Borderline Wenn rote Tränen fließen 25.03.2014, 17:26

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Borderline
Wenn rote Tränen fließen
25.03.2014, 17:26 Uhr | Simone Blaß, T-Online.de
Menschen mit dem Borderline-Syndrom stehen unter einem enormen Leidensdruck. Mit extremen
Maßnahmen wie zum Beispiel Ritzen verschaffen sie sich Erleichterung. (Quelle: Thinkstock by GettyImages)
Timm (29) und Janna (33) sind Borderliner. Eine psychische Störung, die in ihrer Kindheit
entstanden ist und die ihnen ein Leben lang zu schaffen machen wird. Beide haben versucht, ihre
Geschichte durch Aufschreiben zu verarbeiten. Und beide sind Extremfälle des BorderlineSyndroms, einer Störung, die viele verschiedene Gesichter hat. Eines aber haben alle Betroffenen
gemeinsam: einen enormen Leidensdruck. Um die Spannung abzubauen und sich selbst zu fühlen,
wird zu massiven Maßnahmen gegriffen.
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"Die ersten Schnitte macht man mit Vorsicht, langsam und mit sanftem Druck zieht man die Klinge
über die Haut. Nicht mehr als ein kleines Kribbeln ist dabei zu spüren, die Verletzung ist ein kleiner,
oberflächlicher, kaum sichtbarer roter Strich." Doch mit jedem Ansetzen werden die Bewegungen
schneller und die Wunden größer. "Es gab einen gewissen Punkt, an dem es schön und warm wurde.
Alles entspannte sich und ich spürte die Gewissheit, am Leben zu sein, weil ich mich spürte." Timm
Flemming, Autor des Buches "Ich - mein größter Feind", hat Borderline. Eine Störung, die seit Mitte
der 90er-Jahre immer mehr in den Blickpunkt gerückt ist.
40 Piercings - nur um sich zu spüren
Bereits jeder fünfte Schüler hat inzwischen Erfahrungen mit Selbstverletzung. "Doch nicht jeder
Jugendliche, der sich ritzt, hat Borderline. Manche suchen auch einfach nur Anerkennung bei
anderen, wollen Aufmerksamkeit, versuchen, sich selbst zu bestrafen", erklärt Bärbel Jung, vom
Vorstand des Borderline Dialogs Kassel.
UMFRAGE
Finden Sie die Gesundheitsversorgung von Kindern in Deutschland ausreichend?
Ja.
Nein.
Dazu habe ich keine Meinung.
Zwischenergebnis
"Diese Kratzerchen sind wirklich lächerlich", erbost sich Janna Stoll in ihrem Buch "Auf der Spur der
Schattenschwester". "Ich kenne keine Ritzerin, die hinterher herumheult, weil die Schnitte wehtun."
Umgekehrt verletzt sich aber auch nicht jeder Borderliner selbst, stellt Dian Tara Zinner klar. Die
Heilpraktikerin und Trainerin arbeitet seit fast 20 Jahren an einer Kölner Fachklinik für Psychiatrie
und Psychotherapie mit Betroffenen. "Borderline hat auch ganz andere Gesichter: Sexsucht, Turnen
auf Bahngleisen, Gangbang. Manche schaffen es auch gar nicht, sich selbst zu verletzen und lassen
das andere machen. Ich habe eine junge Patientin, die hat über 40 Piercings, 20 davon im Gesicht."
Verzweifelte Hilfeschreie
Betrachtet man Jannas oder Timms Geschichte, dann verwundert es nicht, dass diese Seelen
verzweifelt um Hilfe schreien. Sie wurde viele Jahre körperlich und emotional missbraucht, er mit
dem Selbstmord beider Eltern und später noch der kleinen Schwester konfrontiert. Er war noch ein
Junge, als sein Vater sich erhängte. Die Mutter konnte ihn nicht auffangen. Die Frau hatte kein Gefühl
für das Leid ihrer Kinder, machte sich noch einen Spaß aus ihren Verlustängsten. Nur wenige Wochen
später erhängte auch sie sich. Und hinterließ zwei Kinder, die ihren Weg ins Leben nicht fanden. "Ich
schrie um Hilfe und zwar so offensichtlich, dass ich nicht verstand, wie es übersehen werden
konnte."
Wie geht es dem inneren Kind?
Viele Borderliner haben Traumata davongetragen. 65 Prozent wurden sexuell missbraucht. Aber auch
lange Trennungen von den Bezugspersonen, häufige Umzüge oder Klinikaufenthalte und die damit
verbundene Ohnmacht können ein Auslöser sein. Suizidgedanken sind allgegenwärtig. "Doch nicht
jeder Mensch, der eine traumatische Erfahrung machen muss, leidet später unter Borderline und
auch nicht jeder Borderliner hat fürchterliche Erlebnisse hinter sich", erklärt Zinner, die derzeit rund
200 Borderliner betreut.
"Es gibt auch Borderliner, die eine gute Kindheit hatten. Aber fast immer steckt eine emotionale
Vernachlässigung dahinter. Das Kind fühlt sich zu Hause oder auch im Umfeld nicht gesehen und
muss reagieren, um dieses starke negative Gefühl auszuhalten." Die kindlichen Anteile sind bei
diesen Menschen nicht umsorgt worden, keiner hat sich darum gekümmert. Das Gefühl,
ausgeschlossen zu sein, manifestiert sich früh.
Janna Stoll hatte Glück. In ihrem Buch "Auf der Spur der Schattenschwester" lässt die junge Frau auch
Katja zu Wort kommen. Die Frau, die in ihren schwersten Zeiten immer für sie da war und Janna eine
neue Familie gab: "Wie oft habe ich das auch später noch gedacht, wenn ich das kleine Mädchen
Janna, das in solchen Momenten nur äußerlich so groß ist wie ich, im Arm hatte. Warum hat sie denn
nur nie jemand in den Arm genommen? Es ist doch so einfach."
