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Teil II
Der schwierige Weg zu einer neuen
politischen Zivilisation (1918 – 1944)
Abschnitt A:
Von Krieg zu Krieg
Vorbemerkung
Mit dem Ersten Weltkrieg gingen die Voraussetzungen der nationalstaatlichen Epoche des 19. Jh. unter. Die mittelalterlichen französischen Könige hatten den Sanktions- und den Legitimationsbereich
zur Deckung gebracht, in der Frühen Neuzeit und im 19. Jh. waren
Staat, Nation und kulturelle Identität kongruent geworden. Das kulturelle Gedächtnis war schließlich nach Innen ,nationalisiert’ und
nach Außen in ein koloniales und universelles Sendungsbewußtsein
hineingelenkt worden. Der Erste Weltkrieg hat dieser Konstruktion
zwar die Basis entzogen, sie wurde aber – nicht nur in Frankreich –
als Fiktion aufrecht erhalten. Die politische Autarkie, die die imperialistischen Nationalstaaten charakterisiert hatte, war mehr denn je
eine Fiktion, die jedoch nicht aufgegeben wurde. Die Rolle der USA
und Großbritanniens im Krieg hatte die weltpolitischen und -ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse nicht nur offen gelegt, sondern auch verändert, die „Zeit der Ideologien“, wie Karl-Dietrich
Bracher es nannte, respektierte die nationalen politisch-kulturellen
Grenzen kaum. Der Völkerbund und die europapolitischen Bewegungen und Initiativen der Zwischenkriegszeit sind sichtbare Zeichen der neuen Netzstruktur, in der die Nationalkörper des 19. Jh. (bis
1918) beginnen, von ihrer überdimensionierten Größe zu Kernen
reduziert zu werden. Dieser Prozeß ist heute noch nicht abgeschlossen, aber er setzte mit Vehemenz nach dem Ersten Weltkrieg ein.
Das ist aus der Rückschau gesagt. Den Zeitgenossen der Zwischenkriegszeit war manches sehr wohl klar, die Krise des Nationalstaats
wurde erkannt, und in den 1920ern konnte einiges in die Wege
geleitet werden, was einer Vermittlung von internationaler Verflechtung und Modifizierung des Nationalstaats, d. h. Abbau einer unmöglich gewordenen nationalen Autarkie, dienlich war. Die Ansätze waren aber zu schwach ausgebildet, um dem sich ausbreitenden politischen Messianismus und dem Extremismus der weltanschaulichen
Differenzen in den 1930ern widerstehen zu können. Der in den
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 255
1920ern begonnene Prozeß wurde erst in den 1950ern mit den Vereinten Nationen und dem Aufbau europäischer Institutionen fortgesetzt. Den Widerstandsbewegungen des Zweiten Weltkriegs kommt
das Verdienst zu, die politische Vernetzung Europas und der sog.
Völkergemeinschaft sowie die Überwindung des Nationalstaats fortgedacht und die intellektuellen Grundlagen für die Arbeit der Vereinten Nationen und der europäischen Institutionen bis zur EU von
heute gelegt zu haben.
Die Tatsache, daß die französische Geschichte in der ersten Hälfte
des 20. Jh. frontal betrachtet ein Bild größter Zerrissenheit lieferte,
muß als Reflex auf die angedeuteten fundamentalen Veränderungen
der globalen Rahmenbedingungen von Staat und Nation interpretiert
werden. Der schwierige Weg zu einer neuen politischen Zivilisation
war der Weg von Imperialismus, Nationalismus und politischem
Messianismus zu einer Identität, die sich zwar auf eine bestimmte
Vorstellung von der französischen Nation stützt, die aber Europäismus und politischem Rationalismus verpflichtet ist. In diesem zweiten Teil wird zunächst die allgemeine Geschichte Frankreichs vom
Ende des Ersten zum Ende des Zweiten Weltkriegs untersucht (Kapitel 9). Es handelt sich um eine Übergangsepoche, in der der Weg zu
einer neuen politischen Zivilisation der Nachkriegszeit beschritten
wurde. Zu den Voraussetzungen letzterer zählen Veränderungen in
den Grundbedingungen des französischen Kolonialismus (Kapitel
10), die Geschichte einiger wesentlicher kultureller Referenzen wie
Europa (Kapitel 11) und bedeutender nationaler europäischer Referenzen (England, Amerika, Deutschland; Kapitel 12). In diesen Kapiteln wird zeitlich noch einmal bis ins späte Mittelalter zurückgeblendet.
