Trias: Leben mit einer Borderline-Störung

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Niklewski/Niklewski
Leben mit einer Borderline-Störung
Die Autoren
Dr. phil. Dr. med. Günter Niklewski ist leitender Arzt der Klinik
für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg. Er
baute dort eine eigene Station für Borderline-Patienten auf.
Dr. phil. Rose Riecke-Niklewski ist Kinder- und JugendlichenPsychotherapeutin in eigener Praxis.
eide haben neben Fachpublikationen erfolgreiche Sach­
B
bücher veröffentlicht.
Dr. phil. Dr. med. Günter Niklewski
Dr. phil. Rose Riecke-Niklewski
Leben mit einer
BorderlineStörung
Inhalt
12
65
»Ich bin wie eine Marionette«
Eine bio-psycho-soziale
­Störung
»Ich weiß selten, wie ich eigentlich drauf
bin, schon gar nicht, ob es mir vielleicht
gerade gut geht«, sagt eine Borderlinerin. Ein andere: »Lebe ich oder werde ich
gelebt? Warum kann ich nicht einfach so
vor mich hin leben? Eine weitere Aussage: »Je dreckiger es mir geht, desto mehr
fresse ich.«
7 Liebe Leserin, lieber Leser,
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Was ist los mit mir?
Borderline – was soll das heißen?
Die Geschichte einer Krankheit
Wie wird heute diagnostiziert?
Die neun Symptome im Einzelnen
Selbstschädigendes Verhalten
Sucht und Abhängigkeit
Essstörungen
Selbstverletzungen
Suizidalität und Suizid
29 Die Borderline-Persönlichkeit
30 Merkmale einer Persönlichkeitsstörung
31 Die innere Welt der
Borderline-Persön­lichkeit
32 Abwehr – Bedrohliches bleibt unbewusst
35 Verlauf – Wie lang soll das noch gehen?!
35 Viel besser als erwartet!
37 Ab 30 geht es aufwärts
4
Genauso vielgestaltig wie die Symptome
einer Borderline-Störung können auch
die Ursachen sein. Sicherlich spielen
häufig Missbrauchserlebnisse oder andere traumatische Kindheitserfahrungen
eine Rolle. Dennoch sind diese selten
der alleinige Grund.
39
Ursachen –
Warum bin ich so?
40 Entwicklung einer BorderlinePersönlichkeitsstörung
41 Frühe Traumatisierungen und ihre Folgen
42 Trauma: Misshandlungen und Missbrauch
43 Traumatisierende Erfahrungen
46 Hypotheken aus der frühen Kindheit –
vier Sichtweisen
46 Wenn die Individuation misslingt
48 Bindungsstörung –
wenn Bindung ­gefährlich ist
50 Gedanken nicht denken dürfen
51 Falsch gelernt –
die invalidierende ­Umgebung
53 Gibt es eine Borderline-Veranlagung?
53 Werden Borderline-Merkmale vererbt?
54 Welche Rolle spielt das Temperament?
58 Das Gehirn –
biologische Hardware der Psyche
Inhalt
91
131
Störungsspezifische Therapie
Beziehung und Familie
Es gibt vier störungsspezifische Therapieverfahren, die speziell zur Behandlung von Borderlinern entwickelt wurden:
dialektisch-behaviorale Therapie (DBT),
übertragungsfokussierte Psycho­therapie
(TFP), mentalisierungsbasierte Therapie
(MBT), Schematherapie (SFT)
Partnerschaft, Schwangerschaft, eine
Familie gründen – das sind besondere
Herausforderungen, und zum Teil auch
Überforderungen, für Menschen mit
einer Borderline-Störung. Wer hilft? Wo
liegen besondere Gefahren? Welche
Erfahrungen machen Betroffene und ihre
Partner und Angehörigen?
59 Wichtige Strukturen und Funktionskreise
61 Welche Rolle spielen die Botenstoffe?
63 »Borderline«: eine bio-psycho-soziale
­Störung
63 Wie Temperament und Umwelt
zusammenspielen
63 Aus Software wird Hardware
65 Borderline –
eine »Trauma-assoziierte ­Störung«?
66 Noch einmal: Wie Software zu Hardware
wird
67 Viele Faktoren wirken zusammen
69 Veranlagung und Umwelt
71
Behandlungsmöglich­keiten –
Was hilft mir?
