Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in der NS-Zeit Thomas Just Zum Jahreswechsel 1937/1938 schienen die Bediensteten des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs beruhigt in die Zukunft blicken zu können. Das monumentale Gesamtinventar des Hauses war in Druck, die noch folgenden und in den nächsten Jahren erscheinenden Bände waren bereits weit fortgeschritten und am Horizont dräute bereits die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Aus heutiger Sicht klingt das zynisch, aber den damals am Wiener Minoritenplatz beschäftigten Beamten erschien die Zukunft in strahlenden Farben. Im April 1938 erschien der bereits vierte Band des von Ludwig Bittner herausgegebenen und in Gemeinschaftsarbeit der wissenschaftlichen Beamten des Hauses erstellte Gesamtinventar des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, und für dieses verfasste Bittner ein Vorwort, in dem er den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich feierte: Der Abschluß des Werkes erfolgt in einer Zeit, in der wir freudig bewegten Herzens das weltgeschichtliche Ereignis der Heimkehr Österreichs in das deutsche Vaterland erleben. Das Großdeutsche Reich wird unser Archiv, das Vermächtnis einer mehr als tausendjährigen gemeinsamen deutschen Geschichte, in seine mächtige Obhut nehmen. 1 Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs waren für die Wiener Archive unruhige Zeiten angebrochen. Alle Zentralarchive der österreichischungarischen Monarchie sahen sich Forderungen der Nachfolgestaaten auf Archivalienabtretungen gegenüber. Art und Umfang dieser Ablieferungen wurden in schwierigen Verhandlungen festgelegt, wobei erheblicher politischer und wirtschaftlicher Druck auf die eher hinhaltend agierenden österreichischen Archivare ausgeübt wurde, bis man mit den meisten Staaten Archivabkommen treffen konnte. 2 1 2 B i t t n e r , Ludwig (Hg.): Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 4, Wien 1938, S. 3*. Vgl. dazu von österreichischer Seite immer noch: B i t t n e r , Ludwig: Die zwischen­ staatlichen Verhandlungen über das Schicksal der österreichischen Archive nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns. In: Archiv für Politik und Geschichte 3 (1925), S. 58-96 und d e r s e l b e (Hg.): Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 1, Wien 1936, S. 38-44. Vgl. jetzt auch J u s t , Thomas: Oswald Redlich als Archivbevollmächtigter der Republik (Deutsch-)Österreich. In: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (in Hinkunft: MIÖG) 117 (2009), S. 418-425. Der gesamte Komplex der Archiv verhandlungen nach 1918 wartet auf eine fundierte, emotionslose Aufarbeitung. Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs Band 54/2010 Moesta 54.indb 103 103 05.08.2010 10:32:04 Thomas Just Ludwig Bittner (1877–1945) Gemälde von Hermann Grom-Rottmayer 104 Moesta 54.indb 104 05.08.2010 10:32:08 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Die österreichische Archivlandschaft präsentierte sich bis 1938 sehr zersplittert. Dies lässt sich leicht an Hand der Zuständigkeiten ablesen: Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, das Kriegsarchiv, das Hofkammerarchiv und das Archiv des Innern und der Justiz unterstanden zwar dem Bundeskanzleramt, wurden aber jedes für sich, ohne einheitliche Leitung verwaltet. Das Unterrichtsarchiv unterstand dem Unterrichtsministerium, das Verkehrsarchiv dem Verkehrsministerium. Bestrebungen in Richtung einer Zusammenlegung aller Spartenarchive gingen in erster Linie vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv aus, das sich als Archiv des ehemaligen Kaiserhauses und der auswärtigen Angelegenheiten als führende Institution unter den Wiener Archiven sah. Als „Krücke“ für die Zentralisierung wurde der Archivalienschutz herangezogen, indem Ludwig Bittner, der Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, das „Fachreferat zur Besorgung der fachlichen Angelegenheiten des Archivwesens und zur Handhabung des Archivalienschutzes im Rahmen des Denkmalschutzgesetzes“ im Bundeskanzleramt übertragen wurde. Dieses Referat wurde 1931 zum neuen Archivamt ausgestaltet, ebenfalls geleitet von Bittner. 3 Doch über diese ersten Schritte hinaus konnte keine weitere Zusammenführung der verschiedenen Archive erreicht werden, zu übermächtig waren die jeweiligen Eigeninteressen und Verwaltungstraditionen. Aber auch die dürftige materielle Situation, verbunden mit den Anforderungen der großen Aktenübernahmen aus der Liquidation der Verwaltungsapparate der Monarchie, ließ den Archivaren kaum Spielraum für größere Umstrukturierungen. So blieb die Lage bis zum „Anschluss“ im Jahre 1938. Dann sah man die Chance gekommen, die lang gehegten Zentralisierungspläne zu verwirklichen und an eine Neuorganisation der staatlichen Archive zu gehen. Die Neuordnung konnte für manche gar nicht schnell genug gehen: Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv stellte bereits zehn Tage nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich, am 23. März 1938, in einem Schreiben an den Reichsbeauftragten für Österreich, Kepler, den Antrag sich in „Wiener Reichsarchiv“ umbenennen zu dürfen. 4 Dieser Antrag wurde mit der Begründung, man müsse weitere Entwicklungen im Archivwesen abwarten, abgelehnt. Im April 1938 legte Bittner eine erste 3 4 Vgl. dazu H u t t e r e r , Herbert – J u s t , Thomas: Zur Geschichte des Reichsarchivs Wien 1938 –1945. In: Das deutsche Archiv wesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag in Stuttgart (Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag 10), Essen 2007, S. 313-325, hier S. 313 f. Vgl. auch H o c h e d l i n g e r , Michael: „Geistige Schatzkammer Österreichs“. Zur Geschichte des Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1749– 2003. In: Leopold Auer – Manfred Wehdorn (Hg.), Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Geschichte – Gebäude – Bestände, Innsbruck 2003, S. 16-40, hier S. 29. Österreichisches Staatsarchiv/Haus-, Hof- und Staatsarchiv (in Hinkunft: ÖSt A / HHSt A), Kurrentakten (in Hinkunft: K A) Zl. 992/1938. Ein gleich lautendes Schreiben richtete das Archiv an das Präsidium der Reichsstatthalterei. 105 Moesta 54.indb 105 05.08.2010 10:32:08 Thomas Just Denkschrift zur Reform des Archivwesens vor. 5 Hinweise und Ratschläge für diese Denkschrift bekam er dabei von Franz Josef Knöpfler, dem Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns, der ihm in einem Schreiben vom 15. Oktober 1938 die Organisation der staatlichen bayrischen Archive unter besonderer Betonung auf die Generaldirektorfunktion darlegte. 6 Rasch kristallisierte sich heraus, dass die staatlichen Archive in Wien unter der Leitung Bittners zentralisiert werden sollten. Dazu wollte Bittner noch die Oberhoheit über die Reichsgauarchive, ein Plan, den er aber nicht durchsetzen konnte. Am 28. Oktober 1939 wurden mit Erlass des Reichsministeriums des Innern das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, das Hofkammerarchiv, das Archiv des Innern und der Justiz, das Finanzarchiv und das Unterrichtsarchiv zum „Reichsarchiv Wien“ zusammengefasst. Das Reichsarchiv Wien wurde dem Reichsministerium des Innern direkt unterstellt. 7 Das Wiener Kriegsarchiv wurde remilitarisiert und als Heeresarchiv Wien in die Heeresarchivverwaltung eingepaßt. Damit war die Neuorganisation des österreichischen Archivwesens auf der obersten Ebene abgeschlossen. In der Person Bittners besaßen die Wiener Archivare einen fachlich exzellenten und wissenschaftlich gut vernetzten Archivar an der Spitze, der sich politisch aktiv gegen die Selbstständigkeit Österreichs und für seine Angliederung an ein nationalsozialistisches Deutschland eingesetzt hatte. 8 Auf fachlicher Ebene hatte Bittner ein besonders gutes Verhältnis mit Ernst Zipfel, dem Generaldirektor der preußischen Staatsarchive und Direktor des Reichsarchivs Potsdam. Ebenfalls enge Kontakte unterhielt Bittner mit Werner Frauendienst, dem Leiter des politischen Archivs des Berliner Auswärtigen Amtes und mit Heinrich Otto Meisner, ab 1935 Oberarchivrat im Reichsarchiv in Potsdam. Eng verbunden war Bittner auch, wie erwähnt, mit Josef Franz Knöpfler, dem Generaldirektor der Archive Bayerns.9 Auch andere Archivare wie Lothar Groß, Josef Karl Mayer, Jakob Seidl oder Josef Kallbrunner unterhielten gute Beziehungen zu ihren deutschen Kollegen. In der Registratur des Haus-, Hof- und Staatsarchivs finden sich zahlreiche Glückwunschschreiben von Fachkollegen, die den Wiener Archivaren ihre Freude über die Annexion Österreichs mitteilten. Darunter sind Namen wie Walter Frank, 10 Heinrich Otto Meisner, Georg Schnath aus M u s i a l , Torsten: Staatsarchive im Dritten Reich. Zur Geschichte des staatlichen Archiv wesens in Deutschland 1933 –1945, Potsdam 1996, S. 70. 6 ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 3 8 74/1938. 7 M u s i a l : Staatsarchive, S. 71. 8 Vgl. zu Bittner J u s t , Thomas: Ludwig Bittner (1877–1945). Ein politischer Archivar. In: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900 –1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Portraits, Wien u. a. 2008, S. 283-306. 9 Vgl. dazu nur ÖSt A /HHSt A, Zl. 3 8 74/1938. 10 ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 938/1938. 5 106 Moesta 54.indb 106 05.08.2010 10:32:08 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Hannover, 11 Paul Wentzcke aus Frankfurt, 12 Walter Heins aus Coburg, 13 Leo Santifaller, der Rektor der Berliner Universität Wilhelm Hoppe, 14 Wilhelm Engel aus Würzburg 15 aber auch Julius Streicher, der sich bei Bittner in einem Schreiben dafür bedankt, dass er die antisemitische Arbeit seines Archivbeauftragten Deeg auch in der Zeit vor der Annexion Österreichs unterstützt habe. 16 1. Personalpolitik Ludwig Bittner verfolgte als Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs bereits lange vor dem Jahr 1938 eine Personalpolitik, die darauf abzielte, bei Neu­aufnahmen und Beförderungen das Personal des Haus-, Hof- und Staats­ archivs nach seinen ideologischen Überzeugungen auszuwählen. Er selbst war 1934 von der Zwangspensionierung durch die Regierung Schuschnigg bedroht, da er im Verdacht gestanden hatte, mit den nationalsozialistischen Putschisten sympathisiert oder sie gar unterstützt zu haben, es gelang ihm allerdings dies abzuwenden.17 Bittner war ohne Zweifel ein überzeugter Deutschnationaler, 18 in vergleichbarer Weise standen auch die Archivare Lothar Groß, 19 Josef Karl Mayr, Otto Brunner, Friedrich Antonius, Fritz von Reinöhl, Walther Latzke, Paul Kletler, Taras von Borodajkewycz und Oskar Schmid 20 in mehr oder 13 14 15 11 12 16 17 18 19 20 ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 889/1938. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 914/1938. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 905/1938. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 895/1938. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 937/1938. Zu Engel vgl. W a h l , Volker: Wilhelm Engel (1905 –1964). In: Lebensbilder Thüringer Archivare, hg. vom Vorstand des Thüringer Archivarverbandes, Rudolstadt 2001, S. 55-64. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 1 216/1938. Schreiben Streichers an Bittner vom 5. April 1938, Antwort Bittners vom 12. April 1938. Auch enthalten in ÖSt A /Archiv der Republik (in Hinkunft: AdR), Inneres, Gauakt Ludwig Bittner 124 6 61. Vgl. ÖSt A /HHSt A, K A ad Zl. 106/1935, H o c h e d l i n g e r , Michael – J u s t , Thomas: „Diese Diebstähle sind einzig in der Geschichte aller Archive der Welt“. Die Affäre Grill 1951–1953. Ein Beitrag zur Personalgeschichte des Haus-, Hof- und Staatsarchivs zwischen 1. und 2. Republik. In: MIÖG 113 (2005), S. 362-388, hier S. 368, Anm. 13 und J u s t : Bittner, S. 297. E b e n d a , S. 295. H o c h e d l i n g e r , Michael: Lothar Groß 1887–1944. Zur Geschichte des österreichischen Archiv wesens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Archivalische Zeitschrift 89 (2007), S. 45-118. Vgl. zu den einzelnen hier genannten Personen die Biographien von H u t e r , Franz: Biographien der Archivbeamten seit 1749. In: Bittner: Gesamtinventar, Bd. 4, S. 1-166. Zu Borodajkew ycz vgl. S c h m i d t , Erich – K o n e c n y , A lbrecht: „Heil Borodajkew ycz!“. Österreichs Demokraten im Kampf gegen Professor Borodajkew ycz und seine Hintermänner, Wien u. a. 1966; F i s c h e r , Heinz: Einer im Vordergrund. Taras Borodajkew ycz. Eine Dokumentation, Wien 1966; K a s e m i r , Gérard: Spätes 107 Moesta 54.indb 107 05.08.2010 10:32:09 Thomas Just minder abgeschwächter Form dem großdeutschen Gedankengut nahe. Reinöhl war Ortsgruppenleiter der NSDAP in Baden-Stadt, dort auch Ratsherr und vom 12. März 1938 bis 30. April 1938 kommissarischer Leiter des Archivwesens, 21 Oskar Schmid war illegaler Nationalsozialist und ein enger Mitarbeiter Srbiks, mit dem er die Quellen zur deutschen Politik Österreichs 1859–1866 herausgab. 22 Paul Kletler war nicht Mitglied der NSDAP, sondern nur Parteianwärter, 23 Fritz Antonius war ebenfalls illegaler Nationalsozialist und sorgte nach dem Krieg im Rahmen der „Affäre Grill“ für Aufregung. 24 Walther Latzke trat am 1. Dezember 1931 der NSDAP bei, leistete von April 1932 bis Juni 1933 Dienst als Parteigerichtsbeisitzer in einem Wiener Bezirk und fungierte als Blockwart. 25 Franz Huter, 26 der 1928 in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv eingetreten war, sich 1938 in Wien bei Otto Brunner habilitierte und 1941 als außerordentlicher Professor an die Universität Innsbruck wechselte, war ebenso national eingestellt wie Wilhelm Kraus. So rühmte sich Bittner nach der Annexion Österreichs im März 1938, für die ausschließlich nationalsozialistische Zusammensetzung des Beamtenkörpers am Haus-, Hof- und Staatsarchiv verantwortlich zu sein. 27 In dieses Bild der Bittnerschen Personalpolitik passt auch der gescheiterte Versuch, den späteren Professor an den Universitäten Köln und Wien, Adam Wandruszka, als Mitarbeiter in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv aufzunehmen. 28 Erfolgreicher war Bittner im Fall von Robert Schwanke, einem Absolventen des Seminars 21 22 23 24 25 26 27 28 Ende für „wissenschaftlich“ vorgetragenen Rassismus. Die Affäre Borodajkew ycz. In: Michael Gehler, Hubert Sickinger (Hg.): Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, Thaur u. a. 1995, S. 486-501. ÖSt A /Generaldirektion (in Hinkunft: GD), Personalakt (in Hinkunft: PA) Fritz Reinöhl. ÖSt A /AdR, Inneres, Gauakt Oskar Schmid 212 2 83. S r b i k , Heinrich von – S c h m i d , Oskar (Hg.): Quellen zur deutschen Politik Österreichs 1859–1866 (5 Bände), 1934 – 1938. ÖSt A /AdR, Inneres, Gauakt Paul K letler 251 2 84. ÖSt A /AdR, Inneres, Gauakt Antonius 147 8 45. Zur Person Grills vgl. H o c h e d l i n g e r – J u s t : Affäre Grill. ÖSt A /AdR, Inneres, Gauakt Walther Latzke 2 6 65; L e h r , Stefan: Ein fast vergessener „Osteinsatz“. Deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine (Schriften des Bundesarchivs 68), Düsseldorf 2007, S. 71. Vgl. zu Huter O b e r k o f l e r , Gerhard: Franz Huter, Soldat und Historiker Tirols, Innsbruck 1999. ÖSt A /AdR, Inneres, Gauakt Bittner 124 6 61, J u s t : Bittner, S. 297; H o c h e d l i n g e r – J u s t : Affäre Grill, S. 367 und H e i ß , Gernot: Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus. In: Gernot Heiß u.a. (Hg.), Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938 –1945, Wien 1989, S. 39-76, hier S. 40-42. ÖSt A /HHSt A, K A 1 2 72/1938. Befürwortungsschreiben von Lothar Groß für die Aufnahme Wandruszkas in den Archivdienst, abgezeichnet von Bittner. 