9
Politische und nationale Krise (1918 – 1944)
9.1 Vom „Bloc national“ zur „Union nationale“
Zwischen Macht und Ohnmacht
Frankreich profitierte nur eingeschränkt von der 1918 erlangten
Machtposition. Es war zwar die stärkste kontinentaleuropäische
Macht geworden, aber angesichts der beiden Weltmächte Großbritannien und USA zählte dies nicht mehr allzuviel. Es sollte sich in den
anschließenden zwei Jahrzehnten zur Genüge zeigen, daß alle auf
256 Von Krieg zu Krieg
den europäischen Raum zielenden politischen Unternehmungen
Frankreichs davon abhingen, ob Großbritannien am selben Strang
ziehen wollte oder nicht. Die Amerikaner hatten die Versailler Verträge gar nicht ratifiziert, Großbritannien wollte mit Blick auf den
Sieg der Bolschewiken in Rußland von Anfang an das Deutsche
Reich als mitteleuropäischen Machtfaktor erhalten. Frankreich hatte
bei Großbritannien und den USA hohe Kriegsschulden angehäuft
und war dabei, anders als die beiden Alliierten, wegen der hohen
Kriegsschäden im eigenen Land auf Reparationen aus Deutschland
angewiesen. Der äußere und innere Druck auf das Land war enorm.
Faktisch gingen die französischen Regierungen mit Rücksicht auf
Großbritannien und die USA schon bei den Friedensverhandlungen
zahlreiche Kompromisse ein.
Die politische Klasse Frankreichs unter Führung von Clemenceau
(der bald nach Kriegsende von der Bühne verschwand) und Poincaré
war sich einig, daß der Wiederaufbau des Landes letztlich durch die
deutschen Zahlungen gedeckt werden würde. Die Regierung entschloß sich deshalb gewissermaßen zur „Vorfinanzierung“ des Wiederaufbaus über Kredite und zu einer doppelten Haushaltsführung.
Gleichzeitig wurde ein Rentenprogramm für Kriegsinvaliden und
Kriegerwitwen und -waisen aufgelegt. In dieser Politik war die gestiegene Abhängigkeit der europäischen Wirtschaft von der Weltwirtschaft kaum berücksichtigt. Die Abhängigkeit der französischen
Wirtschaft von den weltwirtschaftlichen Krisenzyklen war – wie
auch schon früher – in der Tat geringer als die der deutschen Wirtschaft, die Konstruktion der Finanz- und Budgetpolitik auf dem unsicheren Boden erwarteter Reparationszahlungen brachte Frankreich jedoch in die direkte Abhängigkeit makrowirtschaftlicher Zusammenhänge. Der Verlauf der Reparationsfrage über den Dawesund Young-Plan bis zur völligen Einstellung ist bekannt. Die Ruhrbesetzung 1923 konnte das Blatt nicht wenden, sie erbrachte außerdem
nur 900 Millionen Francs – ein Tropfen auf den heißen Stein im
Vergleich zu den nach Kriegsende für Frankreich angestellten Berechnungen: 134 Milliarden Francs (Gold-Francs) für den reinen
Wiederaufbau, 75 Mrd. für Renten, 145 Mrd. für militärische Aufwendungen. Letztere wurden allerdings ohnehin von den Reparationsverhandlungen ausgeschlossen. Insgesamt konnte Frankreich
nur wenige Milliarden an Reparationen verbuchen.
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 257
Grundprobleme der Wirtschaftspolitik
Schon zeitgenössische französische Wirtschaftsfachleute kritisierten,
daß keine solide Finanzpolitik entworfen wurde. Wie diese hätte
aussehen können, zeigte sich 1926, als Poincaré auf dem Höhepunkt
der Wirtschafts- und Finanzkrise die Regierung übernahm: rigorose
Sparpolitik aller öffentlichen Haushalte, Erhöhung der Steuern und
der Zölle, Erhöhung der Leitzinsen. Das mit diesen Maßnahmen
eingekehrte Vertrauen auf den tatsächlichen Willen der Regierung,
die Finanzkrise zu lösen, ließ ins Ausland abgewandertes Kapital in
Milliardenhöhe zurückfließen, der Franc gewann an Wert und Stabilität, nachdem er gegenüber englischem Pfund und Dollar bis zu
90% seines Vorkriegswertes eingebüßt hatte, der Staatshaushalt
konnte noch 1926 ausgeglichen werden, 1927 wurde ein Überschuß
erwirtschaftet. Natürlich hätte dieses Maßnahmenbündel in dieser
Form 1919 ff. nicht eingesetzt werden können, aber eine mittelfristig
angelegte Steuer- und Zollpolitik hätte den tatsächlichen finanzpolitischen Schlingerkurs der schnell wechselnden Regierungen glätten
helfen.
