Niklewski/Niklewski Leben mit einer Borderline-Störung Die Autoren Dr. phil. Dr. med. Günter Niklewski ist leitender Arzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg. Er baute dort eine eigene Station für Borderline-Patienten auf. Dr. phil. Rose Riecke-Niklewski ist Kinder- und JugendlichenPsychotherapeutin in eigener Praxis. eide haben neben Fachpublikationen erfolgreiche Sach­ B bücher veröffentlicht. Dr. phil. Dr. med. Günter Niklewski Dr. phil. Rose Riecke-Niklewski Leben mit einer BorderlineStörung Inhalt 12 65 »Ich bin wie eine Marionette« Eine bio-psycho-soziale ­Störung »Ich weiß selten, wie ich eigentlich drauf bin, schon gar nicht, ob es mir vielleicht gerade gut geht«, sagt eine Borderlinerin. Ein andere: »Lebe ich oder werde ich gelebt? Warum kann ich nicht einfach so vor mich hin leben? Eine weitere Aussage: »Je dreckiger es mir geht, desto mehr fresse ich.« 7 Liebe Leserin, lieber Leser, 9 10 12 13 15 19 20 21 23 26 Was ist los mit mir? Borderline – was soll das heißen? Die Geschichte einer Krankheit Wie wird heute diagnostiziert? Die neun Symptome im Einzelnen Selbstschädigendes Verhalten Sucht und Abhängigkeit Essstörungen Selbstverletzungen Suizidalität und Suizid 29 Die Borderline-Persönlichkeit 30 Merkmale einer Persönlichkeitsstörung 31 Die innere Welt der Borderline-Persön­lichkeit 32 Abwehr – Bedrohliches bleibt unbewusst 35 Verlauf – Wie lang soll das noch gehen?! 35 Viel besser als erwartet! 37 Ab 30 geht es aufwärts 4 Genauso vielgestaltig wie die Symptome einer Borderline-Störung können auch die Ursachen sein. Sicherlich spielen häufig Missbrauchserlebnisse oder andere traumatische Kindheitserfahrungen eine Rolle. Dennoch sind diese selten der alleinige Grund. 39 Ursachen – Warum bin ich so? 40 Entwicklung einer BorderlinePersönlichkeitsstörung 41 Frühe Traumatisierungen und ihre Folgen 42 Trauma: Misshandlungen und Missbrauch 43 Traumatisierende Erfahrungen 46 Hypotheken aus der frühen Kindheit – vier Sichtweisen 46 Wenn die Individuation misslingt 48 Bindungsstörung – wenn Bindung ­gefährlich ist 50 Gedanken nicht denken dürfen 51 Falsch gelernt – die invalidierende ­Umgebung 53 Gibt es eine Borderline-Veranlagung? 53 Werden Borderline-Merkmale vererbt? 54 Welche Rolle spielt das Temperament? 58 Das Gehirn – biologische Hardware der Psyche Inhalt 91 131 Störungsspezifische Therapie Beziehung und Familie Es gibt vier störungsspezifische Therapieverfahren, die speziell zur Behandlung von Borderlinern entwickelt wurden: dialektisch-behaviorale Therapie (DBT), übertragungsfokussierte Psycho­therapie (TFP), mentalisierungsbasierte Therapie (MBT), Schematherapie (SFT) Partnerschaft, Schwangerschaft, eine Familie gründen – das sind besondere Herausforderungen, und zum Teil auch Überforderungen, für Menschen mit einer Borderline-Störung. Wer hilft? Wo liegen besondere Gefahren? Welche Erfahrungen machen Betroffene und ihre Partner und Angehörigen? 59 Wichtige Strukturen und Funktionskreise 61 Welche Rolle spielen die Botenstoffe? 63 »Borderline«: eine bio-psycho-soziale ­Störung 63 Wie Temperament und Umwelt zusammenspielen 63 Aus Software wird Hardware 65 Borderline – eine »Trauma-assoziierte ­Störung«? 66 Noch einmal: Wie Software zu Hardware wird 67 Viele Faktoren wirken zusammen 69 Veranlagung und Umwelt 71 Behandlungsmöglich­keiten – Was hilft mir? 72 Vor jeder guten Therapie steht die richtige Diagnose 73 Warum ist die Diagnosestellung so ­schwierig? 74 Wie verläuft das Erstgespräch? 76 Wozu dienen standardisierte Interviews und Tests? 77 Jeder braucht eine individuelle Therapie 78 Psychotherapie ist die Hauptsäule der Behandlung 79 Hilft Psychotherapie? 