Leben auf der Grenze. Erfahrungen mit Borderline

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Leben auf
der Grenze
Erfahrungen mit
Borderline
BA L A N C E buch + medien verlag
ISBN 978-3-86739-003-3
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Andreas Knuf (Hg.) Leben auf der Grenze
Dieses Buch ist eine Chance:
Zwanzig Menschen mit BorderlineErfahrung, Betroffene und
Angehörige, schreiben über ihr
Leben, über ihre Gefühle, über ihren
Umgang mit sich und anderen.
Die Texte schaffen Verständnis und
zeigen, dass Veränderungen
möglich sind und es gelingen kann,
eine neue Haltung sich selbst
gegenüber zu gewinnen und
liebevoller mit sich, seiner Familie
und seinen Freunden umzugehen.
Andreas Knuf (Hg.)
BAL A N C E
erfahrungen
www.balance-verlag.de
20.03.2009 14:48:17 Uhr
kannten die Autoren mein Erleben so genau? War ich wirklich
ernsthaft krank, wie im Buch beschrieben? Manchmal hatte ich
das Gefühl, doch nur ein gigantisches Theaterstück zu spielen,
aus dem ich einfach nur aussteigen müsse, wenn ich wollte. Der
Psychiatrieaufenthalt schien Teil des großen »Experiments« zu
sein, das ich gerade selbst durchführte, ohne das Ziel zu kennen.
Vielleicht simulierte ich nur und war eigentlich kerngesund? Ich
war sehr unsicher, wo ich eigentlich stand und wie ich selbst zu
meiner Erkrankung stehen sollte.
Bis heute gerate ich also immer wieder in die Verlegenheit, erklären zu müssen, was meine Krankheit ausmacht. Üblicherweise
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möchten meine Gesprächspartner eine kurze Schilderung der
Symptome, die sie über alles ins Bild setzt. Beim Versuch, die
Borderline-Störung zu beschreiben, stelle ich immer wieder fest,
wie unerklärbar diese Krankheit eigentlich ist. Sie lässt sich nicht
in zwei Sätzen beschreiben, weil sie zu komplex ist.
Ich wirke zu »normal«, um in das Klischee »verrückt« zu passen,
auch wenn es in mir vermutlich »verrückter« aussieht als in den
»Normalen«. Wenn ich nach außen auffälliger, richtig »verrückt«
wirken würde, komische Dinge täte, wäre es für die anderen
vielleicht leichter zu verstehen, warum ich Probleme habe, den
Alltag zu bewältigen. Doch auf den ersten Blick bin ich einfach
nur unauffällig, eben »normal«. Von Freunden etwa, die mich
nach einer Erklärung für die Borderline-Störung fragen, unterscheide ich mich kaum. Das kann die Sache dann noch deutlich
verkomplizieren, denn ich habe die Erfahrung gemacht, dass
gerade Ähnlichkeit Angst macht und Abstand erzeugt. Deshalb
muss ich nach »ungefährlichen« Parallelen im Erleben suchen,
um meine Gesprächspartner »abholen« zu können, um einen
Ausgangspunkt bei der Beschreibung zu haben, mit dem mein
Gegenüber etwas anfangen kann. Davon ausgehend, kann ich
dann vorsichtig versuchen zu erklären, was mein Erleben von
dem Erleben der »Normalen« unterscheidet. Wenn ich nicht
missverstanden werden will, muss ich mich in den anderen hineinversetzen und Entgegenkommen zeigen, über meinen Schatten
springen und auch ungeschickte oder verletzende Fragen beantworten. Das erfordert eine Menge Toleranz, aber auch Fantasie,
weil ich nur Vermutungen über das, was »normales« Erleben
bedeutet, anstellen kann. Oft gelingt es mir nicht, anderen zu
erklären, wie verletzlich ich bin und wie sehr ich meinen Stimmungsschwankungen unterworfen bin.
Wenn ich keine Lust habe, große Erklärungen über meine Krankheit abzugeben, »oute« ich mich nur als psychisch Kranke. Da ich
sehr dünn bin, ist die nächste Frage meines Gegenübers meist, ob
ich magersüchtig gewesen sei. Nur die Andeutung eines Nickens
erspart mir eine Menge Erklärungen, denn mein Gegenüber meint
alles über mich zu wissen. Manchmal ist das ganz praktisch.
Reaktionen meiner Umwelt haben mich vorsichtig gemacht, zu
meiner Diagnose zu stehen. Bei professionell Tätigen ist mir das
gesamte Spektrum der Einstellungen zu dieser Erkrankung begegnet: Interesse an den Symptomen und meinem Erleben wurde
ebenso gezeigt wie offene Aggression und Abwertung meiner
Person als Personifizierung dieser Störung.
Im Rahmen meiner therapeutischen Ausbildung habe ich gesehen,
wie viel Angst das wenig Greifbare der Störung bei Schülern, aber
auch bei vermittelnden Lehrern auslöst. Es blieb der Eindruck,
dass »Borderliner« mit Vorsicht zu genießen seien. Schlimm genug, denn meine Mitschüler von gestern sind die Therapeuten
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von heute. Viel hilfreicher hätte ich es gefunden, den Umgang
mit der eigenen Angst und Unsicherheit bei der Arbeit mit dieser
Patientengruppe zu thematisieren, um zu zeigen, dass eben diese
Gefühle auftauchen können, wenn man mit Borderline-Patienten
arbeitet. In meinem Kurs wusste zu dem Zeitpunkt keiner, dass
ich als »Borderlinerin« gelte, und ich hatte nicht den Mut, mich
zu »outen«, weil eigene Erfahrungen grundsätzlich unerwünscht
waren. Im Unterricht fühlte ich mich irgendwie wie eine Spionin,
die das »feindliche Lager« der »Profis« belauschte, um herauszukriegen, mit welcher Taktik sie die »Borderliner« überlisten
wollten.