108 Moesta 54.indb 108 05.08.2010 10:32:09 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv für Osteuropäische Geschichte und Schüler Hans Uebersbergers. 29 Knapp zwei Wochen nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland erging das Ansuchen für die Anstellung Robert Schwankes an die Statthalterei. 30 Schwanke sollte in den folgenden Jahren der Spezialist für Serbien im Reichsarchiv Wien werden. Reaktiviert wurden der frühere Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Oskar von Mitis, der bereits 1926 in Pension gegangen war, und der 1920 in den Ruhestand getretene Josef Graf Hardegg, der zwischen 1942 und seinem Tod im März 1945 im Alter von 69 Jahren wieder Dienst im Haus-, Hof- und Staatsarchiv versah. 31 Sehr speziell war auch der Fall von Robert Lacroix. Nach dem missglückten Putschversuch österreichischer Nationalsozialisten am 25. Juli 1934 wurde Robert Lacroix, Archivar am Haus-, Hof- und Staatsarchiv, einige Zeit interniert und danach aus dem Bundesdienst entlassen. Ihm wurde vorgeworfen, dass er während des Putsches im Innenhof des Bundeskanzleramtes „Heil Hitler“ gerufen hatte. Bittner intervenierte heftig gegen die Entlassung von Lacroix. Im Gespräch mit dem zuständigen Kabinettsdirektor des Bundespräsidenten argumentierte er, dass Lacroix unter „unwiderstehlichem Zwang gehandelt habe“. Die zweite Argumentationslinie Bittners für Lacroix war, dass Lacroix meinen konnte, nach Übernahme der Macht durch die Regierung Rintelen sei ein „Heil Hitler“ Ruf gestattet. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Bittner mit seinen Argumenten 1934 nicht durchdringen konnte. 32 Lacroix ging nach München, arbeitete dort am Bayrischen Hauptstaatsarchiv und kam 1938 an das Haus-, Hof- und Staatsarchiv zurück. 33 Die Anstellung Lacroix’ gestaltete sich in Bayern nicht so einfach, fast scheint es, als ob der dortige Generaldirektor Knöpfler versucht hätte, die Anstellung von Lacroix zu verhindern oder zumindest zu verzögern: Bei Abwägung aller Umstände scheint es mir nicht gerechtfertigt, Herrn Dr. von Lacroix sofort als Staatsarchivar zu übernehmen. Ich meine im Gegenteil, schon alleine die Übernahme als Archivassessor sei ein sehr bedeutendes Vgl. zu Uebersberger S u p p a n , Arnold – W a k o u n i g , Marija: Hans Uebersberger (1877– 1962). In: Arnold Suppan – Marija Wakounig – Georg Kastner (Hg.), Osteuropäische Geschichte in Wien. 100 Jahre Forschung und Lehre an der Universität, Innsbruck u. a. 2007, S. 91-165. 30 ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 995/1938 und ÖSt A /AdR, Inneres, Gauakt Robert Schwanke 104 6 63. 31 Vgl. zu den beiden S e i d l , Jakob: Das Österreichische Staatsarchiv, dessen Abteilungen und führende Beamten in den letzten fünfzig Jahren. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs (in Hinkunft: MÖSt A) Erg.-Bd II/1 (1949), S. 127-138. 32 ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten Personalien 1914 – Karton 2, A kt Robert Lacroix 3 8 80/1938. 33 E b e n d a , A kt Robert Lacroix. 29 109 Moesta 54.indb 109 05.08.2010 10:32:10 Thomas Just Entgegenkommen, dazu möchte ich es für ratsam halten, die Anstellung zunächst nur auf Probe auszusprechen. 34 Lacroix erhielt im Reich Förderung durch Peter Suchenwirth, 35 der ein Empfehlungsschreiben für ihn an das Reichsministerium für Wissenschaft sandte. Darin schreibt Suchenwirth, dass Lacroix ihm von Uebersberger als ein „schneidiger und tadelloser Nationalsozialist“ geschildert wurde und das „Haus-, Hof- und Staatsarchiv immer eine Hochburg des nationalen Gedankens gewesen sei“. 36 Die Bestellung Lacroix wurde den Bayern dann offensichtlich von Berlin aufoktroyiert, Knöpfler opponierte noch mehrmals dagegen und verschleppte auch ein Antwortschreiben an Lacroix, der immer unruhiger in Wien auf Antwort aus München wartete. 37 Die Sache zog sich aber weiter in die Länge, vom 26. Februar 1936 datiert ein Schreiben Lacroix an Knöpfler, der sich auf eine Information von Hans Hirsch bezog, dass sich Knöpfler weiterhin für Lacroix einsetzte. Endlich kam Lacroix dann am 13. Mai 1936 nach München, um die Arbeit im Hauptstaatsarchiv aufzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er aber seine Ernennung zum Archivassessor noch nicht in Händen, seine Angelobung erfolgte am 15. Mai 1936. 38 Am 27. Oktober 1937 wurde Lacroix zum Beamten auf Lebenszeit und zum Staatsarchivrat ernannt. 39 Bittner bemühte sich sofort nach dem Anschluss um die Rückkehr von Lacroix, der darüber sehr erfreut war. Bereits am 18. März 1938 beantragte Bittner beim Präsidium des Reichsstatthalters dessen Wiedereinstellung. Die einzige Bedingung, die Lacroix an die Rückkehr nach Wien knüpfte war, dass der Zeitraum seit seiner Entlassung in seine Dienstzeit eingerechnet werde, „als ob ich nie entlassen worden wäre, sodaß ich in die dieser Dienstzeit entsprechende Dienstklasse eingereiht werde“. 40 Bittner drängte im Amt des Reichsstatthalters in Wien, doch die Rückkehr von Lacroix verzögerte sich. Dieser war nicht gewillt, von seinen Vorrückungsforderungen abzugehen: Bayrisches Hauptstaatsarchiv, Generaldirektion, Personalakt Lacroix, Schreiben Knöpf lers an das bayrische Staatsministerium für Kultus und Unterricht in München vom 5. Dezember 1935. 35 Zu Suchenwirth vgl. C z e i k e , Felix: Historisches Lexikon Wien, Bd. 5, Wien 1997, S. 272. 36 Bayrisches Hauptstaatsarchiv, Generaldirektion, Personalakt Lacroix, Schreiben Knöpf lers an das bayrische Staatsministerium für Kultus und Unterricht in München vom 15. März 1935. 37 E b e n d a , Schreiben von Lacroix an Knöpf ler vom 28. November 1935 und 1. Dezember 1935, Antwort Knöpf ler vom 4. Dezember 1935. 38 E b e n d a , Schreiben Knöpf ler vom 13. Mai 1936. 39 E b e n d a , Schreiben Knöpf lers an das bayrische Staatsministerium für Kultus und Unterricht in München vom 5. Dezember 1935. 40 ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten Personalien 1914 – Karton 2, A kt Robert Lacroix 901/1938. 34 110 Moesta 54.indb 110 05.08.2010 10:32:10 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Jedenfalls lege ich Wert darauf, daß auch im Falle, daß die Sache als bloße Versetzung aufgezäumt wird, dabei klar zum Ausdruck kommt, daß damit das Unrecht, das ich für mein Eintreten der Bewegung erlitten habe, wieder gut gemacht werden soll. Darauf habe ich einen Anspruch, denn ich habe immerhin etwas mehr getan als „Heil Hitler“ gerufen. Wenn das seinerzeit unter dem Regime Schuschnigg nicht ruchbar wurde, so ist das nur gut gewesen. Ich lege auch keinen Wert darauf, die Dinge heute an die große Glocke zu hängen, denn ich habe damals nur getan, was jedes national gesinnten Mannes Pflicht war, nämlich nach seinen Kräften beizutragen, eine volksverräterische Regierung zu beseitigen. 41 Die Angelegenheit sollte sich hingegen noch ziehen, Lacroix gelangte in die Mühlen der Planstellenarithmetik, es wurde zwischen Wien und Bayern um die Frage des jeweils zu besetzend Posten hin- und hergefeilscht, sodass er erst am 1. März 1939 seinen Dienst in Wien antreten konnte, die endgültige Versetzung sollte dann im Mai 1939 erfolgen. 42 Nach all den gezeigten Beispielen ist Michael Hochedlinger zuzustimmen wenn er schreibt, dass eine „deutschnationale Gesinnung regelrecht zum Anstellungserfordernis“ im Haus-, Hof- und Staatsarchiv wurde. 43 Im Zuge der massenweisen Neuübernahme von Archivgut wurde es auch not­ wendig Mitarbeiter aufzunehmen, die aus ihrer täglichen Arbeit Erfahrung mit diesem Schriftgut hatten. So wurde aus der Abteilung 13/pol des ehe­m aligen österreichischen Bundeskanzleramtes Friedrich Gortan-Greifenstein, der viele Jahre lang das politische Archiv des ehemaligen Bundeskanzleramtes geleitet hatte, in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv übernommen. 44 Neben Greifenstein kamen noch neun weitere Bedienstete aus dem Personalstand des Bundeskanzleramtes in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, dabei handelte es sich vor allem um Kanzleiund Registraturpersonal, das mit dem neu übernommenen Material gut vertraut war. 45 Ebenfalls übernommen wurde – mit dem Ordensarchiv – der Kanzlist des Deutschen Ritterordens in Wien, Walter Pillich. 46 Eine interessante Personalie ist die Nicht-Einstellung von Friedrich Heer als Archivar im Reichsarchiv Wien. Diese stand 1944 zur Diskussion, Heer wurde abgelehnt, da er nicht Mitglied der NSDAP war. 47 43 44 45 E b e n d a , A kt Robert Lacroix 1 7 38/1938, Brief Lacroix an Bittner. E b e n d a , A kt Robert Lacroix. 849/1939. H o c h e d l i n g e r : Groß, S. 83. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 3 3 41/1938. ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten Personalien 2-1-82. Übernommen wurden Josef Fischl, Friedrich Gortan Edler von Greiffenstein, Viktor Hauser, Marie Hentschel, Viktor Martis, Adalbert Schwinger, Rudolf von Steiner-Lehnburg, MariaTruntschnigg, Oskar Wilfert, Maria Zrust. 46 ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 4 819/1938. 47 ÖSt A /AdR, A kten GD ÖSt A, Zl. 69/1944 (Faszikel „Organisatorische Neueinrichtung), Besprechung im Reichsarchiv Wien am 23. Oktober 1944. Zu Friedrich Heer vgl. A d u n k a , Evelyn: Friedrich Heer. Eine intellektuelle Biographie, Wien 1995. 41 42 111 Moesta 54.indb 111 05.08.2010 10:32:10 Thomas Just Lothar Groß (1887–1944) Nach der Ernennung Bittners zum Direktor des Wiener Reichsarchivs übernahm Lothar Groß die Leitung des Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Groß und Bittner verband eine jahrelange kollegiale Freundschaft, sie arbeiteten Hand in Hand und als Team gemeinsam. Groß war auch als Nachfolger Bittners in der Direktion des Reichsarchivs vorgesehen. 48 Daher war Bittner vom frühen Tod von Groß tief getroffen. Das Archiv habe durch seinen frühen Tod „den zeit seines fast zweihundertjährigen Bestehens besten Archivar“ verloren. 49 Nachfolger von Groß wurde Josef Karl Mayr als Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs und als stellvertretender Direktor des Reichsarchivs Wien.50 2. Exkurs: Ludwig Bittner51 Ludwig Bittner wurde am 19. Februar 1877 in Wien in eine Beamtenfamilie hineingeboren. Sein Vater war Landesgerichtsrat in Wien. Sein um drei Jahre älterer Bruder Julius ergriff die Lauf bahn des Vaters und wurde Richter. Bekannt ist Julius Bittner vor allem aber als einer der erfolgreichsten österreichischen Komponisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bittner studierte ab 1894 Geschichte und Jus in Wien, absolvierte von 1897–1899 den Ausbildungskurs am Institut für Österreichische Geschichtsforschung. 52 1898 erfolgte mit einer Arbeit über „Die Begründung der Normandie“ bei Max Büdinger und Alphons Huber als Koreferent die Promotion zum Dr. phil. 1899 und 1900 studierte Bittner in Marburg an der Lahn und an der Universität Berlin. 1900 trat er schließlich in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv ein und wurde 1918 nach der Enthebung 50 51 H o c h e d l i n g e r : Groß, S. 104. E b e n d a , S. 111. ÖSTA /HHSt A, K A Zl. 766/1944 vom 22. Mai 1944. Vgl. zu Bittner neben der schon erwähnten Kurzbiographie bei Huter im ersten Band des Gesamtinventars auch J u s t : Bittner; H u t t e r e r – J u s t : Reichsarchiv; H e i ß : Österreichs deutsche Vergangenheit; S r b i k , Heinrich R itter von: Nachruf auf Oswald Redlich, Ludwig Bittner und Lothar Groß. In: Historische Zeitschrift 169 (1949), S. 448-451 und M a y r , Josef Karl: Ludwig Bittner 1877–1945. In: Neue Österreichische Biographie 14 (1960), S. 186-193. 52 Vgl. zum X X II. Institutskurs und der Beurteilung Bittners L h o t s k y , A lphons: Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 1854 –1954. (MIÖG Erg.-Bd. 17), Graz-Köln 1954, S. 276. 48 49 112 Moesta 54.indb 112 05.08.2010 10:32:11 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Schlitters stellvertretender Leiter, 1926 Direktor. 1928 wurde er Leiter des Archivamtes, 1931 Referent für das Archivwesen im Bundeskanzleramt. 1941 bis zu seinem Tod schließlich Direktor des Reichsarchivs Wien. 1904 habilitierte er sich für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Wien mit einer Arbeit über „Die Geschichte der direkten Staatssteuern im Erzstifte Salzburg bis zur Aufhebung unter der Landschaft unter Wolf Dietrich“. 1910 wurde er zum tit. a.o. Professor, 1928 zum Titularordianrius, 1940 zum Honorarprofessor an der Universität Wien ernannt. Um 1917 herum scheint Bittner versucht haben, eine Professur im Rahmen der geplanten Neugründung der Universität Salzburg zu erlangen. Über seine geplante Berufung an diese Universität existiert ein Briefwechsel mit Alphons Dopsch.53 Da dieses Universitätsprojekt nicht zustande kam, zerschlug sich dieser Plan. Nach dem Wechsel Heinrich von Srbiks auf eine Professur an die Universität Wien im Jahr 1922 erlangte das Dreigestirn Srbik-Redlich-Bittner entschei­ den­den Einfluss auf die Wiener und damit die österreichische Geschichts­ wissenschaft. Vor allem die Kommission für Neuere Geschichte Österreichs diente als Plattform für ehrgeizige Forschungsvorhaben wie die Edition der österreichischen Staatsverträge.54 Aus dieser Arbeit heraus entwickelte Bittner auch sein grundlegendes Werk über „Die Lehre von den völkerrechtlichen Vertragsurkunden“, erschienen 1924.55 Prägend war für Bittner die Erfahrung als Archivar nach dem Ende der Monar­ chie, als es den Archivaren der Nachfolgestaaten gestattet war, in den Zentral­a rchi­ ven ohne Ausnahme alle Akten mit dem Entstehungsdatum bis zum 31. Oktober 1918 durchzusehen und auszuwerten. Die einzige Schranke, die den Forschern dabei auferlegt wurde, bestand darin, dass die Ergebnisse dieser Forschungs­ tätigkeit erst ab Ende 1930 veröffentlich werden durften. Dieses nahende Jahr 1930, das basierend auf den vertraulichen Akten der k. k. und k. u. k. Ministerien eine Reihe neuer Publikationen zur Kriegsschuldfrage erwarten ließ, war für einen eminent politischen Menschen wie Bittner eine dauernde Bedrohung. Daher initiierte er unter höchster Geheimhaltung die Abfassung und Veröffent­l ichung des neunbändigen Werkes über „Österreich-Ungarns Außenpolitik 1908–1914“, das am 30. April 1926 von der Österreichischen Bundesregierung in Auftrag gegeben wurde. Bearbeitet wurden die Akten von Ludwig Bittner, Heinrich von Srbik, Hans Uebersberger und Alfred Francis Pribram, alle Professoren an ÖSt A /HHSt A, SB Nl Bittner 3. Vgl. dazu F e l l n e r , Fritz: „... ein wahrhaft patriotisches Werk “. Die Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 1897–2000 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 91), Wien-Köln-Weimar 2001. 