79 Auf dem Markt der Möglichkeiten 80 Psychodynamische oder ­tiefenpsycho­logische Verfahren 83 Verhaltenstherapeutische Verfahren 84 Weitere Psychotherapieverfahren 86 Traumatherapie 88 Körper- und Bewegungstherapie 89 Störungsspezifische Therapien 89 Die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) 91 Negative Gefühle erkennen und ­akzeptieren 92 Neue Fertigkeiten üben 94 Die verhaltenstherapeutische ­Einzel­therapie 95 Telefonische Krisenintervention 5 Inhalt 96 Wie läuft eine ambulante DBT-Therapie ab? 96 Die übertragungsfokussierte ­Psycho­therapie (TFP) 97 Was bedeutet »Übertragung«? 98 Abwehrmechanismen erkennen und ­verstehen 98 Wie läuft die übertragungsfokussierte ­Therapie ab? 100 Wie unterscheiden sich die Methoden? 101 Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) 103 Schematherapie (SFT) 105 Gemeinsamkeiten der vier Borderline-­ Therapien 106 Welche ist also die »Therapie der Wahl«? 110 110 113 114 115 116 117 119 Psychotherapie: Was man wissen sollte Besondere Behandlungserfordernisse Einzel- und/oder Gruppentherapie? Einen geeigneten Psychotherapeuten ­finden Welche Kosten übernimmt die Kranken­kasse? Wozu dient ein Behandlungsvertrag? Stationär oder ambulant? Zurück in den Alltag 121 Medikamentöse Behandlung 123 Welche Medikamente helfen bei ­Depressionen? 124 Weitere Medikamente 127 Medikamentöse Möglichkeiten – ein Gesamtbild 129 Die Borderline-Störung in der Familie 130 131 132 133 135 137 Mutter werden, Vater werden Familienplanung Wenn Borderliner Eltern werden Mutter und Baby im Stress Wie kann man Gefahren bannen? Feinfühliges Verhalten lernen und üben 140 Borderline-(Entwicklungs)störung bei ­Kindern und Jugendlichen 141 Die Diagnose der BorderlineEntwicklungsstörung 142 Hilfe für die betroffenen Kinder 6 143 Kinderpsychotherapie 144 Pubertäres Chaos oder Borderline? Hilfen für die Eltern und die Familie Sind wir schuld? Ohne Hilfen sind Familien überfordert Stellen Sie Familienregeln auf Wie ist der Gefühlsausdruck in Ihrer ­Familie? 153 Therapie der Familie 154 Was gegen die Einbeziehung der Eltern sprechen kann 147 148 149 150 152 157 Borderline-Partnerschaften: Wie können sie gelingen? 158 159 160 161 162 163 163 164 Borderliner sind »beziehungsgestört« Die Angst vor dem Alleinsein Nähe und Distanz Projektion und projektive Identifizierung Der Partner wird idealisiert oder verteufelt Wo sind meine Grenzen? Wo deine? Kontrollverlust – Gewalt in der Beziehung Was tun bei Selbstverletzungen des ­Partners? Suizidalität Wenn es schwierig wird … Beratung/Psychotherapie des »gesunden« Partners Wann sind Beziehungspausen sinnvoll? 165 167 168 170 171 Und wenn es nicht mehr geht? Trennung und Scheidung 172 Warum Borderline-Trennungen besonders schwierig sind 173 Wo Sie Beratung finden 174 Mediation oder Anwalt? 174 Borderline-Realitätsverlust und Stalking 175 Kinder und »Borderline-Trennung« 179 Perspektiven – wie sich Borderline-­ Beziehungen stabilisieren 180 Borderliner im Internet 181 Äußeres und inneres Chaos 182 Information und Austausch 183 Service 184 Index Vorwort Liebe Leserin, lieber Leser, B orderline-Störungen werden vor allem bei jungen Erwachsenen heute so häufig diagnostiziert, dass Kritiker – in Einzelfällen sicher nicht ganz zu Unrecht – die Diagnose zur Modediagnose oder gar die Krankheit selbst zur Modekrankheit erklären. Dieser Eindruck drängt sich auch auf, wenn man die Flut der Veröffentlichungen zum Thema und die schier unendliche Zahl der Einträge im Internet betrachtet. Diese »Karriere« brachte zum Glück eine intensive fachwissenschaftliche