet Unsicherheit, und Unsicherheit ertragen sie nicht, weil sie selbst in großer Unsicherheit aufgewachsen sind. In unsicheren Situationen müssen Borderliner also schnell vermeintliche Sicherheit herstellen, indem sie sofort gegensteuern. P H Zum Beispiel? D U L Z Wenn unklar ist, wie sich eine neue Partnerschaft entwickelt, beenden Borderliner manchmal kurzerhand die Beziehung, um zu verhindern, dass etwas noch Schlimmeres passiert. Da ist kein Raum fürs Reflektieren oder Aushalten der Situation. Es geht darum, die Kontrolle zu haben, genau das, was sie früher nicht hatten. Auch die Angst vor dem Verlassenwerden kann heftige Reaktionen hervorrufen: Patienten greifen manchmal zu Maßnahmen wie Selbstverletzung, Selbstmordandrohungen oder spontanen Eheschließungen, um den Partner zu halten. P H Aber das Bedürfnis nach Kontrolle haben wir doch alle ein Stück weit … D U L Z Das stimmt, auch für uns ist es manchmal schwer erträglich, wenn etwas in einer Beziehung nicht läuft. Aber jemand, der permanent erwartet, dass jetzt alles furchtbar schiefgehen wird, reagiert anders als jemand, der weiß, dass es stabile Beziehungen gibt und über kurz oder lang nichts Schlimmes passiert. Um Schwankungen in Beziehungen aushalten zu können, müssen wir ja zunächst Vertrauen in Beziehungen haben. Und das lernen wir, wenn alles gut geht, schon als Babys. P S YC H O L O G I E H EU T E Wer seine ganze Kindheit aufpassen musste, dass der daueralkoholisierte Vater nicht aggressiv wird und zuschlägt, der entwickelt Antennen, die wir gar nicht haben. Er schätzt Situationen vielleicht anders ein als wir. Viele Borderliner haben außerdem Schwierigkeiten, Mimik angemessen wahrzunehmen, ein Kennzeichen einer Mentalisierungsstörung. P H Wie helfen Sie Betroffenen, Situationen real einzuschätzen und ambivalente Gefühle besser aushalten zu lernen? D U L Z Auf unserer Psychotherapiestation haben wir zwei Gruppen, die wir mit unterschiedlichen Verfahren behandeln. In der einen Gruppe bieten wir schwerpunktmäßig „mentalisierungsbasierte Psychotherapie“, damit die Patienten sich selbst und auch ihre Mitmenschen besser lesen lernen. Diese Patienten sind schwerer gestört, sie tragen ein Gefühlschaos in sich, das sie nicht selbst entwirren und schon gar nicht benennen können. Das fühlt sich für sie sehr bedrohlich an. In der anderen Gruppe arbeiten wir mit der „übertragungsfokussierten Therapie“ und schauen nicht nur auf die aktuellen Krisen, sondern auch auf die Beziehungsmuster. Das setzt schon ein gewisses Maß an Beziehungsfähigkeit und Wahrnehmungsfähigkeit voraus. P H Wie aussichtsreich sind diese Therapieverfahren? D U L Z Je schwerer ein Patient gestört ist, umso schwieriger ist es natürlich, zu helfen. Insgesamt aber wirken die Therapieverfahren sehr gut. Am besten allerdings wirkt die Kombination aus guten Beziehungserfahrungen in der Psychotherapie und guten Beziehungserfahrungen in einer Liebesbeziehung. Der Therapeut und der Partner müssen etwas aushalten können. Desto mehr steigt dann auch die Ambivalenzfähigkeit des Patienten, und desto besser werden auch die Beziehungen. ■ Mit Birger Dulz sprach Anne-Ev Ustorf Persönlichkeitsstörung 47 zu anderen Menschen herstellen. Gut zwanzig Prozent aller Betroffenen aber benötigen intensive psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung. Bei allen Unterschieden haben die meisten Borderliner eins gemein: Sie sind jung. Im Alter von 45 Jahren erfüllen nur noch 0,6 Prozent der Bevölkerung die diagnostischen Kriterien, mit fortschreitendem Alter bessert sich der Zustand vieler Betroffener. Doch gerade die Phase zwischen zwanzig und dreißig Jahren ist kritisch. Denn die Herausforderungen des jungen Erwachsenenalters – Ausbildung, Studium, Partnerschaften, Autonomie – sind für viele Betroffene angesichts ihrer psychischen Struktur schwer zu bewältigen. Stimmungsschwankungen, Selbstwertkonflikte und Selbstverletzungen verursachen einen großen Leidensdruck. Auch das Suizidrisiko ist enorm und liegt je nach wissenschaftlicher Studie zwischen fünf und zehn Prozent. Kaum verwunderlich also, dass in psychiatrischen Kliniken fast zwanzig