72 Vor jeder guten Therapie steht
die richtige Diagnose
73 Warum ist die Diagnosestellung so
­schwierig?
74 Wie verläuft das Erstgespräch?
76 Wozu dienen standardisierte Interviews
und Tests?
77 Jeder braucht eine individuelle Therapie
78 Psychotherapie ist die Hauptsäule
der Behandlung
79 Hilft Psychotherapie?
79 Auf dem Markt der Möglichkeiten
80 Psychodynamische oder
­tiefenpsycho­logische Verfahren
83 Verhaltenstherapeutische Verfahren
84 Weitere Psychotherapieverfahren
86 Traumatherapie
88 Körper- und Bewegungstherapie
89 Störungsspezifische Therapien
89 Die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT)
91 Negative Gefühle erkennen und
­akzeptieren
92 Neue Fertigkeiten üben
94 Die verhaltenstherapeutische
­Einzel­therapie
95 Telefonische Krisenintervention
5
Inhalt
96 Wie läuft eine ambulante DBT-Therapie ab?
96 Die übertragungsfokussierte
­Psycho­therapie (TFP)
97 Was bedeutet »Übertragung«?
98 Abwehrmechanismen erkennen und
­verstehen
98 Wie läuft die übertragungsfokussierte
­Therapie ab?
100 Wie unterscheiden sich die Methoden?
101 Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT)
103 Schematherapie (SFT)
105 Gemeinsamkeiten der vier Borderline-­
Therapien
106 Welche ist also die »Therapie der Wahl«?
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Psychotherapie: Was man wissen sollte
Besondere Behandlungserfordernisse
Einzel- und/oder Gruppentherapie?
Einen geeigneten Psychotherapeuten
­finden
Welche Kosten übernimmt
die Kranken­kasse?
Wozu dient ein Behandlungsvertrag?
Stationär oder ambulant?
Zurück in den Alltag
121 Medikamentöse Behandlung
123 Welche Medikamente helfen bei
­Depressionen?
124 Weitere Medikamente
127 Medikamentöse Möglichkeiten –
ein Gesamtbild
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Die Borderline-Störung
in der Familie
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Mutter werden, Vater werden
Familienplanung
Wenn Borderliner Eltern werden
Mutter und Baby im Stress
Wie kann man Gefahren bannen?
Feinfühliges Verhalten lernen und üben
140 Borderline-(Entwicklungs)störung bei
­Kindern und Jugendlichen
141 Die Diagnose der BorderlineEntwicklungsstörung
142 Hilfe für die betroffenen Kinder
6
143 Kinderpsychotherapie
144 Pubertäres Chaos oder Borderline?
Hilfen für die Eltern und die Familie
Sind wir schuld?
Ohne Hilfen sind Familien überfordert
Stellen Sie Familienregeln auf
Wie ist der Gefühlsausdruck in Ihrer
­Familie?
153 Therapie der Familie
154 Was gegen die Einbeziehung der Eltern
sprechen kann
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Borderline-Partnerschaften:
Wie können sie gelingen?
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Borderliner sind »beziehungsgestört«
Die Angst vor dem Alleinsein
Nähe und Distanz
Projektion und projektive Identifizierung
Der Partner wird idealisiert oder verteufelt
Wo sind meine Grenzen? Wo deine?
Kontrollverlust – Gewalt in der Beziehung
Was tun bei Selbstverletzungen des
­Partners?
Suizidalität
Wenn es schwierig wird …
Beratung/Psychotherapie des »gesunden«
Partners
Wann sind Beziehungspausen sinnvoll?
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171 Und wenn es nicht mehr geht?