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»Borderliner« zu enttarnen, sie zu überführen, ihnen ihre
»Schlechtigkeit« vor Augen zu halten ist eine Einstellung, mit
der mir einige Profis begegnet sind. Ich fand das ziemlich unpassend und wenig hilfreich, weil ich selbst immer am meisten unter
meinem eigenen Verhalten gelitten habe. Mir ging es jedenfalls
nicht darum, die Profis persönlich zu ärgern, sondern sie waren
diejenigen, die als Projektionsfläche dienten. Einige waren damit
vielleicht überfordert. »Borderline« scheint in Fachkreisen auf
jeden Fall oft negativ besetzt zu sein (was mich nach meiner Ausbildung nicht mehr in Staunen versetzt). In einer Ärztezeitschrift
habe ich eine Empfehlung gelesen, »Borderliner« sofort weiterzuüberweisen, da sie sehr zeitaufwendig und kostenintensiv seien.
Ob das dann die Kosten reduziert, wage ich zu bezweifeln.
Neulich hat mir meine Freundin mal wieder jemanden, den sie
extrem schwierig und anstrengend fand, als »borderlinig« beschrieben. Das Wort dient als Abkürzung und soll alles ausdrücken, was zu beschreiben wäre. Ich weiß, was gemeint ist, aber
trotzdem bleibt mir das Lachen im Hals stecken.
Ich finde es verletzend, wenn jemand behauptet, dass die Symp­
tome meiner Erkrankung auf jeden zuträfen und die Diagnose
immer dann gestellt werde, wenn die Psychiater nicht wissen,
wo sie die Patienten einordnen sollen. Ich weiß, dass das nicht
stimmt, trotzdem bleibt mir das Gefühl, nicht zur Gruppe der
wirklich psychisch Kranken zugerechnet zu werden, sondern nur
eine »Verlegenheitsdiagnose« zu haben. Wieder einmal gehöre
ich nicht dazu, diesmal bin ich, wie es scheint, nicht psychisch
krank genug. Was ist schon meine »Verlegenheitsdiagnose« gegen
eine Schizophrenie?
Ich fühle mich persönlich angegriffen und abgewertet, vielleicht
weil die Borderline-Störung zwangsläufig Teil meiner Identität
ist. Ich glaube, dass es sich bei meiner Diagnose um mehr als
nur eine »Krankenkassendiagnose« handelt, die die Abrechnung
sicherstellt, aber nichts aussagt. Vielleicht fängt das Erklärungsproblem meiner Krankheit schon damit an, dass die Störung
selten sofort klar diagnostiziert wird.
In der Fachliteratur als Grenzstörung zwischen Psychose und Neurose beschrieben, erlebe ich bis heute immer wieder, dass Ärzte
oder Therapeuten mir neue Diagnosen zuordnen, obwohl ich die
Borderline-Störung selbst als sehr zutreffend für die Beschreibung
meiner Problematik halte. Wenn ich mir meine diversen Diagnosen in den Arztberichten ansehe, denke ich, dass sehr gut die
verschiedenen Facetten der Krankheit deutlich werden: Anorexia
nervosa, latente Suizidalität, Medikamentenabusus, Identitätsstörung, Bulimie, Essstörungen, Panikattacken, akute Suizidalität
bei depressiver Entwicklung, Laxantienabusus, Verhaltensstörung, psychogenes Erbrechen, Depression, multiple Suizidversuche, komplexe frühe Störung mit multiplen Symptomen und
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Beschwerden, multiple Schnittwunden, akute Belastungsreaktion,
Psychose, Borderline-Störung, Posttraumatisches Belastungssyndrom, dissoziative Störung und schließlich Borderline-Persönlichkeit mit ausgeprägt autoaggressiver Tendenz bei Drogen- und
Tablettenabusus, latenter Suizidalität und Bulimie. So lauten die
medizinischen Umschreibungen für mein Erleben.
Ich selbst halte die Borderline-Störung für eine lebensgefährliche
Erkrankung. Es hat für mich Zeiten gegeben, in denen ich nicht in
der Lage war, meinen Alltag zu bewältigen, ohne eine Überdosis
Tabletten oder Rasierklingen bei mir zu haben. Ich habe viele
Stunden an Bahngleisen gestanden mit der Überlegung, meinem
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Leben ein Ende zu setzen. Ich habe versucht, mir die Pulsadern
aufzuschneiden und mich zu strangulieren. Der Gedanke, mein
Leben beenden zu können, wenn ich das »Spiel des Lebens«
nicht mehr aushalte, lässt mich letztlich überleben. Der Einsatz
meines Lebens als Fluchtversuch aus der Verzweiflung oder um
unbewusst Beziehungen auf ihre Tragfähigkeit zu testen hätte
mit einem gelungenen Suizid enden können. Ich weiß, dass ich
ohne die Psychiatrie heute nicht mehr leben würde.
Das »Verrückte« an der Beschreibung meines Erlebens der Borderline-Störung ist vielleicht, dass ich mich selbst nie als krank
empfunden habe. Daher kann ich auch schwer sagen, ob ich jetzt
gesund bin. Ich denke, dass mein Empfinden irgendwie anders
war und ist als das der »Normalen«. Was den Unterschied macht,
kann ich schwer erklären. Empfinden ist immer subjektiv. Vielleicht bin ich empfindlicher. Nicht »normal« ist wahrscheinlich,
dass ich mir ein Leben ohne Angst nicht vorstellen kann. Ich
habe wahnsinnige Angst vor Menschen und vor Situationen, in
denen ich auf mich gestellt bin. Paradoxerweise bin ich gut an
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