Diskussion und viele neue Ergebnisse der Therapieforschung mit sich. Sie ließ aber auch Fehlinformationen und Vorurteile ins Kraut schießen – und dies nicht nur beim Laien. Auch in der Fachwelt wird die Störung immer noch heftig und kontrovers diskutiert, und auch hier sind Irrtümer noch weit verbreitet. So kommt es, dass Menschen, die unter den Symptomen einer Borderline-Störung leiden, oft die unterschiedlichsten Diagnosen und Therapien erhalten und lange Irrwege hinter sich haben, bevor sie an eine kompetente Adresse geraten. Dabei ist die Chance, trotz aller Schwierigkeiten auch als »Borderliner« ein erfülltes Leben zu führen, umso größer, je früher die Störung erkannt und je früher sie gut behandelt wird. Eine frühe und richtige Diagnose und die darauf zugeschnittene Behandlung sind umso wichtiger, wenn die Gefahr besteht, dass Selbstverletzungen und selbstschädigende Handlungen zu körperlichen, seelischen und sozialen Komplikationen führen. Nur so kann den Betroffenen und ihren Angehörigen langes Leid erspart bleiben. Deshalb dieses Buch: Es macht Sie vertraut mit den einzelnen Symptomen, Schwierigkeiten und Besonderheiten der Erkrankung. Sie finden darin die entscheidenden Ergebnisse der Forschung zu Ursache und Entstehung der Störung, und – sehr viel wichtiger – eine Darstellung und Würdigung der therapeutischen Möglichkeiten und Angebote, die aktuell am besten untersucht und als besonders Erfolg versprechend erkannt wurden. Denn gute – störungsspezifische – Behandlungsmöglichkeiten gibt es. Sie haben endlich mit dem Vorurteil aufräumen können, eine Borderline-Störung sei unbehandelbar. Gerade für die Borderline-Störung gilt, was bei körperlichen Erkrankungen längst Allgemeinwissen geworden ist: »Ein informierter Patient, informierte Angehörige tragen wesentlich zum Erfolg der Behandlung bei« – nicht zuletzt, weil ihnen ein besserer Umgang mit einer Störung, die alle Lebensbereiche beeinträchtigen kann, möglich wird. Die letzten Kapitel sind vor allem den »Borderline-Beziehungen« in Familie und Partnerschaft gewidmet. Denn eine Borderline-Störung ist vor allem eine Beziehungsstörung. Das heißt, sie macht Beziehungen schwierig. Aber: Wenn Betroffene, ihre Familien, Freunde und Partner wissen, womit sie rechnen müssen, können sie hoffentlich die Gelassenheit und Zuversicht zurückgewinnen, die leider nur allzu häufig in all den Turbulenzen verloren gehen. Wir hoffen, dass dieses Buch Ihnen dabei eine Hilfe ist. Ihre Dr. phil. Rose Riecke-Niklewski; Ihr Dr. med. Günter Niklewski 7 Was ist los mit mir? Impulsivität, starke Stimmungsschwankungen, große Angst vor Einsamkeit, innere Leere – das sind nur einige der Symptome einer Borderline-Störung. Selbstverletzungen, Sucht, E­ ssstörungen und auch Suizidalität können dazu­ kommen. Was ist los mit mir? Borderline – was soll das heißen? »Ich weiß selten, wie ich eigentlich drauf bin, schon gar nicht, ob es mir vielleicht gerade gut geht. Das ist ja das Problem. Nur wenn ich eine Scheiß Wut habe, dann weiß ich: Mir geht es beschissen! Eigentlich bin ich wie eine Marionette …« – Annäherungen an eine vielgestaltige Störung. Melanie »Wer bin ich? Ein Versuch« »Die Ärzte in der Klinik haben mir die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung verpasst. (Davor war ich mal verhaltensgestört, dann essgestört, dann angstgestört – was sich Ärzte alles so einfallen lassen!) Jetzt bin ich also eine ›Borderlinerin‹. Hab’ mich gleich durch Tausende von Surflinks durchgeklickt. Das also soll ich sein? Ich bin also wenigstens nicht allein mit diesem Etikett. Aber wer oder was bin ich? Jetzt