Trennung und Scheidung
172 Warum Borderline-Trennungen besonders
schwierig sind
173 Wo Sie Beratung finden
174 Mediation oder Anwalt?
174 Borderline-Realitätsverlust und Stalking
175 Kinder und »Borderline-Trennung«
179 Perspektiven – wie sich Borderline-­
Beziehungen stabilisieren
180 Borderliner im Internet
181 Äußeres und inneres Chaos
182 Information und Austausch
183 Service
184 Index
Vorwort
Liebe Leserin, lieber Leser,
B
orderline-Störungen werden vor allem bei jungen Erwachsenen heute so häufig diagnostiziert, dass Kritiker – in Einzelfällen sicher nicht ganz zu Unrecht – die Diagnose
zur Modediagnose oder gar die Krankheit selbst zur Modekrankheit erklären. Dieser Eindruck drängt sich auch auf, wenn man die Flut der Veröffentlichungen zum Thema und
die schier unendliche Zahl der Einträge im Internet betrachtet. Diese »Karriere« brachte
zum Glück eine intensive fachwissenschaftliche Diskussion und viele neue Ergebnisse
der Therapieforschung mit sich. Sie ließ aber auch Fehlinformationen und Vorurteile ins
Kraut schießen – und dies nicht nur beim Laien. Auch in der Fachwelt wird die Störung
immer noch heftig und kontrovers diskutiert, und auch hier sind Irrtümer noch weit verbreitet. So kommt es, dass Menschen, die unter den Symptomen einer Borderline-Störung
leiden, oft die unterschiedlichsten Diagnosen und Therapien erhalten und lange Irrwege hinter sich haben, bevor sie an eine kompetente Adresse geraten. Dabei ist die Chance, trotz aller Schwierigkeiten auch als »Borderliner« ein erfülltes Leben zu führen, umso
größer, je früher die Störung erkannt und je früher sie gut behandelt wird. Eine frühe und
richtige Diagnose und die darauf zugeschnittene Behandlung sind umso wichtiger, wenn
die Gefahr besteht, dass Selbstverletzungen und selbstschädigende Handlungen zu körperlichen, seelischen und sozialen Komplikationen führen. Nur so kann den Betroffenen
und ihren Angehörigen langes Leid erspart bleiben.
Deshalb dieses Buch: Es macht Sie vertraut mit den einzelnen Symptomen, Schwierigkeiten und Besonderheiten der Erkrankung. Sie finden darin die entscheidenden Ergebnisse
der Forschung zu Ursache und Entstehung der Störung, und – sehr viel wichtiger – eine
Darstellung und Würdigung der therapeutischen Möglichkeiten und Angebote, die aktuell
am besten untersucht und als besonders Erfolg versprechend erkannt wurden. Denn gute
– störungsspezifische – Behandlungsmöglichkeiten gibt es. Sie haben endlich mit dem
Vorurteil aufräumen können, eine Borderline-Störung sei unbehandelbar.
Gerade für die Borderline-Störung gilt, was bei körperlichen Erkrankungen längst Allgemeinwissen geworden ist: »Ein informierter Patient, informierte Angehörige tragen wesentlich zum Erfolg der Behandlung bei« – nicht zuletzt, weil ihnen ein besserer Umgang
mit einer Störung, die alle Lebensbereiche beeinträchtigen kann, möglich wird.
Die letzten Kapitel sind vor allem den »Borderline-Beziehungen« in Familie und Partnerschaft gewidmet. Denn eine Borderline-Störung ist vor allem eine Beziehungsstörung. Das
heißt, sie macht Beziehungen schwierig. Aber: Wenn Betroffene, ihre Familien, Freunde
und Partner wissen, womit sie rechnen müssen, können sie hoffentlich die Gelassenheit
und Zuversicht zurückgewinnen, die leider nur allzu häufig in all den Turbulenzen verloren gehen. Wir hoffen, dass dieses Buch Ihnen dabei eine Hilfe ist.
Ihre Dr. phil. Rose Riecke-Niklewski; Ihr Dr. med. Günter Niklewski
7
Was ist los mit mir?
Impulsivität, starke Stimmungsschwankungen, große Angst vor Einsamkeit,
innere Leere – das sind nur einige der
Symptome einer Borderline-Störung.
Selbstverletzungen, Sucht, E­ ssstörungen
und auch Suizidalität können dazu­
kommen.
Was ist los mit mir?
Borderline – was soll das heißen?
»Ich weiß selten, wie ich eigentlich drauf bin, schon gar nicht, ob es mir vielleicht
gerade gut geht. Das ist ja das Problem. Nur wenn ich eine Scheiß Wut habe, dann
weiß ich: Mir geht es beschissen! Eigentlich bin ich wie eine Marionette …«
– Annäherungen an eine vielgestaltige Störung.
Melanie
»Wer bin ich? Ein Versuch«
»Die Ärzte in der Klinik haben mir die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung verpasst. (Davor war ich mal verhaltensgestört, dann essgestört, dann angstgestört – was
sich Ärzte alles so einfallen lassen!) Jetzt bin ich also eine ›Borderlinerin‹. Hab’ mich
gleich durch Tausende von Surflinks durchgeklickt. Das also soll ich sein? Ich bin also wenigstens nicht allein mit diesem Etikett. Aber wer oder was bin ich?
