Lokal - Extra Nordbayerischer Kurier - Mittwoch, 21. Dezember 2011 13 B oderline weckt in jedem Menschen die Vorstellung von Betroffenen, die sich mit scharfen Gegenständen die Haut ritzen. Aber Borderline hat viele Facetten. Zwischen zwei und fünf Prozent der Bevölkerung sind von Borderline betroffen. „Ich bin nicht krank, ich habe nur Macken“ Im Borderline-Trialog tauschen Betroffene, Eltern und Therapeuten ihre Erfahrungen aus – Borderliner sind verletzlicher als andere BAYREUTH Von Gunter Becker Sie ist jung, selbstbewusst, sympathisch, allenfalls ein bisschen laut, ein bisschen zu impulsiv vielleicht. Ein längeres Gespräch zu führen, musste sie erst lernen. Sich konzentrieren, die Gefühle kontrollieren, ruhig bleiben: Für die 24-Jährige, die darum bittet, ihren Namen nicht zu schreiben, war es lange Zeit unmöglich, Nähe zuzulassen, schon gar nicht von ihr fremden Menschen. Sie leidet, was sie erst seit zwei Jahren weiß, am BorderlineSyndrom. Ritzen, in die Haut schneiden, bis Blut fließt, vernarbte Arme: das ist das Erste, was einem einfällt beim Wort Borderline. Junge Menschen, zumeist Mädchen, die sich Schmerzen zufügen, indem sie sich mit scharfen Klingen in die Haut schneiden. Borderline heißt auf Deutsch Grenze, und tatsächlich leben von dieser Störung Betroffene hart an der Grenze. Selbstverletzungen gehören dazu, sagt Rola Schmitt-Tonne, als Sucht- und Familientherapeutin bei der Diakonie tätige Sozialpädagogin, die den vom Förderverein des Sozialpsychiatrischen Dienstes initiierten Borderline-Trialog moderiert. Aber das Ritzen ist nicht die einzige Form der Selbstverletzungen. Borderliner leben exzessiv. Dazu gehört auch ein übermäßiger Drogenkonsum, hungern, schlagen oder riskanter Sex. Borderliner vollführen oft den sprichwörtlichen Tanz am Rande des Vulkans, ein Hineinfallen, die Selbsttötung, ist jederzeit gegeben. Schnell ausgerastet Als junge Frau hat sich ihre Wut den Weg nach außen gesucht. Nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen andere richteten sich ihre Aggressionen. „Ich bin ganz schnell ausgerastet, habe andere angebrüllt und sie geschlagen. Ich habe meine Wut immer an anderen ausgelassen“, erzählt sie rückblickend. Jahrelang lebte sie quasi als jederzeit explodierende Zeitbombe. Besonders in stressigen Situationen, bei Prüfungsstress beispielsweise, rastete sie aus. Schnitt sich selbst oder prügelte auf andere ein. Mit 14 Jahren unternimmt sie ihren ersten Suizidversuch, viele weitere sollen folgen. Wie ihre Eltern mit ihrem Problem umgegangen sind? Gar nicht, sagt sie. Ihre Mutter habe es verdrängt, bis heute. Als sie 2009 die Diagnose erhält, dass sie an einer Borderline-Störung leide, zieht sich ihre Mutter gänzlich zurück. Auch die Bitte der Tochter, ge- Ritzen, sich Schnitte in der Haut zufügen ist für viele von Borderline betroffenen Menschen eine Möglichkeit, sich zu fühlen. Doch nicht jeder Borderliner ritzt, viele flüchten in den Drogenkonsum. Foto: dpa meinsam den Borderline-Trialog zu besuchen, lehnt sie ab. Die mehrmalige Behandlung im Bezirkskrankenhaus hilft der jungen Frau, ihre Störung in den Griff zu bekommen. „Früher sah ich, typisch für Borderliner, alles schwarz oder weiß. Es gab keine Grautöne. Heute kann ich mit meinen Stimmungsschwankungen umgehen.“ Außerdem habe sie den Eindruck, dass sie mit zunehmendem Alter besser mit ihrer Störung umgehen könne. „Ich bin ja nicht krank, ich habe nur Macken.