bin ich also eine Ein Versuch: Ich bin 23, weiblich, bin (oder fühle mich) dick oder fett, »Borderlinerin«. Hab’ je nachdem, wie ich drauf bin, habe vier abgebrochene Psychotherapimich gleich durch Tauen und ein abgebrochenes Studium hinter mir. Ganz schön blöd gelaufen. sende von Surflinks Jetzt wohne ich also wieder bei meinen Eltern. Das geht so einigermaßen. durchgeklickt. Meine Mutter bringt mich zwar mit ihrem Gerede zur Weißglut, aber mit meinem Vater versteh ich mich, obwohl er eigentlich nie da ist. Er ist ein Supertyp. Wie der diese Alte heiraten konnte! Mit dem Studium habe ich nun endgültig aufgehört, da es mich einfach überfordert hat, jeden Tag zur Uni zu gehen, zu lernen, Klausuren zu schreiben. War ja sowieso Mist – und hat mich schon lange nicht mehr interessiert. Davor ist schon einiges schiefgelaufen, muss ich zugeben, weil ich mich im ersten Semester mit einem Dozenten zweimal so furchtbar in die Haare gekriegt habe, dass ich mich danach das ganze Semester nicht mehr in die Uni getraut habe. Ich bin dann zur psychologischen Studentenberatung beziehungsweise mein Freund hat mich hingeschleppt und die haben mir einen Psychotherapeuten vermittelt. Der schien erst ganz toll, war echt an mir interessiert, bis ich gemerkt habe, dass der mir nur an die Wäsche wollte. Hier mache ich nun seit ca. 2 Monaten mal wieder eine ambulante Therapie, ich glaube, es ist die vierte. Die erste war, als ich in der Grundschule war. Da wollte ich, glaube ich, nicht mehr in die Schule und die zweite, die ich nur vier Wochen durchgehalten habe, war wegen meiner »Essstörung«. Da hat es mir gereicht, weil die Therapeutin mit meinem Arzt sprechen wollte – hat mir wohl unterstellt, ich erzähle ihr Märchen, von wegen Gewichtszunahme und so. Wenn mir jemand unterstellt, ich lüge ihn an, kann er mir gestohlen bleiben! Also die jetzige Therapie: Meine Mutter hat mich gezwungen, als ich wieder nach Hause kam. So ist die! Immer nur abschieben, bloß sich selbst keine Gedanken machen, aber drohen – so im Sinne von: Entweder du suchst dir jetzt eine Arbeit oder du lässt dich the- 10 Borderline – was soll das heißen? rapieren! Aber mit der Therapeutin habe ich Glück! Die versteht mich! Sagt auch, dass die Klinik, wo ich nach Spanien war, eh keinen guten Ruf hat … Ach ja, Klinik! Das kam so: Nach dem Abi wollte ich nichts wie weg von meiner Familie und so, bin also als Au-pair nach Barcelona und bin vom Regen in die Traufe gekommen. Die Mutter war erst superlieb, aber nach ein paar Tagen merkte ich, dass sie ja noch schlimmer war als meine. Und alle spanischen Männer, inkl. des HausDen Stress daheim herrn, waren hinter mir her und irgendwann habe ich das nicht mehr gewollte ich mir nicht anpackt, habe Panik geschoben, gesoffen, bis die Gastfamilie – wie das schon tun und habe mir dann klingt: nix von Gast, Putze war ich – mir angedroht hat, mich nach Hause einen superfinalen Rezu schicken. Den Stress (Vorwürfe, Gejammere und ›Kannst du es denn lax-Cocktail gemischt. nirgends aushalten! Musst du uns das antun‹ und so weiter) daheim wollte ich mir nicht antun und habe mir dann einen superfinalen Relax-Cocktail gemischt (Der Mann ist Arzt und was da im Bad rumliegt!) – nun ja, auf der Intensivstation bin ich gelandet. Da ging es erst recht nach Hause und ab in die Klinik, wo ich fast 7 Wochen war, bin dann aber gegangen, weil die Ärzte so was von arrogant waren. Meine Medikamente nehme ich mehr oder weniger regelmäßig, obwohl – die letzten Wochen seit der Therapie habe ich sie nicht mehr genommen. Die aus der Klinik wollten mich doch nur vollpumpen. Jetzt ist meine