Politik: „Bloc national“ – „Cartel de gauche“
Schaut man hinter die Fassaden des finanzpolitischen Aufundab und
Hinundher und die raschen Regierungswechsel, die den Eindruck
von Instabilität entstehen lassen, wurde Frankreich letztlich durch
weniger Brüche gekennzeichnet, als es scheinen mochte. Manches
ähnelte den Entwicklungen in der Weimarer Republik, ohne die
dortigen extremen Ausschläge. Es war ein Kennzeichen der Dritten
Republik nach dem Krieg, daß die Regierungen häufig wechselten,
aber die z. T. schon bei den Parlamentswahlen eingegangenen Koalitionen stabil blieben. Bis Ende der 20er Jahre waren es immer wieder
dieselben Persönlichkeiten, die in wechselnden Funktionen die Politik bestimmten. Die personelle Kontinuität war ausschlaggebend.
Ähnliches wiederholte sich in den 30er Jahren mit einer Reihe neuer
Köpfe.
Die Wahlen vom November 1919 gewann ein Bündnis von Parteien, die ein Spektrum von gemäßigt rechts, konservativ, Mitte und
gemäßigt links umfaßten. Diese Konstellation ist als „Bloc national“
in die Geschichte eingegangen, er hielt bis zu den nächsten Wahlen
1924. Was ihn zusammenhielt, war die Gemeinsamkeit außenpolitischer Ziele (Mißtrauen gegenüber dem Völkerbund, gegenüber
Großbritannien und den USA, Härte gegenüber Deutschland, Be-
258 Von Krieg zu Krieg
hauptung der französischen Überlegenheit), der eine koordinierte
Wirtschafts- und Finanzpolitik wegen der enormen innenpolitischen
Gegensätze geopfert wurde. Zunächst führte Clemenceau die erste
Nachkriegsregierung. Im Januar 1920 löste ihn Alexandre Millerand
(1859 bis 1943) nach Clemenceaus gescheiterter Präsidentschaftskandidatur ab. Die Ruhrbesetzung, aber auch die Akzeptanz des DawesPlanes fiel in die Regierungszeit Poincarés (Januar 1922 bis Juni
1924).
Die Wahlen von 1924 erbrachten eine Mehrheit für die Linksparteien. Die wichtigste Partei war wie schon zuvor der Parti radical,
der diesmal mit den linken und nicht mehr mit den rechten Parteien
zusammenarbeitete. Édouard Herriot (1872 bis 1957; Parti radical;
fast sein ganzes Politikerleben lang Bürgermeister von Lyon) bildete
die Regierung, die von den Sozialisten toleriert wurde. Die neue
politische Konstellation wurde als Linkskartell (Cartel de gauche) (1924
bis 1926) bezeichnet. Der Präsident Millerand wurde zum Rücktritt
gezwungen, weil er sich (als erster Amtsinhaber seit Mac-Mahon)
aktiv und parteipolitisch festgelegt in die Regierungsgeschäfte eingemischt hatte, sein Nachfolger wurde der im linken Spektrum einzuordnende Gaston Doumergue (1863 bis 1937), Präsident des Senats.
Aristide Briand
Der wichtigste Erfolg war die veränderte Deutschlandpolitik, die auf
französischer wie deutscher Seite sehr eng – zu eng – mit zwei
Namen verbunden war: Aristide Briand und Gustav Stresemann.
Briand hatte sich schon vorher für eine Veränderung der Reparationspolitik eingesetzt, weil er die internationalen Mechanismen besser durchschaute und mehr Pragmatismus für angezeigt hielt. Trotz
des unzweifelhaften Erfolges der Locarnoverträge vom Oktober
1925, der positiveren Einstellung Frankreichs zum Völkerbund, in
dem Briand den Schlüssel zu einer kollektiven Sicherheitsstruktur in
Europa sah, der einsetzenden Abrüstungsgespräche, kann dies nicht
darüber hinwegtäuschen, daß Briand und Stresemann (dessen „Versöhnungspolitik“ mit Frankreich in jüngerer Zeit wesentlich kritischer gesehen wird) nicht die Leitfiguren eines die großen Zielsetzungen modifizierenden politischen Establishments waren. Ihre Konzeptionen standen Nichtregierungsorganisationen und diversen Europabewegungen näher als dem Establishment. (Zu Briands
Europaplan s. Kapitel 11.)