“ Diese Macken als Borderline zu diagnostizieren, sei das große Problem sagt Rola Schmitt-Tonne. Es gebe nicht den Borderliner mit dem oder jenem Symptom. Borderline setze sich immer aus einer Anzahl von Symptomen zusammen, mit ganz unterschiedlicher Stärke. Selbstverletzendes Verhalten, Depressionen, diffuse Ängste, impulsives Verhaltensmuster, rasch wechselnde Beziehungen und vieles mehr. Aber eines würden alle Borderliner aufweisen: Sie litten seit Geburt unter einer Hypersensibilität. Deshalb könne auch nicht von einer Erkrankung oder Krankheit geredet werden, sondern von einer Störung, die es den Betroffenen schwer macht, mit ihren Gefühlen umzugehen. „Wenn andere schon längst vergessen haben, grübelt der Borderliner noch immer nach“, sagt SchmittTonne. Wie die 24-Jährige über ihr Problem allenfalls mit Freunden geredet hat, lehnt auch die heute 16-jährige Tochter einer im Landkreis wohnenden Familie jedes Gespräch über ihre Störung ab. Es ist die Scham, die die in einem kleinen Dorf lebende Mutter bitten lässt, auch ihren Namen nicht zu nennen. Trotzdem wolle sie an dem Gespräch teilnehmen, um die Gelegenheit zu nutzen, anderen Eltern von Kindern mit Borderline Mut zu machen, den Schritt zu wagen und sich dem Borderline-Trialog anzuschließen. Ohne diese Möglichkeit, sich mit Betroffenen, mit Eltern und mit Professionellen zu treffen, hätte sie nie all das über die Störung erfahren können, Gestörtes Verhältnis zu sich selbst Zwischen zwei und fünf Prozent der Bevölkerung leiden an einer Borderline-Störung BAYREUTH Die Idee entwickelten zwei Sozialpädagoginnen in Mittelfranken, die selbst an einer Borderline-Störung leiden. Seit 2007 existiert auch in Bayreuth ein Borderline-Trialog, der von Rola Schmitt-Tonne, Suchtthe- Die Sucht- und rapeutin bei der Diakonie, mode- Familientherariert wird. peutin Rola Schmitt-Tonne Eine Heilung gibt es nicht für Bor- moderiert den derliner sagt Schmitt-Tonne. Kein Me- monatlichen dikament kann sie von ihrer Störung Borderline-Triaheilen. Borderliner müssen lernen, mit log. ihrem Problem umzugehen, es in den Foto: Becker Griff zu bekommen. Hilfe erhalten sie in Fachkliniken oder bei entsprechend ausgebildeten Therapeuten. Dort lernen sie, wie sie mit ihrer Störung umgehen müssen. „Für viele ist es nicht möglich, Nähe zuzulassen, sich mit anderen Menschen auszutauschen“, sagt die Therapeutin. Im Borderline-Trialog bietet der Sozialpsychiatrische nahme offen. Es sind alle drei Seiten Dienst die Möglichkeit, von anderen vertreten, deshalb Trialog, sagt Betroffenen zu erfahren, wie sie mit ih- Schmitt-Tonne. rer Störung umgehen. Im VorderEs sind eher Frauen, die an Bordergrund steht allerdings der Erfahrungs- line leiden, die zu den monatlichen austausch, so Schmitt-Tonne. Die Mög- Treffen kommen. Frauen sind eher belichkeit zur Teilnahme beschränkt sich reit, Hilfe zu suchen und anzunehjedoch nicht nur auf Betroffene. Auch men, weiß die Therapeutin aus langProfessionelle und Eltern steht die Teil- jähriger Erfahrung. Männer ziehen sich zurück, neigen eher zu Suchtverhalten, konsumieren Drogen und Alkohol. „Männer wollen sich eher wegmachen, mit allen Mitteln zudröhnen“, sagt sie. Zwischen zwei und fünf Prozent der Bevölkerung leiden an Borderline. Rund 70 Prozent sind Frauen, sagt Schmitt-Tonne. Viele Borderliner kom- men aus Familien, die sich für normal halten. Aber schon kleinste Änderungen, Ereignisketten, lösen Krisen aus bei Borderliner. „Sie sind nicht krank, sie leiden nicht an einer Erkrankung, sondern Borderliner sind viel sensibler als andere. Sie haben eine erhöhte Sensibilität, eine verstärkte Erregbarkeit“, sagt Schmitt-Tonne. Zurückzuführen sei das auf eine, einfach ausgedrückt, chemische Fehlreaktion im Gehirn. „Wenn andere, normal tickende Menschen das Vorkommnis schon längst vergessen haben, grübeln Borderliner noch lange darüber nach.