Psyche dran. Wenn’s mir sehr dreckig geht, hilft mir dann immer noch ein Caipi – das Rezept habe ich noch aus Spanien aus meiner Au-pair-Mädchen-Zeit. (Manchmal tut’s auch der Rum allein. Ja, ja, so’n typisches Symptom einer Borderlinerin, braucht mir keiner zu erzählen … Ich kann ja Freunde? Die Leute auch ohne, wenn ich will.) aus der Uni habe ich Freunde? Vorgestern habe ich in der Disco einen tollen Typen kennen geabgehakt. Die Mädels lernt. Wir konnten uns supergut unterhalten, das habe ich bisher noch von früher treffe ich ab nie erlebt – wie Seelenverwandte. Ich glaube, bisher hat mich noch kein und zu. Mensch so gut verstanden wie der. Der Schock kam, als er mich küssen wollte. Richtige Panik habe ich gekriegt und einen Ekel, dass ich fast kotzen musste. Vielleicht machen mich Frauen doch mehr an … Die Leute aus der Uni habe ich abgehakt. Die Mädels von früher treffe ich ab und zu. Eine ist super, die anderen sehe ich inzwischen lieber von hinten. Die haben sich am Anfang halt eingeschleimt. Auf keine kann ich mich wirklich verlassen, jede hat ja eh nur ihre eigene Geschichte im Kopf. Und die anderen Symptome, die ich im Netz gefunden habe? Stimmungsschwankungen? Wenn ich das wüsste! Ich weiß ja eigentlich selten, wie ich eigentlich drauf bin, schon gar nicht, ob es mir vielleicht gerade gut geht. Das ist ja das Problem. Nur wenn ich eine Scheiß Wut habe, dann weiß ich: Mir geht es beschissen! Eigentlich bin Ja, ich schneide mich, ich wie eine Marionette oder besser, meine Stimmungen sind Marionetja, ich schlage meinen ten, deren Fäden irgendwer nur nicht ich in der Hand hält. Und meist bin Kopf an die Wand etc. ich meinen Stimmungen ausgeliefert – ich stell mir mein Ich dann vor wie ein Kartenhaus, das durch Launen zum Einsturz gebracht werden kann. Selbstbeschädigung ist schon so ’ne Sache. Was soll ich dazu sagen? Ja, ich schneide mich, ja, ich schlage meinen Kopf an die Wand etc., aber ich mag den Ausdruck Selbstverletzung nicht. In dem Moment, wo ich das tue, tue ich was für mich, und zwar was Gutes! Ich empfinde Genugtuung – wie ich gerade auf dieses Wort komme, ist mir selbst schleierhaft. Und mit dem Schneiden ist es bei mir wie mit dem Rauchen bei anderen – und Rau- 11 Was ist los mit mir? chen ist viel schädlicher! Depressionen und so weiter habe ich auch. Deshalb soll ich ja die Tabletten nehmen. Aber wenn das Leben scheiße ist, helfen auch keine Tabletten. Und Angst, Panik und dieser Scheiß? In der Uni war das so – am meisten habe ich die Abende gehasst, entweder war ich unterwegs. Ich habe dann immer einen oder eine getroffen, die mit mir durchgemacht haben oder die mich mit zu sich genommen haben. Oder ich hab mir Leute eingeladen – nur nicht allein in der Bude! Heute war auch so ein Tag – alles irgendwie strange, das heißt also nicht gut. Bin irgendwie neben mir, weit weg von den anderen. Diese innere Einsamkeit hatte ich lang nicht mehr. Ich hab’ mal gelesen, wenn man so lange allein in einem Raum sein kann, in dem es keine Ablenkung gibt, bis eine Kerze runtergebrannt ist, dann kommt man mit sich selbst aus. Ich Ein »Dazwischen« gibt kann das gerade nicht! es kaum. Immer nur Ich muss gerade an gestern denken: Kai hat mich angerufen, weil er mit Extreme! ein paar Freunden in seinen Geburtstag reinfeiern will. Hab mich total gefreut. Und dann: Nie kann ich mich auf meine Gefühle verlassen. Als ich ins Zimmer kam, war ich noch supergut drauf und plötzlich hat mich alles angekotzt. Ich hätte jedem ins Gesicht treten können, der es auch nur gewagt hat, mich anzusprechen. Wenn ich wenigstens den Grund wüsste! Das ist alles so anstrengend. Und die anderen finden mich anstrengend – und unberechenbar. Aber was soll ich sagen: Ich kann mich ja selbst nicht berechnen. Ist doch logisch, dass ich keine Lust mehr habe. Das einzig Sichere in meinem Leben ist die Unsicherheit! Irgendwie führe ich ein Leben zwischen Hoch und Tief, Hass und Liebe, Trauer und Glück, Freud und Leid, Lust und Frust, Leben und Tod – ach klingt das gut. Ich sollte Schriftstellerin werden! Jedenfalls: Ein ›Dazwischen‹ gibt es kaum. Immer nur Extreme!