Ursachen und Entstehungsbedingungen FT 2017 Teil 2

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Sucht und Abhängigkeit - Ursachen und
Entstehungsbedingungen
Prof. Dr. Marion Klein
Fachhochschule Clara Hoffbauer Potsdam
FT 2017
Soziologische Erklärungsansätze
Einfluss gesellschaftlicher und lebensweltlicher Bedingungen auf
Ursachen des Suchtverhaltens, des Drogengebrauchs und der
Drogenabhängigkeit
1. Konsumverhalten / Sucht / Abhängigkeit als soziale
Konstruktion
2. Soziale Einflüsse
3. Risikofaktoren aus soziologischer Sicht
Konsumverhalten / Sucht / Abhängigkeit als soziale
Konstruktion
• Wie geht Gesellschaft mit Sucht / Abhängigkeit / Konsum
um?
• Gesetzgebung / Diskurs / Intervention
• Wie wird Suchtmittelkonsum in der Gesellschaft konstruiert?
• Krankheit, moralisches Fehlverhalten, Folge von Armut und
Sozialisationsdefiziten, risikobehafteter Lebensstil, kriminelles
Verhalten…
• Welche Bilder des / der Süchtigen entstehen?
Bilder des Konsumenten / Süchtigen (Bsp.)
• „Ein Säufer war jemand, der stets aufs Neue denselben Fehler beging,
nämlich am Gelage teilzunehmen – er war lasterhaft, dumm,
uneinsichtig, aber keinesfalls krank“ (Spode 1993 über „den Säufer“ im
Mittelalter und der frühen Neuzeit).
• Keup (Leiter der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, 1974) über
Drogenkonsumenten: „Ich-Zentriertheit, Schwierigkeiten, sich
einzuordnen, kaum gezügelte Anspruchshaltung und das Verlangen
nach Sofortbefriedigung, infantiles Trotzen und primitive Genussfreude
erinnern in ihrer Kombination nicht selten an das Kleinkindalter. Selbst
eine Betonung der Oralität ist unverkennbar.“
• „Drogenkonsum stellt für einen Teil der Drogengebraucher_innen eine
(zumindest zeitweise) erfolgreiche Bewältigungsstrategie dar (z.B.
schwere soziale Belastungen, spezifische Traumata).
Drogengebraucher_innen sind mündige, zur Selbstverantwortung und
Selbstbestimmung fähige Menschen und haben ein Recht auf
Autonomie.“ (aus den Grundsätzen der akzeptierenden Drogenarbeit)
Umgang in der Gesellschaft (Bsp.)
• 19. Jahrhundert (Beginn der Industrialisierung): „In vielen Fabriken
wurde den Arbeitern während des 12- bis 15stündigen Arbeitstages
kostenlos Schnaps geboten, damit sie die Arbeitsleistung überhaupt
durchhielten.“ (Ladewig 2002: 16)
• „Die Verabreichung von Schmerztabletten an Frauen in der
Uhrenindustrie, bei denen im Zusammenhang mit den
stundenlangen feinmechanischen Arbeiten häufig Kopfschmerzen
auftraten, ist ein Phänomen, das sich bis in die 50er Jahre dieses
Jahrhunderts weiterverfolgen lässt“ (ebd.)
• Mäßigkeitsbewegung / Abstinenzbewegung (Ende des 19. und
Anfang des 20. Jahrhunderts):
• „Armut, Kriminalität, Slums, geschäftliche Misserfolge und
persönlicher Ruin waren im Denken der Mäßigkeitsbewegung keine
Folge struktureller und organisatorischer Art der Fehlentwicklung von
Wirtschaft und Gesellschaft, sondern von Alkohol. Alkohol war der
Sündenbock im klassischen Sinne des Wortes: Ein Opfer, das
gerichtet werden musste, um die Gesellschaft von ihren Hauptleiden
und Problemen zu befreien. Amerika würde gesund sein, wenn die
Nation völlig abstinent wäre“ (Levine 1982: 243).
Soziale Einflüsse
• Soziale Herkunft und Schule
• bei Erwachsenen soziale Herkunft eng verknüpft mit
Gesundheitszustand
• Suchtverhalten von Kindern / Jugendlichen: schwacher Einfluss
von Bildungsstatus und Wohlstand der Eltern (etwas erhöht:
mehr Starktabakkonsumenten bei „ärmeren“ Jugendlichen)
• Besuchter Schultyp schlägt sich sehr viel stärker nieder als soziale
Herkunft (außer bei Cannabiskonsum)
•
Lebens- und Wohnverhältnisse
• Studien USA: signifikant mehr Internatsschüler_innen rauchen
• Höherer Substanzkonsum bei Jugendlichen, die bestimmte
Freizeitaktivitäten bevorzugen (Clique, Kneipe, Diskothek)
Soziale Einflüsse
• Verfügbarkeit und Zugang
• Biener et al. 1998: Zshg. zwischen niedrigen Preisen sowie leichtem
Zugang und vermehrtem Konsum
• Chaloupka 1999: stärkere Besteuerung als eine der effektivsten
Maßnahmen
• Einführung strenger schulischer Regeln zum Rauchen führt nicht
zwangsläufig zu Verringerung des Tabakkonsums, reduziert aber
Bereitschaft, mit Rauchen zu beginnen
• Werbung und Medien
• Direkte Produktwerbung, indirekte Werbung, Gratisproben,
Werbegeschenke
• Jugendliche rauchen bevorzugt Zigarettenmarken, die am meisten
beworben werden
• Werbung reduziert Wahrnehmung der Schädlichkeit des
Substanzkonsums und erzeugt Atmosphäre, in der Substanzkonsum
als „normales“ Alltagsverhalten angesehen wird (DiFranza et al.)
• Geplantes Tabakwerbeverbot ab 2020
Risikofaktoren aus soziologischer Sicht
• Allgemeine Schwierigkeiten des Einzelnen, sich in einer Gesellschaft
zurechtzufinden, in der soziale Risiken, wie etwa arbeitslos zu
werden, zunehmend individualisiert werden.
• Mangelnde Zukunftsperspektiven und Zukunftsängste vor allem im
Arbeits- und Ausbildungsbereich.
• Massive Verführung zu Suchtmittelkonsum durch entsprechende
Leitbilder und Werbung für Suchtmittel oder Schönheitsideale.
• Erlebnis- und Konsumorientierung
• Belastungen in Ausbildung, Arbeit, Freizeit
• „Peer-group Effekt“: Der erste Suchtmittelkonsum vollzieht sich in
der Regel nicht isoliert, sondern innerhalb einer Gruppe von
Gleichaltrigen.
• Familiäre Einflüsse: fehlerhafte Erziehungsstile (zu viele oder zu
wenige Grenzen, mangelnde Konsequenz), Vorbildverhalten,
Beziehungskrisen.
Psychologische Erklärungsansätze
• Psychoanalytische Ansätze
• Lerntheoretische Erklärungsmodelle
• Systemische Theorien
• stellen die Dynamik und die Beziehung zwischen den
Familienmitgliedern in den Mittelpunkt.
• Welche Mechanismen halten das Suchtverhalten zum
gegenwärtigen Zeitpunkt aufrecht bzw. verändern dieses?
Psychoanalytischer Ansatz
Ursache der Sucht wird in einer Störung der Persönlichkeitsentwicklung gesehen.
 „Schwere Traumatisierungen oder Mangelerfahrungen in der frühen
Kindheit können zu defizienten Strukturen führen (…) Die Analyse der
Ich-Funktionen wies aus tiefenpsychologischer Sicht bei
Suchtkranken ein Vorliegen von Abwehrmechanismen wie
Verleugnung, Abspaltung, Isolierung und Externalisierung auf“
(Ladeweig 2002: 41).
 Lüdecke et al. (2010): 70 bis 90 % der Suchtkranken haben schwere
Traumatisierungen erlitten


