BLATTSCHNEIDERAMEISEN Der perfekte Staat Das Staatswesen der tropischen und subtropischen Blattschneiderameisen zeichnet sich durch die komplexeste Arbeitsteilung aus, die je in der Tierwelt entdeckt wurde. 1. Ernte Blattschneiderameisen können innert Kürze ganze Bäume entlauben, indem sie deren Blätter in Stücke schneiden und abtransportieren. Späherinnen suchen zuerst einen geeigneten Baum und führen dann Erntearbeiterinnen an den Fundort. Die Ernteameisen besitzen einen zu einem Messer umfunktionierten Unterkiefer, mit dem sie im Akkord Stücke aus den Blättern sägen. Dabei vibriert ihr Abdomen, was das Blatt in Schwingungen versetzt und das Schneiden erleichtert. Die Blattstücke werden fallen gelassen oder den Baumstamm hinuntergetragen. DANIEL RÖTTELE, MARINA BRÄM (INFOGRAFIK) STEFAN BACHMANN (TEXT) Der Hochzeitsflug Einmal pro Jahr entwickeln sich in der Kolonie einige tausend geflügelte, fortpflanzungsfähige Weibchen und Männchen. Ihr Hochzeitsflug ist zeitlich genau synchronisiert mit demjenigen der anderen Staaten in der Umgebung. Nach der Paarung in der Luft versuchen die begatteten Weibchen, einen neuen Staat zu gründen, indem sie ein Erdloch buddeln und Eier und einige Pilzfäden hineinlegen. 2. Transport Trägerinnen transportieren die Blattstücke nach dem Prinzip des Stafettenlaufs ins Nest. Dabei reisen auf den Blattstücken häufig Pygmäenameisen mit. Sie haben die Aufgabe, parasitäre Fliegen abzuwehren. Diese versuchen nämlich, den Trägerinnen ihre Eier auf den Nacken zu legen. Die entschlüpfenden Fliegenlarven dringen später in den Ameisenkörper ein, was für das Opfer tödlich ist. Trotz ihrer geringen Grösse vermögen die Pygmäenameisen die Fliegen mit ihren Beinen und Kiefern abzuwehren. 3. Pilzzucht Die in den Bau getragenen Blattstücke dienen der Pilzzucht. Als Erstes schneiden Arbeiterinnen die Blätter in immer kleinere Teile. Dann werden die Stücke zu Brei verarbeitet und mit Kot gedüngt. Andere Ameisen geben Pilzfäden und selber produzierte Wachstumshormone bei, worauf der Pilz sich vermehrt. Dank Antibiotika aus Spezialdrüsen wird das Wachstum anderer Pilze verhindert. Der gezüchtete Pilz ist die Hauptnahrung des ganzen Ameisenstaats; in der Pilzkammer werden aber auch die Larven und Puppen gehegt. Die Ameisenstrasse Kastensystem: Je nach Aufgabe ein anderer Körperbau Wegsystem: Alle Wege führen ins Nest Grosse Kolonien bestehen je nach Ameisenart aus bis zu 8 Millionen Tieren. Die Weibchen werden anhand ihres Körperbaus in drei Kasten (Königin, Soldatin, Arbeiterin) eingeteilt. Bei den Arbeiterinnen bestehen mehrere Unterkasten. Die angegebenen Masse beziehen sich auf die Art Atta cephalotes. Das Areal der Nahrungssuche innerhalb einer einzelnen Kolonie kann die Grösse von über einem Hektar erreichen. Die Karte zeigt die Wege einer Kolonie der Art Atta colombica im Urwald Panamas aus der Vogelperspektive. 1,8 m Auf den handbreiten Ameisenstrassen haben bis zu zehn Trägerkolonnen gleichzeitig Platz. Spezialisierte «Strassenbauerinnen» halten die Trassen vegetationsfrei und sauber. 10 mm Königin Die Königin wird bis zu 35 mm lang. Sie ist zunächst geflügelt, wirft die Flügel nach der Staatsgründung aber ab. Soldatin Die rund 23 mm grossen Soldatinnen verteidigen den Staat. Sie haben riesige Kiefer und greifen auch Säugetiere an. Arbeiterin Arbeiterinnen (5–16 mm) wachsen stetig, wobei sich auch der Körperbau verändert. Je nach Grösse übernehmen sie andere Aufgaben. Pygmäenameise Die Miniarbeiterinnen sind 200-mal leichter als die grössten Arbeiterinnen. Sie wehren Fliegen ab (siehe «Transport»). Nesteingänge Erntestellen Baumkronen Ameisenstrassen QUELLE: B. HÖLLDOBLER, E. O. WILSON: «BLATTSCHNEIDERAMEISEN – DER PERFEKTE SUPERORGANISMUS» (SPRINGER-VERLAG) 50 m Das Nest Die Königinnenkammer Perfektes Recycling Je nach Ameisenart erreicht das Nest riesige Ausmasse. Allein der aus ausgeworfenem Material bestehende Nesthügel kann eine Fläche von 70 Quadratmetern einnehmen. Unter dem Boden legen die Ameisen Hunderte bis mehrere tausend Kammern an, die mit einem ausgedehnten Labyrinth von Gängen verbunden sind. Lüftungsschächte sorgen für optimale Temperatur und ausreichenden Luftaustausch. Die Königin bewohnt eine zentrale Kammer, in der sie dauernd von Helferinnen umringt ist. Sie bringt in ihrem 10 bis 15 Jahre dauernden Leben bis zu 200 Millionen Nachkommen hervor. Stirbt die Königin, bricht der ganze Staat zusammen, da keine andere Ameise ihre Aufgabe übernehmen kann. «Müllabfuhr-Ameisen» tragen den Abfall der Kolonie in einer Mundtasche in spezielle Abfallkammern. Um Parasiten abzutöten, produzieren die Tiere in der Mundtasche Antibiotika. Da der Müll krankmachendes Material enthält, übernehmen diesen Dienst nur Tiere, die ohnehin bald sterben würden. Erschienen in „BeobachterNatur“ Nr. 9/2011 vom 04.10.2011