« █ Die Geschichte einer Krankheit Die Borderline-Störung, die wie keine andere seelische Krankheit die Zerrissenheit, Orientierungslosigkeit und Grenzenlosigkeit unseres Zeitalters widerzuspiegeln scheint, ist keine »Erfindung« unseres Jahrhunderts. Schon Ende des 17. Jahrhunderts schrieb der englische Arzt Thomas Sydenham über eine Reihe seiner Patienten in einem Brief den heute so oft zitierten Satz: »Sie lieben diejenigen ohne Maß, die sie ohne Grund hassen werden.« Und er beklagte sich über ihre plötzlichen Ausbrüche von Wut, Schmerz oder Angst. Natürlich nannte Sydenham die von ihm beschriebene Störung nicht Borderline-Störung (er wählte für Frauen den Begriff Hysterikerin, für Männer den Begriff Hypochonder), dennoch traf er mit seiner Beschreibung den Nagel auf 12 den Kopf. Auch heute noch sind diese von ihm genannten Symptome zwei der wichtigsten, wenn es darum geht, die Diagnose einer Borderline-Störung zu stellen. »Grenzfälle« Zu »Grenzfällen« wurden jene Patienten jedoch erst zwei Jahrhunderte später. Erst kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts tauchte der Begriff »Borderland« in der Psychiatrie auf. 1884 prägte ihn der Psychiater C. H. Hughes für ein »Grenzland« zwischen »geisteskrank« und »noch nicht geisteskrank«, also für Randphänomene im Grenzbereich zu schizophrenen Störungen. Borderline – was soll das heißen? Die Karriere des Begriffs Borderline begann 1938. Der amerikanische Psychoanalytiker Adolph Stern führte ihn mit seiner Schrift über die »borderline group of neuroses« innerhalb der Psychoanalyse ein, nachdem es dort schon seit einiger Zeit recht präzise Beschreibungen dieser Störung gab. Mit dem von Stern geprägten Begriff wurden diese Patienten psychoanalytisch nun zu »Grenzgängern«, deren Störung weder der Neurose noch der Psychose zuzuordnen war, während in der deutschen Psychiatrie die Störung weiterhin eher in den Randgebieten schizophrener Psychosen oder manisch-depressiver Erkrankungen angesiedelt wurde. »Borderline« als Verlegenheits­diagnose? In den folgenden Jahrzehnten wurde jedoch immer deutlicher, dass es tatsächlich eine große Zahl von Patienten gibt, auf die die bisherigen vorhandenen Diagnosen und Beschreibungen nicht passten. Für diese, die man nicht verstand und bei denen auch keine der üblichen Therapien anschlug, blieb die Dia­ gnose »Borderline« lange eine Verlegenheitsdiagnose. Erst in den fünfziger Jahren wurde mit dem Begriff »Borderline-Zustände« der Versuch unternommen, hinter der Vielzahl der unterschiedlichsten Symptome und Erscheinungsformen eine zugrunde liegende Störung zu definieren. Damit wurde eine erste Annäherung zwischen dem psychoanalytischen Verständnis und der psychiatrischen Klassifikation möglich. Aber es dauerte immer noch zwei Jahrzehnte, bis aus einer Restkategorie und Sammelbezeichnung für »schwierige« Patienten ein Begriff wurde, der tatsächlich seinen Platz in den medizinischen Lehrbüchern fand. Wie wird heute diagnostiziert? Ärzte, Psychotherapeuten und Wissenschaftler berufen sich heute entweder auf die Beschreibung des von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verbindlich