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Gesellschaftliche Dynamiken im Blick.
Autoreninterview mit Marcel Erlinghagen und Karsten Hank
Mit der Sozialstrukturanalyse werden gesellschaftliche Dynamiken erforscht. Die
beiden Autoren Professor Erlinghagen und Professor Hank berichten im
Autoreninterview aus einem spannenden Arbeitsgebiet…
Kann man verkürzt sagen: Die Gesellschaft hat sich verändert, also muss sich auch ihre
(Sozialstruktur-)Analyse ändern?
Jede Form der Sozialstrukturanalyse muss natürlich gesellschaftliche Dynamiken im Blick haben. Die
Sozialstrukturanalyse verändert sich aber so, wie sich die Soziologie insgesamt weiterentwickelt.
Während in der Nachkriegszeit zunächst systemtheoretische, also makrosoziologische
Theorieansätze dominiert haben, werden seit den 1980er Jahren zunehmend akteurszentrierte, also
eher mikrosoziologische Forschungsansätze verfolgt. Das hat auch etwas mit der Verfügbarkeit von
Daten zu tun, die es der empirischen Sozialforschung heute erlauben, individuelles Handeln und
gesellschaftliche Prozesse aus einer Mehrebenenperspektive heraus gemeinsam zu betrachten.
Die Prämisse der Neuen Sozialstrukturanalyse lautet: Gesellschaftliche Strukturen sind das Produkt
strukturierten individuellen Handelns – was bedeutet das? Können Sie ein Beispiel geben?
Wenn wir beobachten, dass Kinder, deren Eltern selbst niedrige Bildungsabschlüsse haben, eine
geringere Chance haben einen Hochschulabschluss zu erwerben als Kinder, deren Eltern Akademiker
sind, dann hat das, einerseits, etwas mit der institutionellen Ausgestaltung unseres Bildungssystems
zu tun, aber auch mit individuellen Bildungsentscheidungen, die systematisch mit dem sozialen
Hintergrund variieren. Im Aggregat ergibt sich aus diesen individuellen Handlungsentscheidungen
dann ein wichtiger Teil unserer Sozialstruktur, nämlich die Verteilung von Bildungsabschlüssen und
Chancen, etwa auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu sein.
Was passiert mit den Ergebnissen der Sozialstrukturanalyse? Was mache ich, wenn ich
herausgefunden habe, warum Raucher rauchen?
Raucher rauchen, weil sie rauchen möchten. Wenn ich aber weiß, dass mehr Menschen mit einem
niedrigen Bildungsabschluss rauchen, dass der Wunsch zu rauchen also weniger mit einer
genetischen Veranlagung als mit sozialen Merkmalen des Rauchers zu tun hat, kann ich
gesundheitspolitische Interventionen gezielter planen. In unserem Fall also mit besonderen AntiZigaretten-Kampagnen in Hauptschulen.
Inwiefern ist das Menschenbild für die Sozialstrukturanalyse wichtig?
Das Menschenbild ist für die Sozialstrukturanalyse insofern wichtig, als sich darin die wesentlichen
Annahmen darüber, wie Menschen entscheiden bzw. handeln widerspiegeln. Es geht dabei ja nicht
um eine moralische Bewertung, ob jemand ein guter oder ein schlechter Mensch ist, sondern darum,
ob Menschen im Wesentlichen normengesteuert agieren, oder z.B. eher auf ökonomische Anreize
reagieren. Im ersten Fall würde eine Anti-Raucher-Kampagne z.B. darauf hinweisen, dass Rauchen
nicht nur den Rauchern selbst, sondern auch den Passivrauchern schadet und den erwünschten
Effekt über eine soziale Ächtung eines solchermaßen antisozialen Verhaltens zu erreichen versuchen.
Sollten hingegen ökonomische Anreize eine größere Rolle spielen, wäre eine Erhöhung der
Tabaksteuer das Mittel der Wahl. Diese beiden idealtypischen Menschenbilder schließen sich in der
Praxis jedoch nicht aus, sondern sie ergänzen einander.
Als Begleiterscheinung Ihrer Arbeit erkennen Sie vermutlich früher als andere gesellschaftliche
Missstände und politischen Handlungsbedarf. Wie gehen Sie damit um? Bekommt man da nicht
Lust, sich selbst politisch zu engagieren? Sozialwissenschaftler an die Macht?
Schon Max Weber hat mit gutem Grund zwischen der „Wissenschaft als Beruf“ und der „Politik als
Beruf“ unterschieden. Es ist sicherlich eine wichtige Aufgabe der Sozialwissenschaften, die Politik
fachkundig zu beraten. Das heißt aber nicht, dass Sozialwissenschaftler automatisch die besseren
Politiker wären. Die Verantwortung für politische Entscheidungen können und sollten
Sozialwissenschaftler (ebenso wenig wie Verfassungsrichter) der Politik nicht abnehmen.
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