Haller Matthias/Ackermann Walter/Maas Peter „Customer Value in Versicherungswirtschaft und Financial Services“ in: Christian Belz/Thomas Bieger (Hrsg.) Customer-Value – Kundenvorteile schaffen Unternehmensvorteile, Verlag Thexis St. Gallen, 2004, S. 624 - 659 [email protected] 20 Customer Value in Versicherungswirtschaft und Financial Services von Matthias Haller, Peter Maas und Walter Ackermann Die Schaffung von Customer Value im Bereich von Versicherungswirtschaft und Financial Services kann auf verschiedene bekannte Konzepte aus Marketing und Strategischem Management aufbauen, setzt aber gleichsam die Berücksichtigung einer Reihe von Besonderheiten voraus. Ausgangpunkt des folgenden Beitrages sind diejenigen Aufgaben eines Unternehmens, welche sich im Rahmen einer konsequenten Kundenorientierung immer wieder von neuem stellen, wobei auf das bewährte Marketing-Konzept von Haller zurückgegriffen wird (Abschnitt 20.1). In der Folge werden die Entwicklungen hin zu integrierten Financial Services ergründet. Dem noch nicht abgeschlossenen Trend sollte im Zeichen von Customer Value und nach Börsen- und e-Business-Hype wieder vermehrt Beachtung geschenkt werden (Abschnitt 20.2). Aus Sicht der Versicherer sind gerade vor diesem Hintergrund sowohl die Grundfunktionen als auch die erweiterten Funktionen zu klären, welche gegenüber Kundinnen und Kunden erbracht werden sollen (Abschnitt 20.3). Für die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen einem Unternehmen und seinen Kunden werden die Funktionen und Rollen, welche die Kunden selber gegenüber dem Unternehmen wahr nehmen, immer wichtiger. Die Ausführungen greifen die wichtigsten Erkenntnisse zu diesem Thema auf (Abschnitt 20.4). Im Anschluss daran werden auf Basis der derzeitigen Wettbewerbsentwicklungen (Abschnitt 20.5) die strategischen Grundfragen für die Wertschöpfung im Bereich Financial Services diskutiert. Abschliessend wird in Form eines Exkurses ein Einblick in den I.VW-Research Edge zum Thema ‚Customer Value‘ vermittelt und ein spezielles Modell für den Financial Services Bereich präsentiert. 20.1 Kundenorientierung – oder die Kunst, den Kunden zu verstehen Mit Customer Value als zentralen Orientierungspunkt unternehmerischen Handelns erlebt der Begriff der Kundenorientierung gewissermassen eine «Renaissance». Kundenorientierung bedeutet, dass Unternehmen bei der Konzipierung und Erstellung von Leistungen stets die Wünsche und Erwartungen ihrer Kunden berücksichtigen. Moderne Marketing-Konzepte zeigen auf, wie man durch entsprechende MarketingProzesse der Anforderung nach Kundenorientierung gerecht wird. Allen Marketing-Konzepten gemeinsam ist der Versuch, konsequent die Sichtweise der Kunden an den Anfang der Marketing-Prozesse zu stellen und dort zu verankern. Das im Folgenden vorgestellte Vorgehen orientiert sich am Marketing-Konzept von Haller (1986, 1999, 2000). Ausgehend von den Kundenbedürfnissen und Kundenerwartungen, stellt es die Funktionen in den Vordergrund, welche beim Kunden durch das Unternehmen erfüllt werden bzw. erfüllt werden sollten. Kundenbedürfnisse und Kundenwünsche an den Anfang stellen Ausgangpunkt des Marketing-Konzepts ist die Analyse der Kundenbedürfnisse (1a) und die Frage, welche Funktionen die eigene Leistung beim Kunden erfüllen könnte und erfüllen sollte (1b). Danach steht die Leistungskonzipierung im Vordergrund, welche konsequent nach adäquaten Problemlösungen für den Kunden sucht (2 Problemorientierung), und erst im dritten Schritt geht es um die Leistungserstellung (3 Produktion und Verwaltung). Kundenorientierung als Konzept besagt nun zudem, dass der MarketingProzess nicht mit der Leistungserstellung endet, sondern zirkulär immer wieder von vorne beginnt. Kundenorientierung heisst damit dauernde Anpassung und Änderung, um verbesserte Problemlösungen für Kundinnen und Kunden zu erreichen. 1 2b Welche Dienstleistung 2 Problemorientierung 1a Welches Grundbedürfnis? 3 Produktion/ Verwaltung 2a Welches Produkt 1b Welche Funktion können wir dabei erfüllen? 3 Produktion/ Verwaltung zur optimalen Erfüllung von 1 und 2 2 Welche Marktleistung benötigt der Kunde, um sein Problem zu lösen? Kunde 1 Kundenbezogenheit Abbildung 20.1: Marketing-Konzept – der Kunde im Fokus (Haller 2000, S. 274) Der Kunde wird damit zum Dreh- und Angelpunkt des Marketing-Prozesses. Da sich auf vielen Märkten – und gerade in den traditionellen Branchen – die Leistungen der Unternehmen immer mehr angeglichen haben und grosse ”Innovationssprünge” selten geworden sind, können bereits kleine Verbesserungen der Leistungen für Kunden von grossem Wert sein. Doch wie finden wir diese kleinen Feinheiten, welche Kunden wertschätzen? Richtig verstandene Kundenorientierung ist heute keine leichte Aufgabe mehr, sondern eher eine Kunst – die Kunst, den Kunden zu verstehen. Der Analyse von Bedürfnissen, Kundenwünschen, Motiven und Kundenfunktionen kommt dabei eine erhöhte Bedeutung zu. Analyse von Bedürfnissen und Kundenwünschen Die Begriffe Bedürfnis und Wunsch stehen auf den konkreten Fall bezogen immer in direkter Abhängigkeit zueinander: Während ein Bedürfnis den Ausdruck eines empfundenen Mangels beschreibt, wird unter einem Wunsch das Verlangen nach konkreter Befriedigung von einem Bedürfnis – also des empfundenen Mangels – verstanden. Ist die Gesamtheit der Bedürfnisse gering und relativ konstant, so erscheinen Wünsche von Fall zu Fall und je nach Zeitpunkt unterschiedlich. Sie gestalten sich über die Zeit durch das Einwirken von gesellschaftlichen Einflusskräften und Institutionen (Kotler 1995, S. 8). Bedürfnisse sind zwar in ihren Ausprägungen konstant, gleichsam sind sie aber auch sehr abstrakt und generell, und ihre Verbindung zu möglichen Kundenwünschen ist nicht selten diffus. Den Kunden richtig verstehen heisst aber, dass unter anderem auch diese wichtigen Zusammenhänge zwischen Bedürfnissen und Kundenwünschen geklärt werden. Ein besseres Verständnis von Bedürfnissen und Kundenwünschen kann durch den Einbezug der Erkenntnisse und die Anwendung der Kundenverhaltensforschung erreicht werden. Diese arbeitet mit psychologischen und sozialpsychologischen Konstrukten der Emotionen, der Triebe, der Motivationen, der Motive und der Werte. In Anlehnung an Kroeber-Riel/Weinberg (1999) werden unter Emotionen innere Erregungen verstanden, die angenehm oder unangenehm, mehr oder weniger bewusst empfunden werden. Beispiele dazu sind Angst, Glück, Eifersucht, Sympathie oder auch Sicherheit. Triebe sind grundlegende Antriebskräfte, die beim Menschen biologisch verankert sind, wie Hunger, Durst oder Sexualität. Wie die Beispiele zeigen, sind beide Konstrukte mit dem Begriff Bedürfnis verwandt bzw. überschneiden sich mit diesem. Werden Emotionen oder Triebe verbunden mit einer bestimmten Zielausrichtung (etwa dem Wunsch ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen), entsteht Motivation, welche das Handeln des Menschen zu erklären versucht. Die Begriffe Motive und Werte sind sich inhaltlich sehr nahe. Sie beschreiben latente, dauernd vorhandene Dispositionen, bestimmte wünschenswerte Dinge zu tun bzw. nicht wünschenswerte Akte zu unterlassen. Damit sind sie, wie die Motivation, direkt verhaltenswirksam, aber im Gegensatz zu dieser nicht auf eine konkrete Situation bezogen (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg 1999, S. 53ff.). Um Kundinnen und Kunden wirklich zu verstehen, sind Unternehmen dazu angehalten, vermehrt die tiefer liegenden Ursachen des Kundenverhaltens zu untersuchen. Die Möglichkeiten der Kundenverhaltensforschung sind noch stärker in die Marketing-Prozesse zu integrieren. Insbesondere gilt es, auch qualitative Forschung (z.B. Einstellungs- und Motivforschung) einzusetzen (vgl. Fallbeispiel Psychonomics AG). 2 Fallbeispiel: psychonomics AG, Köln www.psychonomics.de Psychonomics (entstanden aus psychology/economics) wurde 1991 von Mitarbeitern der Universität zu Köln gegründet und im Jahre 2001 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. In den letzten Jahren gehörte das Unternehmen jeweils zu den wachstumsstärksten seiner Branche. Ein interdisziplinäres Team aus über 50 Ökonomen, Psychologen und Sozialwissenschaftern liefert heute verlässliche Planungsgrundlagen in den Bereichen Marktforschung, Organisationsforschung und Beratung. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt im Bereich der Assekuranz, wo langjährigen Datenreihen verwendet werden. Die Philosophie von psychonomics AG lautet: "sehen - verstehen - handeln". Die psychonomics AG geht davon aus, dass es im Wesentlichen Menschen und deren Wünsche, Motive, Emotionen, Fähigkeiten, Ideen und Entscheidungen sind, die Märkte und Unternehmen ausmachen. Nur wer die zu Grunde liegenden Prozesse versteht, kann somit auch überzeugend planen, effektiv handeln und lebendig kommunizieren. Die psychonomics AG stellt den Menschen in seiner Komplexität in das Zentrum der Betrachtung und zeigt somit den Unternehmen, welche konkreten Möglichkeiten und Entwicklungschancen sie im Markt haben und hilft ihnen bei der Einführung und Umsetzung innovativer Produkte und Geschäftsstrategien. Das Unternehmen nennt seine Art der Marktforschung "Intelligente Marktforschung" und "Verstehende Marktforschung". Es geht dabei um eine inhaltlich und methodisch Ermittlung von Marktpotenzialen und relevanten Zielgruppen, d. h. in den einzelnen Märkten um ein tieferes Verständnis von Kunden, Zusammenhängen und Motivstrukturen sowie um die fundierte Ableitung konkreter Massnahmen in den Bereichen Marketing, Vertrieb, Produktentwicklung, Kommunikation und Strategie. Ziel ist es, den Auftraggebern zu ermöglichen, die Zukunft ihrer Unternehmen im Markt aktiv und wirksam zu gestalten. In der Organisationsforschung gilt für sie: "Stärke nach innen - Stärke im Markt!" Die Stärke von Unternehmen im Markt und ihre Fähigkeit, Herausforderungen der Zukunft aktiv und erfolgreich zu bewältigen, wird wesentlich von der Stärke im Inneren und der Leistungskraft, Leistungsbereitschaft und Zufriedenheit ihrer Mitarbeiter beeinflusst. Im Rahmen der Organisationsforschung und der Mitarbeiterbefragungen von psychonomics geht es um ein tieferes Verständnis der Mitarbeiter, der Organisationsbereiche und des Gesamtunternehmens, um somit konkrete Massnahmen für die Bereiche Personal und Organisation abzuleiten. Der letzte Punkt im Leistungsspektrum von psychonomics stellt die Strategie- und Umsetzungsberatung dar. Die aus der Marktforschung resultierenden Ergebnisse werden von diesem Bereich systematisch aufgegriffen: Zielführende Massnahmen werden praxisorientiert entwickelt und mit den Kunden gemeinsam umgesetzt. Abbildung 20.2: Fallbeispiel psychonomics AG Über Funktionen-Denken die Kundenperspektive im Marketing integrieren Der Analyse der grundlegenden Bedürfnisse und Wünsche von Kunden folgt gemäss dem skizzierten Marketing-Konzept die Analyse der Funktionen, welche durch die Leistung beim Kunden erfüllt werden bzw. erfüllt werden sollten. Als Arbeitsinstrument eignet sich dazu die Methodik des Funktionen-Denkens (Haller 1986, 1999, 2000), welche in diesem Buch zu einem eigenständigen Ansatz für Customer Value weiterentwickelt wurde (vgl. dazu Kapitel 24, S. ”Funktionen-Ansatz”). Der Ansatz soll hier in seinen Grundzügen kurz erläutert werden; für die Vertiefung sei auf das erwähnte Buchkapitel verwiesen. Unter Funktionen werden ganz generell Wirkungen verstanden, welche ein System A bei einem System B auslöst. Angewendet auf die für das Marketing relevante Beziehung zwischen einem Unternehmen und dessen Kunde, bildet das anbietende Unternehmen in der Regel das System A, während die Kundin oder der Kunde das System B bildet. Funktionen-Denken bedeutet nun, diese Wirkungen zu ergründen und anschliessend die Konsequenzen für das Unternehmen abzuleiten. Bei der Analyse von Funktionen können verschiedene Eigenschafts3 ausprägungen von Funktionen unterschieden werden. Bei einer einzelnen Funktion sind gleichzeitig folgende Ausprägungen möglich: 1) psychologisch-sozial und/oder technisch-real und/oder ökonomisch-finanziell. – Die Ausprägungsformen beschreiben die ”inhaltlichen Dimensionen”, welche Funktionen einnehmen können. Die dahinter stehende Frage lautet: In welcher Dimension empfinden Kunden die Wirkungen, die Funktionen? 2) direkt oder indirekt. – Diese Ausprägungsarten nehmen darauf Bezug, dass Funktionen nicht nur durch die direkte Beziehung zwischen Kunde und Unternehmen beim Kunden entstehen, sondern auch indirekt, über erweiterte Bezugsebenen entstehen, wie z.B. über andere Kunden, Konkurrenzunternehmen, Communities oder öffentliche Organisationen. 3) bewusst oder unbewusst. – Unternehmen wie auch Kunden sind sich der konkreten Funktionen nicht unbedingt bewusst. Unbewusste Funktionen sind schwieriger zu erkennen, können aber für die KundenAnbieter-Beziehung von grosser Bedeutung sein. 4) negativ oder positiv. – Funktionen können sowohl positiv als auch negativ sein. Gerade negative Funktionen werden von Unternehmen oft zu wenig berücksichtigt. Funktionen sind damit sehr stark von der Wahrnehmung und der Interpretation des einzelnen Kunden abhängig. Welche Funktionen ein Unternehmen im konkreten Fall bei einem Kunden erfüllt, bestimmt letztlich dieser Kunde selber. Für die Unternehmen wiederum heisst dies, dass sie zwar Leistungen mit bestimmten Funktionen konzipieren können, diese Funktionen werden jedoch nicht unbedingt jenen Funktionen entsprechen, welche Kundinnen und Kunden primär wahrnehmen werden. Wahrnehmung/ Interpretation Wahrnehmung/ Interpretation Funktionen A B Leistung Unternehmen Kunde Funktionen als Wirkungen, welche ein System A bei einem System B in verschiedenen Dimensionen auslöst, direkt oder indirekt, positiv oder negativ, bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt. Abbildung 20.3: Funktionen-Denken: Integration der Kundenperspektive Geht es nun im dritten Schritt, den wir entlang des Marketing-Prozesses betrachten wollen, um die problemorientierte Konzipierung von Leistungen, kann durch das Funktionen-Denken die Kundenperspektive konsequent berücksichtigt werden. Die Beschreibung der für das Marketing relevanten Funktionen ist in der Regel weit vielfältiger, als dies Unternehmen weitläufig und in ihren alltäglichen Beziehungen zu Kundinnen und Kunden wahrnehmen. Im Bereich der Versicherungswirtschaft und der Financial Services gewinnt die Funktionenorientierung eine besonders grosse Bedeutung: Während Bankgeschäfte primär den bewussten, kognitiven Funktionen zuzuordnen sind, berührt das Phänomen ”Versicherung” eine Vielzahl von emotionalen Komponenten. Daraus resultieren indirekte und unbewusste Funktionen (z.B. Verdrängung), welche vielfach mit negativen Aspekten verknüpft sind. Allein daraus ergeben sich vielfältige Anforderungen an die Verknüpfung der Leistungen aus beiden Bereichen. Der sehr begrenzte Erfolg von ”Allfinanz”-Konzepten ist zum grossen Teil auf Versäumnisse bei der Differenzierung der entsprechenden Leistungsgestaltung zurückzuführen. Eine vertiefte Funktionen-Analyse ist mit der 4 Chance verbunden, durch eine verstärkte Orientierung an den positiven Funktionen bzw. durch Vermeidung und Überwindung der negativen Funktionen das Leistungsangebot gezielt zu verbessern oder sogar Innovationen auszulösen. Zur Analyse und Konzeption von Leistungen als hilfreich erwiesen hat sich das 3Ebenen-Konzept (Haller 1986, 1999, 2000). Das ”Produkt” aus Kundensicht Das 3-Ebenen-Konzept – auch erweitertes ”Produkt”-Konzept genannt – teilt die Marktleistung des anbietenden Unternehmens in drei Produktebenen auf. Während Ebene 1 einzig aus dem Kernprodukt besteht und für die beim Kunden erfüllten Funktionen nur zu einem Teil verantwortlich ist, werden auf den Ebenen 2 (Kernfunktionen) und 3 (erweiterte Funktionen) mit Blick auf die umfassende Kundenbeziehung die Hauptwirkungen erzielt. Es sind gerade die erweiterten Funktionen dieser Ebenen (z.B. erfüllt durch spezielle Service-Leistungen über die Zeit), welche das ”Produkt” aus Kundensicht letztlich ausmachen. soziale/psychologische Dimension technische/ökonomische Dimension Ebene 3 2 KernMarktleistung 3 Erweiterte Leistungen (andere Ebene 2 Funktionen) KernFunktion Ebene 1 1 KernProdukt (Versicherungsschutz) Dienstleistungen rund um die Problemlösung c M. Haller 1995 MH084RS.GRF Abbildung 20.4: Erweiterter Produkt-Begriff (nach Haller 2000, S. 282) Stellt man diese Vorstellung des ”Produkts” dem traditionellen Denken in den Unternehmen entgegen, ergeben sich widersprüchliche Sichtweisen: Unternehmungen neigen dazu, ihre Leistungen von ”innen” nach ”aussen” (von Ebene 1 zu Ebene 3) zu konzipieren, während Kundinnen und Kunden dagegen die Leistungen primär von ”aussen” nach ”innen” erleben und bewerten. Kunden rücken die Kundenbeziehung in den Vordergrund und ein mangelloses Kernprodukt wird von ihnen als Selbstverständlichkeit eingeschätzt. Damit einher geht auch die Feststellung, dass Unternehmen vielfach allein die rein sachlichrationalen Leistungsbestandteile (Funktionen der technisch-ökonomischen Dimension) konzipieren und die Leistungsbestandteile, welche mit der Interaktion und der Kundenbeziehung verbunden sind (Funktionen der psychologisch-sozialen Dimension) und deshalb für Kunden sehr bedeutsam sind, nicht selten vernachlässigen. 