vorgegebenen Klassifikationssystems, der »Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme«, kurz der »ICD-10« oder auf die Beschreibung der Störung im »Diagnostischen and statistischen Manual psychischer Störungen« der American Psychiatric Association (APA) kurz im »DSM« und zwar nach der aktuellen vierten Auflage, dem »DSM-IV«, das als wichtiges Standardwerk zur Diagnose psychiatrischer Erkrankungen gilt. Mit diesen beiden Beschreibungen ist die Geschichte der Krankheit – oder vielmehr – die Geschichte ihres Verständnisses aber nicht zu Ende. Beflügelt durch den enormen wissenschaftlichen Fortschritt der letzten 20 Jahre hofften viele Psychiater auf eine Verbesserung der Diagnosekriterien durch neurowissenschaftliche und genetische Funde, die bisher in beiden Klassifikationssystemen noch nicht berücksichtigt wurden. Diese Hoffnung hat sich aber bislang nicht erfüllt, da es bisher nicht gelungen ist, eindeutige neurobiologische und genetische Merkmale zu identifizieren, die die Borderline-Störung von anderen psychischen Störungen unterscheiden. Änderungen wird es aber dennoch geben – und zwar im ICD-11 und im DSM-V, an denen seit einigen Jahren gearbeitet wird und deren Erscheinen für die nächsten Jahre angekündigt ist. Bis dahin jedoch beziehen wir uns auf die gegenwärtig übliche medizinische Einteilung. 13 Was ist los mit mir? Borderline-Störung nach ICD-10 Hier wird die Borderline-Störung als eine Form der »emotional instabilen Persönlichkeitsstörung« beschrieben. Menschen, auf die diese ICD-10-Diagnose zutrifft, leiden unter starken Stimmungsschwankungen und wechselnden Gefühlszuständen, die auch ihr Verhalten prägen. Sie haben, so beschreibt es die ICD-10, eine deutliche Tendenz, impulsiv zu handeln, ohne dabei mögliche Folgen und Konsequenzen zu berücksichtigen. Beim Ausbruch großen Ärgers und starker Wut, deren Kontrolle Betroffenen sehr schwerfällt, kann ihre Unfähigkeit, sich zu beherrschen und ihre eigenen Impulse zu kontrollieren, auch zu aggressiven Handlungen gegen andere, aber auch gegen sich selbst führen. Leiden Menschen zusätzlich zu dieser Impulsivität und der Schwierigkeit, diese zu kontrollieren, an einer Störung des eigenen Selbstbilds, spricht man im ICD-10 von einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus. Borderline-Störung nach DSM-IV Im DSM-IV wird die Borderline-Störung erst einmal ziemlich knapp als »ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität« beschrieben. Zur Erläuterung wird dann noch ein Bündel von neun Symptomen genannt, unter denen Betroffene leiden können: 1. Verzweifelte Versuche, nicht allein sein zu müssen und reale oder auch nur eingebildete Trennungen zu verhindern. 2. Intensive, aber instabile zwischenmenschliche Beziehungen, in denen sich Bewunderung und Abwertung oder gar Hass abwechseln. 3. Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes und der Selbstwahrnehmung. 14 4. Starke Impulsivität mit der Tendenz, Impulse »ohne Rücksicht auf Verluste« auszuleben. 5. Wiederholte Drohungen, Andeutungen oder Versuche, sich umzubringen, oder Selbstverletzungen. 6. Auffallende Unausgeglichenheit und Instabilität in der Stimmung. Häufige depressive Stimmungen, Angst und Reizbarkeit, die jedoch oft nur Stunden oder höchstens einige Tage anhalten. 7. Häufiges und lang anhaltendes Gefühl der Leere oder Langeweile. 8. Unangemessene und starke Wut und die Unfähigkeit, diese zu beherrschen. 