Komorbidität von psychischen Störungen und Suchterkrankungen

Suchtmittelmissbrauch als „Selbstmedikation“ zur Verringerung oder
Abschwächung von Flash-Backs durch Trigger

Suchtmittelmissbrauch als Mittel zur Stressbewältigung
Lerntheoretische Erklärungsmodelle
• Chronischer Substanzkonsum als verhaltenstheoretisches
Paradox?!
• „Massive aversive Folgen, die mit zeitlicher Verzögerung eintreten,
haben weniger verhaltenssteuernde Wirkung als minimale positive
oder negativ verstärkende Wirkungen, die unmittelbar auf ein
Verhalten folgen“ (Thomasius et al. 2009: 120)
• Grundprinzip lerntheoretischer Ansätze: Verhalten wird durch
Verstärkung erworben und aufrechterhalten
• Positiver Verstärker: positiv bewertete relative Veränderung
gegenüber dem Zustand vor dem Eintreten der Wirkung
• Negativer Verstärker: durch Substanzwirkung wird ein aversiver
Zustand beendet oder aufgeschoben
 Lernen
am Modell
 Substanzwirkungserwartungen
Psychosoziale Funktionen des Substanzkonsums im
Jugendalter
• Mehrzahl der Jugendlichen probiert den Konsum von Alkohol,
Tabak und Cannabis. Nur bei einem Teil der jugendlichen
Konsument_innen entwickelt sich über Experimentierstadium
hinaus regelmäßiger und gesteigerter Konsum.
• Jugendliche experimentieren mit neuen Rollen, probieren neue
Verhaltensweisen und Einstellungen aus
• Probleme oder ein Scheitern bei der Bewältigung der
Entwicklungsaufgaben können zu einer Zunahme bzw.
Verfestigung des Substanzkonsums führen
• Hurrelmann 2010: Drogenkonsum als ausweichende Form des
Problemverhaltens
• Funktion hinter Verhalten erkennen
Entwicklungsaufgaben und Funktionen des Substanzkonsums
Identitätsentwicklung
eigenes Wertesystem
entwickeln
Verselbständigung /
Ablösung von den Eltern
Aufbau von Freundschaften; Aufnahme
intimer Beziehungen
– Ausdruck persönlichen Stils
– Suche nach grenzüberschreitenden
Erfahrungen und Erlebnissen
– Geschlechtsspezifische Stilisierung
– Missachtung gesellschaftlicher Normen und
Konventionen
– Ausdruck sozialen Protests
– Unabhängigkeit von den Eltern demonstrieren
– Bewusste Verletzung elterlicher Kontrolle
– Missachtung elterlicher Erwartungen
– Erleichterung des Zugangs zu Peergruppen
– Kontaktaufnahme mit gegengeschlechtlichen
Peers
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