55 B i t t n e r , Ludwig: Die Lehre von den völkerrechtlichen Vertragsurkunden, Stuttgart 1924. 53 54 113 Moesta 54.indb 113 05.08.2010 10:32:12 Thomas Just der Universität Wien, und den Archivaren des Haus-, Hof- und Staatsarchivs. 1930 gelang es die neun Bände vorzulegen.56 Und hier ist schließlich auch der Anknüpfpunkt für die fast manisch zu nennende Beschäftigung Bittners mit der Kriegsschuldfrage während seiner Zeit als Direktor des Wiener Reichsarchivs bis zum Ende des Dritten Reiches. So kämpfte Bittner darum, dass die Arbeiten des Archivs am Serbischen Aktenwerk als „kriegswichtig“ angesehen wurden. In einem Schreiben an Ernst Zipfel formulierte er im August 1944: Ich hoffe daher, dass die vom Auswärtigen Amt gemachte Feststellung, dass unsere Arbeiten kriegswichtig sind, auch weiterhin anerkannt wird u. dass ich deshalb auch Beamte halten kann, die ich zur Vollendung unbedingt brauche. Die Ueberalterung unseres Archivs, das ja das reinste Greisenasyl ist, wir zählen allein 16 Beamte über 65 Jahre, der jüngste ist 1903 geboren, erweist sich hier als ein Vorteil. 57 Es ist kein Zufall, dass gerade die Person Ludwig Bittners in einer Arbeit über die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft in der Zeit zwischen 1938 und 1945 als Beispiel für deren Wirken in deutschnationalen Organisationen herangezogen wurde.58 1937 wurde er schließlich von Walter Frank als Vertreter einer „gesamtdeutschen Wissenschaft“ in das Reichsinstitut für die Geschichte des Neuen Deutschland berufen. Im gleichen Jahr erhielt er für seine Leistungen auf dem Gebiet der Erforschung der „Kriegsschuldlüge“ und für die Verteidigung der „Aktenschätze des Ersten Reiches“ das Ehrendoktorat der Universität Berlin. Laut eigener Aussage in einem Fragebogen der Reichsstatthalterei Wien für Mitarbeiter der Universität Wien war Bittner seit dem 15. Mai 1933 Mitglied der NSDAP.59 Dieses Datum ergibt sich daraus, dass an diesem Tag ein „Kampfabkommen zwischen der Großdeutschen Volkspartei mit der NSDAP“ getroffen wurde. 60 Diese Sichtweise Bittners wurde akzeptiert, er erhielt die NSDAP Mitgliedsnummer 6 2 26 972. Bittner war Mitglied in diversen deutschnationalen Vgl. dazu Ö s t e r r e i c h - U n g a r n s A u ß e n p o l i t i k v o n d e r b o s n i s c h e n K r i s e 1 9 0 8 b i s z u m K r i e g s a u s b r u c h 1 9 1 4 . Diplomatische A ktenstücke des österreichisch-ungarischen Ministeriums des Äußeren 1-9, hg. v. Ludwig Bittner – A lfred Francis Přibram – Heinrich von Srbik – Hans Uebersberger, Wien 1930. Vgl. dazu E n g e l - J a n o s i , Friedrich: Zur Geschichte des österreichischen A ktenwerks über den Ursprung des Ersten Weltkriegs. In: Zeitgeschichte 5 (1977), S. 39-52 und B u r z , Ulfried: Die Kriegsschuldfrage in Österreich (1918 –1938). Zwischen Selbstverleugnung und Identitätssuche. In: Brennpunkt Mitteleuropa. FS für Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag, hg. v. Ulfried Burz – Michael Derndarsky – Werner Drobesch, K lagenfurt 2000, S. 97-115. 57 ÖSt A /AdR, A kten GD ÖSt A, Zl. 2 529/1944 (Faszikel Organisatorische Neueinrichtung 1944). 58 H e i ß : Österreichs deutsche Vergangenheit, S. 40-42. 59 ÖSt A /A llgemeines Verwaltungsarchiv (in Hinkunft: AVA), Unterricht KB NS-FBAssistenten Uni Wien 1a, 7. 60 H e i ß : Österreichs deutsche Vergangenheit, S. 41. 56 114 Moesta 54.indb 114 05.08.2010 10:32:12 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Vereinigungen, so haben sich in seinem Nachlass Mitgliedskarten folgender Vereine erhalten: „Deutscher Klub“ (1917), „Deutschnationaler Verein für Österreich“ (1918), „Deutschradikaler Bezirksverein in Währing“ (1919), „Alldeutscher Verband“ (1920), „Vereinigung deutscher Hochschullehrer in Wien“ (1920) und „Österreichisch-Deutsche Arbeitsgemeinschaft Wien“. 61 Er war Mitglied der Bezirksparteileitung Währing der Großdeutschen Volks­partei und Vorstandsmitglied des „Deutschen Klubs“. Dieser „Deutsche Klub“ war ein Sammel­punkt der Nationalen und Anschlussbefürworter und 1908 von dem Diplomaten Richard Riedl gegründet worden. 62 Diese Mitgliedschaft Bittners wurde offenbar vom Bundeskanzleramt in Folge der Ermittlungen nach dem Putsch­versuch der Nationalsozialisten im Juli 1934 überprüft. Im Dezember 1934 erhielt er vom Bundeskanzleramt ein Schreiben, dass gegen seine Mitglied­ schaft im „Deutschen Klub“ keine Einwände bestünden. 63 In seinem Aufnahme­ antrag an die NSDAP berief sich Bittner auch explizit auf seine Arbeiten für das „Reichsinstitut für die Geschichte des Neuen Deutschland“, für das er und Kollegen im Haus-, Hof- und Staatsarchiv wie auch im Hofkammerarchiv Verzeichnisse und Regesten über Judaica in den Archivbeständen anlegten. Weiters berief er sich darin auf seinen „Kampf gegen die Kriegsschuldlüge (unterstützt vom Berliner Auswärtigem Amt)“ den „Schutz der N.S. Beamten des Haus-, Hof- und Staats­a rchivs, das durch meine Fürsorge nur [im Original doppelt unterstrichen] aus nationalen Beamten besteht“. Auch für die Ausstellung „Der ewige Jude“ in München 1937 stellte Bittner Leihgaben zur Verfügung und ließ sich dafür nach dem „Anschluss“ in den Medien feiern. 64 Anlässlich seiner Ernennung zum Direktor des Reichsarchivs Wien im Jahr 194165 wurde Bittner einer politischen Überprüfung unterzogen, die für ihn günstig ausfiel. In der Stellungnahme der Kreisleitung wird wiederum speziell darauf hingewiesen, dass er „es verstanden habe, sein Amt von Gegnern des Nat[ional] Soz[ialismus] frei zu halten“. 66 Seine „Gebefreudigkeit“ bei Sammlungen wird gerühmt, sein Status als „alter Kämpfer“ bestätigt. An Auszeichnungen erhielt er die „Medaille G a r s c h a , Winfried R.: Die Deutsch-Österreichische Arbeitsgemeinschaft. Kontinuität und Wandel deutscher Anschlußpropaganda und Angleichungsbemühungen vor und nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“, Salzburg-Wien 1984. 62 ÖSt A /AdR, Inneres, Gauakt Ludwig Bittner 124 6 61. Dem „Deutschen Club“ gehörten auch Edmund Glaise-Horstenau, Wilhelm Bauer und Heinrich Kretschmayr an, bei Lothar Groß kann man das vermuten. Obmann des Clubs war Carl Bardolff, vgl. dazu M e n d e , Johannes: Dr. Carl Freiherr von Bardolff, ungedr. phil. Diss. Wien 1984. 63 Vgl. ÖSt A /HHSt A, SB Nl Bittner 1-3-42. 64 ÖSt A /AdR, Inneres, Gauakt Ludwig Bittner 124 6 61. 65 Die Ernennung erfolgte mit Dekret vom 7. August 1941, vgl. ÖSt A /HHSt A, Nl Ludwig Bittner 1-3-67. 66 ÖSt A /AdR, Inneres, Gauakt Ludwig Bittner 124 6 61. 61 115 Moesta 54.indb 115 05.08.2010 10:32:12 Thomas Just zur Erinnerung an den 13. März 1938“, 67 das Treudienst-Ehrenzeichen 68 und das Kriegsverdienstkreuz 2. Klasse. 69 Sein Ansehen belegt ein Zitat aus einem Brief von Srbik an Bittner: Ich danke Dir von ganzen tiefen Herzen für das gütige Telegramm, das ich heute erhalten habe. Dieser innige Dank gilt auch Deinem hervorragenden Reichsarchiv, in dem ich immer einen stolzen Besitz des deutschen Volkes gesehen habe und das unter deiner Führung seit langem die Gipfelstellung unter den deutschen Archiven errungen hat. 70 Josef Karl Mayr verfasste 1946 einen Nekrolog für die „Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung“, der auf Anweisung des neuen Generaldirektors Leo Santifaller nicht gedruckt wurde und der sich im Personalakt Bittner erhalten hat. Darin verherrlichte Mayr Bittner als „den bekanntesten Archivar der ganzen Welt“ und endete mit den Sätzen: In diesen trüben Tagen lenkte B[ittner] seine Blicke auf jene glückliche Zeit zurück in der er über die ganze Erde hin so erfolgreich hat wirken dürfen. B[ittner]s Lebenswerk wird stets ein Ruhmestitel seiner österreichischen Heimat bleiben. Er ruhe in Frieden! 71 3. Neuübernahmen von Archivgut Durch den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurde ein großer Teil der in den österreichischen Ministerien liegenden Registraturen zu Archivgut. Für das Haus-, Hof- und Staatsarchiv bedeutete dies, dass es vor allem die Akten des ehemaligen österreichischen Bundeskanzleramtes zu übernehmen hatte. Die Übernahme geschah unter der Aufsicht des Auswärtigen Amtes in Berlin. Vom 17. März 1938 datiert eine von Werner Frauendienst unterschriebene „Anweisung zur Aufarbeitung der Archivalien“. Diese besagte, dass die hinterlassenen Schriftstücke Guido Schmidts, Theodor Hornbostels 72 „und anderer“ sichergestellt werden. Die Materialien ab 30. Jänner 1938 sollten ausgesondert werden und an Botschaftsrat von Stein übergeben werden. Die übrigen Schriftstücke mussten in Kisten verpackt und der deutschen 69 70 71 ÖSt A /HHSt A, SB Nl Bittner 1-3-58. ÖSt A /HHSt A, SB Nl Bittner 1-3-62. ÖSt A /HHSt A, SB Nl Bittner 1-3-71. ÖSt A /GD, ÖSt A PA Oskar Schmid. ÖSt A /GD, ÖSt A PA Ludwig Bittner. Der neue Generaldirektor Leo Santifaller ließ sich den Nachruf in den Jahren 1946 –1951 mindestens einmal im Jahr vorlegen, der A ktenbogen trägt dann noch die Notiz von Gebhard Rath „Nach Rücksprache mit Herrn Generaldirektor wird dieser Necrolog nicht gedruckt – einlegen.“ 72 Zu Hornbostel vgl. jetzt D ö r n e r , Christian – D ö r n e r - F a z e n y , Barbara: Theodor von Hornbostel (1889–1973), Wien u. a. 2006. 67 68 116 Moesta 54.indb 116 05.08.2010 10:32:13 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Gesandtschaft zur Auf bewahrung übergeben werden. Frauendienst schreibt, dass „das letztere erforderlich ist, da zu mindestens für Hornbostel mit einer Disziplinaruntersuchung zu rechnen sein wird“. Die politischen Akten ab 1930 (es handelte sich dabei um die Akten der Abteilung 13/pol) sollten geschlossen nach Berlin gebracht werden, die Akten von 1918–1930 kamen in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv und mussten dort unter besonderem Verschluss auf bewahrt werden. Die Akten der bisherigen österreichischen Auslandsvertretungen sollten von den deutschen Auslandsvertretungen übernommen werden und von diesen an das Haus-, Hof- und Staatsarchiv abgegeben werden. Eine Woche später präzisierte Frauendienst dann seine Anweisungen nochmals. Demnach sollten folgende Aktenkomplexe ab 1930 aus dem Politischen Archiv ausgesondert und nach Berlin gebracht werden: Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Ungarn, Kleine Entente, Balkanbund, Jugoslawien, Päpstlicher Stuhl, Polen, Rumänien und Tschechoslowakei. Dazu kamen noch Akten, die in einem Geheimschrank unter Verschluss waren, wobei Frauendienst nicht ausführte, um welche Akten es sich dabei handelte, vielleicht um jene Hornbostels und Schmidts. Abschließend äußerte er noch die Ansicht, dass das Haus-, Hof- und Staatsarchiv dem Auswärtigen Amt unterstellt bleiben sollte, eine Meinung, mit der er sich bekanntlich nicht durchsetzen konnte. Die Administrative Registratur des Bundeskanzleramts sollte zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv übernommen werden. Im Archiv selbst bedeutete die Übernahme dieser gesperrten Akten vor allem eine große Umschichtung. Das Politische Archiv wurde in den Kojen des ehemaligen Habsburg-Lothringischen Familienarchivs untergebracht, da diese am einfachsten zu versperren waren. 73 Im Juli 1938 kam dann ein Großteil der Akten des Politischen Archivs aus Berlin wieder retour nach Wien. Sie wurden auf Weisung des Auswärtigen Amtes besonders sekretiert auf bewahrt, die Benützung erforderte eine vorherige Genehmigung durch das Ministerium. 74 Im September 1938 gelangte schließlich auch die Administrative Registratur des ehemaligen Bundeskanzleramtes in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv, damit war dieser Teil der Neuübernahmen praktisch abgeschlossen. 75 Es sollten noch zahlreiche weitere Archive vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv übernommen werden. Das Zentralarchiv des Deutschen Ritterordens, der auf­g e­ löst worden war, kam an das Haus-, Hof- und Staatsarchiv. 76 Ein weiteres wichtiges 75 76 73 74 ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 991/1938. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 2 4 09/1938. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 3 3 40/1938. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 3 7 35/1938. Vgl. dazu K l e t l e r , Paul: Zentralarchiv des Deutschen R itterordens. In: Ludwig Bittner (Hg.): Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs Bd. 5, Wien 1940, S. 18*. 117 Moesta 54.indb 117 05.08.2010 10:32:13 Thomas Just privates Archiv, das Schlossarchiv Jaidhof, kam ebenfalls bereits 1938 in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Es wurde zuerst von der Bezirkshauptmannschaft in Krems sichergestellt und danach in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv verbracht, wobei die Arbeiten von Wilhelm Kraus durchgeführt wurden. Aufgestellt wurde das Archiv im Depot in der Neuen Burg. 77 Im Jahr 1939 wurde von der Deutschen Ansiedlungsgesellschaft das Archiv der Herrschaft Rosenau an das Archivamt übergeben und von diesem an das Haus-, Hof- und Staatsarchiv weitergegeben. 78 Ebenfalls übernommen wurde das Archiv der Herrschaft Walpersdorf, das bis in das Jahr 1939 hinein nach Wien transportiert wurde. 79 Ebenfalls übernommen wurde die Wiener Registratur des Großpriorates Böhmen und Österreich des Johanniter-(Malteser) Ritterordens, mit explizitem Verweis auf dessen Bedeutung „für den Abstammungsnachweis des österreichischen Hochadels“. 80 Genauso erging es dem Archiv des Sternkreuzordens. Dieser Orden wurde 1938 aufgehoben. Das Archiv war auf Grund der darin enthaltenen Ahnenproben für die Abstammungsnachweise der weiblichen Mitglieder des österreichisch-ungarischen Hochadels von besonderer Bedeutung und wurde in den Jahren bis 1945 genau für diese Zwecke intensiv genutzt. In der Registratur des Sternkreuzordens befand sich auch die Registratur des „adelig-weltlichen Damenstiftes Maria Schul“ in Brünn. 81 Auch das Archiv des Herzoglichen Savoyschen Damenstifts in Wien wurde vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv übernommen. Ähnlich wie bei den vorgenannten Archiven lag der Wert für das Archiv in den Ahnenproben, die, wie Wilhelm Kraus schreibt, „wichtig für die Ermittlung der Abstammung besonders der weiblichen Mitglieder des ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 2 2 90/1938, 2 4 37/1938. Vgl. dazu K r a u s , Wilhelm: Schloßarchiv Jaidhof bei Gföhl (Niederdonau). In: Bittner: Gesamtinventar, Bd. 5, S. 20*. Die Herr­ schaft Jaidhof war seit 1884 im Besitz der Familie Guttmann, diese wurde von den Nationalsozialisten enteignet. Das Archiv wurde nach 1945 der Familie Guttmann zurückgegeben, verblieb aber als Depot im HHSt A. 78 Siehe das Übergabeverzeichnis ÖSt A /HHSt A, Zl. 2 6 67/1939. Vgl. dazu R e i n ö h l , Fritz von: Schloßarchiv Rosenau. In: Bittner: Gesamtinventar, Bd. 5, Wien 1940, S. 20*; Z e h e t m a y e r , Roman: Das Herrschaftsarchiv Rosenau im Haus-, Hof- und Staatsarchiv. In: Das Waldviertel 50 (2001), S. 383-391. 79 K r a u s , Wilhelm: Archiv der Herrschaft Walpersdorf. In: Bittner: Gesamtinventar, Bd. 5, S. 20*. Das Archiv bef indet sich nach wie vor im HHSt A, steht aber heute im Besitz eines geistlichen Ordens. 