Prozent aller stationären Patienten die Diagnose „Borderline“ haben. Über die Entstehung der Borderlinestörung gibt es verschiedene Theorien. Klar ist aber, dass wie bei allen psychischen Erkrankungen auch dieser Erkrankung ein multifaktorielles Modell zugrunde liegt. Genetische Veranlagung, Temperament und psychosoziale Erfahrungen wirken ineinander. Vor allem Traumata in den ersten Lebensjahren spielen bei der Entstehung eine große Rolle: Überdurchschnittlich viele Betroffene erlebten in ihrer frühen Kindheit Trennungserfahrungen durch Scheidung der Eltern, Krankheit oder den Tod eines Elternteils. Viele von ihnen erfuhren auch früh Missbrauch, Gewalt oder Vernachlässigung. Der Experte Günter Niklewski, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Nürnberg, geht aber davon aus, dass nicht nur konkrete Einzeltraumata eine Borderlinestörung verursachen können, sondern auch langandauernde P SYC H OL OG IE H E U T E Ju l i 2 01 4 chaotische oder gestörte Familienverhältnisse, innerhalb derer die Kinder nicht ausreichend geliebt oder wertgeschätzt werden. Also Familien, in denen viel Streit und Chaos herrscht, in denen Eltern ihrem Kind gegenüber feindselig oder kontrollierend eingestellt sind oder im Gegenzug ihr Kind nicht in die Autonomie entlassen wollen. „Das Fehlen dieser für die Entwicklung notwendigen haltgebenden und fördernden Beziehung muss ebenso als Nährboden für die Borderlinestörung angenommen werden wie konkrete Einzeltraumata“, schreiben Günter Niklewski und Rose RieckeNiklewski in ihrem Ratgeber Leben mit einer Borderlinestörung. Die renommierte amerikanische Psychologieprofessorin Marsha Linehan leitet in Seattle ein Zentrum für Borderlinepatienten und litt in den 1960er Jahren selbst an einer schweren Borderlinestörung. Mehrfach fügte sie sich Selbstverletzungen zu und versuchte sich das Leben zu nehmen. Weil es die Diagnose damals noch nicht gab, diagnostizierten die Ärzte sie als schizophren. Über zwei Jahre brachte sie auf der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses zu. „Ich war in der Hölle“, erzählte sie vor zwei Jahren einem Reporter der New York Times, „aber ich schwor mir: Sollte ich jemals wieder rauskommen, würde ich zurückkommen und auch die anderen rausholen.“ In den DIAGNOSE: BORDERLINE Mindestens fünf der folgenden Diagnosekriterien müssen erfüllt sein, damit Experten nach DSM-5, dem Klassifikationssystem der American Psychiatric Association, eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostizieren können: Starkes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung. Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (zum Beispiel Geldausgeben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, zu viel oder zu wenig essen). Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten. Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (hochgradige Missstimmung, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern). Chronische Gefühle von Leere. Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen). Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome. ■ ANNE-EV USTORF 48 Persönlichkeitsstörung Borderliner können eigene und fremde Gefühle nicht gut unterscheiden. Die eigene Wut wird dann auf den anderen projiziert 1980er Jahren entwickelte sie die dialektisch-behavoriale Therapie (DBT), eine auf der kognitiven Verhaltenstherapie basierende Therapieform zur Behandlung tiefgreifend strukturell gestörter Patienten. Linehan zufolge zeichnet sich die Borderlinestörung vor allem durch eine fehlgeleitete Emotionsregulation aus: Betroffene wachsen schon als Kinder in einer Umgebung auf, die keine angemessene Rückmeldung auf negative Gefühle bietet. Stattdessen ignorieren oder missachten die Eltern die negativen Reaktionen ihres Kindes, mit dem Ergebnis, dass das Kind seine Erregungen nicht benennen und regulie- ren lernt. Weil nur überbordende Gefühlsreaktionen Beachtung finden, erlernt das Kind früh, in extreme Gefühlsausdrücke wie Wutanfälle oder eben Angst zu verfallen. Im Grunde genommen ergänzen sich die wichtigsten Theorien zur Entstehung der Borderlinestörung. Die Tiefenpsychologie