5 20.2 Von der Ver-Sicherung zu Financial Services Bis in die siebziger und in den frühen achtziger Jahren werden Versicherungs- und Bankdienstleistungen fast durchwegs autonom angeboten. Erst die Gründung von eigentlichen Finanzkonglomeraten in den USA führt dazu, der Verknüpfung von Leistungen aus beiden Bereichen vermehrt Beachtung zu schenken und sie in der Form von ”Finanzdienstleistungen” (Financial Services) systematisch zu konzipieren. Insbesondere wird in jenen Jahren erstmals die Möglichkeit der Substitution zwischen Bank und Versicherung wahrgenommen, z.B. im Bereich des Vorsorgesparens und der Kapitalanlage (Haller 1999, S. 11 ff. ) Die Nähe zwischen den beiden Branchen ergibt sich schon daraus, dass zwischen ihnen eine Reihe von Gemeinsamkeiten besteht, so u.a. − − − − − − − die Abwicklung von Finanzgeschäften die Tätigkeit im Dienstleistungsgewerbe der Massengeschäftscharakter die Wirkung als Kapitalsammelbecken das Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit die Bedeutung des Vorsorgegedankens die staatliche Beaufsichtigung Führte diese Einsicht in einer ersten Phase zu einem Bedürfnis nach klarer Trennung und peinlicher Respektierung der vorhandenen (Produkt-)Grenzen, so hat das Funktionendenken im Marketing nach und nach eine Drucksituation zur Überschreitung der Grenzen bewirkt. Bis vor kurzem schien sich die Konkurrenz nur in bestimmten Feldern und bezüglich konkreter Produkte (insbesondere Sparen im Zusammenhang mit der sozialen Sicherung) zu vollziehen. Stellt man aber die Frage nach dem massgebenden Grundbedürfnis und nach den wahrgenommenen Funktionen, so wird deutlich, dass sich seit 1970 die Funktionenüberlappung schrittweise verstärkt hat und dass sich mit der Einführung des Marketing auch die Interpretation der einzelnen Finanzdienstleistungen verfeinert hat. So lassen sich (nebst anderen Konzeptionen) sechs wesentliche Teilfunktionen unterscheiden, welche – mit Blick auf Privatkunden – in verschiedener Intensität wahrgenommen und durch diverse Dienstleistungen unterstützt werden können: • • • Einnehmen Ausgeben Vermögensbildung/Sparen über Löhne, Zinsen, Geschenke, Erbschaften etc.; für Lebensunterhalt, Investitionen, Ausbildung etc.; zwecks Vorsorge, Freiheit, Unabhängigkeit; Diese drei Grundfunktionen ziehen drei ergänzende Funktionen nach sich: • Anlegen Schützen • Verteilen • im Zusammenhang mit der Vermögensbildung; gegen Einkommensentgang, unerwartete Ausgaben, Vermögensverluste; Transaktionen im Zusammenhang mit Finanzen. Es fällt auf, dass sich die ”Belegung” der Funktionenfelder seit den siebziger Jahren merklich verschoben hat (vgl. Abbildung 20.5). Aus der Perspektive des Versicherers beschrieben, beschränkt sich dieser vorerst auf den Risikotransfer und stösst bloss mit dem Keil der finanziellen Vorsorge in den Sparbereich der Banken vor. Findet hier im Risk Management somit noch eine Konzentration auf das Insurance Management statt, erweitert sich der Funktionsbereich des Versicherers in der nächsten Phase auf alle güterlichen (Risk control) und finanziellen (Risk financing/captives) Schutzfunktionen. Die anschliessende Phase steht im Zeichen des ”Gegenzugs” der Banken: Sei es, dass sie Versicherungstöchter gründen, sei es, dass Allfinanzkonzerne geschaffen werden, stossen sie in den Funktionenbereich des ”Schützens” vor, während die Versicherer, wie bereits erwähnt, ihre Leistungen im Bereich der (nun integrierten) Financial Services nach Kundensegmenten arrondieren. 6 Abbildung 20.5: Verschiebung der Funktionenfelder - aus der Perspektive der Assekuranz Die Situation um die Jahrtausendwende ist vom Börsen- und e-Business-Hype sowie von einer generellen Übernahmeeuphorie überlagert. So fällt es schwer, diese Phase überhaupt noch unter dem Blickwinkel integrierter ”Financial Services” zu analysieren. Weder war manche Unternehmenszusammenführung unter dem Schlagwort ”Allfinanz” als sorgfältiger Prozess konzipiert noch konnte eine differenzierte Leistungsentwicklung Platz greifen, bis dann – in der Folge des Börsensturzes 2001 bis 2003 – der schiere Kapitalmangel und die drohende Unterdeckung der eingegangen Verpflichtungen eine Reihe von Unternehmungen dazu zwang, die eingegangenen Verbindungen aufzulösen bzw. Kapitalbindungen durch Verkauf von Unternehmensteilen zu erleichtern. Mit der Lösung der dringlichsten Finanzprobleme ist seit 2004 erneut Gelegenheit geboten, auf die strategischen Grundfragen zurückzugreifen, die Kundenfunktionen neu zu interpretieren und – last but not least – den Stellenwert der Dienstleistungen von Versicherungen, Banken und anderen Finanzdienstleistern neu zu positionieren. So gibt das oft zitierte Stichwort ”Back-tothe roots” Anlass, die Grundfunktionen der Versicherung zunächst vertieft zu betrachten. 7 20.3 Die Funktionen der ”Ver-Sicherung” Welches sind nun konkret die Funktionen der Assekuranz ? Wie oben bereits erörtert, verkörpern die Funktionen des Risikotransfers und der Anlageaktivität die Kernfunktionen der Versicherung. In ihnen kommt – im Sinne des 3-Ebenen-Produktkonzepts – das Kernprodukt zum Ausdruck. Um aber tatsächlich der umfassenden Funktion des Ver-”Sicherns” gerecht zu werden, müssen auf der zweiten und auf der dritten Produktebene (Problemlösung und erweitete Dienstleistungen) all jene Aktivitäten zum Ausdruck kommen, welche letztlich neben der finanziellen Sicherung den Kundinnen und Kunden in umfassenderer Form ”Sicherheit” vermitteln. Konsequenterweise setzt deshalb die Begründung von Customer Value voraus, dass bei den Versicherern ein vertieftes Verständnis von ”Sicherheit” gegeben ist. Wunsch nach Sicherheit in risikobehafteten Lebenslagen Sicherheit kann allgemein definiert werden als erstrebenswerter Zustand, der sich durch die Abwesenheit von Gefahr kennzeichnet. Ursachen einer solchen Abwesenheit sind Schutz und Befestigung, Vertrauen, Gewissheit oder auch Zuverlässigkeit (Kaufmann 1973, S. 50). Sicherheit ist aber nicht nur ein objektiv feststellbarer Zustand, sondern auch ein Gefühl (bzw. eine Emotion). So fühlt sich sicher, wer keine Gefahr wahr nimmt oder glaubt, der Gefahr gewachsen zu sein. Sicher fühlt sich auch der entschlossene und gefestigte oder der von seinen Fähigkeiten überzeugte Mensch, weil er sich nicht durch Ungewissheit und Zweifel gefährdet sieht (Kaufmann 1973, S. 151). Für Sicherheit als Ganzes hat sich die Unterscheidung zwischen ”äusserer Sicherheit” und ”innerer Sicherheit” bewährt (vgl. Haller/Ackermann 1992, S. 5). Das Gefühl oder der Zustand der äusseren Sicherheit kommt zustande über verschiedene Schutzkomponenten, die Sicherheit von aussen her herbeiführen, wie z. B. die finanzielle Sicherheit und Vorsorge, die Verkehrssicherheit oder die Rechtssicherheit. Das Gefühl oder der Zustand der ”inneren Sicherheit” entsteht über Gefühle und Emotionen, welche ihrerseits sichernde Funktionen haben, wie z. B. Ordnung und Orientierung, das seelische Gleichgewicht oder das Gefühl von Schutz und Geborgenheit. Ist Ver-Sicherung ein System zur Sicherung, ergeben sich die zu lösenden Kundenprobleme aus der Abwesenheit von Sicherheit als Gefühl oder als Zustand. In den Vordergrund rücken damit die Konstrukte Verunsicherung, Unsicherheit und Risiko. Verunsicherung und Unsicherheit können synonym betrachtet werden, weshalb in der Folge nur noch vom Begriff der Unsicherheit gesprochen wird. Unsicherheit ist allgemein als Gegenpol zu Sicherheit zu verstehen. Dies heisst jedoch nicht, dass Unsicherheit nur negativ sein muss. Unsicherheit kann durchaus auch mit positiven Komponenten verbunden sein, wie etwa dem Reiz von neuen Erfahrungen oder der Herausforderung, mögliche Probleme zu meistern. Durch solche oder ähnliche innere Prozesse befindet sich der Mensch laufend auf einem Pfad zwischen negativer und positiver Unsicherheit auf der einen Seite und Sicherheit als Zustand auf der anderen Seite (so genannte ”Sicherheitsbilanz” vgl. Haller/Ackermann 1992, S. 8). Das Konstrukt Risiko kommt ins Spiel, wenn menschliches Denken, Planen und Handeln zum Tragen kommen und aufgrund eines Wahlakts Ziele angestrebt werden. ”Risiko” manifestiert sich dann durch die Möglichkeit, dass im Rahmen der Zielerreichungsprozesse – auf Grund von Erfolgs- wie Störgrössen – das Ergebnis von den im Vorfeld gebildeten Erwartungen (positiv wie negativ) abweicht (Haller 1999, S. 77 f.). Damit verbindet der RisikoBegriff Lebenssituationen des Kunden mit dem immerwährend vorhandenen Prozess der Unsicherheit, dem sich der Kunde ausgesetzt sieht. Damit legt ”Risiko” die Problemsituation von Kundinnen und Kunden offen und bildet für Versicherer den Anknüpfungspunkt und Grundstein für seine Funktion als VerSicherer. Emotionale Besonderheiten des Produkts ”Sicherheit” Zur Bestimmung der Funktionen eines Versicherers sind einige emotionale Besonderheiten des Produkts ”Sicherheit” zu beachten. Im Zentrum stehen dabei die Widersprüche zwischen den Motiven der Kunden, sich versichern zu lassen und den Fähigkeiten der Ver-Sicherers, diesen Motiven bzw. Ansprüchen gerecht zu werden. Basierend auf den Grundaussagen der Wiener Forschergemeinschaft rund um Arnold, Pesendorfer und Schwarz, welche die Motive der Versicherungsnehmer seit über 30 Jahren untersuchen, seien die wichtigsten Erkenntnisse dazu zusammengefasst (vgl. Pesendorfer 2003). Menschen haben gemäss Pesendorfer aus dem Durchleiden schmerzlicher Gefahrensituationen gelernt, Angst zu entwickeln, wenn neuerlich Gefahr droht. Diese Angst treibt sie, rechtzeitig etwas zur Abwendung 8 des Schadens zu tun. Die Versicherung nun ist insofern ein Geschäft mit der Angst, denn ohne Bewusstsein von Gefahr und ohne Angst vor der drohenden Hilflosigkeit im Schadenfall schliesst niemand eine Versicherung ab. Wenn Menschen Sicherheit wollen, wünschen sie sich gefühlsmässig die primäre Sicherheit, dass nämlich Schäden von ihnen abgewendet werden und erst in zweiter Linie, dass ihnen irgendwelche Schäden finanziell kompensiert werden (sekundäre Sicherheit). Daraus folgt, dass die Kunden – auf einer emotionalen Ebene – die Versicherung als Vorsichtsmassnahme erleben, die gegen einen Schicksalsschlag gerichtet ist: Ich lasse mich gegen Feuer versichern und hoffe, dass es nicht brennt – auch wenn ich rational weiss, dass die Versicherung nur die Folgen eines Unfalls mildern kann und dass dies nur möglich ist, weil andere eine Prämie bezahlt und keinen Unfall gehabt haben (Pesendorfer 2003, S. 2). Diese Motivdifferenz hat Folgen für die Gefühle, Emotionen, Einstellungen und Handlungen der Versicherungsnehmer (Abbildung 20.6). Primäre Gefahr Primärer Schaden Primäre Sicherheit Motivlage Drohendes Unheil, Krankheit, Tod… Eingetretene Krankheit, der