80 K r a u s , Wilhelm: Wiener Registratur des Großpriorates Böhmen und Österreich des Johanniter-(Malteser) R itterordens. In: Bittner: Gesamtinventar, Bd. 5, Wien 1940, S. 18*f. 81 K r a u s , Wilhelm: Registratur des hochadeligen Sternkreuzordens. In: Bittner: Gesamtinventar, Bd. 5, S. 19*. Zum Sternkreuzorden K a s t n e r - M i c h a l i t s c h k e , Else: Geschichte und Ver­f assung des Sternkreuzordens, Leipzig 1909. 77 118 Moesta 54.indb 118 05.08.2010 10:32:13 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv österreichischen Hochadels“ waren. 82 Ebenso gelangte das Archiv des Ordens vom Goldenen Vlies in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Große Übernahmen kamen in weiterer Folge durch die Auflösung der Generaldirektion des Familienversorgungsfonds des Hauses HabsburgLothringen in das Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Dieser Fonds wurde 1935 durch das österreichische Bundesgesetz vom 13. Juli 1935 (BGBl Nr. 299) betreffend die Aufhebung der Landesverweisung und die Rückgabe von Vermögen des Hauses Habsburg-Lothringen geschaffen. Das Archiv des Fonds fiel an das Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Parallel dazu kamen die Registratur des Kriegsgeschädigtenfonds, die Registratur der Generaldirektion der HabsburgLothringischen Vermögensverwaltung 1919–1922, die Reste der k. u. k. Privatund Familienfonds-Güterdirektion Wien, die Registratur der Herrschaft Mannersdorf und Teile des Archivs des Oberstjägermeisteramtes, das sich noch in der Verwahrung des Kriegsgeschädigtenfonds befand, in das Archiv. 83 Abgegeben wurden aus dem Bestand der Generalintendanz der Hoftheater 170 Bände Rechnungsbücher und die Registratur der Inspektion des Praters. Aus der Kanzlei des Wiener Rechtsanwalts Dr. Stritzl-Artstatt übernahm das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Teile des Archivs der Kabinettskanzlei, Bestände, die dem Habsburg-Lothringischen Familienarchiv zugeordnet wurden (darunter die Tagebücher der Erzherzogin Sophie, der Mutter von Kaiser Franz Joseph I. 84) und das Sekretariat der Kaiserin Elisabeth. 85 All diese Neuübernahmen benötigten natürlich bedeutend mehr Platz als im Gebäude am Minoritenplatz vorhanden war. Von der einreihigen Faszikel­ aufstellung musste man schon vorher einige Male abweichen, von den neu zu übernehmenden Akten wurden beispielsweise alleine die Gesandtschaftsarchive B i t t n e r : Gesamtinventar, Bd. 5, S. 8*-18*. Ein von Paul K letler erarbeitetes Verzeichnis der A hnenproben hat sich erhalten und ist als Bestand „Savoysches DamenstiftA hnenproben“ im HHSt A benutzbar. 83 Vgl. zur Frage das Habsburg-Lothringischen Vermögens jetzt B ö h m e r , Peter – F a b e r , Roland: Die Erben des Kaisers. Wem gehört das Habsburgervermögen? Wien 2004 weiters dazu M o s s e r , Ingrid: Der Legitimismus und die Frage der Habsburgerrestauration in der innenpolitischen Zielsetzung des autoritären Regimes in Österreich, phil. Diss. Univ. Wien 1979; N i k o l a , Paul – B e r a n e k , Julius: Zehn Jahre Kriegsgeschädigtenfond, Wien 1930; S c h a g e r - E c k a r t s a u , A lbin: Die Konf iskation des Privatvermögens der Familie Habsburg-Lothringen und des Kaisers und Königs Karl, Innsbruck 1922; S t r i t z l - A r t s t a t t , Fritz: Denkschrift betreffend die rechtliche Natur des Eigentums an mehreren in Deutsch-Österreich bef indlichen Vermögensmassen des Kaisers und des Erzhauses Habsburg-Lothringen, Wien 1924; T u r b a , Gustav: Neues über lothringisches und habsburgisches Privateigentum, Wien und Leipzig 1925. 84 Diese befinden sich heute als Depot im HHSt A. 85 Vgl. dazu Kraus, Wilhelm: Registratur des Sekretariats der Kaiserin Elisabeth. In: Bittner: Gesamtinventar, Bd. 5, S. 11*. 82 119 Moesta 54.indb 119 05.08.2010 10:32:14 Thomas Just Entwürfe für den Neubau des Reichsarchivs Wien 120 Moesta 54.indb 120 05.08.2010 10:32:16 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv auf eine Länge von 3,5 Kilometer geschätzt, sodass man die Hoffnung auf ein ambitioniertes Archivbauprogramm der neuen Machthaber setzte. So klingt es jedenfalls in einem Schreiben Bittners vom April 1938 durch, in dem er um die Bekanntgabe der benötigten Raumreserven für die Neuübernahmen ersuchte, worauf das Haus-, Hof- und Staatsarchiv einen Platzbedarf von mindestens 6,5 Kilometern anmeldete. 86 Bittner strebte für das Reichsarchiv eine Lösung mit einem großzügigen Archivneubau in der Wiener Innenstadt auf einem prominenten freien Bauplatz zwischen Minoritenplatz und Ballhausplatz an. Der Bauplatz war eigentlich für ein Haus der Vaterländischen Front, der autoritären Ein­heitspartei des Austrofaschismus, vorgesehen gewesen, Entwürfe von Clemens Holzmeister für diesen Bau lagen bereits vor. Die Reichsstatthalterei hatte dann den Bauplatz für einen Archivbau reservieren lassen, zog diese Widmung aber bereits 1941 wieder zurück, was Bittner zu mehreren Interventionen veranlasste. Bittner und Groß favorisierten diesen Bauplatz, da die Innenstadtlage, direkt neben der Hof burg, der Bedeutung des Reichsarchivs entsprochen hätte, außerdem wäre die Möglichkeit gegeben gewesen, den projektierten Gebäudekomplex unterirdisch mit dem vis-a-vis gelegenen Gebäude des Haus-, Hof- und Staatsarchivs zu verbinden. Alexander Popp, Rektor der Akademie der bildenden Künste und als Architekt unter anderem am Bau der Hermann Göring-Werke in Linz beteiligt, entwarf Pläne für diesen Neubau, die 1941 von Bittner und Groß im Atelier von Popp besichtigt wurden. 87 Am 10. April 1941 schrieb Bittner in dieser Sache an Baldur von Schirach, indem er sich über die nach wie vor schlechte Unterbringung der Archive beklagte und sich einen Neubau mit einem Fassungsvermögen von 80 Kilometern wünschte. 88 Die Neubaupläne wurden im Verlauf des Zweiten Weltkriegs nicht mehr weiter verfolgt, 1946 forschte die Generaldirektion des neu geschaffenen Österreichischen Staatsarchivs nach dem Verbleib der Pläne, diese konnten aber weder in den amtlichen Unterlagen noch bei den Architekten gefunden werden. Die einzigen Hinweise auf den geplanten Neubau sind Fotografien von Modellen und Plänen, die sich heute im Wiener Stadt- und Landesarchiv befinden. Diese Fotografien sind auch der einzige Nachweis für ein konkurrierendes Projekt eines anderen Architekten für den Neubau des Wiener Reichsarchivs. 89 ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 1 2 95/1938. ÖSt A /AdR, A kten der GD Zl. 1 2 71/1941 (Faszikel Räume Neubau 1940). 88 ÖSt A /AdR, A kten der GD Zl. 1 5 85/1941. Im A kt auch ein Schreiben von Hans Posse, Generaldirektor der staatlichen Gemäldegalerie in Dresden, der Bittner versprach sich für den Neubau einzusetzen. 89 Das ungebaute Wien 1800 –2000. Projekte für die Metropole. Katalog der 256. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1999, S. 354-357. Vgl. auch S e i d l , Jakob: Das Österreichische Staatsarchiv. In: MÖSt A 1 (1948), S. 3-19, hier S. 12. 86 87 121 Moesta 54.indb 121 05.08.2010 10:32:16 Thomas Just 4. Wissenschaftliche Kooperation mit nationalsozialistischen Forschungsstellen Von zentraler Bedeutung war die Auswertung der Bestände der Wiener Archive, um historisch-empirisches Datenmaterial für die NS-Staatspropaganda zu gewinnen bzw. konkrete Argumentationslinien für die Ostpolitik zu entwickeln. Hauptansprechpartner für NS-Forschungseinrichtungen waren das Haus-, Hof- und Staatsarchiv sowie das Hof­k ammerarchiv als die beiden großen Ver­w altungsarchive der Habsburgermonarchie, die die Bereiche Herrscherhaus, Außen- und Finanzpolitik abdeckten. Weniger kam dabei das Staatsarchiv des Innern und der Justiz in Frage, dessen gleichwohl enorm bedeutende Aktenbestände der politischen Verwaltung wie die der „Hofkanzlei“ oder des „Ministeriums des Innern“ durch den Justizpalastbrand 1927 zerstört oder unbenutzbar waren.90 Erste Auftraggeber waren schon seit den frühen Dreißigerjahren die „Südostdeutschen Forschungsgemeinschaft“91 und das „Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands“. Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv arbeitete seit 1937 für die Forschungsabteilung „Judenfrage“ des „Reichsinstituts“. Direkter Ansprechpartner war Dr. Wilhelm Grau, der Leiter der Abteilung. 92 Da Bittner im Mai 1937 an einer Tagung der Forschungsabteilung in München teilnahm und dort auch referierte wurde man in Wien auf die Tätigkeit des Haus-, Hofund Staatsarchivs in dieser Sache aufmerksam. In kurzer Zeit erschienen einige Artikel in verschiedenen Zeitungen, sodass das Bundeskanzleramt die amtliche Mitarbeit an den Judenregesten verbot.93 So berichtete „Die Stunde“ am 15. Mai Vgl. dazu G ö b l , Michael: Vom Judenplatz zur Wallnerstraße. Über die Anfänge des A llgemeinen Verwaltungsarchivs. In: MÖSt A 43 (1993), S. 21-42. 91 F a h l b u s c h , Michael: „Die Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft“. Politische Beratung und NS Volkstumspolitik. In: Winfried Schulze – Otto Gerhard Oexle, Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2002, S. 241-264. 92 ÖSt A /HHSt A, K A Judaica Zl. 758/1938 mit Schreiben von Grau vom 2. März 1937 an das HHSt A. Zu Grau vgl. R u p n o w , Dirk: „Arisierung“ jüdischer Geschichte. Zur nationalsozialistischen „Judenforschung“. In: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 2 (2004), S. 349-367; P a p e n - B o d e k , Patricia von: Judenforschung und Judenverfolgung. Die Habilitation des Geschäftsführers der Forschungsabteilung Judenfrage, Wilhelm Grau, an der Universität München 1937. In: Elisabeth Kraus (Hg.), Die Universität München im Dritten Reich. Aufsätze. 2 (Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München 4), München 2006, S. 209-264; B e r g , Matthias: „Können Juden an deutschen Universitäten promovieren?“ Der „Judenforscher“ Wilhelm Grau, die Berliner Universität und das Promotionsrecht für Juden im Nationalsozialismus. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 11 (2008), S. 213-227. 93 ÖSt A /HHSt A, K A Konvolut Judaica Zl. 1 8 39/1938, Denkschrift Bittner an das Amt des Reichsstatthalters in Österreich vom 25. Mai 1938. 90 122 Moesta 54.indb 122 05.08.2010 10:32:17 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv 1937 über Bittners Auftritt und kritisierte darin die Sammlung als „geistige Waffenbeschaffung für den Nationalsozialismus“. Weitere Artikel erschienen in der „Neuen Freien Presse“, in den „Morgenblättern“ vom 13. Mai 1937, im „Morgen“ ebenfalls am 13. Mai 1937, dieselbe Zeitung hatte bereits am 19. April 1937 eine Vorankündigung über die Münchner Tagung publiziert, in der Bittner mit folgender Aussage zitiert wird: Die Behauptung, daß ich in München über das Thema „Die Judenfrage und die Archive“ im Rahmen einer Sonderveranstaltung sprechen werde, ist völlig unwahr. Ich habe mit Gauleiter Julius Streicher nichts zu tun, kenne ihn auch gar nicht und das Thema meines Vortrages, das absolut unpolitisch ist, steht und lautet „Archivalienschutz in Österreich“. 94 Bittner verfasste umfangreiche Aktennotizen, die bis zum Bundeskanzler gingen, um sich in dieser Angelegenheit zu rechtfertigen. Er sah andererseits aber gar keine Veranlassung die Arbeiten einzustellen, diese wurden nun von „wissenschaftlichen Hilfskräften, die als private Archivbenützer auftreten sollten“ durchgeführt. Die Leitung für dieses Projekt übertrag Bittner an Latzke, die Arbeiten wurden von sieben wissenschaftlichen Hilfskräften, die Bittner selbst als „durchwegs illegale Nationalsozialisten“ bezeichnete, durchgeführt. Nach dem „Anschluss“ wurde die Arbeit an den Judaica Verzeichnissen laut Bittner zu „einer zusätzlichen Leistung im Dienste von Staat und Partei“. Die Arbeiten wurden nun von den wissenschaftlichen Archivaren übernommen, bezahlt wurden nur noch die Schreibkräfte. Im Haus-, Hof- und Staatsarchiv waren das praktischerweise oft die Ehefrauen der Beamten. 95 Ebenso wichtig war die Teilnahme an Ausstellungen. Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv bestückte die antisemitische Ausstellung „Der ewige Jude“, die von November 1937 bis 31. Jänner zuerst in München gezeigt wurde und vom 2. August bis 23. Oktober 1938 in der Nordwestbahnhalle in Wien Station machte. An der anlässlich der ersten großdeutschen Buchwoche in der Hof burg veranstalteten Ausstellung beteiligte sich das Haus-, Hof- und Staatsarchiv mit 94 95 ÖSt A /HHSt A, K A Konvolut Judaica Zl. 1 2 64/1937. ÖSt A /HHSt A, K A Konvolut Judaica Zl. 1 8 39/1938, Denkschrift Bittner an das Amt des Reichsstatthalters in Österreich vom 25. Mai 1938. 123 Moesta 54.indb 123 05.08.2010 10:32:18 Thomas Just zahlreichen Exponaten. Da diese Ausstellung von Reichspropagandaminister Goebbels besucht wurde, sollte ein Geschenkbuch mit ausgewählten Faksimiles hergestellt werden. Aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv wurden dafür 114 Archivalien reproduziert, u. a die Denkschrift des Freiherren vom Stein über eine deutsche Verfassung vom August 1813 und ein Bericht über das deutsche Bundesschiessen in Wien.96 1941 war eine Ausstellung mit dem Titel „Die Neuordnung Europas“ geplant, dafür wurden Stücke aus Riga und Lemberg nach Wien zur Reproduktion geschickt, 97 1943 veranstaltete das Reichsarchiv eine Ausstellung „Vom Ersten zum Dritten Reich“, die im großen Saal des Staatsarchivs des Innern und der Justiz stattfand. Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv betrieb selbst zwei große Forschungsarbeiten im Rahmen der wissenschaftlichen Aufgaben der Archivverwaltung. Ernst Zipfel hatte 1941 drei Großprojekte der staatlichen deutschen Archivverwaltung formuliert: ein „Ostprogramm“, ein „Westprogramm“ und „Publikationen der Reichsarchive Berlin-Dahlem, Potsdam und Wien“. Von Seiten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs sollten folgende Arbeiten publiziert werden: eine Monographie über die kaiserliche Kabinettskanzlei, 98 das Werk „Urkunden und Aktenstücke zur reichsrechtlichen Stellung des burgundischen Reichskreises aus den Archiven des Ersten Reiches“, das 1944 erschienen ist 99 und „Urkunden und Aktenstücke zur reichsrechtlichen Stellung des Herzogtums Lothringen aus den Archiven des Ersten Reiches“, die von Seidl bearbeitet hätten werden sollen. Im Rahmen des Westprogramms sollte Oskar Schmid „Das Archiv des deutschen Staatssekretariats in Brüssel in seiner Bedeutung für den burgundischen Reichskreis“ veröffentlichen, eine Arbeit, die durch den frühen Tod Schmids hinfällig wurde.100 Das andere geplante Großwerk war eine Aktenveröffentlichung zur Kriegsschuldfrage, da den Wiener Archivaren durch die Eroberung Belgrads die Akten des serbischen Außenministeriums in die Hände gefallen waren. Bittner wollte „seinem“ Aktenwerk über die Akten Österreichs-Ungarns nun ein Aktenwerk mit dem Titel „Serbiens Außenpolitik 1908–1918“ hinzufügen, das er auf einen Umfang von 4 500-5 0 00 Seiten hin plante.101 Die Edition sollte zwei ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 3 1 22/1938. ÖSt A /AdR, GD ÖSt A Zl. 2 8 39/1941. 98 Diese erschien erst 1963, vgl. R e i n ö h l , Friedrich: Geschichte der k. u. k. Kabinetts­ kanzlei. (MÖSt A Erg.-Bd. 7), Wien 1963. 