Borderline ist keine Modeerscheinung
Borderline ist eine psychische Störung mit hoher Dunkelziffer. Fünf Prozent Betroffene, das ist eine
Zahl, die immer wieder im Raum steht bei Jugendlichen. Die Erkrankung so früh bereits zu
diagnostizieren ist eine Gratwanderung und ziemlich umstritten unter den Fachleuten. Die
Abgrenzung zur Pubertätskrise ist schwierig. Auch erwachsene Borderliner vermitteln häufig das
Gefühl, man habe es mit jemandem zu tun, der in der Pubertät oder sogar noch früher
"hängengeblieben" ist.
Borderline ist eine Erkrankung mit vielen Gesichtern. Zwischenmenschliche Beziehungen und das
Selbstbild sind von Impulsivität und Instabilität geprägt.
Extreme Idealisierung und Entwertung, autoaggressives Verhalten, das Gefühl man sei so hohl wie
ein Schokoosterhase - von neun solcher Kriterien müssen mindestens fünf erfüllt sein und das über
ein halbes Jahr - erst dann spricht man von Borderline. "Ich spürte, dass alles seltsam war, was ich da
tat. Ich dachte oft, dass ich nicht richtig ticke und langsam durchdrehe", beschreibt es Timm. "Ich
wusste nicht, woher dieses Verlangen kam, aber ich wollte alle Extreme sprengen."
Genau hinsehen und dem Kind mit respektvoller Neugier begegnen
Ein Gen, das Borderline begünstigen kann, sucht man im Moment noch vergeblich. Man weiß aber
inzwischen, dass diese Menschen besonders kreativ sind und sich ihre Gehirne in einem längeren
Reifungsprozess befinden. Häufig kommen sie mit einer sehr ausgeprägten Emotionalität auf die
Welt. "So ein Kind kann extreme Ereignisse oder auch gefühlte Ablehnung besonders schwer
aushalten und entwickelt dann Mechanismen, um den seelischen Schmerz ertragen zu können", so
Jung. "Das hilft ihm, wenn seine Bedürfnisse nicht wahrgenommen werden, psychisch in der Familie
zu überleben.
Die Kommunikationstrainerin hat häufig in ihrer Arbeit mit Borderlinern die Erfahrung gemacht, dass
Kinder, die über eine so hohe Sensibilität verfügen, sehr herausfordernd wirken, schnell wütend
werden und streiten. Ihr Verhalten wird häufig als dem Alter nicht angemessen beschrieben. "Aber
da muss man doch genauer hinsehen. Warum reagiert mein Kind so emotional?"
Tabu und Stigma sind groß
Die Diagnose Borderline lastet schwer. Denn irgendwie haftet ihr immer ein schwarzer
Familienschatten an. Ein Gefühl von Schuld bei den Eltern. Eines von Hilflosigkeit und Versagen beim
Umfeld. Bärbel Jung ist selbst Mutter einer Borderlinerin. Sie weiß von den Sorgen, den Nöten und
der Verzweiflung der Eltern, die hilflos sind angesichts der Heftigkeit. Das jüngste Mädchen, das Jung
behandelt, ist gerade mal zwölf Jahre alt. "Für die Eltern ist das ein Alptraum, sie fühlen sich
ohnmächtig, hilflos, allein gelassen." Manche Mütter, so berichtet sie, setzen sich beim Ritzen sogar
neben ihr Kind, sehen zu und versuchen so das Schlimmste zu verhindern.
"So werden sie emotional noch erpressbarer. Stigma ist für sie Alltag. Man schämt sich, fragt sich,
warum und was man falsch gemacht habe. Oft isolieren sich die Eltern, tragen nichts nach außen, aus
Angst, kein Verständnis zu bekommen oder gar verurteilt zu werden. Die meisten suchen Hilfe und
bekommen keine." Sie beklagt, dass es zu viele Therapeuten gibt, die sich als Anwalt des Betroffenen
sehen und die Familie, die ebenfalls Hilfe braucht, dabei außen vor lassen. Genau deswegen arbeiten
sowohl sie als auch Zinner immer ganzheitlich. "Je früher wir die Familien auffangen, umso besser die
Chancen, gemeinsam einen Weg zu finden."
Borderline kann therapiert werden
Die Vielfalt des Störungsbildes ist groß. Die Angst davor auch. "Nur etwa 30 Prozent der
niedergelassenen Therapeuten ist überhaupt bereit, mit Borderline-Betroffenen zu arbeiten", erklärt
Anja Link vom Borderline Trialog Nürnberg. Borderliner müssen lernen, wieder Kontakt zu sich selbst
aufzunehmen. "Körperwahrnehmung und Körpertherapie ist hier das A und O. Eine Therapie sollte
intervallmäßig erfolgen, über einen längeren Zeitraum, denn die Betroffenen müssen immer wieder
an ihre Themen und an ihre Fähigkeiten erinnert werden", so Zinner. "Sie müssen lernen, ihre
wahren Gefühle zu erkennen. Borderline kann therapiert werden, aber nur, wenn der Patient es
auch will!"
Ein Medikament gegen die Störung gibt es nicht und doch werden viele Patienten sediert. "Aber das
spaltet die Emotionen ab und genau an die müssen wir ran. Müssen herausfinden: Bist du wütend
oder bist du traurig und verzweifelt?" Denn nur so ist es möglich, mit Borderline zu leben. Zu
überleben.
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