Unfall, der Tod Sicher vor Gefahren, kann sorglos sein Unmittelbar und direkt betroffen, meist unbewusst, unversicherbar Sekundäre Gefahr Sekundärer Schaden Sekundäre Sicherheit Motivlage Angst vor Hilflosigkeit in der Bewältigung der Gefahr Materielle Folgen des Schadens, Hilflosigkeit in der Bewältigung des Schadens Finanziell gegenüber den materiellen Folgen eines Schadens abgesichert Mittelbar, "nur" die Finanziellen Folgen Betreffend, "rational", enttäuschend, aber versicherbar Abbildung 20.6: Was der Kunde "wirklich" will (Pesendorfer, 2003) Da die Motivlage der Menschen so ist, dass sie emotional etwas wollen, was es nicht gibt, selbst wenn sie es rational wissen, müssen sie früher oder später mit Enttäuschungen rechnen. Diese notwendigen EntTäuschungen befreien uns jedoch von einer (Selbst-)Täuschung, es gäbe wirklich Sicherheit, zudem helfen sie uns zu realisieren, dass wir uns besser mit Ersatz-Sicherheit und brauchbaren Kompensationen abfinden. Die Versicherung ihrerseits sollte darauf verzichten, die Illusion zu schüren, sie verkaufe Sicherheit. Sie sollte vielmehr durch seriöse Beratung das Bewusstsein der Menschen stärken, dass sie nur einen Teil ihrer Sorgen (die finanzielle Entschädigung im Schadenfall) an die Versicherung delegieren können. Denn versichern lassen sich nur die in Geld übersetzbaren Sicherheiten wie das Eigentum. Wer nicht nur weiss, sondern auch akzeptiert angesichts von Gefahr und Tod leben zu müssen, wird auch in Zeiten ohne Schaden den beschränkten Schutz geniessen und schätzen. Denn er hat zumindest finanziell vorgesorgt und muss sich nicht Tag und Nacht vor möglichen Unglücksfällen fürchten (Pesendorfer 2003, S. 4). Fazit: Hohe Bedeutung der ”Non-financials” Die vertiefte Auseinandersetzung mit Ver-Sicherung erlaubt es, den Dienstleistungen der Assekuranz im Rahmen der ”Financial Services” eine ganz spezifische Funktion zuzuordnen: Zum einen reiht sich die Versicherung in jene Dienstleistungen ein, welche sich mit Finanz-Leistungen rund um Kundinnen und Kunden gruppieren (in diesem ersten Sinne lässt sich Versicherung leicht in die umfassenden Finanzdienstleistungen einordnen.) Zum anderen aber verkörpert Ver-Sicherung stets auch den emotionalen Umgang mit Unsicherheit und Risiko, hat also mit psychischen und sozialen Faktoren umzugehen, welche sich deutlich von jenen der Bankgeschäfte unterscheiden. Solche ”Non-Financials” sind im Rahmen der Kundenbeziehung – und vor allem im Zusammenhang mit der Schadenabwicklung – derart zentral, dass oberflächlich integrierte Finanzdienstleistungen in vielen Fällen im Markt erfolglos blieben. ”Versicherung” ist somit nur zu einem Teil mit den übrigen Finanzdienstleistungen auf eine Reihe zu bringen: Umfassendes materielles Risiko-Management (im Industriegeschäft) und die ganze Palette von Betreuungsleistungen – so genanntes ”Care” – (im Privatkundengeschäft) weisen den nicht-finanziellen Dienstleistungen einen Stellenwert zu, mit dem sich der Versicherer deutlich profiliert (Abbildung 20.7). 9 (RM) Risiken optimieren herkömmliche Versicherung Care non-financials Versicherung Finanzen optimieren FDL Abbildung 20.7: Dienstleistungen mit "Versicherung": Die Bedeutung von "Non-financials" im Funktionenraum (Haller 2000, S. 293) 20.3 Die neuen Funktionen und Rollen der Kunden Der Wandel der Kundenbedürfnisse und des Kundenverhaltens geht einher mit einem sich verändernden Rollenverständnis der Kunden. So lässt sich der Kunde von heute nicht mehr auf seine Funktion als Konsument und Nachfrager reduzieren (vgl. für einen aktuellen Überblick: Maas/Graf 2004). Ausgelöst durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wird er immer mehr in die Lage versetzt bzw. er fordert geradezu im Zuge des gesellschaftlichen und technologischen Wandels, weitere Funktionen zu übernehmen. Übernahme neuer Funktionen durch den Kunden Insbesondere im Dienstleistungsbereich ergeben sich für die Kunden Möglichkeiten – sei es alleine oder in Form von Communities – sich verstärkt in die Wertschöpfung einzubringen und diese mitzugestalten. Gemäss Lehmann (2001) kann der Kunde folgende Funktionen übernehmen, die sowohl für ihn als auch für die Unternehmen neue Nutzenfelder generieren (Abbildung 20.8): 10 Nachfrager Marketingund Qualitätssicherungsresource Co-Produzent Kunde Substitute for Leadership Ertrags- und Kostenfaktor Abbildung 20.8: Funktionen von Kunden (in Anlehnung an Lehmann 2001, S. 93) Neben den traditionellen und aus Unternehmenssicht dominierenden Kunden-Funktionen – die des Nachfragers und des Ertags- und Kostenfaktors – können Kunden in ihrer Beziehung zu einem Unternehmen noch weitere Funktionen einnehmen, die für diese auch zunehmend an Bedeutung gewinnen: • Funktion ‚Co-Produzent‘: Die Beteiligung des Kunden am Leistungserstellungsprozess kann nach Aktivitäts- und Intensitätsgrad differenziert werden. Dies kann von einer fast vollständigen aktiven Eigenerstellung bis hin zur nahezu völlig passiven Bereitstellung von Informationen und Objekten zur Initialisierung von Leistungsprozessen reichen. Das individuelle Prosumer-Verhalten kann beispielsweise in Zurverfügungstellung von Zeit bestehen oder in Übernahme einzelner Teilbereiche des Leistungserstellungsprozesses. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Betriebssystem Linux, bei dem Kunden bzw. ganze Communities die Neu- und Weiterentwicklung der Software übernehmen und vorantreiben. • Funktion ‚Substitute for Leadership‘: Bei Dienstleistungsformen mit besonders intensiven und personenbezogenen Kontakten übernimmt der Kunde gegenüber Mitarbeitern – meist unbewusst – durch seine direkten Rückmeldungen aus der Kundeninteraktion die Rolle eines ”Substitute for Leadership”. Dadurch wird in vielen Situationen der unmittelbare Einfluss und das Verhalten des Vorgesetzten nahezu inexistent. Der Mitarbeiter richtet sein Verhalten stark auf die Kundenerwartungen aus. • Funktion ‚Marketing- und Qualitätssicherungsressource‘: Bestehende Kunden übernehmen eine wichtige Marketingfunktion, wenn sie durch persönliche Mund-zu-Mund-Kommunikation, basierend auf ihren konkreten (positiven oder negativen) Erfahrungen, die Erwartungsbildung potenzieller (Neu-) Kunden beeinflussen. So gehört z. B. die Internetseite von www.vault.com, auf der Mitarbeiter und Bewerber für eine neue Stelle ihre Meinung und Urteil über die jeweiligen Unternehmen abgeben, zu einer der meist besuchten Internetseiten in den USA, mit entsprechender Wirkung auf die bewerteten Unternehmen. Gleichzeitig können Kunden entscheidend zur Sicherung der Leistungsqualität beitragen, wenn ihre Kompetenz und Erfahrung vor, während und nach Abschluss der eigentlichen Dienstleistungsinteraktion genutzt wird, sei es durch das Miteinbeziehen von Lead-Usern oder der Möglichkeit von Feedback-Prozessen in Form von Beschwerde- und Kundenreklamations-Management. Diese erweiterten Kundenfunktionen haben zur Folge, dass Kunden immer stärker in die Rolle eines Partners von Unternehmen hinein wachsen und als solche auch gesehen und behandelt werden möchten. Kunden mit einem solchen Selbstverständnis gehen mit anderen, höheren Ansprüchen und Erwartungen auf Unternehmen zu, woraus sich für diese neue Herausforderungen, aber auch Chancen ergeben (Maas/Graf 2003). 11 Kunden-Evolution und -Transformation Als Folge der Erweiterung der Funktionen, welche Kunden gegenüber dem Unternehmen wahrnehmen können, muss das einem Geschäftsmodell zugrunde liegende Kundenbild ständig auf den Prüfstand gestellt, hinterfragt, angepasst und im Idealfall die zukünftigen Entwicklungen antizipieren. Durch die Erweiterung der Funktionen haben sich auch die Rollen, welche Kunden für ein Unternehmen einnehmen können oder einfordern, in den letzten Jahrzehnten entschieden gewandelt, wie Abbildung 20.9 verdeutlicht. Aus Unternehmenssicht hat sich der Kunde vom passiven Empfänger und Zuhörer zum aktiven Spieler, MitWertschöpfer oder gar Mit-Wettbewerber entwickelt, der völlig neue Erwartungen bzw. Anforderungen an die Interaktion und die Kommunikation mit den Unternehmen stellt. Dieser ”aktive” Kunde und die umfassende Beschleunigung und Innovationsdynamik der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien fordern die Unternehmen sowie ganze Branchen insbesondere im Dienstleistungsbereich, das Bild des Kunden ständig neu zu definieren. ...passive Empfänger/Zuhörer Überreden bestimmter Gruppen von Käufern Rolle des Kunden Haltung des Managements: Kunden als... Interaktion Kunde Unternehmen Kommunikation Kunden als... Austausch/Transaktion mit individuellen Käufern Lebenslange Bindung mit individuellen Käufern Passive Käufer mit definierter Konsumenten-Rolle ... aktive Spieler Gemeinsame W ertschöpfung mit Kunden Teil eines erweiterten Netzwerkes: - Mit-Entwickler - Mit-W ertschöpfer - Mit-Arbeiter - W ettbewerber Statistische Durchschnittsgrösse: Unternehmen definiert Gruppen Individuelle statistische Grösse in einer Transaktion Person: Aufbau von Beziehungen und Vertrauen Teil eines emergenten sozialen und kulturellen Gefüges Traditionelle Marktforschung und Produktentwicklung - Vom Verkauf zur Hilfe via Call Center, Help Desk etc. - Produktredesign aufgrund von Feedbacks - Vertiefte Analyse der Kunden-Bedürfnisse - Neue Problemlösungen Gemeinsame Rollen: - Einbringen persönlicher Erfahrungen - Lernen - Akzeptanz schaffen für Produkte/Services Einweg: - Zugang finden - Vorbestimmte Zielgruppen Zweiweg: DatabaseMarketing Zweiweg: RelationshipMarketing Aktiver Dialog: - Gemeinsame Erwartungsgestaltung - Zugang und Kommunikation auf allen Ebenen 1970 1980 1990 2000 Abbildung 20.9: Kunden-Evolution und -Transformation (Prahalad/Ramaswamy 2000, S. 80) 20.4 Konsolidierungsphasen deregulierter Finanzdienstleistungsmärkte und das Verhalten der Unternehmen Bevor im nächsten Abschnitt 20.5 die bisherigen Erkenntnisse auf die strategischen Grundfragen für die Wertschöpfung im Bereich der Financial Services angewandt werden, sollen zunächst die (beobachtbaren) Verhaltensweisen von Unternehmen Strategien entlang der Konsolidierungsphasen deregulierter Finanzdienstleistungsmärkte im Zentrum der Betrachtung stehen. Versicherungsmärkte haben sich in der Vergangenheit vor allem durch Stabilität und Kontinuität und weniger durch Dynamik und Innovationen ausgezeichnet. Das Bild einer Wirtschaftsbranche mit hoher Stabilität hat sich in den letzten Jahren indessen grundlegend verändert. Die Auslöser dieses Strukturwandels lassen sich mit den Schlagworten Deregulierung, Informations- und Kommunikationstechnologie, Druck der Kapitalmärkte, qualitative und quantitative Veränderung der Nachfrage sowie massive Zunahme der Wettbewerbsintensität zusammen fassen. Die Folgen zeigen sich u. a. in einem spürbaren Anstieg der Marktkonzentration, in fundamentalen Veränderungen im Bereich der Angebotsstrukturen oder auch in grundlegend neuen Marktleistungen und Methoden des Risikotransfers. 12 Im Rahmen des Deregulierungsprozesses lassen sich verschiedene Stufen des Wettbewerbs bzw. Phasen der Marktkonsolidierung erkennen (vgl. Abbildung 20.10): Bei einem anhaltenden Markt- und Konkurrenzdruck versuchen die Anbieter in einer zweiten Phase, sich mehrheitlich über lineare Produktinnovationen als kundenorientierte Problemlöser zu positionieren. Bei weiterhin steigenden Effizienzanforderungen sind zunehmend Strategien zur Fokussierung auf ertragreichere Wertschöpfungsschritte erkennbar. In einer nächsten Konsolidierungsphase der Märkte erfolgt der Versuch, über den Aufbau neuer Geschäftsmodelle einen neuen Marktzyklus zu begründen oder in einen ertragreicheren zu gelangen. statischer Wettbewerb dynamischer Wettbewerb HyperWettbewerb Der Wettbewerb setzt im Übergang von regulierten zu deregulierten Marktbedingungen zuerst auf der Service- und Qualitätsebene ein. Folglich reagiert die Mehrheit der Anbieter durch eine verstärkte Service- und Qualitätsorientierung. Wettbewerbsintensität PPhase III O ptimierung der Fer tigungstiefe neue W er tschöpfungsstrategie Phase IV innovative Geschäftsmodelle Phase II Lineare Produktinnovation tr aditionelle Wer tschöpfungsstrategie Phase I Ser vice- und Q ualitätsor ientier ung regulier te Märkte Er trag- / Gewinnpotentiale Abbildung 20.10: Strategien und Konsolidierungsphasen in deregulierten Finanzdienstleistungsmärkten (Ackermann 2001, S. 71) Diese Entwicklungslogik der Märkte lässt sich mit den I.VW-Forschungsergebnissen im Rahmen von ”Assekuranz 2000/A.2007” belegen. Dabei ergeben sich folgende Erkenntnisse: Die Mehrheit der Versicherungsunternehmen durchschreitet diese Entwicklungs- und Konsolidierungsphasen der Finanzdienstleistungsmärkte in der skizzierten Abfolge. Unternehmen, welche in der Lage waren (sind), besonders schnell zu reagieren bzw. einzelne Entwicklungsphasen zu überspringen, werden von den Kapitalmärkten tendenziell überdurchschnittlich belohnt (FirstMover-Effekt). Organisationen, welche nicht oder sehr verspätet auf die erhöhten Effizienzanforderungen reagieren, scheiden in der Regel aus. Die Unternehmen richten ihr Verhalten nicht ausschliesslich auf die Bedingungen einer Konsolidierungsphase aus. Vielmehr ist es so, dass Stärken und Fähigkeiten, die in einer Phase entwickelt wurden (z. B. eine Service- und Qualitätsorientierung), auch in einer nächsten Konsolidierungsphase beibehalten werden. Die strategische Ausrichtung der Unternehmen enthält 13 in der Regel jedoch klare Hinweise, in welcher Entwicklungsphase (aus Sicht der Unternehmung) bzw. Konsolidierungsphase (aus Sicht der Märkte) sich eine Organisation tendenziell befindet. Offensichtlich besteht die strategische Herausforderung weniger im Auffinden neuer strategischer Optionen; Schwierigkeiten verursacht die Beantwortung der Frage, was in Zukunft nicht mehr getan werden soll (Verzicht auf die Bearbeitung einzelner Märkte oder Kundensegmente, die Straffung des Produktesortiments, die Auslagerung einzelner Geschäftsprozesse usw.). Das strategische Verhalten mancher Unternehmen ist stark deterministisch angelegt und geprägt von Vergangenheitserfahrungen (Wettbewerb findet in sauber abgegrenzten Branchen statt, Markt- und Konkurrenzanalysen konzentrieren sich im Rahmen traditioneller Marktanalysen auf bekannte Märkte usw.). In Zeiten des ”digitalen Kapitalismus” (Glotz 2000, S. 5) scheint es fraglich, ob sich dadurch nachhaltige Wettbewerbsvorteile erzielen lassen. Untersuchungen zeigen, dass in Zeiten grösserer Strukturbrüche, in denen die Spielregeln der Märkte neu definiert werden, die erfolgreichsten Konkurrenten mehrheitlich der Gruppe der ”Newcomer” angehören (Hamel 2000, S. 12). Die Bedürfnisse und Motive eines sich ständig wandelnden Kunden und somit einer Fokussierung auf den Customer Value werden stärker in den Vordergrund rücken und von zentraler Bedeutung für Geschäftsmodelle von Morgen zur Generierung nachhaltiger Wettbewerbsvorteile. 20.5 Strategische Grundfragen für die Wertschöpfung im Bereich Financial Services In dynamischen Märkten werden austauschbare generische Strategien Porter’scher Prägung, die sich auf die Identifikation und Auswahl attraktiver Produkt-/Marktkombinationen stützen (Market based View; MbV), zunehmend obsolet, gehen sie doch von relativ stabilen, abgrenzbaren Wettbewerbsstrukturen und analytisch erfassbaren Märkten aus. Dadurch bieten sie kaum eine ausreichende Grundlage für eine nachhaltig eigenständige Positionierung in Risiko- und Finanzdienstleistungsmärkten, die einer steigenden Umweltdynamik, neuen Spielregeln und immer rascheren Veränderungen unterworfen sind. Kernkompetenz-Ansatz zur Integration von Markt- und Ressourcenperspektive Aufgrund der beschriebenen Mängel der bislang vorherrschenden, ausschliesslich marktorientierten Strategien wurden in letzter Zeit die Ressourcen des Unternehmens als innere Quellen des Erfolgs für das strategische Management wieder entdeckt (Resource based View; RbV). Zeitgemässe strategische Managementansätze haben es sich seither zur Aufgabe gemacht, beide Sichten, also sowohl die Ressourcenals auch die Marktperspektive, zu integrieren. Einen solchen Ansatz stellt das Konzept der Kernkompetenzen dar, welches postuliert, dass die Wettbewerbsvorteile eines Unternehmens auf dessen einzigartigen, kundennutzenstiftenden Fähigkeiten beruhen. Durch die Integration von marktorientierten (Kundennutzen) und ressourcenorientierten (Fähigkeiten) Kriterien wird eine umfassende Beurteilung der strategischen Ausgangssituation bzw. Alternativen möglich, die den Ansätzen des MbV verschlossen bleibt. Im Gegensatz zum MbV verhaftet der Kernkompetenz-Ansatz nicht in einem Produkt-/Markt-Denken, sondern stellt die Frage, wie mit den vorhandenen und erschliessbaren Kompetenzen Problemlösungen für die Kunden geschaffen werden können. Dementsprechend ist das strategische Management auf die Beantwortung der Frage nach den Funktionen, die ein Unternehmen wahrnehmen kann, auszudehnen. Diese stringente Fortführung des Funktionendenkens leitet nahtlos in eine kernkompetenz-orientierte Betrachtungsweise über. Ausgehend von den Kundenbedürfnissen werden aufgrund der Kernkompetenzen eines Unternehmens die erfüllbaren Kundenfunktionen festgelegt, die letztlich in konkreten Marktleistungen bzw. Produkten münden. Die Produktebene als Denkrahmen wird somit verlassen und die Kundenbedürfnisse als Orientierungsgrösse ins Zentrum der Betrachtungen gestellt (vgl. Abbildung 20.11). 