“ Reize würden viel intensiver aufgenommen, aber weniger schlecht verarbeitet. Daraus würden Zweifel an einem selbst entstehen, an den Eltern oder dem Partner. Am Ende der Kette stehe die Verzweiflung, die Borderliner zum Messer oder zu Drogen greifen lasse. Es gebe viele Symptome der Selbstverletzung, nicht nur Verletzungen mit der Rasierklinge. Rauchen, Alkohol, Promiskuität sind nur einige der Symptome. „Borderliner leiden unter einem gestörten Verhältnis zu sich selbst.“ Das Ziel, das Borderliner erreichen müssen, um die Symptome zu schwächen, ist der kompetente Umgang mit der Störung. Dabei hilft der Erfahrungsaustausch beim Trialog. gb an der ihre Tochter seit nunmehr drei Jahren leide. Es hätte eigentlich als Mutrobe begonnen, erinnert sich die Mutter. Als 13-Jährige hätten sich ihre Tochter und ihre gleichaltrigen Freundinnen geritzt. Während die anderen Mädchen schnell wieder damit aufhörten, habe sich ihre Tochter weiterhin verletzt. Am Anfang habe sie die Wunden verstecken können, doch dann fiel die Narben der Sportlehrerin auf. „Ich habe es nicht verstanden, was und warum sie sich das antut“, sagt die Mutter. Sie habe es erst auf die Pubertät geschoben. Doch als ihre Tochter nicht damit aufhörte, wollte sie professionelle Hilfe in Anspruch nehmen, doch ihre Tochter lehnte ab. Bis heute weigere sie sich, eine Therapie zu machen mit der Begründung, es gehe niemanden etwas an. Professionelle Hilfe holte sich hingegen ihre Mutter. Das Treffen im Borderline-Trialog und eigene Recherchen helfen ihr heute, mit der Störung ihrer Tochter umgehen zu können. Sie kann heute eher verstehen, was in ihrer Tochter vor sich geht. Bereits als Kleinkind sei sie auffällig gewesen, anders als andere Kinder. Sie habe Gefühle immer extremer erleben wollen. Sei barfuß im Schnee gelaufen beispielsweise. Es ist die fehlende Reizfilterung, weiß sie heute, an der Borderliner leiden. Und sie weiß heute auch, wann es zu einer Verschlimmerung kommen kann. „Besonders in Stresssituationen wie Prüfungen in der Schule wird es schlimmer.“ Borderliner, sagt Schmitt-Tonne, setzen sich viel stärker unter Druck als andere. Sie seien oft viel ehrgeiziger. Warum ihre Tochter unter dem Borderline leide, während ihre Schwester sich vollkommen normal entwickelt? Diese Frage habe sie sich immer wieder gestellt, sagt die Mutter. Warum ist die eine verletzlicher als die andere? Fragen, die immer wieder in der einen Frage mündeten: „Habe ich etwas falsch gemacht?“ Eine Antwort hat sie nicht gefunden, vielleicht auch, weil es keine gibt. Dafür hat sie gelernt, mit dem Verhalten ihrer Tochter umzugehen: Wenn Gespräche verbal eskalieren; wenn sie schnell ausrastet und in die Luft geht; wenn sie sich in ihr Zimmer zurückzieht. „Heute frage ich nicht mehr, was ist los mit dir? Heute frage ich sie, wie geht es dir?“ Der Trialog tue ihr gut, sagt die Mutter, und helfe ihr dabei, mit der Störung ihrer Tochter besser umgehen zu können. Nur die Hoffnung, dass ihre Tochter irgendwann wieder ganz normal tickt – die kann ihr niemand geben. Borderline-Trialog Für wen: Für Menschen, die an einer Borderline-Störung leiden, für Angehörige und Professionelle Treffen wann: Jeden vierten Montag im Monat von 18 bis 19.30 Uhr Mitglieder: Die Teilnahme ist für alle offen, es gibt keine Mitgliedschaft Treffen wo: Sozialpsychiatrischer Dienst, Brunnenstraße 4, 95444 Bayreuth (Brunnenhaus) Kontakt: Sozialpsychiatrischer Dienst, Tel. 0921/508770, [email protected] info In der nächsten Folge stellen wir die Deutsche Rheumaliga vor. Rund neun Millionen Menschen in Deutschland sind an Rheuma erkrankt. gb