fokussiert sich bei der Suche nach den Ursprüngen weniger auf die reine Emotionsregulierung als auf die konkreten Beziehungserfahrungen der Betroffenen. Der amerikanische Psychoanalytiker Otto F. Kernberg etwa glaubt, dass Borderliner bestimmte frühkindliche Entwicklungsprozesse ES GIBT HILFE Die wichtigsten Therapieverfahren zur Behandlung der Borderlinestörung Dialektisch-behaviorale Psychotherapie (DBT): Die DBT zielt darauf ab, in Einzel- und Gruppentherapien sowie Achtsamkeitstrainings den Umgang mit eigenen Emotionen bewusst einzuüben und neu zu erlernen. Dabei wird selbstschädigendem Verhalten unbedingte Priorität eingeräumt – erst wenn Patienten dieses „im Griff“ haben, können im nächsten Schritt die traumatischen Erfahrungen bearbeitet werden. Mentalisierungsgestützte Psychotherapie (MBT): In der psychoanalytisch orientierten mentalisierungsgestützten Psychotherapie (MBT) nach Peter Fonagy lernen Patienten, ihre Mentalisierungsfähigkeit zu verbessern. In Gruppentherapien und Einzelbehandlungen sollen die Patienten sich selbst und ihre Mitmenschen besser lesen lernen und ein besseres Gefühl für Beziehungssituationen erhalten. Übertragungsfokussierte Psychotherapie (TFP): Die übertragungsfokussierte Psychotherapie nach Otto F. Kernberg dreht sich stark um die Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Die Gefühle und Verhaltensweisen des Patienten lösen in der therapeutischen Beziehung im Sinne einer „Übertragung“ auch beim Behandler Gefühle und Verhaltensreaktionen aus, die dann gemeinsam bearbeitet werden. Ziel ist, die wiederkehrenden destruktiven Verhaltens- und Beziehungsmuster der Patienten zu erkennen und verändern. ■ ANNE-EV USTORF aufgrund ihrer traumatischen Familienverhältnisse nicht gut durchlaufen konnten und infolgedessen nicht lernten, ihr Selbst von anderen Objekten – also Mitmenschen – zu trennen. Borderliner können also nicht gut unterscheiden zwischen dem, was sie selbst fühlen, und dem, was andere fühlen. Eine Folge ist der für sie typische psychische Abwehrmechanismus der projektiven Identifikation: Der Betroffene kann die eigenen Gefühle – Wut, Angst, Verzweiflung – nicht wahrnehmen und legt sie stattdessen in andere Menschen „hinein“. Die eigene Wut wird dann beispielsweise dem Partner zugeschoben („Du kommst mir so wütend vor“). Auch das typische Schwarz-Weiß-Denken vieler Borderliner – Menschen sind entweder „nur gut“ oder „nur böse“ – führt Kernberg auf traumatische frühe Beziehungserfahrungen zurück, die es den Betroffenen nicht erlauben, das überlebenswichtige innere Bild guter Eltern aufrechtzuerhalten. Stattdessen spaltet das traumatisierte Kind notgedrungen „das Böse“ ab, damit die Eltern „gut“ bleiben können. Mit der Folge, dass sich das Kind nicht leisten kann, zu lernen, dass jeder Mensch sowohl gute als auch schlechte Seiten hat. Kernberg bezeichnet deshalb die Borderlinestörung als „Ich-Störung“: Die normale Grenze zwischen dem Ich – also der eigenen Person – und der Umwelt ist durchlässig, das Innerste nicht geschützt. Ähnlich sieht es auch der britische Psychoanalytiker Peter Fonagy, der davon ausgeht, dass die Borderlinestörung im Wesentlichen durch eine beeinträchtigte Mentalisierungsfähigkeit entsteht. Persönlichkeitsstörung 49 Als „Mentalisieren“ bezeichnet Fonagy die Fähigkeit, nachvollziehen zu können, was gerade im Kopf eines anderen Menschen vor sich geht. „Mentalisieren bedeutet, die augenblickliche physische Realität beiseite zu lassen und sich stattdessen auf die Realität des inneren Zustands zu konzentrieren, in dem der andere sich befindet“, erklärt Peter Fonagy. Borderlinepatienten gelingt das oft nicht: Sie geraten in Konflikt mit anderen Menschen, weil sie deren Handlung und Motive völlig falsch interpretieren, also zum Beispiel überzeugt sind, dass ein Freund wütend auf sie ist, obwohl der Freund sich vielleicht gerade über etwas ganz anderes ärgert. Das Mentalisieren erlernen Kinder schon früh in der Bindungsbeziehung zu ihren Eltern, durch die Einfühlung der Eltern in die innere Fantasiewelt des Kindes und umgekehrt die Einfühlung des Kindes in die innere Welt der