Jetzt bin ich also eine
Ein Versuch: Ich bin 23, weiblich, bin (oder fühle mich) dick oder fett,
»Borderlinerin«. Hab’
je nachdem, wie ich drauf bin, habe vier abgebrochene Psychotherapimich gleich durch Tauen und ein abgebrochenes Studium hinter mir. Ganz schön blöd gelaufen.
sende von Surflinks
Jetzt wohne ich also wieder bei meinen Eltern. Das geht so einigermaßen.
durchgeklickt.
Meine Mutter bringt mich zwar mit ihrem Gerede zur Weißglut, aber mit
meinem Vater versteh ich mich, obwohl er eigentlich nie da ist. Er ist ein
Supertyp. Wie der diese Alte heiraten konnte!
Mit dem Studium habe ich nun endgültig aufgehört, da es mich einfach überfordert hat,
jeden Tag zur Uni zu gehen, zu lernen, Klausuren zu schreiben. War ja sowieso Mist – und
hat mich schon lange nicht mehr interessiert. Davor ist schon einiges schiefgelaufen, muss
ich zugeben, weil ich mich im ersten Semester mit einem Dozenten zweimal so furchtbar
in die Haare gekriegt habe, dass ich mich danach das ganze Semester nicht mehr in die
Uni getraut habe. Ich bin dann zur psychologischen Studentenberatung beziehungsweise
mein Freund hat mich hingeschleppt und die haben mir einen Psychotherapeuten vermittelt. Der schien erst ganz toll, war echt an mir interessiert, bis ich gemerkt habe, dass
der mir nur an die Wäsche wollte.
Hier mache ich nun seit ca. 2 Monaten mal wieder eine ambulante Therapie, ich glaube,
es ist die vierte. Die erste war, als ich in der Grundschule war. Da wollte ich, glaube ich,
nicht mehr in die Schule und die zweite, die ich nur vier Wochen durchgehalten habe,
war wegen meiner »Essstörung«. Da hat es mir gereicht, weil die Therapeutin mit meinem Arzt sprechen wollte – hat mir wohl unterstellt, ich erzähle ihr Märchen, von wegen
Gewichtszunahme und so. Wenn mir jemand unterstellt, ich lüge ihn an, kann er mir gestohlen bleiben!
Also die jetzige Therapie: Meine Mutter hat mich gezwungen, als ich wieder nach Hause
kam. So ist die! Immer nur abschieben, bloß sich selbst keine Gedanken machen, aber
drohen – so im Sinne von: Entweder du suchst dir jetzt eine Arbeit oder du lässt dich the-
10
Borderline – was soll das heißen?
rapieren! Aber mit der Therapeutin habe ich Glück! Die versteht mich! Sagt auch, dass
die Klinik, wo ich nach Spanien war, eh keinen guten Ruf hat …
Ach ja, Klinik! Das kam so: Nach dem Abi wollte ich nichts wie weg von meiner Familie und so, bin also als Au-pair nach Barcelona und bin vom Regen in die Traufe gekommen. Die Mutter war erst superlieb, aber nach ein paar Tagen merkte ich, dass sie ja noch
schlimmer war als meine. Und alle spanischen Männer, inkl. des HausDen Stress daheim
herrn, waren hinter mir her und irgendwann habe ich das nicht mehr gewollte ich mir nicht anpackt, habe Panik geschoben, gesoffen, bis die Gastfamilie – wie das schon
tun und habe mir dann
klingt: nix von Gast, Putze war ich – mir angedroht hat, mich nach Hause
einen superfinalen Rezu schicken. Den Stress (Vorwürfe, Gejammere und ›Kannst du es denn
lax-Cocktail gemischt.