99 G r o s s , Lothar – L a c r o i x , Robert: Urkunden und A ktenstücke des Reichsarchivs Wien zur reichsrechtlichen Stellung des burgundischen Kreises, Wien 1944. 100 ÖSt A /AdR, A kten GD Zl. 2 6 48/1941, Schreiben von Zipfel vom 22. Oktober 1941. 101 Vgl. dazu E n g e l - J a n o s i : österreichisches A ktenwerk; B u r z : Kriegsschuldfrage. Weiters W ü r t h l e , Friedrich: Dokumente zum Sarajevoprozess. (MÖSt A Erg.-Bd. 9), Wien 1978, S. 118. In den Handakten von Robert Schwanke hat sich die Instruktion von 96 97 124 Moesta 54.indb 124 05.08.2010 10:32:18 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Reihen bilden: die erste sollte den Titel „Großserbische Umtriebe vor und nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges“ tragen, die zweite Reihe hätte „Serbische Außenpolitik 1908–1918“ heißen sollen. 1944 konnte der erste Band der ersten Reihe erscheinen.102 Von der zweiten Reihe war der dritte Band zu Kriegsende 1945 druckfertig gesetzt, wurde aber nicht mehr gedruckt.103 Bittner kämpfte bis 1945 darum, dass die Arbeiten am serbischen Aktenwerk als „kriegswichtig“ eingestuft wurden.104 In einer Sitzung in Dresden im Jahr 1943 gab Bittner zu Protokoll, dass die Veröffentlichung der Arbeit von Reinöhl folgendes bewirken werde: sie wird den Zusammenhang aufdecken zwischen den serbischen Revolutionären und der serbischen Regierung. Im Verfolg dieser Arbeit ist es auch zum ersten Mal gelungen, einen urkundlichen Beweis für die Einmischung der Juden in die Weltpolitik zu erbringen (Unterstützung der serbischen Revolutionäre durch den jüdischen Weltbund in Paris). 1914 waren dieselben internationalen Kreise am Werk wie 1939. 105 Zipfel lobte die Arbeit der Wiener Kollegen mit der Bemerkung, dass die Arbeiten des Reichsarchivs Wien an einem eklatanten Beispiel zeigen würden, wie eng sich Wissenschaft und Politik mit den Arbeiten des Archivars verknüpfen.106 5. Rückbringung von Akten: Aktenraub oder „Archivschutz“? Die Besetzung der meisten Nachbarstaaten durch die Deutsche Wehrmacht versetzte die Archivare des Wiener Reichsarchivs in die Lage, auch auf dem Archivsektor eine Revision der Nachkriegsentwicklungen durchzusetzen. Nach dem Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie mussten umfangreiche Bestände an Urkunden, Handschriften, Akten und Geschäftsbüchern an die Nachfolgestaaten Tschechoslowakei, Polen, Jugoslawien bzw. den SHS-Staat, und Italien abgegeben werden. Der nationalstaatlichen Trennung folgte ebenso gegen den Willen der österreichischen Seite die Separation der Archivbestände, 102 103 104 105 106 Ludwig Bittner für die Bearbeiter und Übersetzer des A ktenwerkes über das serbische Hauptarchiv erhalten, siehe ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten X X IV. R e i n ö h l , Friedrich von: Der Fall Jeftanovic-Sola-Gavrila (Großserbische Umtriebe vor und nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1), Wien 1944. W ü r t h l e : Sarajevoprozess, S. 121. ÖSt A /AdR, A kten GD Zl. 1 531/1943: Schwerpunkt der Arbeiten jetzt in Wien, am A ktenwerk über die serbische Außenpolitik 1908 –1918 wird mit Hochdruck bearbeitet. Auftraggeber ist das Auswärtige Amt, das die Arbeit als „kriegswichtig von außerordentlicher Bedeutung“ bezeichnet hat. „Wichtigste neue Aufschlüsse zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, durch die Serbien schwer belastet wird, sind zu erwarten.“ … „gesonderte Veröffentlichung dieser Funde, damit sie in den Dienst unserer Kriegspolitik gestellt werden können“. Ebenda. Ebenda. 125 Moesta 54.indb 125 05.08.2010 10:32:19 Thomas Just manchmal unter Nichtbeachtung des Provenienzprinzips, manchmal in bewusster Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipien, in dem durch den Abtransport ein „fait accompli“ geschaffen wurde. Diese Demütigung gedachte man nun unter deutscher Vorherrschaft rasch zu vergelten, indem man die eigene Vorgangsweise als Wiederherstellung des Provenienzprinzips rationalisierte. In allen besetzten Staaten wurden, wie erwähnt, deutsche Archivkommissionen und -beauftragte installiert, davon nicht wenige aus dem Reichsarchiv selbst abkommandiert, die nach den seinerzeit übergebenen Akten fahnden sollten. Darüber hinaus galt es Wunschlisten nach Archivalien aller Art abzuarbeiten – in der neuen Position konnte die Auslieferung politisch, kunsthistorisch oder sonst interessanter Bestände nicht so leicht abgelehnt werden. 5.1. Tschechoslowakei Bereits am 30. September 1938 wandte sich Bittner an das Auswärtige Amt in Berlin, um die 1920 erfolgte Auslieferung von Wiener Archivbeständen an die Tschechoslowakei zu revidieren.107 Das Ergebnis einer am 19. Oktober 1938 in Berlin abgehaltenen Sitzung zu dieser Thematik war die Einberufung einer Archivkommission mit zwei Unterkommissionen, wovon Bittner diejenige leitete, die die Aufgabe erhielt ein Archivabkommen mit der Tschechoslowakei vorzubereiten und die für dieses Abkommen in Frage kommenden Forderungen zu sammeln.108 Bittner arbeitete wie üblich rasch und legte Mitte November einen ersten Entwurf vor, den er im Dezember, nach einem Arbeitstreffen deutscher Archivare in Wien, nochmals überarbeitete und dem Reichsminister des Innern vorlegte.109 Im Haus-, Hof- und Staatsarchiv hat sich eine Antwort auf Bittners Novemberentwurf erhalten, die von Josef Bergl verfasst wurde.110 Bergl, der im Archiv des tschechischen Innenministeriums gearbeitet hatte, wandte sich darin gegen den von Bittner vertretenen Grundsatz des Provenienzprinzips, denn diesen könnte „die Tschechoslowakei meines Erachtens nur mit Genugtuung begrüssen“. Er argumentierte, dass der Großteil des für die Geschichte des Sudetenlandes in Betracht kommenden Schriftguts ein Produkt der Zentralbehörden des Königreichs Böhmen bzw. der Landesbehörden L e h r , Stefan: „Den deutschen Einf luss beträchtlich steigern“. Archivare und Archive im Protektorat Böhmen und Mähren (1935 –1945). In: Der Archivar 61 (2008), S. 370-376, hier S. 370. 108 E b e n d a , S. 370 f. 109 E b e n d a , S. 371. 110 ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 4 553/1938. Vgl. zu Bergl L e h r , Stefan: Deutsche und tschechische Archivare in der ersten tschechoslowakischen Republik. Ein beziehungsgeschichtlicher Beitrag. In: Bohemia 48 (2008), S. 412-439, hier S. 415-420. 107 126 Moesta 54.indb 126 05.08.2010 10:32:19 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv der böhmischen Kronländer sei und innerhalb der jetzigen Grenzen der Tschechoslowakei entstanden war, sodass es bei konsequenter Anwendung des Provenienzprinzips von tschechoslowakischer Seite nicht abgegeben werden müsste.111 Bittner hingegen vertrat die Ansicht, dass das Pertinenzprinzip bereits im deutsch-tschechischen Schriftgutübereinkommen vom 11. November 1938 enthalten sei und dieses Übereinkommen Aufnahme in das Archivabkommen finden sollte.112 Von Wiener Seite wurden genaue „Richtlinien für die Abgabe und Betreuung der für das Deutsche Reich in Betracht kommenden, derzeit im Protektorat Böhmen und Mähren verwahrten Archivalien“ fixiert, die im § 2 den Rücktransport aller Archivalien, die auf Grund der Archivabkommen vom 18. Mai 1920 und 31. Mai 1922 an die Tschechoslowakei abgegeben wurden, regelten.113 Die sofort eingerichtete Deutsche Archivkommission verfügte über mehrere ihr untergeordnete, ständige Kommissionen vor Ort, z. B. im Burgarchiv und im Palais Waldstein in Prag, die die „Archivalienauseinandersetzung“ mit Hochdruck betrieben, aber auch die Aktenliquidation der tschechoslowakischen Zentralstellen überwachten und für die deutsche Seite relevante Bestände heraus zogen.114 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv erhielt 1940 aus Prag zahlreiche 1920 abgegebene Urkunden, dazu kamen auch umfangreiche Registraturen der Hof behörden wieder zurück an den Minoritenplatz.115 Andere Urkundenbestände, die ursprünglich aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv stammten, wurden 1943 von Prag nach Dresden überstellt. All diese Verbringungen wurden penibel in den Wiener Repertorien dokumentiert. 113 114 ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 4 553/1938. Ebenda. ÖSt A /Hof kammerarchiv (in Hinkunft: HK A), K A Zl. 430/1940. Siehe dazu den Bericht des Archivbeauftragen Wostry an Bittner über den Stand der Liquidierungsarbeiten tschechischer Registraturen und Archive. Siehe dazu ÖSt A /HK A, K A Zl. 324/1940. 115 Vgl. z. B. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 713/1942, einen internen A kt des HHSt A, in dem moniert wurde, dass viele A kten, die 1940 retour gekommen, aber noch immer nicht eingelegt worden waren. 111 112 127 Moesta 54.indb 127 05.08.2010 10:32:19 Thomas Just 5.2. Jugoslawien Wenige Tage nach dem Überfall auf Jugoslawien begannen die deutschen Archivare mit Überlegungen zu „Archivschutzmaßnahmen“. Auch hier begegnet man wieder der Achse Zipfel – Bittner. Die Wiener Archivare hatten vor allem aus Gründen der Forschungen an der „Kriegsschuldfrage“ größtes Interesse an den serbischen Archiven. In Serbien wirkte Robert Schwanke im Sinne des deutschen „Archivschutzes“. Schwanke war seit Juni 1941 als Kriegsverwaltungsassessor der Referent für Archivschutz beim Militärbefehlshaber in Serbien. Dabei unterstand er Ernst Zipfel, dem Generaldirektor der preußischen Staatsarchive und Kommissar für Archivschutz. Andererseits berichtete er auch direkt nach Wien an Bittner, der ihn mit Ratschlägen versorgte, aber auch häufig zurechtwies. Zipfel, der bereits seine Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit der Wehrmacht in Belgien und Frankreich gemacht hatte, gab Schwanke einige Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg: Dabei haben Sie sich z. T. mit Angelegenheiten zu befassen, deren Behandlung inmitten einer noch gährenden [!] von Leidenschaften erhitzten Atmosphäre größte Vorsicht und eine ständige genaue Ausrichtung auf die Ziele und die Taktik der maßgeblichen politischen Stellen des Reiches erfordern. 116 Schwanke entwickelte in Belgrad eine rege Tätigkeit, mit der er immer wieder aneckte. Vorrangig ging es darum die aus Wien nach Belgrad verbrachten Registraturen zu sichern und wieder nach Wien zurückzuführen. Dies geschah so bei der Registratur des bosnisch-herzegovinischen Departements des k. u. k. österreichisch-ungarischen gemeinsamen Finanzministeriums, das 1919 aus Wien nach Belgrad verbracht worden war. Schwanke wollte auch das Archiv der bosnisch-herzegowinischen Landesregierung für das Reichsarchiv Wien sichern. Hier aber widersprach ihm Bittner, der die Ansicht vertrat, dass das Archiv zwar im Sinne der Kriegsschuldfrage in Wien ausgewertet, danach aber nach dem Provenienzprinzip an die Kroaten zurückgegeben werden sollte. Am wichtigsten aber war es, die Archive des serbischen Außenministeriums zu sichern und nach Wien zu bringen. Hier sollten diese Unterlagen ausgewertet und publiziert werden. 1943 wurden Akten aus serbischen und montenegrinischen Hofregistraturen sowie Akten des serbischen Außenministeriums in ihrem Auslagerungsort Cacak durch Schwankes Mitarbeiter entdeckt, gesichtet und für die Verbringung nach Wien vorbereitet. Schon früher wurden als dritte Gruppe 1200 türkische Urkunden sowie mittelalterliche Urkunden aus Ragusa nach Wien verschleppt. 116 ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten X X IV, Schreiben Zipfel an Schwanke vom 8. Juli 1941. 128 Moesta 54.indb 128 05.08.2010 10:32:20 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv In Belgrad fand Schwanke dazu noch Akten über die Kärntner Volks­ abstimmung, an denen das Reichsgauarchiv Kärnten Interesse anmeldete.117 Im November 1941 hatte Schwanke dann auch bereits seine Fühler in Richtung Stadtarchiv Semlin ausgestreckt, hier sollte er die Bestände sichern, die Quellen zur Geschichte des Deutschtums in jener Gegend enthielten. Die Konkurrenz zwischen den verschiedenen in Serbien tätigen Stellen zeigt sich auch am Konflikt, der sich um das Patriarchatsarchiv Karlowitz entzünden sollte. Die Urkunden dieses Archiv waren vom Einsatzstab Rosenberg sichergestellt worden und sollten nach Wien überführt werden. Schwanke war vehement dafür, Zipfel dagegen, da es sich um einen Bestand handelte, der von den Kroaten beansprucht werden konnte. Das Politische Archiv des Königreichs Serbien wurde am 22. Dezember 1941 nach Wien gebracht. Hier begannen Hans Uebersberger und Alois Hajek 118 mit der Bearbeitung der Akten.119 Schwanke scheint keine einfache Person gewesen zu sein, er eckte in Belgrad immer wieder an, Er war Dr. von Reiswitz unterstellt, der von Zipfel als Nichtfachmann eingeschätzt wurde: Unbefriedigend bleibt Ihre Stellung im Verwaltungsstab und das Verhältnis zu Ihren Vorgesetzten, besonders der Umstand, daß ein Nichtfachmann das „Hauptreferat“ für Archivangelegenheiten hat und Sie nur dessen Handlanger sind. … oder lassen Sie sich nicht etwa – aus einem Gefühl der Verbitterung heraus – selbst in einen Zustand der Einflusslosigkeit hineindrängen, der gar nicht beabsichtigt ist. 120 Zipfel war mit Schwankes Verhalten nicht immer glücklich, in den zahlreichen Briefen an ihn übte er oft heftige Kritik: Ich habe Ihnen mehr als einmal deutlich zu erkennen gegeben, daß Sie das Ihnen persönlich Mitgeteilte unbedingt für sich behalten müssen und wiederhole diese Mahnung nochmals in dringender Form. 121 Die Spannungen mit von Reiswitz schienen nicht beigelegt werden zu können, Anfang Juli sollte Schwanke für den Frontdienst eingezogen werden und durch den bayerischen Archivrat Dr. Zentner ersetzt werden. Damit drohte sowohl Zipfel als auch Bittner die Vertrauensperson in Belgrad abhanden zu kommen, ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten X X IV, Schreiben Wutte an Schwanke vom 6. Oktober 1941. 118 S c h w a r z , Iskra: A lois Hajek (1889–1966). In: Suppan – Wakounig – Kastner: Ost­ europäische Geschichte in Wien, S. 167-188. 119 ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten X X IV, Abschrift eines Schreibens Bittners an Zipfel über die bisher geleisteten Arbeiten an den serbischen A kten, genaue Beschreibung der übernommenen A ktenbestände und weitere Anweisungen für Schwanke, datiert 31. Jänner 1942. 120 ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten X X IV, Zipfel an Schwanke, 13. März 1942. 121 ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten X X IV, Zipfel an Schwanke, 29. Juni 1942. 117 129 Moesta 54.indb 129 05.08.2010 10:32:20 Thomas Just daher wurde Schwanke dringend aufgefordert die Arbeiten im Interesse des Reichsarchivs Wien so weit wie möglich zu treiben. Die Gründe für die Ablösung Schwankes sind möglicherweise in einem Gesprächsprotokoll vom 3. Juni 1942 aus Belgrad zu finden. Generaldirektor Zipfel, der Chef des Verwaltungsstabes in Belgrad Staatsrat Harald Turner, 122 von Reiswitz, Staatsarchivar Rohr und Schwanke nahmen daran teil. Daraus geht hervor, dass Schwanke oft eigenmächtig handelte und überhaupt Probleme hatte, „das Persönliche vom Sachlichen zu trennen“. Schwanke wird von Turner in diesem Protokoll dahingehend charakterisiert, daß er „als Spürhund tadellos gearbeitet hat, es aber an der nötigen Arbeitseinteilung fehlen lasse. Vor lauter Details sehe er nicht die großen Linien.