14 Kernkompetenzen des VersicherungsUnternehmens (heutige & künftige) "what business are we capable of?" Marktleistungen Kundenbedürfnisse rund um die Sicherheit erfüllbare Funktionen "what business are we really in?" Abbildung 20.11: Gegenseitige Ergänzung des Funktionen- und des Kernkompetenzdenkens (Maas 2001, S. 52) Das Funktionendenken und die Orientierung an Kernkompetenzen ergänzen sich somit gegenseitig. Die Analyse der Kundenbedürfnisse öffnet den Fokus der potenziellen Unternehmensleistungen (”what business are we really in?”) und die Kernkompetenz-Orientierung betrachtet auf dieser Grundlage die Kombinationsmöglichkeiten der Fähigkeiten des Unternehmens zur Entwicklung neuartiger Produkte und Dienstleistungen (”What business are we capable of?”). Im Zuge der Beantwortung dieser Fragen wird deutlich, welche potenziellen Leistungen durch bestehende Kernkompetenzen abgedeckt werden und wo durch Eigenaufbau oder Kooperationen neue Kernkompetenzen erschlossen werden können und müssen. Übertragen auf die Versicherungswirtschaft, bedeuten die obigen Aussagen zum einen, dass die Kernkompetenzen der Versicherer keineswegs ausschliesslich im Bereich des Kernprodukts Versicherungsschutz liegen müssen, sondern ebenso in den ergänzenden (Nichtversicherungs-)Leistungen angesiedelt sein können. Damit verschieben sich möglicherweise auch die relevanten Erfolgsfaktoren des Geschäfts mit Versicherungen. Je weiter sich die Leistungen vom blossen finanziellen Risikoschutz entfernen, desto stärker müssen die Versicherungsgesellschaften Kompetenzen gewichten, die nicht traditionell mit ihrem Kerngeschäft verhaftet sind. Zum anderen können aber auch Nichtversicherer durch den Einsatz bestehender oder die Entwicklung neuer Kernkompetenzen Versicherungsfunktionen wahrnehmen (vgl. dazu auch Abschnitt 20.2). Von der traditionellen Wertschöpfungskette hin zu Wertschöpfungs-Netzwerken Die traditionellen Grenzen zwischen verschiedenen Branchen geraten in Bewegung. Im Zeichen von Multimedia wachsen z. B. Telekommunikation, Film-, Fernseh-, Computerindustrie zusammen; ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in anderen Bereichen beobachten. Wo fängt beispielsweise die Finanzdienstleistungsbranche an und wo hört sie auf? In den USA kann man eine Hypothek von General Electric Capital bekommen, ein Scheckbuch von Merril Lynch, ein Pensionskonto von Fidelity Investment und eine Kreditkarte von General Motors (vgl. Hamel/Prahalad 1996, S. 240). Europa liegt in dieser Entwicklung noch etwas zurück, doch sprechen vielfältige Kooperationen zwischen Banken und Versicherungen eine deutliche Sprache. Neben dem strategischen Aspekt der Unternehmensgrösse geht es bei diesen Allianzen auch um eine Zusammenführung von Know-how, das bei Finanzdienstleistungen für die gesamte Wertschöpfungskette zum Kunden vorzuhalten ist. Auch hier stehen nicht spezielle Produkte im Vordergrund, sondern die Entwicklung von Kernkompetenzen, aus denen nachhaltige Wettbewerbsvorteile im Markt generiert werden können. Dabei entsteht ein ”Netzwerk von Wertschöpfungs-Komponenten” (vgl. Haller/Maas 1997, S. 290), aus dem sich neue Unternehmensidentitäten mit spezifischem Kundenmix heraus bilden. 15 4 Service-Centers - direkt/indirekt - lokal/regional mit diversen Kommunikationsmitteln, insbesondere www unterstützt 5 Versicherungsschutz wird weitgehend modular in “Fabriken” produziert 6 und auf verschiedenen Risikomärkten fein verteilt rivate z.B.P NWI H Typ C B andere D strie Indu z.B. ppe X Gru z.B. erbe Gew Z Typ etail z.B.R 1 Captives (ART I) 2 Bank pers./Schalter Call-Center CTI persönliche Beratung Versicherung A Berater Telephondienste Agenten Versicherung B VersicherungC Internetzugang E-Platform www Versicherung X 3 E-Business 2 individuelle Problemlösung und werden von unterschiedlichen 3 Kontaktstellen - Aussendienst/ Broker/ Berater - Telephondienste - Internetzugang betreut und durch A 4 5 z.B. Kooperationen traditionelle Rückversicherung Investoren Retro Banken andere Intermediäre (ART II) verschiedene Unterstützungsnetzwerke: IT, Know-How, … 1 Kundengruppen mit spezifischen Bedürftnissen - Sicherheit (operationell und finanziell) - Vermögenswachstum (Investition) - Care - Kommunikation bekommen eine 6 Matthias Haller, Universität St. Gallen Abbildung 20.12: Vision 2.007: Ein Netzwerk von Wertschöpfungs-Komponenten (Haller 1999, S. 43) Die Grundannahme eines solchen Netzwerk-Modells besteht in der Ausdifferenzierung der Risiko- und Finanzdienstleistungsmärkte. Das Netzwerk kann gedanklich in fünf Ebenen aufgegliedert werden, die ausgehend vom Markt bzw. den verschiedenen Kundensegmenten sämtliche Wertschöpfungsstufen bis hin zur Feinverteilung der Risiken (z. B. mittels Rückversicherung) umfassen (vgl. Abbildung 20.12): (1) Die Kundengruppen mit spezifischen Bedürfnissen (z. B. Privatkunden, Gewerbe, Industrie etc.) bilden die erste Ebene im Netzwerk. Sie werden anhand ihrer Bedürfnisse in Segmente gegliedert und erfahren durch kompetente Dienstleistungseinheiten eine Rundum-Betreuung. (2) Auf der zweiten Ebene beraten Dienstleistungseinheiten (DLE) ihre entsprechenden Kundengruppen umfassend im Sinne echter Problemlösungen. Die Leistungen können auf verschiedenartigsten Wegen erbracht werden. Denkbar sind bspw. die Betreuung der Kunden über firmengebundene Aussendienste, Mehrfachagenten, Makler, Telefon, Internet und andere mehr. Prägend für die DLE ist eine tendenzielle Verselbständigung, unabhängig davon, ob sie rechtlich und wirtschaftlich gänzlich autonom oder Teil eines Risiko- bzw. Finanzkonzerns sind. (3) Die Service-Center auf der dritten Ebene unterstützen einerseits die DLE mit Back-OfficeLeistungen, können aber gegebenenfalls auch direkte Dienste für die Kunden erbringen (z. B. Helplines). Sie befinden sich an zentralen Standorten und sind informations- und kommunikationstechnisch eng mit den DLE verknüpft. Auch die Funktionsbereiche auf dieser Ebene entwickeln mehr und mehr eine Selbständigkeit, indem sie ihre Dienste verschiedenen Institutionen anbieten. (4) Auf Ebene vier wird der Versicherungsschutz von nachgelagerten Geschäftseinheiten entworfen, organisiert und den DLE in Rechnung gestellt. (5) Die Risiken werden schliesslich in Ebene 5 auf verschiedene Risikomärkte feinverteilt. Zum traditionellen partiellen Transfer der Risiken auf unabhängige Rückversicherungsgesellschaften durch die Erstversicherer gelangen neu alternative Risiko-Transfer Instrumente (ART), die eine Kombination der Kernkompetenzen verschiedenster Unternehmen bzw. Unternehmensarten (z. B. Versicherer, Banken, Fondsgesellschaften, Captives) fördern. 16 Die Möglichkeiten zur Positionierung in diesem Netzwerk sind vielfältig (vgl. Abbildung 20.13). So liegen bspw. die Dienste von Maklern und Consultants über der Kunden-Ebene und den DLE, die Schadensmanagement-Gesellschaften oder -Abteilungen erfüllen ihre Dienste zwischen den Kunden und den DLE, die Leistungen der Schadensanierer erstrecken sich von den Kunden über die DLE bis zu den Service-Centers, das finanzielle Risiko-Management für Industrieunternehmen besteht aus Leistungen, die sich von den Kunden ausgehend bis zum Versicherungsschutz ausdehnen etc. Der Versicherungsschutz wird nunmehr weitgehend modular, bspw. durch ”risk factories”, produziert. Dabei sind sowohl ”Branding”Lösungen”, als auch die Übergabe sämtlicher Vermarktungsrechte an das nachfragende Unternehmen denkbar. Als konstitutive Bedingung für die Entwicklung dieser neuen Formen der Arbeitsteilung sind die Fortschritte in den Informations- und Kommunikations-Technologien zu nennen. Sie erlauben die mühelose Überwindung von Distanzen zur Übermittlung von Daten und ermöglichen damit erst den Austausch und die Verarbeitung von Informationen und Wissen unabhängig von zentralen Standorten. 1 Kundengruppen mit spezifischen Bedürftnissen - Sicherheit (operationell und finanziell) - Vermögenswachstum (Investition) - Care - Kommunikation bekommen eine 2 individuelle Problemlösung und werden von unterschiedlichen 3 Kontaktstellen - Aussendienst/ Broker/ Berater - Telephondienste - Internetzugang betreut und durch 4 Service-Centers - direkt/indirekt - lokal/regional mit diversen Kommunikationsmitteln, insbesondere www unterstützt 5 Versicherungsschutz wird weitgehend modular in “Fabriken” produziert 6 und auf verschiedenen Risikomärkten fein verteilt A te P riva z .B . N W I H p y T C z.B . rbe e G ew Z Typ B D strie In du z.B . ppe X u r G andere 1 Captives … (ART I) w o h -w o n k T :e k re w z te n s g n u z t ü ts re t n U e n e d e i h c s re v 2 Berater Telephondienste Agenten Bank pers./Schalter Call-Center CTI persönliche Beratung Versicherung B Internetzugang Versicherung C E-Platform www Versicherung X 3 s s e n is u B -E 4 5 z.B. Kooperationen traditionelle Rückversicherung Investoren Retro andere Intermediäre Banken 6 (ART II) Matthias Haller, Universität St. Gallen Abbildung 20.13: Wertschöpfungs-Netzwerk im Financial Services-Bereich (Haller 1999, S. 46) Der vorgestellte Optionenraum lädt aber nicht nur klassische Player aus dem Financial Services-Bereich zum Wettbewerb um freiwerdende Funktionen zum Kunden ein. Im Zuge einer eigentlichen Branchendurchdringung (Ehrler 1999) geraten die traditionellen Anbieter von ”aussen” immer stärker unter Druck (vgl. Abbildung 20.14): • Substitutionsprozesse werden in allen Dienstleistungs-Ebenen und -Bereichen intensiviert, wobei sich die Zahl der Player tendenziell erhöht (z. B. Post, Treuhand, derivative Instrumente) • Neue Service-Provider entdecken den Finanzdienstleistungsmarkt als lukratives Feld, um ihr Leistungsspektrum auszuweiten oder zu multiplizieren (z. B. Call-Center, Assistance, Consultants) • Spezialisten der Prozess-Steuerung und -Kontrolle übernehmen auch die inhaltliche Verantwortung für Wertschöpfungsprozesse und Zahlungsströme (z. B. Software- und Systemanbieter) Dienstleister anderer Branchen (Client-Owner) nutzen ihren direkten Kundenzugang und offerieren auch Financial Services (z. B. Airlines, Warenhäuser, Kreditkartenunternehmen, Portals im Internet) 17 ak ler C D erbe Gew Z Typ te Priva com e In z. B. Hi gh Typ Schaden-Management Service-Center Bereich 2 CTI z.B. Kooperation traditionelle Rückversicherungen RV Retro ART I Bank Bereich 3 SchadenMgmnt . Beratung/Betreuung Internet-Ge Service-Center Bereich 1 A st rie Indu z.B. p X Gr Bank z. B. M an t l an de z.B.H p Y Gr Co ns ult B rie risk factory Versicherungsschutz als (w ichtige) Komponente w ird w eitgehend modular produziert und auf differenzierten Risikomärkten fein verteilt A st Indu