nirgends aushalten! Musst du uns das antun‹ und so weiter) daheim wollte ich mir nicht antun und habe mir dann einen superfinalen Relax-Cocktail gemischt (Der Mann ist Arzt und was da im Bad rumliegt!) – nun ja, auf der Intensivstation bin ich gelandet. Da ging es erst recht nach Hause und ab in die Klinik, wo ich fast
7 Wochen war, bin dann aber gegangen, weil die Ärzte so was von arrogant waren.
Meine Medikamente nehme ich mehr oder weniger regelmäßig, obwohl – die letzten
Wochen seit der Therapie habe ich sie nicht mehr genommen. Die aus der Klinik wollten
mich doch nur vollpumpen. Jetzt ist meine Psyche dran. Wenn’s mir sehr dreckig geht,
hilft mir dann immer noch ein Caipi – das Rezept habe ich noch aus Spanien aus meiner
Au-pair-Mädchen-Zeit. (Manchmal tut’s auch der Rum allein. Ja, ja, so’n typisches Symptom einer Borderlinerin, braucht mir keiner zu erzählen … Ich kann ja
Freunde? Die Leute
auch ohne, wenn ich will.)
aus der Uni habe ich
Freunde? Vorgestern habe ich in der Disco einen tollen Typen kennen geabgehakt. Die Mädels
lernt. Wir konnten uns supergut unterhalten, das habe ich bisher noch
von früher treffe ich ab
nie erlebt – wie Seelenverwandte. Ich glaube, bisher hat mich noch kein
und zu.
Mensch so gut verstanden wie der. Der Schock kam, als er mich küssen
wollte. Richtige Panik habe ich gekriegt und einen Ekel, dass ich fast kotzen musste. Vielleicht machen mich Frauen doch mehr an …
Die Leute aus der Uni habe ich abgehakt. Die Mädels von früher treffe ich ab und zu. Eine
ist super, die anderen sehe ich inzwischen lieber von hinten. Die haben sich am Anfang
halt eingeschleimt. Auf keine kann ich mich wirklich verlassen, jede hat ja eh nur ihre eigene Geschichte im Kopf.
Und die anderen Symptome, die ich im Netz gefunden habe? Stimmungsschwankungen?
Wenn ich das wüsste! Ich weiß ja eigentlich selten, wie ich eigentlich drauf bin, schon
gar nicht, ob es mir vielleicht gerade gut geht. Das ist ja das Problem. Nur wenn ich eine
Scheiß Wut habe, dann weiß ich: Mir geht es beschissen! Eigentlich bin
Ja, ich schneide mich,
ich wie eine Marionette oder besser, meine Stimmungen sind Marionetja, ich schlage meinen
ten, deren Fäden irgendwer nur nicht ich in der Hand hält. Und meist bin
Kopf an die Wand etc.
ich meinen Stimmungen ausgeliefert – ich stell mir mein Ich dann vor wie
ein Kartenhaus, das durch Launen zum Einsturz gebracht werden kann.
Selbstbeschädigung ist schon so ’ne Sache. Was soll ich dazu sagen? Ja, ich schneide mich,
ja, ich schlage meinen Kopf an die Wand etc., aber ich mag den Ausdruck Selbstverletzung
nicht. In dem Moment, wo ich das tue, tue ich was für mich, und zwar was Gutes! Ich
empfinde Genugtuung – wie ich gerade auf dieses Wort komme, ist mir selbst schleierhaft. Und mit dem Schneiden ist es bei mir wie mit dem Rauchen bei anderen – und Rau-
11
Was ist los mit mir?
chen ist viel schädlicher! Depressionen und so weiter habe ich auch. Deshalb soll ich ja
die Tabletten nehmen. Aber wenn das Leben scheiße ist, helfen auch keine Tabletten.
Und Angst, Panik und dieser Scheiß? In der Uni war das so – am meisten habe ich die
Abende gehasst, entweder war ich unterwegs. Ich habe dann immer einen oder eine getroffen, die mit mir durchgemacht haben oder die mich mit zu sich genommen haben.
Oder ich hab mir Leute eingeladen – nur nicht allein in der Bude! Heute war auch so ein
Tag – alles irgendwie strange, das heißt also nicht gut. Bin irgendwie neben mir, weit weg
von den anderen. Diese innere Einsamkeit hatte ich lang nicht mehr. Ich hab’ mal gelesen,
wenn man so lange allein in einem Raum sein kann, in dem es keine Ablenkung gibt, bis
eine Kerze runtergebrannt ist, dann kommt man mit sich selbst aus. Ich
Ein »Dazwischen« gibt
kann das gerade nicht!
es kaum. Immer nur
Ich muss gerade an gestern denken: Kai hat mich angerufen, weil er mit
Extreme!
ein paar Freunden in seinen Geburtstag reinfeiern will. Hab mich total
gefreut. Und dann: Nie kann ich mich auf meine Gefühle verlassen. Als ich
ins Zimmer kam, war ich noch supergut drauf und plötzlich hat mich alles angekotzt. Ich
hätte jedem ins Gesicht treten können, der es auch nur gewagt hat, mich anzusprechen.