Eltern. Borderliner allerdings konnten sich diese Erfahrung schlichtweg psychisch nicht „leisten“: Sie erfuhren keine Spiegelung von den Eltern und mussten darüber hinaus stets wachsam sein, denn die Eltern waren unberechenbar und fügten ihren Kindern großes Leid zu. „Im Grunde ist die Borderlinestörung eine Beziehungsstörung – entstanden aus schwierigen Beziehungen und in schwierige Beziehungen führend“, erklären Günter Niklewski und Rose RieckeNik lewski. Kaum verwunderlich also, dass Beziehungen und Partnerschaften für viele Betroffene eine schwierige Geschichte sind. Betroffene haben nach Otto F. Kernberg oft keine Objektkonstanz, verfügen also nicht über eine beständige innere Vorstellung von ihren Partnern. Ihnen fehlt die Gewissheit, dass der Partner bei ihnen bleibt. Schnell beP SYC H OL OG IE H E U T E Ju l i 2 01 4 fürchten sie den Verlust und suchen nach Zeichen, dass der Partner sich abwenden könnte. So wird aus Liebe manchmal Hass, aus Geborgenheit Einsamkeit und aus dem Gefühl, geliebt zu werden, ein Gefühl der eigenen Wertlosigkeit. Für die Partner gleicht das Leben mit einem Borderliner mitunter einer seelischen Achterbahnfahrt. Dass musste auch Bärbel Jung erfahren. Drei Jahre lang war die Kasselerin mit einem Borderlinekranken liiert und beschreibt die Beziehung als „die Hölle, ein richtig totes Leben“. Anfangs glaubte sie noch, den Mann ihres Lebens gefunden zu haben, so intensiv gestaltete sich die Partnerschaft. Doch schon nach kurzer Zeit hagelte es Beschimpfungen und Schuldzuweisungen. „Er war sehr schnell enttäuscht von mir, in Situationen, die ich gar nicht nachvollziehen konnte“, erzählt sie. „An manchen Tagen war ich die tollste Frau der Welt und dann wieder der letzte Dreck. Und ich bin in diese Falle reingetappt und habe meine eigene Stimme immer kleiner werden lassen.“ Sie versank vollkommen in der Beziehung, brach auf Druck ihres Partners den Kontakt zu Freunden und Familie ab – sie bezeichnet sich im Nachhinein als koabhängige Partnerin. Es brauchte drei harte Jahre, bis sie es schaffte, sich zu lösen. Um ihre Erfahrungen zu verarbeiten, gründete sie in Kassel eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Borderlinern – und war deshalb gut vorbereitet, als bei ihrer 19-jährigen Tochter kurz darauf eine Borderlinestörung diagnostiziert und sie in die Klinik eingewiesen wurde. Inzwischen ist die Tochter 27 Jahre alt und steht mit Kind und Studium voll im Leben. Ihre Störung hat sie mithilfe einer intensiven Psychotherapie gut bearbeiten können. Mutter und Tochter besuchen heute zusammen Schulen, um über das Thema Borderline aufzuklären. Denn die Borderlinestörung ist gut behandelbar. Zwar gelten Betroffene bei Therapeuten als „schwierig“, weil sie in Psychotherapien schnell Enttäuschung oder Wut entwickeln und somit Gefahr laufen, die Therapien abzubrechen. Auch die Komorbidität bereitet Probleme, also die vielen Doppeldiagnosen, die Patienten aufweisen – wie Borderline und Sucht oder Borderline und Depression. Dennoch haben verschiedene Studien gezeigt, dass drei Viertel aller Betroffenen mit Psychotherapien geholfen werden kann, zumindest insoweit, dass sie ihr Leben gut meistern können und die Störung sich zu einer leichteren Persönlichkeitsstörung „zurückentwickelt“. Auch mit fortschreitendem Alter geht es vielen Patienten besser, möglicherweise weil sie ein besseres Verständnis der eigenen Problematik entwickelt und Therapien gefruchtet haben. Auch Lilly Hartwig hat also gute Chancen, dass ihr täglicher Kampf mit quälenden Stimmungen irgendwann einem leichteren Lebensgefühl weichen wird. PH Literatur Martin Bohus, Markus Reicherzer: Ratgeber Borderline-Störung: Informationen für Betroffene und Angehörige. Hogrefe, Göttingen 2012 Günter Niklewski, Rose Riecke-Niklewski: Leben mit einer Borderline-Störung: Ein Ratgeber für Betroffene und ihre Partner. Trias, Stuttgart 2010 Christiane Tilly, Andreas Knuf: Borderline – Das Selbsthilfebuch. Balance Buch + Medien, Köln 2009 Jerold J. Kreisman, Hal Strauss: Ich hasse dich – verlass mich nicht: Die schwarz-weiße Welt der Borderline-Persönlichkeit. Kösel, München 2012