“ Das Protokoll enthält auch den Vorwurf Schwankes an von Reiswitz, dass dieser zu serbenfreundlich sei.123 Dies begründete Schwanke mit der Tatsache, dass von Reiswitz mit dem serbischen Archivdirektor Bata befreundet war. Interessanterweise wurde Schwanke auch von Bittner aus Wien immer wieder dringend empfohlen, sich in den Arbeitsgang seiner Belgrader Behörde einzufügen: Ein Rest von Selbsterkenntnis muss Ihnen doch sagen, dass Sie sich in erster Linie selbst in die Lage gebracht haben, in der Sie sich jetzt befinden und dass es gar nichts anderes gibt, als die helfende Hand zu ergreifen, die sich Ihnen bietet. 124 Es nützte nichts, Schwanke wurde im August von Dr. Zeltner abgelöst und musste im August und September 1942 drei Wochen verschärften Stubenarrest wegen Diebstahls absitzen. Danach rechtfertigte er sich nochmals verbittert bei Zipfel: Damit verliert aber auch das Referat für Archivschutz seine Berechtigung und wird zur blossen Sinecure oder dem, was sich Reiswitz darunter vorstellt. Nicht Schutz der deutschen Interessen sondern aller vorwiegend serbischer Kulturwerte. Also Handlangerei für serbische Schwärmereien, die man serbischerseits zur gegeben Zeit mit einem Fusstritt belohnt. So zeichnet sich schon die kommende Entwicklung am Horizont ab. 125 Schwanke wurde aus Belgrad abberufen, ein Umstand, der in Wien zu einiger Verbitterung führte und die Zusammenarbeit mit dem „Archivschutz“ in Belgrad Zu dem 1947 in Belgrad hingerichteten Harald Turner vgl. M a n o s c h e k , Walter: „Serbien ist judenfrei!“ Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42. (Schriftenreihe des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes 38), München 1993, d e r s : „Gehst mit Juden erschießen?“. Die Vernichtung der Juden in Serbien. In: Hannes Heer – K laus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, 2. Auf l. Hamburg 1995, S. 39-56. 123 ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten X X IV, Gesprächsprotokoll vom 3. Juni 1942. 124 E b e n d a , Bittner an Schwanke vom 19. August 1942. 125 E b e n d a , Schwanke an Zipfel, 2. September 1942. Beiliegend auch ein A ktenvermerk Schwankes zu „Beobachtungen im Kriegswehrmachtsgefängnis Belgrad“. 122 130 Moesta 54.indb 130 05.08.2010 10:32:20 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv nicht einfacher machte. Als Kontrahenten tauchen die Kriegsverwaltungsräte von Reiswitz und Zeltner auf, in einer Sitzung gab Bittner am 4. November 1942 zu Protokoll: „Dieser ist serbenfreundlich, wir sind es nicht“.126 1943 bedankte sich Bittner bei Zipfel, „dass Sie mir das Zusammensein mit Dr. Zeltner ersparen. Es führt tatsächlich zu nichts, weil er dann doch macht, was er will.“127 Die Akten des serbischen Außenministeriums sollten in einer eigenen Arbeit über die Außenpolitik Serbiens zwischen 1908–1914 publiziert werden.128 Noch 1946 arbeitete Schwanke im Staatsarchiv „im geheimen“ an der Aktenpublikation, zu einer Zeit, als im Wiener Staatsarchiv bereits über die Rückgabe der geraubten Akten mit Jugoslawien verhandelt wurde. 5.3. Belgien In Belgien sollte Oskar Schmid, Experte für die belgischen Bestände des Haus-, Hof- und Staatsarchivs und ausgezeichnet durch seinen umfangreichen Beitrag dazu im Gesamtinventar, 129 diese Stelle übernehmen. Neben der „Archivschutztätigkeit“ hatte Schmid auch einen umfangreichen Aktenaustausch zwischen Wien und Brüssel vorzubereiten, der die „unsystematischen Archivalienauslieferungen, die sich in den Jahren 1856–1875 unter dem Titel eines Austausches vollzogen“130 hatten, korrigieren sollte. Schmid und Bittner als sein Wiener Chef hatten dabei die Erfahrung zu machen, dass Schmid in der Person von Georg Sante ein rangjüngerer Kollege vorgesetzt wurde. Ein Umstand, der zu Interventionen Bittners bei Zipfel führte, war Oskar Schmid doch eigentlich in dem Glauben nach Brüssel abgereist als Leiter der Abteilung Archivschutz innerhalb des Verwaltungsstabes des Militärbefehlshabers in Brüssel zu wirken. Ursprünglich hätte Georg Sante diesen Posten übernehmen sollen, Bittner aber hatte im Reichsministerium des Innern für Schmid interveniert. Das OKH setzte sich darüber hinweg und bestätigte Sante als Dienststellenleiter. Schmid war darüber nicht besonders erbaut, und schwärzte Sante in einem Schreiben an Lothar Groß an: „S[ante] arbeitet äußerst wenig und wird am Nachmittag überhaupt nicht sichtbar. Man könnte ihn ganz gut entheben“.131 Neben den Arbeiten an den habsburgischen Beständen in den belgischen Archiven versuchte Schmid auch Auskünfte über die Archive der Familie des 128 129 ÖSt A /AdR, A kten GD ÖSt A Zl. 2 817/1942 (Konvolut Organisatorische Neueinrichtung). ÖSt A /AdR, A kten GD ÖSt A Zl. 1 0 33/1943 (Konvolut Organisatorische Neueinrichtung). M u s i a l : Staatsarchive, S. 160. S c h m i d , Oskar: Belgien. In: Ludwig Bittner (Hg.), Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs Bd. 4, Wien 1938, S. 79-360. 130 E b e n d a , S. 79. 131 ÖSt A /HHSt A, Nl Lothar Groß 7-149, Brief Oskar Schmid an Groß vom 20. Juni 1941. 126 127 131 Moesta 54.indb 131 05.08.2010 10:32:21 Thomas Just letzten habsburgischen Kaisers Karl I. zu bekommen. In einem Schreiben vom 12. Februar 1941 erwähnt Schmid den Ort Steenokerzel, der ab 1929 als Wohnort der Familie von Kaiser Karl gedient hatte. Die Familie war von hier 1940 nach Amerika emigriert.132 Erschwert wurden die Arbeiten Schmids durch eine schwere Krankheit. Er litt seit dem Ersten Weltkrieg an einem Lungenleiden, schonte sich während der Arbeit in Belgien nicht und arbeitete anscheinend trotz hohen Fiebers weiter. Dies bewog Bittner Schmids Rückberufung nach Wien bei Zipfel zu betreiben, da er ganz offen fürchtete, dass Schmid bei weiterer Belastung dienstunfähig werden würde.133 Schmid verließ aus gesundheitlichen Gründen Brüssel bereits im Juli 1941 und verstarb am 21. August 1942 in Baden bei Wien.134 Einen guten Einblick in die Vorgehensweise bei der Archivverlagerung aus Brüssel nach Wien liefert ein aufschlussreiches Schreiben von Karl Brandi 135 aus dem Jahr 1940. Brandi stellte für die Wiener Archivare das Idealbild eines Historikers dar, wie zahlreiche Schreiben, die beinahe Huldigungscharakter haben, an ihn beweisen.136 Sante hatte sich an Brandi gewandt, er bat ihn um Berichte und Studien über Wiener Archivalien zum Zwecke des „Archivschutzes ÖSt A /AdR, A kten GD Belgien 1941 Zl. 598/1941. Die Ausarbeitungen und Materialien von Oskar Schmid über die Anforderungen durch das Reichsarchiv Wien f inden sich in ÖSt A /AdR A kten GD Belgien 1941 Zl. 2 7 70/1941. 133 ÖSt A /AdR, A kten GD Belgien 1941 Zl. 1 4 96/1941. 134 H e r r e b o u t , Els: Georg Sante und der deutsche Archivschutz in Belgien während des Zweiten Weltkrieges. In: Das deutsche Archiv wesen, Essen 2007, S. 208-216, hier S. 209 ff. Zum Tode Schmids vgl. ÖSt A /GD, PA Oskar Schmid, mit einer Würdigung seiner Verdienste in Belgien in einem Schreiben an Generaldirektor Zipfel: „… die Leistungen, die er dort noch als schwerkranker Mann vollbracht hat, reihen auch Oskar Schmid – und nicht an letzter Stelle – mit ein in die große Zahl der Opfer, die der Freiheitskampf unseres deutschen Volkes erfordert“. 135 Zu Brandi P e t k e , Wolfgang: Karl Brandi und die Geschichtswissenschaft in Göttingen. In: Hartmut Boockmann: Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, S. 287–320; E r i c k s e n , Robert P.: Kontinuität konservativer Geschichts­s chreibung am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte: Von der Weimarer Zeit über die nationalsozialistische Ära bis in die Bundesrepublik. In: Heinrich Becker – Hans-Joachim Dahms – Cornelia Wegeler (Hg.): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, 2. Auf l. München 1998, S. 427-453. 136 ÖSt A /HHSt A, K A 1 7 11/1938 Schreiben an Karl Brandi zu seinem 70. Geburtstag: „Schon in der Vorkriegszeit waren Sie uns stets ein gerne gesehener, lieber Gast und sind es uns die traurigen Jahre des Zusammenbruches der alten Monarchie und des unheilvollen österreichischen Separatismus hindurch bis zum heutigen Tag geblieben. Darüber hinaus aber haben wir in Ihnen schon in der Vorkriegszeit und erst recht in den bitteren Jahren der Nachkriegszeit, die unser altes Oesterreich dem deutschen Vaterlande dauernd zu entfremden drohten, einen der hervorragendsten Vertreter der deutschen Wissenschaft erblickt, der uns die deutsche Sendung des alten Oesterreich immer aufs neue klar vor Augen stellte und in hervorragendem Maße dazu beigetragen hat, daß wir auch in den letzten zwanzig Jahren, da es um das deutsche Schicksal unseres Rumpfstaates ging, die 132 132 Moesta 54.indb 132 05.08.2010 10:32:21 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv und der Archivalienrückführung“. Brandi kontaktierte Bittner und vertrat darin die Ansicht, dass er für das Archiv von Lille gerne „eine bessere Erreichbarkeit“ hätte, „soweit Maximilian und Margarete in Frage kommen“. Brandi meinte, wenn es nicht nach Wien komme, dann sollte es wenigsten nach Brüssel kommen, denn: „Sie haben in Lille nichts zu tun, gehören vielmehr nach Brüssel oder Wien“.137 Nach umfangreichen Recherchen durch Schmid forderte das Wiener Reichsarchiv schließlich von belgischer Seite folgende Bestände:138 a. b. c. d. e. f. g. das Archiv der „Chancellerie Autrichienne“ aus den Archives du Royaume die Akten des Reichshofrates aus dem Archiv in Lüttich Teile des Wynants’schen Archivs Chancellerie de Marie de Hongrie (zwei Schachteln) Teile aus den Manuscrits divers Teile aus dem Bestand Deutsches Staatssekretariat Nachlass Baron Defonseca, 35 Aktenbündel des Bestandes Secrétaire d’état et de guerre h. aus dem Nachlass Marcy d’Argenteau die Faszikel 36-58 (Korrespondenz) i. die Archive Kaiser Karls V. und seiner beiden Statthalterinnen (Teile aus den Papiers d’état et de guerre) Das Jahr 1942 war vor allem durch Verhandlungen von Sante mit dem belgischen Generalarchivar Tihon geprägt. Im Juni 1942 notierte Bittner nach einer Besprechung mit Zipfel, dass die „Archivverhandlungen mit Belgien an einen toten Punkt“ gelangt waren.139 Von belgischer Seite wurde die Ablieferung der Gesandtschaftsakten de Fonseca, Mercy d’Argenteau, der Manuscrits divers und der Chancellerie de Marie de Hongrie akzeptiert, bei der Secrétairerie d’état war Belgien grundsätzlich bereit diese abzugeben. Schwieriger wurde es bei den in Lüttich verwahrten Reichshofratsakten, wobei Belgien hier an und für sich die Argumentation des Reichsarchivs anerkannte. Hingegen lehnte Belgien die Herausgabe der Chancellerie autrichienne und der Korrespondenzen Karls V. völlig ab. Im Gegenzug sollte Wien die Ecclesiastica und andere Splitterbestände aus dem Repertorium Belgien DD abgeben, Lüttich für die Abgabe der Reichshofratsakten mit 220 Urkunden des Klosters Val Notre Dame (1175–1622) entschädigt werden. Von Wiener Seite wurden für weiteres Entgegenkommen der belgischen Seite die 500 niederländischen Urkunden und die Akten des gesamtdeutsche, auf die Heimkehr ins Reich gerichtete Grundhaltung keinen Augenblick verlassen haben“. 137 ÖSt A /AdR, GD ÖSt A Zahl Zl. 1 2 86/1940. 138 ÖSt A /AdR, A kten GD Belgien 1941 Zl. 2 512/1941. 139 ÖSt A /AdR, A kten GD Belgien 1942 Zl. 163/1942. 133 Moesta 54.indb 133 05.08.2010 10:32:22 Thomas Just Außenamtes des Erzherzogs Albert und der Infantin Isabella angeboten.140 Da die belgische Seite wenig Entgegenkommen zeigte, versuchten die Vertreter des Reichsarchivs Wien anscheinend Druck über den Militärbefehlshaber in Belgien auf Tihon auszuüben, was diese aber ablehnten: Da die Militärverwaltung nicht in der Lage ist, den vom Wiener Reichsarchiv geforderten Austausch anzuordnen und zwangsweise durchzuführen, ist es erwünscht, daß das Wiener Reichsarchiv sich mit dem von hier aus vorgeschlagenen weiteren Verfahren einverstanden erklärt. 141 Das weitere Vorgehen sah Verhandlungen mit der belgischen Seite vor, die am 3. November 1942 in Wien bei einer Sitzung zum Thema Belgien, an der von Wiener Seite Bittner, Groß und Mayr, von Seiten des Archivschutzes Generaldirektor Zipfel, Archivrat Rohr und Sante anwesend waren, vorbereitet wurden. Dabei einigte man sich, dass mit dem Austausch von Splitterbeständen nicht belgischer Provenienz im Generalarchiv in Brüssel sofort begonnen werden könne. Von deutscher Seite sollten dafür belgische Splitterbestände aus deutschen Archiven abgegeben werden. In weiterer Folge wollte man ein Abkommen über die großen Bestände erreichen und nach Abschluss dieses Abkommen sofort mit der Übergabe kleinerer Teile der Bestände beginnen.142 Der Archivalienaustausch wurde Mitte 1943 durchgeführt. Das Wiener Reichsarchiv erhielt 35 Bände „Papiers du Baron Fonseca“, 143 19 Faszikel „Archives de la famille Mercy Argenteau“ und 20 Bände der „Manuscrits divers“. Im Gegenzug gab das Haus-, Hof- und Staatsarchiv die „Ecclesiastica“ aus dem Bestand Belgien ab.144 Inzwischen hatte sich auch das Verhältnis zwischen den Wiener Archivaren, die ja durchwegs Freunde von Oskar Schmid gewesen waren, und George Sante stark gebessert. In einem Schreiben an Groß dankte Sante ihm für die Anerkennung, die er seiner Arbeit in einem Brief aussprach: „Die Anerkennung gerade von Ihnen zu erhalten, ist für mich besonders ehrenvoll“.145 Zu weiteren Abtauschungen kam es dann durch den Verlauf des Krieges nicht mehr. Robert Lacroix war kurze Zeit in Frankreich und Brüssel eingesetzt. Im französischen Nationalarchiv war er auf der Suche nach Akten, die für das Reichsarchiv Wien interessant hätten sein können. An konkreten Funden nannte Lacroix in einem Schreiben an Bittner Akten der interalliierten Kommission über ÖSt A /AdR, A kten GD Belgien 1942 Zl. 2 0 70/1942, Schreiben von Sante an den belgischen Generalarchivar Tihon vom 31. März 1942. 141 ÖSt A /AdR, A kten GD Belgien Zl. 3 0 88/1942, Abschrift des Schreibens des Militär­ befehlshabers in Brüssel vom 16. Oktober 1942. 142 ÖSt A /AdR, A kten GD Belgien Zl. 3 0 88/1942. 143 Vgl. dazu C o r e t h , Anna: Persönlichkeit und A ktennachlass des Marc Defonseca. In: MÖSt A 28 (1975), S. 89-114. 14 4 ÖSt A /AdR, A kten GD Belgien Zl. 2 2 83/1942. 145 ÖSt A /AdR, A kten GD Belgien ad Zl. 363/1943, Sante an Groß am 19. Februar 1943. 140 134 Moesta 54.indb 134 05.08.2010 10:32:22 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv die Volksabstimmung in Kärnten 1920.146 An weiteren Forderungen dachte man an osmanische Urkunden. 