Wenn ich wenigstens den Grund wüsste! Das ist alles so anstrengend. Und die anderen
finden mich anstrengend – und unberechenbar. Aber was soll ich sagen: Ich kann mich ja
selbst nicht berechnen. Ist doch logisch, dass ich keine Lust mehr habe. Das einzig Sichere
in meinem Leben ist die Unsicherheit! Irgendwie führe ich ein Leben zwischen Hoch und
Tief, Hass und Liebe, Trauer und Glück, Freud und Leid, Lust und Frust, Leben und Tod –
ach klingt das gut. Ich sollte Schriftstellerin werden! Jedenfalls: Ein ›Dazwischen‹ gibt es
kaum. Immer nur Extreme!« █
Die Geschichte einer Krankheit
Die Borderline-Störung, die wie keine andere
seelische Krankheit die Zerrissenheit, Orientierungslosigkeit und Grenzenlosigkeit unseres Zeitalters widerzuspiegeln scheint, ist keine »Erfindung« unseres Jahrhunderts. Schon
Ende des 17. Jahrhunderts schrieb der englische Arzt Thomas Sydenham über eine Reihe
seiner Patienten in einem Brief den heute so
oft zitierten Satz: »Sie lieben diejenigen ohne
Maß, die sie ohne Grund hassen werden.« Und
er beklagte sich über ihre plötzlichen Ausbrüche von Wut, Schmerz oder Angst. Natürlich
nannte Sydenham die von ihm beschriebene
Störung nicht Borderline-Störung (er wählte für Frauen den Begriff Hysterikerin, für
Männer den Begriff Hypochonder), dennoch
traf er mit seiner Beschreibung den Nagel auf
12
den Kopf. Auch heute noch sind diese von ihm
genannten Symptome zwei der wichtigsten,
wenn es darum geht, die Diagnose einer Borderline-Störung zu stellen.
»Grenzfälle«
Zu »Grenzfällen« wurden jene Patienten
jedoch erst zwei Jahrhunderte später. Erst
kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts tauchte der Begriff »Borderland« in der Psychiatrie auf. 1884 prägte ihn der Psychiater C. H.
Hughes für ein »Grenzland« zwischen »geisteskrank« und »noch nicht geisteskrank«, also für
Randphänomene im Grenzbereich zu schizophrenen Störungen.
Borderline – was soll das heißen?
Die Karriere des Begriffs Borderline begann
1938. Der amerikanische Psychoanalytiker
Adolph Stern führte ihn mit seiner Schrift
über die »borderline group of neuroses« innerhalb der Psychoanalyse ein, nachdem es dort
schon seit einiger Zeit recht präzise Beschreibungen dieser Störung gab. Mit dem von Stern
geprägten Begriff wurden diese Patienten psychoanalytisch nun zu »Grenzgängern«, deren
Störung weder der Neurose noch der Psychose
zuzuordnen war, während in der deutschen
Psychiatrie die Störung weiterhin eher in den
Randgebieten schizophrener Psychosen oder
manisch-depressiver Erkrankungen angesiedelt wurde.
»Borderline«
als Verlegenheits­diagnose?
In den folgenden Jahrzehnten wurde jedoch
immer deutlicher, dass es tatsächlich eine
große Zahl von Patienten gibt, auf die die
bisherigen vorhandenen Diagnosen und Beschreibungen nicht passten. Für diese, die man
nicht verstand und bei denen auch keine der
üblichen Therapien anschlug, blieb die Dia­
gnose »Borderline« lange eine Verlegenheitsdiagnose.
Erst in den fünfziger Jahren wurde mit dem
Begriff »Borderline-Zustände« der Versuch
unternommen, hinter der Vielzahl der unterschiedlichsten Symptome und Erscheinungsformen eine zugrunde liegende Störung zu definieren. Damit wurde eine erste
Annäherung zwischen dem psychoanalytischen Verständnis und der psychiatrischen
Klassifikation möglich. Aber es dauerte immer
noch zwei Jahrzehnte, bis aus einer Restkategorie und Sammelbezeichnung für »schwierige« Patienten ein Begriff wurde, der tatsächlich seinen Platz in den medizinischen
Lehrbüchern fand.