z.B. p X Gr Direk t-V fin. RM (Industrie) M arktorientierung Ressourcenorientierung Kundengruppen mit spezifischen Bedürfnissen -Sicherungsbedürfnis -Kommunikationsbedürfnis - Care w erden von unterschiedlichen (ART I) Dienstleistungseinheiten -Aussendienst/Makler - Berater - Telefondienste betreut und durch Service-Centers - direkt/indirekt - lokal/regional - mit div. Kommunikationsmitteln unterstützt z.B. Konkurrenz Risikobörsen (CBOT) Derivat e/Finanzierungsinstrumente Investoren ART II Banken Substituierer (ART II) Systemanbieter Softw are Post Treuhänder Finanzmarkt Service-Provider Makler Consultants Call Center Warenhäuser, Air Lines, Reisebüro Client-Ow ner Process-Ow ner Abbildung 20.14: Durchdringung von Funktionen im Wertschöpfungs-Netzwerk (Maas 2000, S. 61) Empirische Anhaltspunkte für die Netzwerkbildung im Finanzdienstleistungsbereich Im Rahmen einer breitangelegten empirischen Studie in 35 Versicherungs-Unternehmen aus drei Ländern ist das I.VW-HSG der Frage nach dem Stand der Transformation, der Netzwerkbildung und der Kooperationen in der Assekuranz nachgegangen (vgl. Maas et al. 1999). Befragt wurden Senior Manager aus unterschiedlichen Bereichen ihrer Unternehmen (ausgewertete Fragebögen N = 544) sowie ca. 70 Vorstände in Form von Tiefeninterviews. Im Folgenden sollen einige ausgewählte, für unsere Fragestellung besonders interessante Ergebnisse aus der Fragebogenstudie vorgestellt werden. Als erstes wichtiges Ergebnis konnte die ”Chaosfolie” mit empirischen Daten unterlegt werden, wie Abbildung 20.15 verdeutlicht. Es zeigte sich, dass die Assekuranz bereits zu diesem Zeitpunkt über eine Vielzahl von – sowohl ”vertrauten” als auch neuen – Kooperationsbeziehungen mit Partnern innerhalb und ausserhalb der Branche verfügte. Diese Zusammenarbeit wurde insbesondere dann als erfolgreich angesehen, wenn: Win-Win-Situationen vorliegen, gemeinsame Ziele verfolgt werden, klare Verantwortlichkeiten bei den Aufgaben fixiert sind. Notwendige Grundbedingung hierfür ist – das heute so dringend benötigte – Vertrauen und die intensive Kommunikation zwischen den Partnern (Maas 2003, S. 6). 18 Autogewerbe (26%) Leasinggesell schaften (15%) betreut durch Dienstleistungs einheiten Hand werks betriebe (16%) C D Banken (67%) Kreditkarten unternehmen (67%) Makler (67%) Kaufhäuser (6%) Software anbieter (41%) - unterstützt von Service -Centers mit spezifischen Bedürfnissen modular produzierte Kernprodukte - Versicherungsschutz - Care -DL Feinverteilung der Risiken auf differenzierten Risikomärkten B Anwalts Assistance kanzleien Gesellschaften (61%) (23%) Werbe agenturen (45%) Call -Center (29%) Konkurrenten (38%) Verwaltungsdienst leister (7%) Service -Broker (7%) Statistische Ämter (18%) Fondsgesell schaften (40%) Wirtschafts prüfer (25%) Immobilien gesellschaften (28%) Autowerk stätten (26%) Pflegedienst leister (8%) Internet provider (26%) System häuser (25%) Rückversicherer (61%) Informations - und Kommunikationstechnologischer Support / Netzwerke A Kundengruppen mit spezifischen Bedürfnissen Abbildung 20.15: Kooperationen von Versicherern im Rahmen der Leistungserstellung (in Prozent der Befragten) (Maas et al. 1999, S. 41) Da die Entstehung unternehmens- und branchenübergreifender Wertschöpfungs-Netzwerke vor allem im Hinblick auf eine optimale Nutzung der jeweiligen Fähigkeiten der beteiligten Gesellschaften abhebt, erzielte ein Ergebnis, das sich mit Bezug auf die besonderen Fähigkeiten der Assekuranz ergab, besondere Aufmerksamkeit (Abbildung 20.16). Augenfällig ist dabei die Dominanz der versicherungsspezifischen Fähigkeiten, d. h. der mit dem Kernprodukt ”Versicherungsschutz” eng verwandten Kompetenzen (z. B. Organisation der Gefahrengemeinschaft, Schadenmanagement, Risiko-Management, Underwriting etc.). Ebenso interessant ist die Analyse jener Fähigkeiten, die nicht als Stärke der Assekuranz, sondern eher anderer Branchen angesehen werden. In der Assekuranz werden demnach Fähigkeiten wie ”Erkennung von Kundenproblemen”, ”Kenntnis der Märkte” und ”Umsetzung der Kundenbedürfnisse in Marktleistungen” tendenziell als unterentwickelt beurteilt. Es sind somit in erster Linie Kompetenzen, die die Nahtstelle zum Kunden betreffen, also mit der ”Dienstleistung” im engeren Sinne verbunden sind. Damit erscheint die Assekuranz auch aus der Fähigkeiten-Perspektive prädestiniert für eine Zusammenarbeit im Rahmen einer ”verteilten” Branchenwertschöpfungskette. Welche Rolle die Versicherer in einem übergeordneten Wertschöpfungs-Netzwerk einnehmen, hängt dann von den Rahmenbedingungen in den jeweiligen Aktivitäts- und Leistungsfeldern ab. Die strategische Relevanz dieser Überlegungen wurde zunächst vor allem mit Blick auf die Erweiterung der strategischen Optionenräume für Unternehmen gesehen, d. h. in der Nutzung komplementärer Fähigkeiten zur Generierung eines erhöhten Kundenwerts. Dabei standen vor allem Modelle im Vordergrund, die versuchten, die Bedürfnisse der Kunden erweitert (z. B. ohne eine produktspezifische ”Brille”) zu ergründen und entsprechende (auch für den Kunden) wertstiftende Leistungsbündel zu kreieren. Effizienzaspekte spielten in dieser Zeit üppiger Anlageerträge eine eher untergeordnete Rolle. 19 Organisation der Gefahrengemeinschaft/ Risikoübernahme Schadenmanagement Aufbau von Vertriebsnetzen Risiko-Management Underwriting Erkennen von Kundenproblemen Kenntnisse der Märkte / Kundenbedürfnisse Direktvertrieb Umsetzung der Kundenbedürfnisse in Marktleistungen Marketing weniger gleich stärker Abbildung 20.16: Selbsteinschätzung der Assekuranz: Ausprägung der Fähigkeiten im Vergleich zu anderen Branchen (Maas et al. 1999, S. 17 f.) Als weitgehend unbearbeitetes Feld erwies sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche veränderten Anforderungen Netzwerk-Strukturen an das Management stellen. Zur Klärung dieser Herausforderungen wurde vom I.VW-HSG Forschungsprojekt gestartet, das vertieft den Strategien und der Steuerung von und in Finanzdienstleistungs-Netzwerken nachging. Auch hier – wie in der Literatur generell - lag der Fokus auf der Seite der Leistungserstellung (”Produktion”), z. B. beim zentralen Thema ”Netzwerkmanagement – How to do it”. In einer empirischen Untersuchung in Form von Experteninterviews mit Vertretern erfolgreicher Netzwerkunternehmen aus verschiedenen Branchen ging das I.VW-HSG der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen ein Unternehmen durch die Teilnahme an Netzwerken nachhaltig für sich und/oder für seine Kunden Wert generieren kann (Graf 2003). Den Interviews war eine Analyse voraus gegangen, was Unternehmen dazu bewegt, sich auf einzelne Teile und Bereiche ihrer Wertschöpfungskette zu beschränken und andere Teile zusammen mit Partnern zu erbringen oder diese ganz outzusourcen. Die vielfältigen Motive bestimmen letztendlich, an welchen Netzwerken sich Unternehmen beteiligen und in welcher Weise sie dies tun. Obgleich die befragten Unternehmen aus verschiedenen Branchen stammen, zeigen die Ergebnisse, dass es hinsichtlich ihres ”Erfolgsrezepts” grosse Übereinstimmungen gibt. Sie haben sich allesamt nach einer tiefgreifenden Analyse und Definition ihrer Kernkompetenzen auf ein Geschäftsmodell gestützt, in dem Networking und Netzwerk- bzw. Partnermanagement eine zentrale Rolle spielen. Bezüglich des Netzwerkmanagements finden sich eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die für den jeweiligen Unternehmenserfolg entscheidend waren und sind: Auswahl der ”richtigen Partner”, Identifizierung und Benennung der Win-Win-Situation in der Partnerschaft, Kontrolle bzw. Besitz des Kundenzugangs, Aufbau eines starken Brands als Qualitäts- und Sicherheitsmerkmal, Bewältigung der technologischen und logistischen Herausforderungen, Identifizierung und Aufbau der Kernkompetenzen sowie Integration von strategischen Schlüsselbereichen, um sich gegenüber Wettbewerbern zu differenzieren, ständige Überprüfung und Aktualisierung des eigenen Business Models, Neben diesen Erfolgsfaktoren gilt für alle Partnerschaften, sei es mit anderen Unternehmen oder mit Kunden, sie nicht nur zu verwalten, sondern auch zu leben. Denn nur gelebte Partnerschaften mit entsprechender Win-Win-Situation für alle Beteiligten generieren letztlich ”Sustainable Value” für das Unternehmen, das Netzwerk und den Kunden. 20 Exkurs: Entwicklung eines Customer Value-Verständnisses für Versicherung und Financial Services Albert Graf und Peter Maas Im Rahmen der aktuellen Forschungsarbeiten des I.VW-HSG wird ein spezielles Konzept ”Customer Value” entwickelt, das den Besonderheiten im Financial Services Bereich Rechnung trägt. In einer ersten explorativen Forschungsphase wurden hierzu in Zusammenarbeit mit Intermediären, Versicherern und Banken qualitative Tiefeninterviews mit Kunden geführt und ausgewertet, deren Resultate in die Modellbildung einfliessen. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass die in der Literatur etablierten – oft simplifizierenden – Customer Value-Konzepte im Financial Services-Bereich nicht sinnvoll einsetzbar sind. So konzentrieren sich die meisten Forschungsansätze bei der Frage: ”Was generiert beim Kunden Wert und wie kommt ein diesbezügliches Werturteil beim Kunden zustande?” auf die Konzeptionalisierung des Customer Value als das Ergebnis eines subjektiven Vergleichs zwischen dem Nutzen eines Produktes bzw. einer Dienstleistung und den damit verbundenen Kosten unter Einbeziehung von Konkurrenzprodukten. Im Vordergrund stehen hierbei materielle Attribute und monetäre Grössen, wenngleich zunehmend versucht wird, qualitative, nicht-monetäre Grössen und Aspekte zu berücksichtigen. Die tiefergehenden Ursachen (z.B. Motive, Ziele Wünsche der Kunden) für die Schaffung und Veränderung von Customer Value werden allerdings meist nur am Rande erfasst. Zwei Aspekte werden in all den Konzeptionen und Modellen kaum berücksichtigt: Risiken: Nur wenige Autoren (Huber/Herrmann/Morgan 2001; Ravald/Grönroos 1996; Lai 1995) berücksichtigen beim Customer Value den Aspekt des Risikos in Form von Unsicherheit, welche Kunden vor/mit/nach dem Kauf eines Produktes oder Dienstleistung eingehen. Sie betrachten lediglich die potenziellen negativen Konsequenzen, die für den Kunden entstehen können z.B. durch den Kauf eines unnötigen bzw. falsch dimensionierten Produktes oder Leistung, durch überhöhte Wartungs- und Reparaturkosten oder soziale Kosten. Risiko bedeutet in einer integrierten Sicht aber nicht nur Gefahr sondern immer auch Chance. So bietet die Unsicherheit seitens der Kunden die grosse Möglichkeit für Unternehmen mit ”unerwarteten” positiven Leistungen zusätzlichen Customer Value zu schaffen, sei es durch besondere ”Care”-Leistungen, Serviceelemente oder Produktmerkmale. Relationship: Der Wert, den Kunden der Beziehung zu einem Anbieter beimessen – dem Relationship Value - sowie dessen Einfluss auf den Customer Value, wird lediglich im Konzept von Ravald/Grönroos (1996) thematisiert. Ansonsten wird die Bedeutung des Relationship Value für den wahrgenommenen Customer Value über den ganzen Lebenszyklus einer Kunde-UnternehmensBeziehung - also nicht nur für einzelne Episoden1 – nicht in Betracht gezogen. Aber gerade mit zunehmender Dauer und Intensität einer Beziehung verlagert sich der Fokus von der Beurteilung eines konkreten (Produkt-/Dienstleistungs-)Angebotes hin zur stärkeren Berücksichtigung verschiedener Aspekte der Beziehungsdimension (gilt insbesondere für den Fall der Intermediation). Für den Customer Value einer Episode bedeutet dies, neben Bewertungen eines Gutes auch die positiven und negativen Effekte, die mit der Aufrechterhaltung und Pflege einer Beziehung zwischen Kunde und Unternehmen mit einzubeziehen. Wie im vorherigen Text ausgeführt, erfüllen Versicherungs- und Financial Services-Anbieter beim Kunden Funktionen wie Risiko vermeiden bzw. verringern, Schützen, Verteilen, Bewahren, Vorsorgen oder Sparen. Daher spielen die Kunde-Anbieter-Beziehung und Risikoaspekte in diesen Branchen eine zentrale Rolle: zum einen bedingt durch die dienstleistungs- und versicherungsspezifischen Merkmale der Produkte und Leistungen, zum anderen ist die Beziehung zwischen Kunde und Versicherungsunternehmen meist langfristiger Natur und übernimmt hierbei für alle Beteiligten wichtige Funktionen (u.a. Sicherheits-, Vertrauen- und Differenzierungsfunktion), die erfolgsentscheidend sind. Aus Kundensicht kann eine langfristige, auf Kontinuität, Verlässlichkeit, Sicherheit und Vertrauen basierende Beziehung zu einem Unternehmen im Zeitalter von Informationsflut und steigender Komplexität einen wertvollen Beitrag zur 1 ”An episode can be defined as an event of interaction which has a clear starting point and an ending point and represents a complete exchange. In an episode there can exist several interactions” Ravald/Grönross 1996, S. 29. 21 Reduktion von wahrgenommenen Risiken aber auch von Zeitkosten, monetären Aufwendungen und physischen sowie psychischen Anstrengungen leisten. Für Unternehmen liegt die Bedeutung des ”relationship” und das Eingehen auf Kunden-Risiken insbesondere in ihrer Differenzierungsmöglichkeit gegenüber Wettbewerbern. Der Auf- und Ausbau einer guten Kundenbeziehung ist zudem eine wichtige Voraussetzung für Erfolgsfaktoren wie Kundenloyalität, positives Weiterempfehlungsverhalten der Kunden oder Cross-Selling. Abschlusspräsentation Integrationsseminar 2. Februar 2004 Page 17 Customer Value Verständnis für Financial Services Anbieter Kunde Motive / Bedürfnisse Desired Value Erwartungen Beratung Customer Value Expected Value Consciousness Perception gap gap Received Value Interaction gap Erfahrungen Experienced Value Satisfaction gap Berater Unternehmen Intended Value Designed Value Produkt- / Produktentwicklung GeschäftsideeVor-Kauf- u. -design Phase Promised Value LeistungsKaufversprechen Phase Delivered Value LeistungsNerbringung ach-KaufPhase Abbildung 20.17: Modell für die Erforschung des Customer Value im Financial Services-Bereich; hier: Anwendungsbeipiel mit zwischengelagertem Berater aus einer Studie bei der MLP AG(Maas/Graf 2004b) Ein geeignetes Customer Value Verständnis für Versicherung und Financial Services muss somit über die allgemeinen Aspekte hinaus auch branchen- und leistungsspezifische Merkmale berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund wurde ein allgemeines Modell entwickelt (Graf 2004), bei dem die Wertschöpfungskette des Kunden den Ausgangspunkt bildet: beginnend bei unspezifischen Motiven und Bedürfnissen, daraus abgeleiteten Erwartungen und konkreten Kauferfahrungen bis hin zu Erfahrungen mit einer Unternehmensleistung. Der kumulierte Customer Value setzt sich dann zusammen aus den verschiedenen Customer Value-Elementen der einzelnen Wertschöpfungsstufen: Desired, Expected, Received und Experienced Customer Value. Customer Value in lässt sich demnach nicht auf eine Beratungssituation, ein Leistungsversprechen oder ein einzelnes Produkt beschränken. Vielmehr gilt es auch zu berücksichtigen, inwieweit Leistungen im Lebenszyklus einer Kunden-Anbieter-Beziehung dazu beitragen, die Bedürfnisse und Erwartungen der Kunden zu befriedigen bzw. zu (über-)treffen und wie gut sie ihre (Risiko-)Funktionen beim Kunden im Zeitablauf erfüllen. Der Customer Value-Chain wird die Wertschöpfungskette des Anbieters gegenübergestellt, um dann die jeweiligen Werte auf Kunden- und Unternehmensseite in Beziehung setzen zu können. Die entsprechende These lautet: Je besser es einem Unternehmen im Laufe einer Kunden-Unternehmens-Beziehung gelingt, diese Wertelemente von Kunden und Unternehmen immer wieder in Einklang zu bringen und somit die Consciousness-, Perception-, Interaction- und Satisfaction-Gaps zu minimieren, desto mehr Customer Value kann ein Unternehmen aus Kundensicht schaffen. Damit ist das Konzept in der Lage, sowohl dynamische Aspekte der Veränderung des Customer Values als auch Zusammenhänge zwischen Customer Equity und Customer Value abzubilden. 22 20.6 Schlussfolgerungen Die Schaffung von Customer Value im Bereich von Versicherungswirtschaft und Financial Services fusst zunächst auf bereits bekannten – in ihren Konsequenzen jedoch noch nicht überall umgesetzten – Marketing-Konzepten und Ansätzen des Strategischen Management. Der vorliegende Beitrag schlägt vor, die Dienstleistungs- und Produktgestaltung vermehrt nach den beim Kunden erfüllten Funktionen auszurichten. Die Möglichkeiten zur Innovation sind auf dieser Grundlage neu zu ergründen, und den integrierten Financial Services wird im Zuge einer stärkeren Ausrichtung am Customer Value wieder vermehrt Beachtung geschenkt werden. In der Versicherung besteht dabei die Chance, sich durch geschickte Kombination finanzieller und nicht-finanzieller Funktionen zu differenzieren. Von zentraler Bedeutung ist, dass Versicherer einerseits alle Funktionen im Rahmen eines erweiterten kundenseitigen Sicherheitsbedürfnisses beherrschen (dazu zählen insbesondere die psychisch-sozialen bzw. emotionalen Funktionen), andererseits aber punktuell auch gezielt ”versicherungsfremde” Funktionen erfüllen können, um angestrebte Kernkompetenzen zu komplementieren oder aufzubauen. Die Ausprägungen der jeweiligen Strategien hängen im wesentlichen von den vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen und von den sich bietenden Chancen zur Positionierung im aktuellen und zukünftigen Markt- und Wettbewerbsumfeld ab. Gleichzeitig wird sich die Wertschöpfung des Unternehmens und des Kunden aufgrund veränderter Rollenverständnisse (Stichwort: Customer Integration, Communities) und neuer struktureller Rahmenbedingungen (Stichwort: Netzwerke, Branchendurchdringung) grundlegend transformieren. Wie dann letztendlich Wert für und durch Unternehmen und Kunden (bzw. andere Stakeholder) geschaffen wird, hängt entscheidend von der Konfiguration der Beziehungen zwischen den Akteuren im jeweiligen Kontext ab. Für die Forschung schliesslich eröffnet sich hier ein grosses und fruchtbares Betätigungsfeld. 23 Quellenverzeichnis Ackermann, W. (2001), Wertschöpfungsstrategien auf Finanzdienstleistungsmärkten, in: Ackermann, W. (Hrsg.): Financial Services-Modelle und Strategien der Wertschöpfung, St. Gallen: Institut für Versicherungswirtschaft, S. 67-82. Bowen, D.E./Jones, G.J. (1986), Transaction Cost Analysis of Service Organization-Customer Exchange, in: Academy of Management Review, Vol. 11, Issue 2, pp. 428-441. Bowen, D.E./Schneider, B. (1988), Services Marketing and Management: Implications for organizational Behavior, in: Research in Organizational Behavior, Vol. 10, pp. 43-80. DeSarbo, W.S./Jedidi, K./Shina, I. 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