1925 kamen bereits solche Urkunden aus Paris retour, Groß nahm an, dass sich noch weitere in Paris befanden. Angeblich interessierte sich Hans Hirsch auch für die Einrichtung eines Historischen Instituts in Paris.147 5.4. „Osteinsatz“ Walther Latzke wurde Leiter des neu gegründeten Reichsarchivs in Troppau. Mit Schreiben vom 20. September 1938 hatte das Amt des Reichsstatthalters in Österreich alle Dienststellen aufgefordert, Bedienstete zu nennen, die die tschechische Sprache in Wort und Schrift beherrschten. Von Seiten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs wurde darauf hin Latzke für einen etwaigen Einsatz in den neu erworbenen böhmischen Gebieten nominiert.148 Latzke hatte einschlägig publiziert und beherrschte Tschechisch in Wort und Schrift. Er wurde per Schnellbrief des Reichministeriums des Innern am 25. Oktober 1938 zur „Sicherung der Bestände des staatlichen Archivs in Troppau“ angefordert und reiste am Tag des Eintreffens des Briefes nach Reichenberg ab, um sich beim zuständigen Reichskommissar zu melden.149 Er übernahm 1939 die Leitung des neugeschaffenen Reichsarchivs in Troppau, wobei die dienstrechtliche Versetzung dorthin endgültig erst im Jahre 1940 erfolgen sollte.150 1943 wurde er dann in die Ukraine abkommandiert, arbeitet im Kiever Landesarchiv und sollte sich dann um den Auf bau eines Referates Deutschtumsgut in der Ukraine kümmern, das schließlich in ein eigenes „Deutschtumsarchiv“ münden sollte.151 Aktiv beteiligte Latzke sich an Verlagerungen aus Kiev: Eine aktive Rolle nahm dagegen vor allem der Ostforscher Latzke ein, der sich bereitwillig an den räuberischen Verbringungen von Deutschtumsarchivalien nach Troppau beteiligte und nicht zuletzt persönliche Interessen verfolgte, da er die Bestände für seine eigenen Forschungen auswerten wollte. 152 Nachfolger Latzkes in Troppau wurde Wilhelm Kraus, der im Juni 1942 als provisorischer Leiter des dortigen Reichsarchivs eingesetzt wurde und bis zum Ende des Krieges dort verblieb.153 148 149 150 151 ÖSt A /AdR, A kten GD ÖSt A Karton 12. ÖSt A /HHSt A, SB Nl Bittner 3-1-144: Groß an Bittner, 20. Juni 1940. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 3 529/1938. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 4 0 07/1938. ÖSt A /GD, PA Walther Latzke. L e h r : Osteinsatz, S. 198 ff und S. 202-208. Zu Latzkes Tätigkeit bei den Auslagerungen aus Kiev siehe e b e n d a , S. 211 ff. 152 L e h r : Osteinsatz, S. 227. 153 W i n t e r , Otto Friedrich: In memoriam Wilhelm Kraus. In: MÖSt A 32 (1979), S. 487492, hier S. 489. ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 772/1942. 146 147 135 Moesta 54.indb 135 05.08.2010 10:32:22 Thomas Just 6. Auslagerung und Rückbringung von Archivgut Eine der wichtigsten Aufgaben während des Weltkrieges war es, das wertvolle Archivgut vor den Folgen der Bombardierung Wiens zu schützen. Im Zuge der Sudetenkrise wurden erste Pläne zur Evakuierung des Archivguts erarbeitet. Im Ernstfall wollte man folgende Bestände aus dem Archivgebäude am Minoritenplatz flüchten: Die in der Dauerausstellung gezeigten Archivalien, Urkunden, Reichsregister, Handschriften, das Neue Politische Archiv, das politische Archiv bis 1918, die Kurrentakten samt Direktionsakten seit 1919, das Mainzer Erzkanzlerarchiv, die Archive der Reichshofkanzlei und des Reichshofrats, die Nationalia, die außerdeutschen Staaten, die Große Korrespondenz und die Kriegsakten. Insgesamt errechnete man einen Transportbedarf von 77 LKW-Fuhren mit je drei Tonnen Nutzlast.154 Zwar glaubte man zu Beginn des Krieges wohl noch nicht daran, dass Wien jemals Ziel von Fliegerangriffen werden würde, aber man wollte doch vorbereitet sein. So begann man mit den Verlagerungsmaßnahmen bereits zu Beginn des Zweiten Weltkrieges und verbrachte schon am 1. September 1939 die Reichshofratsarchivalien in den Keller des Haus-, Hof- und Staatsarchivs. Gleichzeitig begann man, in der näheren Umgebung des Archivs nach geeigneten und sicheren Unterbringungsmöglichkeiten zu suchen. Der alte Weinkeller der Hof burg wurde besichtigt, aber für zu feucht befunden. Als tauglicher Fluchtort für die wertvollsten Archivalien wurde der neue Luftschutzraum der Konsularakademie im IX. Wiener Gemeindebezirk ins Auge gefasst, allerdings hatte man auf diesen Raum dann doch keinen Zugriff, er sollte der Wiener Bevölkerung im Ernstfall zur Verfügung stehen. So musste man sich mit dem Tresor des Staatsarchivs des Innern und der Justiz begnügen, wohin man Anfang September 1939 die Reichsregisterbände brachte.155 Außerdem wurden die Brandschutzmaßnahmen im Archiv verstärkt. Die große Welle der Archivbergungen begann erst mit dem Jahr 1942, als die Bombenangriffe auf Städte im Deutschen Reich immer mehr zunahmen und man mit Recht befürchtete, dass auch Wien bald Ziel solcher Angriffe werden könnte. Allerdings beschränkte man sich anfangs noch darauf, Teile des Archivs in Keller im Wiener Stadtgebiet auszulagern. Im Verlauf des folgenden Jahres begann man dann aber auch in Wien, den Ernst der Lage zu erkennen. Im August 1943 flogen die Alliierten den ersten Luftangriff auf Wiener Neustadt, sodass man sich in den Wiener Archiven zu hektischer Betriebsamkeit gezwungen sah. Ein Großteil des Archivguts des Haus-, Hof- und Staatsarchivs wurde in 154 155 ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten SR X V I, GZ 3 3 04/1938. ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten SR X V, GZ 3 5 06/1939, 3 521/1939. 136 Moesta 54.indb 136 05.08.2010 10:32:23 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv den Jahren 1943 und 1944 evakuiert. Die Unterbringungsorte waren: Schloss und Pfarrhof in Dobersberg im nördlichen Waldviertel, das Schloss Fronsburg, ebenfalls im Waldviertel, der Pfarrhof Blumau, Stift Geras, der Pfarrhof von Zissersdorf, das Müllnerhaus in Deinzendorf, Schloss Guntersdorf, der Parrhof von Haizendorf, der Pfarrhof von Japons, der Pfarrhof in Kirchberg an der Wild, das Stift Klosterneuburg, das Schloss Markhof, der Parrhof von Nondorf, Schloss Oberhöflein, der Pfarrhof von Obritzberg, Schloss Unter-Dürnbach und der Pfarrhof von Trabenreith. In Wien wurden die 2 675 Einheiten der Serie „Decisa“ aus dem Archiv des Reichshofrats in die Peterskirche gebracht, in der Kirche des Deutschen Ritterordens in der Singerstraße wurden die beschlagnahmten Archivalien des Deutschen Ritterordens eingelagert, dazu wurden der Keller der Hof burg, der Keller des Hofkammerarchivs, der Giro- und Kassenverein in der Rockhgasse 4 und die Laimgrubenkirche in Mariahilf als Evakuierungsorte genutzt.156 Ebenfalls im Jahr 1943 erging vom Generaldirektor der staatlichen Archive die Weisung, alle Findbehelfe besonders gut zu schützen. Sie sollten entweder fotokopiert oder auf Schmalfilm gesichert werden.157 Die umfangreichen Verlagerungsarbeiten erforderten auch die Anlage eines sogenannten „Kleinen Generalkataloges“, indem die nicht geborgenen Bestände und ihr Lokat im Archiv verzeichnet wurden. Dieser Katalog wurde von Mayer angelegt und als Archivbehelf 556 aufgestellt.158 Im Jahr 1944 wurden endlich auch die wichtigsten und wertvollsten Bestände des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in das Bergwerk Lauffen bei Bad Ischl transportiert. Die mehr als 6 6 00 Einheiten umfassten das Mainzer Erzkanzlerarchiv, die Antiqua des Reichshofrats, die Voten und Relationen des Reichshofrats, die Künstlerkorrespondenz des Hof burgtheaters, die Gremial- und Präsidialakten des k. k. Reichsrates bis 1858, die Organisierungskommission, Kanzleidirektion und Varia und Indices des Reichsrates. Dazu wurden die wertvollen in der Ausstellung im Haus-, Hof- und Staatsarchiv gezeigten Stücke in Urkundenkisten gesammelt in den Stollen eingebracht, weiters große Teile des Archivs des Deutschen Ritterordens, das Neue Politische Archiv, Archiv des Präsidiums des österreichischen Außenamtes, das Archiv des Chifferndepartements des österreichischen Außenamtes, die Sammlung der Berichtskopien, Teile des Archivs Greifenstein, die politischen Archive der österreichischen Konsulate und Gesandtschaften und Teile des Nachlasses Riedl. Natürlich wurde die tägliche Arbeit im Archiv durch diese Auslagerungen stark eingeschränkt. Ein Großteil der Akten war nicht mehr benützbar, Aushebungen in ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten SR X V I. In der Laimgrubenkirche wurden die Protokolle und Indices der Kabinettskanzlei untergebracht. 157 ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten SR X V I, GZ 1 8 71/1943. 158 E b e n d a , GZ 1 3 23/1944. 156 137 Moesta 54.indb 137 05.08.2010 10:32:23 Thomas Just den ausgelagerten Beständen waren nur unter erschwerten Umständen möglich, im weiteren Verlauf des Krieges wurde es immer schwieriger Kontrollfahrten zu den zahlreichen Ortschaften durchzuführen. Vom 6. August 1944 datiert ein Die Archivare Seidl und Groß (Bildmitte) bei der Begehung einer Auslagerungsstätte Einblick in einen mit Archivgut befüllten Stollen im Bergwerk Lauffen Bericht über eine Besichtigung der drei Ausweichstellen Dobersberg Schloss, Dobersberg Pfarrhof und Blumau Pfarrhof. Die Besichtigung wurde von Robert Schwanke durchgeführt, der bei dieser Gelegenheit auch Rückstellungs- und Aushebearbeiten unternahm und von verschiedenen Problemen berichtete. Für Schwanke, der ein überzeugter Nationalsozialist gewesen ist, ging die größte Gefahr von den auf dem Gutshof in Dobersberg anwesenden ungarischen Juden aus: Einen grossen Unsicherheitsfaktor bedeuten die auf dem Gutshof als Arbeiter verwendeten ungarischen Juden. Auch die Söhne des früheren Verwalters (Mischlinge) die am Gutshof ständig angestellt sind (z. B. als Kutscher u.a.) und sich vorderhand sehr anständig aufführen, könnten von diesem nur un günstig beeinflusst werden. 159 Die umfassenden Auslagerungen erschwerten natürlich auch den Benutzer­ betrieb erheblich. Bereits 1938 waren die allgemeinen Benutzungsbedingungen 159 E b e n d a , GZ 1 1 36/1944. 138 Moesta 54.indb 138 05.08.2010 10:32:24 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv verschärft worden. Polnische Forscher benötigten eine Genehmigung durch das Auswärtige Amt, alle sonstigen ausländischen Anträge auf Archivbenutzung von Akten nach 1894 wurden auf die Beschreitung des diplomatischen Weges über die Berliner diplomatische Vertretung des jeweiligen Benutzers verwiesen. Ausgenommen von dieser Regelung waren nur die ungarischen Staatsarchivare, hier sollte die bisherige Art der Benutzung stillschweigend weiterlaufen. Grundsätzlich mussten die Namen und die Nationalität jedes Forschers an das Auswärtige Amt, nach der Unterstellung des Archivs unter das Reichsministerium des Innern an dieses gemeldet werden.160 Erschwert wurde die Archivbenützung für Juden, denen es nur noch erlaubt wurde das Archiv zur Familienforschung und zur „Erforschung des jüdischen Volkstums“ zu benutzen, wobei hier eigens betont werden musste, dass es „nach wie vor grundsätzlich unzulässig ist, ausländischen Benützern einen Ariernachweis abzuverlangen“.161 Die Benutzerzahlen sanken im Verlauf des Krieges natürlich, so besuchten im Jänner 1944 noch erstaunliche 27 Forscher das Archiv, im September des gleichen Jahres waren es nur noch neun Benutzer pro Tag.162 Neben den Verlagerungen des eigenen Archivguts übernahm das Haus-, Hof- und Staatsarchiv auch zahlreiche Unterlagen von privaten Personen zur Auf bewahrung. 1944 befanden sich fast 70 „fremde Deposita“ im Archiv oder im vom Archiv als Ausweichdepot genutzten Bankkeller. Darunter waren u.a. die orientalischen Handschriften der Konsularakademie, zehn Erd- und Himmelsgloben von Max Allmayer-Beck, ein Paket mit Manuskripten von Heinrich Fichtenau, wissenschaftliches Material des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Teile des Nachlasse von Erzherzog Franz Ferdinand sowie die Privatbibliothek von Leo Santifaller und das wissenschaftliche Material der Wiener Abteilung der Monumenta Germaniae Historica.163 Waren die Auslagerungsarbeiten im Jahr 1944 endlich abgeschlossen, machte es die immer näherrückende Front erforderlich, Maßnahmen zur Rückholung der ausgelagerten Bestände zu ergreifen. Am 12. Jänner 1945 fand im Reichsarchiv Wien eine Sitzung in Gegenwart des Generaldirektors der Reichsarchive Dr. Zipfel statt, in der dieser forderte, die gefährdeten Ausweichstellen zu räumen.164 Dies war allerdings in Ermangelung von Transportgelegenheiten kaum noch möglich. In dieser Sitzung wurde die Räumung der Ausweichquartiere Markhof und Kirchstetten diskutiert, da diese nahe an der Ostgrenze und der Protektoratsgrenze lagen. Von Bittner wurde diese Räumung mit dem Hinweis auf die Weigerung 160 162 163 164 161 ÖSt A /HHSt A, ÖSt A /HHSt A, ÖSt A /HHSt A, ÖSt A /HHSt A, ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 3 111/1938, 3 9 27/1938. K A Zl. 2 0 49/1938, 3 5 41/1938. K A Zl. 159/1944. Direktionsakten SR X V I, GZ 361/1944. Direktionsakten SR X V I, GZ 47/1945. 139 Moesta 54.indb 139 05.08.2010 10:32:24 Thomas Just Das Archivgebäude am Minoritenplatz 1 nach 1945 des Regierungspräsidiums, dem Archiv Transportmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, abgelehnt. Ebenfalls angesprochen wurde die Möglichkeit, den Keller des Haus-, Hof- und Staatsarchivs durch einen Wall aus Bauschutt gegen schräg einfallende Fliegerbomben zu schützen, ein Plan, der ebenfalls am Arbeitskräftemangel scheiterte.165 Das Gebäude des Haus-, Hof- und Staatsarchivs blieb von einem Bombentreffer verschont, sodass im Nachhinein betrachtet all die Mühen der Auslagerungen eigentlich umsonst gewesen waren.166 An Schäden am Gebäude am Minoritenplatz waren vor allem zerschossene und zerbrochene Glasscheiben zu nennen, es gab in mehreren Zimmern Einschüsse und die Front zum Ballhausplatz hatte einen Granateinschuss abbekommen.167 Nach Kriegsende war man bestrebt, die ausgelagerten Bestände so rasch wie möglich wieder nach Wien zu transportieren. In 51 Rückführungstransporten wurde bis 1947 das Archivgut wieder an seinen alten Platz am Wiener Wie Anm. 72. S e i d l : Staatsarchiv, S. 9-10. 167 ÖSt A /HHSt A, Zl. K A 204/1945. 165 166 140 Moesta 54.indb 140 05.08.2010 10:32:26 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Minoritenplatz geschafft.168 Ganz ohne Verluste ging der Krieg aber nicht an den Beständen des Haus-, Hof- und Staatsarchivs vorbei. In Obritzberg wurde bei Kampfhandlungen der Pfarrhof in Brand geschossen, sodass die Akten des Österreichischen Staatsrates aus der Zeit von 1760–1833 vollkommen vernichtet wurden. In einem Nebengebäude des Pfarrhofes waren vor allem Bestände des Oberstkämmereramtes, Obersthofmarschallamtes, des Hof baudepartements und des Deutschen Ritterordens untergebracht, auch hier gab es Verluste: von 2 6 00 Einheiten blieben rund 1 8 00 erhalten. Die Protokolle des Staatsrates waren auf Schloss Dobersberg untergebracht und überstanden den Krieg unversehrt. Die wertvollsten Bestände des Archivs, die im Stollen in Lauffen untergebracht waren, blieben völlig unversehrt.169 Allerdings kam ein großer Teil der Bestände nicht sofort nach Wien zurück. Die Akten des Politischen Archivs des Österreichischen Bundeskanzleramtes/Auswärtige Angelegenheiten, das Kabinettsarchiv des österreichischen Außenamtes von 1918–1938, die Geheimakten des Reichsstatthalters in Wien, die Geheimakten des Reichskommissars Bürckel und ein Teil des Nachlasses des Gesandten Riedl, wurden an die USA Dokumentenabteilung in Linz übergeben.170 Auch die im Schloss Guntersdorf untergebrachten Archivalien litten unter den Folgen des Krieges. Diese wurden von russischen Truppen zum Teil vernichtet oder verstreut. Besonders betroffen war dabei das Archiv des Malteser Ritterordens.171 Einen Sonderfall stellte das Archiv des Stifts Klosterneuburg dar. Dieses war zwischen dem Wiener Reichsarchiv und dem Wiener Stadtarchiv umstritten. 