Wie wird heute diagnostiziert?
Ärzte, Psychotherapeuten und Wissenschaftler berufen sich heute entweder auf die Beschreibung des von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verbindlich vorgegebenen
Klassifikationssystems, der »Internationalen
statistischen Klassifikation der Krankheiten
und verwandter Gesundheitsprobleme«, kurz
der »ICD-10« oder auf die Beschreibung der
Störung im »Diagnostischen and statistischen
Manual psychischer Störungen« der American
Psychiatric Association (APA) kurz im »DSM«
und zwar nach der aktuellen vierten Auflage,
dem »DSM-IV«, das als wichtiges Standardwerk zur Diagnose psychiatrischer Erkrankungen gilt. Mit diesen beiden Beschreibungen ist
die Geschichte der Krankheit – oder vielmehr
– die Geschichte ihres Verständnisses aber
nicht zu Ende. Beflügelt durch den enormen
wissenschaftlichen Fortschritt der letzten 20
Jahre hofften viele Psychiater auf eine Verbesserung der Diagnosekriterien durch neurowissenschaftliche und genetische Funde, die
bisher in beiden Klassifikationssystemen noch
nicht berücksichtigt wurden. Diese Hoffnung
hat sich aber bislang nicht erfüllt, da es bisher
nicht gelungen ist, eindeutige neurobiologische und genetische Merkmale zu identifizieren, die die Borderline-Störung von anderen
psychischen Störungen unterscheiden. Änderungen wird es aber dennoch geben – und
zwar im ICD-11 und im DSM-V, an denen seit
einigen Jahren gearbeitet wird und deren Erscheinen für die nächsten Jahre angekündigt
ist. Bis dahin jedoch beziehen wir uns auf die
gegenwärtig übliche medizinische Einteilung.
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Was ist los mit mir?
Borderline-Störung nach ICD-10
Hier wird die Borderline-Störung als eine
Form der »emotional instabilen Persönlichkeitsstörung« beschrieben. Menschen, auf die
diese ICD-10-Diagnose zutrifft, leiden unter starken Stimmungsschwankungen und
wechselnden Gefühlszuständen, die auch ihr
Verhalten prägen. Sie haben, so beschreibt es
die ICD-10, eine deutliche Tendenz, impulsiv
zu handeln, ohne dabei mögliche Folgen und
Konsequenzen zu berücksichtigen. Beim Ausbruch großen Ärgers und starker Wut, deren
Kontrolle Betroffenen sehr schwerfällt, kann
ihre Unfähigkeit, sich zu beherrschen und ihre
eigenen Impulse zu kontrollieren, auch zu
aggressiven Handlungen gegen andere, aber
auch gegen sich selbst führen. Leiden Menschen zusätzlich zu dieser Impulsivität und
der Schwierigkeit, diese zu kontrollieren, an
einer Störung des eigenen Selbstbilds, spricht
man im ICD-10 von einer emotional instabilen
Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus.
Borderline-Störung nach DSM-IV
Im DSM-IV wird die Borderline-Störung erst
einmal ziemlich knapp als »ein tiefgreifendes
Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den
Affekten sowie von deutlicher Impulsivität«
beschrieben. Zur Erläuterung wird dann noch
ein Bündel von neun Symptomen genannt, unter denen Betroffene leiden können:
1. Verzweifelte Versuche, nicht allein sein zu
müssen und reale oder auch nur eingebildete Trennungen zu verhindern.
2. Intensive, aber instabile zwischenmenschliche Beziehungen, in denen sich Bewunderung und Abwertung oder gar Hass abwechseln.
3. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes und der
Selbstwahrnehmung.
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4. Starke Impulsivität mit der Tendenz, Impulse »ohne Rücksicht auf Verluste« auszuleben.
5. Wiederholte Drohungen, Andeutungen
oder Versuche, sich umzubringen, oder
Selbstverletzungen.
6. Auffallende Unausgeglichenheit und Instabilität in der Stimmung. Häufige depressive
Stimmungen, Angst und Reizbarkeit, die jedoch oft nur Stunden oder höchstens einige
Tage anhalten.
7. Häufiges und lang anhaltendes Gefühl der
Leere oder Langeweile.
8. Unangemessene und starke Wut und die
Unfähigkeit, diese zu beherrschen.