9. Phasen des Misstrauens, das sogar jeden Bezug zur Realität verlieren kann. In Krisensituationen kann es vorübergehend ganz zu einem »Abschalten« kommen. Der eigene Körper oder die umgebende Realität wird als fremd, verändert erlebt. Ein »schwieriger« Begriff für eine schwierige Störung Die lange Geschichte der begrifflichen Klärung legt einen Verdacht nahe: Die eine unverwechselbare Borderline-Störung mit den immergleichen typischen Symptomen gibt es nicht. Eine Borderline-Störung ist vielgestaltig – ebenso wie die Versuche, sie zu beschreiben, zu klassifizieren und zu definieren. Ihre Spannbreite reicht von einer Persönlichkeitsstruktur bis hin zur manifesten Störung mit all den Symptomen, unter denen Borderliner leiden. Deshalb verliert sich auch heute noch jeder, der sich in der aktuellen Literatur zum Thema zurechtfinden möchte, in einem Irrgarten verschiedenster Begriffe und Bedeutungen. Diese werden zudem leider oft wie Synonyme verwendet, was dem Problem und den Betroffenen nicht gerecht wird. Unterschieden werden müssen mindestens drei Begriffe, die sich auf verschiedene Sachverhalte beziehen. Borderline – was soll das heißen? Borderline-Syndrom: Dieser Begriff bezieht sich auf die typischen Krankheitszeichen, die typischen Symptome, die regelhaft in Verbindung miteinander auftreten, also ein »Syndrom« bilden. Borderline-Persönlichkeit oder BorderlinePersönlichkeitsorganisation: Dieser Begriff beschreibt gleichbleibende Strukturmerkmale eines Individuums, seine Persönlichkeit und meint nicht notwendig gleich eine Störung oder Krankheit. Borderline-Zustand: Dieser Begriff steht für eine Krankheitsepisode, während der sich die Borderline-Persönlichkeit auf die ihr typische Weise entwickelt. Der Borderline-Zustand wird ausgelöst durch äußere und innere Belastungen, die der Betroffene nicht ausgleichen, nicht mehr »kompensieren« kann. Wolfgang »Ich werde wütend und mache jeden an« »Was ich am wenigsten an mir leiden kann, sind meine Stimmungsschwankungen. Ich selbst kann mich nicht auf mich verlassen, kann nicht mit mir rechnen. Zum Beispiel kann ich ganz gut gelaunt nach Hause kommen, will meiner Freundin was erzählen, und sie hört nicht zu. Da raste ich aus! Entweder ich brülle, mache sie fertig oder ich geh’ gleich wieder und muss erst einmal Frust ablassen. Nachher tut’s mir leid – ich hab’ doch gesehen, dass sie gerade den Braten aus dem Backofen geholt hat und sich darauf konzent­rieren musste! Oder ich gehe einkaufen und einer drängelt sich vor oder die Verkäuferin an der Fleisch­ theke beachtet mich nicht gleich, dann fühle ich mich wie damals, als meine Mutter immer nur die anderen Geschwister angeguckt hat, ich war immer irgendwie Luft für sie. – Also, entweder werde ich wütend und mache jeden an, der mir in die Quere kommt, oder ich muss raus aus dem Geschäft und der Tag ist gelaufen …« █ Die neun Symptome im Einzelnen Da sich die Verfasser des DSM-IV in den Erläuterungen um eine sehr viel ausführlichere Beschreibung des Leidens bemüht haben, nehmen wir diese nun auch als Grundlage unserer Beschreibung: 1. Verzweifelte Versuche, nicht allein sein zu müssen Menschen mit einer Borderline-Störung – im Folgenden kurz »Borderliner« – können nicht allein sein und erleben deshalb in allen Be- ziehungen große Angst, verlassen zu werden. Diese Angst kann ausgelöst werden durch nichtige Anlässe, zum Beispiel einen verspäteten Anruf, eine Absage einer Verabredung oder einen Streit um Kleinigkeiten. Schwierig für alle Beteiligten wird, dass für Borderliner oft schon einfache Abwesenheit gefühlsmäßig zu endgültiger Verlassenheit wird. Die Angst vor diesem endgültigen Verlassenwerden ist Ursache vieler Probleme im zwischenmenschlichen Bereich. Zum Beispiel macht sie das Bedürfnis, den Partner »unter 15