1941 kam das Stiftsarchiv unter die Verwaltung des Archivs der Stadt Wien, ein Umstand, der vom Wiener Reichsarchiv nicht akzeptiert wurde. Die Streitigkeiten und Verhandlungen zogen sich durch das gesamte Jahr 1942 172 und wurden erst 1943 entschieden. Durch einen Führererlass wurden die Klosterneuburger Kunstschätze zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen, die wissenschaftliche Betreuung sollte durch das Kunsthistorische Museum, die Nationalbibliothek und das Reichsarchiv Wien erfolgen. Die Münzsammlung ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten SR X V I, GZ 216/1945, weitergeführt bis 1947 und GZ 831/1947 und 1 0 66/1947 mit Liste der Transporte vom 12. Oktober 1946 bis 9. Oktober 1947. 169 E b e n d a , GZ 330/1945. Vgl. dazu K r a u s , Wilhelm: 10 Jahre Österreichisches Staatsarchiv 1945 –1955. In: MÖSt A 8 (1955), S. 248-250. Hier auch eine Gesamtliste der Verluste des HHSt A. 170 ÖSt A /HHSt A, K A GZ 447/1945, Bericht vom 10. Oktober 1945 von Jakob Seidl über seine Fahrt nach Lauffen und Linz und die Übergabe des Archivs an die amerikanische Dokumentenabteilung. 171 ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten SR X V I, GZ 425/1945. 172 ÖSt A /AdR, GD ÖSt A Zl. 3 0 60/1942: A ktennotiz von Groß, dass ein Führerentscheid zum Konf likt um K losterneuburg besteht, der regelt, dass das Archiv an das Wiener Reichsarchiv fallen soll. 168 141 Moesta 54.indb 141 05.08.2010 10:32:26 Thomas Just des Stifts sollte an ein neu zu gründendes Münzkabinett in Linz gehen. 173 In der Phase zwischen 1941 und 1943 hatte Rudolf Geyer vom Wiener Stadtarchiv ein Inventar des Stiftsarchivs erarbeitet. Auf Basis dieser Vorarbeiten erfolgte danach auch eine Aufteilung der Bestände des Stiftsarchivs zwischen Reichsarchiv und Wiener Stadtarchiv.174 An das Stadtarchiv fielen dabei vor allem die Archivalien aus der ehemaligen Patrimonialverwaltung des Stifts, der wertvolle Urkundenbestand, die Rechnungsbücher der einzelnen Ämter, das Kanzleiarchiv, die Verwaltungsakten, Prälatur-Erledigungen, Kirchenrechnungen, das Archiv des Stifts St. Dorothea und die Herrschaft St. Bernhard kamen an das Reichsarchiv. Hierbei fällt vor allem auf, dass sich das Reichsarchiv die Urkunden und Akten des ehemaligen Stifts St. Dorothea in Wien sicherte, was eigentlich gegen den vorher jahrelang gepf legten Brauch der Archivalienbereinigung zwischen den Staatsarchiven und dem Archiv der Stadt Wien verstieß. All die Jahre davor hatte man klösterliche Archivalien, die auf dem Gebiet der Stadt Wien entstanden waren, an das Stadtarchiv abgegeben, nun aber ging man von dieser Praxis ab. Von Seiten des Reichsarchivs übernahm Lacroix die Betreuung des Stiftsarchivs. Dieser hatte sich auch um die Sicherung der Archivalien zu kümmern, dafür erhielt das Archiv im Stift einen eigenen Bergeraum, der im Jahr 1943 fertiggestellt wurde. 175 Das Archiv des Stifts wurde am 14. Juni 1945 wiederum an das Stift Klosterneuburg zurückgegeben. Bei dieser Gelegenheit wurde auch der Klosterneuburger Traditionscodex, der in den Hof burgkeller in Wien in Sicherheit gebracht wurde, zurückgegeben. 176 Im Anschluss an die Übergabe scheint sich ein Disput zwischen dem Klosterneuburger Stadtpfarrer P. Oswald Roth und Lacroix entwickelt haben, der auf einen Besuch deutscher Archivare im Jahr 1944 zurückging und sich auf dabei angeblich von Lacroix getätigte Äußerungen über das Stift und die Chorherren bezog. Demnach hat Roth Lacroix bei der Übergabe gefragt, ob er noch zu seinen „abfälligen, ja Vgl. dazu den Beitrag von Brigitte R igele in diesem Band und ÖSt A /AdR, A kten GD ÖSt A Zl. 1 0 05/1943. Zu den Sammlungen für die in Linz neu zu gründenden Museen vgl. jetzt K i r c h m a y r , Birgit: „Kulturhauptstadt des Führers“? Anmerkungen zu Kunst, Kultur und Nationalsozialismus in Oberösterreich und Linz. In: Birgit Kirchmayr (Hg.): „Kulturhauptstadt des Führers“ Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich. (Ausstellungskatalog der Oberösterreichischen Landesmuseen) Linz 2008, S. 33-58. 174 ÖSt A /HHSt A, Direktionsakten SR X V I GZ 276/1945, hier auch die Liste der Aufteilung des Stiftsarchivs. 175 E b e n d a GZ 1 658/1943, Amtserinnerung von Lacroix über seine Besprechung mit Fritz Dworschak, Direktor des Kunsthistorischen Museums in Wien, in K losterneuburg. 176 Wie Anm. 174. Die Übergabe wurde von Lacroix, Dr. Geyer (Archiv der Stadt Wien), Pater B. Czörnig (Stiftsarchivar) und dem K losterneuburger Stadtpfarrer Roth durchgeführt, das Übergabeprotokoll noch vom Kanzleidirektor des Stifts, Koberger, unterfertigt. A ls Beilage enthält der A kt ein Verzeichnis aller von Lacroix durchgeführten Dienstfahrten nach K losterneuburg mit Beschreibung seiner dort durchgeführten Tätigkeiten. 173 142 Moesta 54.indb 142 05.08.2010 10:32:26 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv feindseligen Äußerungen über das Stift, den Hl. Leopold und die Geistlichen, auch über die Art des Grunderwerbs durch das Stift stünde“, die er vor etwa einem Jahr bei einem Vortrag vor etwa 14 führenden deutschen Archivfachleuten gemacht habe. 177 Lacroix wusste sofort, auf welche Situation Roth anspielte, der von dieser Sache durch eine dritte Person Mitteilung erhalten hatte. Es handelte sich dabei um das Treffen der Leiter der größten deutschen Archivverwaltungen in Wien vom 10.-12. Mai 1944, die bei dieser Gelegenheit auch Klosterneuburg besuchten, wo Lacroix eine kleine Ausstellung für die Besucher eingerichtet hatte. 178 Natürlich wies Lacroix diese Anschuldigungen zurück und bot auch Oskar von Mitis auf, der bei dieser Josef Karl Mayr (1885–1960) Veranstaltung einen kurzen Vortrag über die frühe Geschichte von Klosterneuburg gehalten hatte. Allerdings entkräftet die Stellungnahme von Mitis nicht den Vorwurf gegen Lacroix, da Mitis nur zu seinen eigenen Ausführungen Stellung nimmt und es durchaus möglich erscheint, dass Lacroix bei dieser Tagung der „Kurfürsten“ despektierliche Äußerungen über das Stift und dessen Geschichte gemacht hatte. 179 7. Neustart nach der Befreiung 1945 Nachdem das Wiener Reichsarchiv 1945 durch das Behördenüberleitungsgesetz in das Österreichische Staatsarchiv umgewandelt worden war, begann eine neue Ära des Umbruchs. Vor allem in personeller Hinsicht kam es zu großen Veränderungen. Ludwig Bittner hatte sich im April 1945 das Leben genommen, ein Großteil der Belegschaft wurde pensioniert oder schied infolge der Entnazifizierungsgesetze aus dem Dienst.180 Direktor Josef Karl Mayr wurde im März 1946 von seinem Posten enthoben und im Juni 1946 zwangspensioniert.181 ÖSt A /HHSt A, K A Zl. 285/1945. ÖSt A /AdR, GD ÖSt A Zl. 866/1944. 179 Vgl. dazu auch ÖSt A /HHSt A 248/1945 Bericht von Lacroix über seinen ersten Besuch in K losterneuburg nach Kriegsende, indem er am Schluss vermerkt, dass ein Handtuch aus dem Besitz des Reichsarchivs verschwunden ist. 180 Vgl. dazu K r a u s : Österreichisches Staatsarchiv, S. 260. 181 ÖSt A /GD, PA Josef Karl Mayr. 177 178 143 Moesta 54.indb 143 05.08.2010 10:32:27 Thomas Just Mayr wurde von Jakob Seidl abgelöst, dem einzigen wissenschaftlichen Beamten des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, der nicht Mitglied der NSDAP oder Parteianwärter gewesen war. Seidl wurde im September 1947 als Leiter des Haus-, Hof- und Staatsarchivs abgelöst und übernahm die Leitung des Allgemeinen Verwaltungsarchivs. Er verstarb bereits 1951. Paul Kletler wurde erst sehr spät, mit 4. Juni 1947, von seinem Posten enthoben, obwohl er aus den NS Registrierungslisten gestrichen worden war. Ihm wurde ein Schreiben aus dem Jahr 1938 zum Verhängnis, in dem er beim Reichsstatthalter um eine kurze Audienz für Walther Latzke ansuchte, der diesem den Vorschlag unterbreiten wollte, Adolf Hitler möge bei seinem nächsten Wien Aufenthalt die Reichskleinodien in seine Obhut nehmen.182 Kletler wirkte danach als Archivar des Deutschordenszentralarchivs in Wien. 183 Friedrich Antonius, der bereits 1933 der NSDAP beigetreten war, wurde ebenso entlassen wie Walther Latzke und Robert Lacroix. Für Latzke intervenierte zwar das Generalsekretariat der ÖVP bei Santifaller, zu einer Neuanstellung kam es jedoch nicht mehr. Er kam danach im neugegründeten Deutschen Bundesarchiv als Leiter der Filiale Frankfurt unter.184 Friedrich Reinöhl wurde 1945 entlassen und verbrachte sogar kurze Zeit in Haft. Vor dem Volksgerichtshof wurde er 1946 vom Verbrechen des Hochverrats freigesprochen, obwohl laut Urteil „der Verdacht des Verbrechens des Hochverrats nicht vollständig entkräftet erscheint“.185 Reinöhl, der bis 1945 auch das Archiv der Universität Wien betreute, blieb dem Österreichischen Staatsarchiv aber nach wie vor verbunden, wie die Aufnahme seiner „Geschichte der k. u. k. Kabinettskanzlei“ in die Schriftenreihe des Österreichischen Staatsarchivs beweist.186 Auch Robert Schwanke wurde von der neuen Republik entlassen. Taras Borodajkewycz, der 1943 an die Prager Universität berufen worden war, wurde nach 1945 nicht mehr an das Haus-, Hof- und Staatsarchiv zurückgeholt, sondern 1946 aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Dieser Entlassungsbescheid wurde 1950 aufgehoben. In Wien arbeitete er zunächst im Umfeld von Leo Stern 187 und danach in Salzburg als Lektor im Otto Müller Verlag. 1955 wurde er Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Hochschule für Welthandel in Wien. Borodajkewycz scheint hinter einer 184 185 ÖSt A /GD, PA Paul K letler. L a m p e , Karl H.: Nachruf Paul K letler (1893 –1966). In: MÖSt A 21 (1968), S. 532-534. ÖSt A /GD, PA Walther Latzke. ÖSt A /GD, PA Friedrich Reinöhl. Abschrift des Volksgerichtsurteils vom 29. Oktober 1947 GZ VG 1c VR Zl. 2 9 50/46. 186 G o l d i n g e r , Walter: Nachruf Friedrich Reinöhl (1889–1969). In: MÖSt A 22 (1970), S. 540-542, R e i n ö h l , Friedrich: Geschichte der k. u. k. Kabinettskanzlei. (MÖSt A Erg.-Bd. 7), Wien 1963. 187 ÖSt A /GD, PA Taras Borodajkew ycz. Vgl. zu Leo Sterns Wiener Zeit H o c h e d l i n g e r – J u s t : Affäre Grill, S. 379 f. 182 183 144 Moesta 54.indb 144 05.08.2010 10:32:28 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Veröffentlichung in den „Salzburger Nachrichten“ im Sommer 1952 zustehen, in der die neuen Mitarbeiter des Haus-, Hof- und Staatsarchivs abgekanzelt, die bis 1945 tätigen Archivare aber als „Gralsrunde“ gefeiert wurden.188 Möglicherweise wollte man ihm dies von Seiten des Staatsarchivs heimzahlen, 1957 strengte die Generaldirektion des Staatsarchivs ein Disziplinarverfahren gegen Borodajkewycz wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses an. Man warf ihm vor, einen geheimen Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Ignaz Seipel und Dr. W. Bauer aus dem Jahr 1928 publiziert zu haben. In diesem Briefwechsel soll Seipel Zweifel über den Bestand des österreichischen Staates in seinen damaligen Grenzen geäußert haben. Das Disziplinarverfahren wurde von der Hochschule für Welthandel im Jahr 1958 eingestellt.189 Im Haus-, Hof- und Staatsarchiv hingegen brach die Zeit der neuen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an. Anna Coreth war 1946 die erste Neueinstellung, 190 Gebhard Rath, Hanns Leo Mikoletzky, Richard Blaas, Rudolf Neck, Otto Winter, Hans Wagner, Erika Weinzierl und Heinz Grill 191 sollten folgen. Ihnen gelang es in der Zeit nach 1945, den guten Ruf des Archivs wieder herzustellen, als erstes und glänzendes Beispiel sei hier die Festschrift zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Haus-, Hof- und Staatsarchivs im Jahr 1949 genannt. Daneben hatten die neuen Beamten die harte und mühsame Aufgabe der Rückführung der ausgelagerten Bestände, Neuaufstellung und in vielen Fällen auch der Neuverzeichnung zu übernehmen. Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv hatte unter der Leitung von Ludwig Bittner und Lothar Groß bereits in der Zeit vor 1938 wissenschaftlich einen bedeutenden Ruf. Der weltanschaulich geschlossene Mitarbeiterstab verfolgte seine wissenschaftlichen Ziele, die für die Archivare des Haus-, Hof- und Staatsarchivs sehr oft auch politische Ziele waren, konsequent. Dies zeigte sich bereits in der Aktenpublikation zur Kriegsschuldfrage 1930, im Umgang mit dem Putsch der Nationalsozialisten 1934 und den Arbeiten für das „Reichsinstitut für die Geschichte des Neuen Deutschland“. Die Mitarbeiter konnten sich dabei immer auf die Rückendeckung durch ihren Chef Ludwig Bittner verlassen, der, wie im Fall Lacroix gezeigt wurde, persönliche Interventionen bis in höchste Regierungskreise nicht scheute, wenn er sich für „seine“ Mitarbeiter einsetzte. Salzburger Nachrichten 5./6. Juli 1952. Vgl. dazu H o c h e d l i n g e r : Groß, 114 f. und H o c h e d l i n g e r – J u s t : Affäre Grill, S. 386 f. 189 ÖSt A /GD, PA Taras Borodajkew ycz. 190 Vgl. den Nachruf von Leopold Auer auf der Homepage des Österreichischen Staatsarchivs: http://w w w.oesta.gv.at/site/cob_ _30818/5164/default.aspx, zuletzt abgerufen am 11. Februar 2010. 191 Zu Grill und dessen Malversationen vgl. H o c h e d l i n g e r – J u s t : Affäre Grill und S t o y , Manfred: Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929–1945. (MIÖG Erg.-Bd. 50), Wien 2007, S. 319. 188 145 Moesta 54.indb 145 05.08.2010 10:32:28 Thomas Just Nach dem „Anschluss“ 1938 sahen viele der Archivare am Wiener Minoritenplatz nicht nur politisch eine neue Zeitrechnung anbrechen. Fachlich waren die Erika Weinzierl führt Julius Raab, Leopold Figl und Sektionschef Chaloupka durch die neue Ausstellung im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Archivare der Ära Bittner und Groß durchwegs hervorragend. Daher sahen viele auch große Chancen durch den „Anschluss“. Neue Berufsmöglichkeiten taten sich auf. Im immer sehr engen Berufsumfeld von Archivaren und Historikern boten sich durch die Expansionspolitik des NS-Regimes nun vermehrt Chancen auf angesehene und lukrative Stellungen. Archivare wie Walter Latzke, Wilhelm Kraus oder Taras Borodajkewycz versuchten diese zu nutzen und waren damit Nutznießer dieser Politik. Nach der Befreiung 1945 kehrte die neue Republik im ideologisch wichtigen Fach der Geschichtswissenschaft zu Recht mit einem eisernen Besen aus und enthob die meisten Archivare des Haus-, Hof- und Staatsarchivs von ihren Posten. Die Personalpolitik vor 1945 rächte sich bitter, das Archiv stand personell und inhaltlich vor einem völligen Neuanfang, der, wie die Affäre Grill gezeigt hat, nicht ganz reibungslos vor sich ging. 146 Moesta 54.indb 146 05.08.2010 10:32:29 Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv Den neuen Archivarinnen und Archivaren aber gelang es dennoch, den Ruf des Hauses rasch wieder herzustellen und das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in der internationalen Forschungslandschaft als das zu etablieren, was es ist: eines der bedeutendsten historischen Archive der Welt. Dies ist das Verdienst der Generation der nach 1945 aufgenommenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 147 Moesta 54.indb 147 05.08.2010 10:32:29