9. Phasen des Misstrauens, das sogar jeden
Bezug zur Realität verlieren kann. In Krisensituationen kann es vorübergehend
ganz zu einem »Abschalten« kommen. Der
eigene Körper oder die umgebende Realität
wird als fremd, verändert erlebt.
Ein »schwieriger« Begriff für
eine schwierige Störung
Die lange Geschichte der begrifflichen Klärung legt einen Verdacht nahe: Die eine unverwechselbare Borderline-Störung mit den
immergleichen typischen Symptomen gibt es
nicht. Eine Borderline-Störung ist vielgestaltig – ebenso wie die Versuche, sie zu beschreiben, zu klassifizieren und zu definieren. Ihre
Spannbreite reicht von einer Persönlichkeitsstruktur bis hin zur manifesten Störung mit
all den Symptomen, unter denen Borderliner
leiden. Deshalb verliert sich auch heute noch
jeder, der sich in der aktuellen Literatur zum
Thema zurechtfinden möchte, in einem Irrgarten verschiedenster Begriffe und Bedeutungen. Diese werden zudem leider oft wie Synonyme verwendet, was dem Problem und den
Betroffenen nicht gerecht wird. Unterschieden
werden müssen mindestens drei Begriffe, die
sich auf verschiedene Sachverhalte beziehen.
Borderline – was soll das heißen?
Borderline-Syndrom: Dieser Begriff bezieht
sich auf die typischen Krankheitszeichen, die
typischen Symptome, die regelhaft in Verbindung miteinander auftreten, also ein »Syndrom« bilden.
Borderline-Persönlichkeit oder BorderlinePersönlichkeitsorganisation: Dieser Begriff
beschreibt gleichbleibende Strukturmerkmale
eines Individuums, seine Persönlichkeit und
meint nicht notwendig gleich eine Störung
oder Krankheit.
Borderline-Zustand: Dieser Begriff steht für
eine Krankheitsepisode, während der sich die
Borderline-Persönlichkeit auf die ihr typische
Weise entwickelt. Der Borderline-Zustand
wird ausgelöst durch äußere und innere Belastungen, die der Betroffene nicht ausgleichen,
nicht mehr »kompensieren« kann.
Wolfgang
»Ich werde wütend und mache jeden an«
»Was ich am wenigsten an mir leiden kann, sind meine Stimmungsschwankungen. Ich
selbst kann mich nicht auf mich verlassen, kann nicht mit mir rechnen. Zum Beispiel
kann ich ganz gut gelaunt nach Hause kommen, will meiner Freundin was erzählen,
und sie hört nicht zu. Da raste ich aus! Entweder ich brülle, mache sie fertig oder ich
geh’ gleich wieder und muss erst einmal Frust ablassen. Nachher tut’s mir leid – ich hab’
doch gesehen, dass sie gerade den Braten aus dem Backofen geholt hat und sich darauf
konzent­rieren musste!
Oder ich gehe einkaufen und einer drängelt sich vor oder die Verkäuferin an der Fleisch­
theke beachtet mich nicht gleich, dann fühle ich mich wie damals, als meine Mutter immer nur die anderen Geschwister angeguckt hat, ich war immer irgendwie Luft für sie. –
Also, entweder werde ich wütend und mache jeden an, der mir in die Quere kommt, oder
ich muss raus aus dem Geschäft und der Tag ist gelaufen …« █
Die neun Symptome im Einzelnen
Da sich die Verfasser des DSM-IV in den Erläuterungen um eine sehr viel ausführlichere
Beschreibung des Leidens bemüht haben, nehmen wir diese nun auch als Grundlage unserer
Beschreibung:
1. Verzweifelte Versuche, nicht allein
sein zu müssen
Menschen mit einer Borderline-Störung – im
Folgenden kurz »Borderliner« – können nicht
allein sein und erleben deshalb in allen Be-
ziehungen große Angst, verlassen zu werden.
Diese Angst kann ausgelöst werden durch
nichtige Anlässe, zum Beispiel einen verspäteten Anruf, eine Absage einer Verabredung
oder einen Streit um Kleinigkeiten. Schwierig
für alle Beteiligten wird, dass für Borderliner
oft schon einfache Abwesenheit gefühlsmäßig
zu endgültiger Verlassenheit wird.
Die Angst vor diesem endgültigen Verlassenwerden ist Ursache vieler Probleme im
zwischenmenschlichen Bereich. Zum Beispiel
macht sie das Bedürfnis, den Partner »unter
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