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 259
„Union nationale“
Die Verschärfung der Finanzkrise 1926 führte Poincaré, wie berichtet,
erneut an die Macht; sechs seiner 13 Minister waren selber bereits
Regierungschefs gewesen, die Parlamentsmehrheit war links, stützte
aber Poincaré. Diese Konstellation erhielt die Bezeichnung „Union
nationale“, sie hielt über die Wahlen vom April 1928 bis 1929 und
kennzeichnete eine allgemeine Aufschwungphase, Kern der „années
folles“ („Goldene Zwanziger“). Briand stand für außenpolitische Kontinuität. Die Annahme des Young-Planes und die Räumung des
Rheinlandes (1929 vereinbart) konnten sich diesmal auf die Zustimmung der öffentlichen Meinung und den an Zuspruch gewinnenden
Pazifismus stützen. Obwohl der Parti radical mit Rücksicht auf die in
der Kartellzeit begonnene Annäherung an die Sozialisten die Regierung im September 1928 verließ, kam es nicht zu politischen Turbulenzen. Neben Briand zeichneten zwei weitere Altgediente der
französischen Politik, der konservative und anglophile André Tardieu
(1876 bis 1945) sowie Pierre Laval (1883 bis 1945), ursprünglich Sozialist, später (1940; 1942 bis 1944) Regierungschef unter Pétain, für die
Regierungsgeschäfte verantwortlich. Während sich die finanzielle
Erholung fortsetzte, spürte Frankreich ab 1931 die Folgen der Weltwirtschaftskrise – in den Kolonien stärker als im Mutterland. Die
Entwicklungen in Österreich (Aufleben der Anschluß-Diskussion)
und in Deutschland (sechs Millionen Stimmen für die Nationalsozialisten bei den Septemberwahlen 1930) deuteten auf ein Ende der
Entspannung der 20er Jahre hin.
9.2 Die strukturelle Vorbereitung der Volksfrontregierung und
des Vichy-Regimes: die 1930er Jahre
Frankreich zwischen Sozialismus und Rechtsextremismus
Während Deutschland nach rechts driftete, erhielten die Linksparteien zusammen mit dem Parti radical bei den Wahlen 1932 die
Mehrheit. Eine Volksfrontregierung wäre bereits 1932 denkbar gewesen, sie scheiterte an der Verschiedenheit der Zielsetzungen: Die
Sozialisten wünschten Abrüstung, Verstaatlichungen und die Vierzigstundenwoche. Die moskauhörigen Kommunisten lehnten ein Zusammengehen mit den Sozialisten noch ab, die Radikalen waren
strikt gegen Verstaatlichungen und führten deshalb zunächst eine
Minderheitsregierung mit Duldung der Sozialisten. Vier Jahre später
kam es zu einer Volksfrontregierung. In diesen vier Jahren drängte
260 Von Krieg zu Krieg
eine ideologische Zweiteilung Frankreichs an die Oberfläche, die,
solange die Bewältigung der Kriegsfolgen zu einer relativen Einheit
gezwungen hatte, unterschätzt worden war. Blutige Unruhen am 6.
Februar 1934 malten das Gespenst eines rechtsextremen, wenn nicht
faschistischen Putsches an die Wand. Manche der Akteure begannen
dabei ein Karriere, die sie in ein Amt im État français (1940–44)
führte.
Die Linke: Parteien, Gewerkschaften, Vereine
Im einzelnen: Nach dem Krieg hatte sich die Linke in Sozialisten und
Kommunisten (Anhänger der III. Internationale) gespalten. Von der
sozialistischen CGT trennte sich eine kommunistische CGTU ab. Die
unbedingte Verpflichtung auf Moskau begrenzte den Erfolg der Kommunisten, hinderte aber nicht, daß sie sich im französischen Parteienund Gewerkschaftswesen etablierten. Die Sozialisten (SFIO) gewannen fast kontinuierlich an Zuspruch, die CGT entwickelte sich zu
einer staatstragenden Organisation. Schon bei den Friedensverhandlungen 1918 gehörte ein Mitglied der CGT zur französischen Delegation. Wichtige linke Parteien und Organisationen gliederten sich
folglich in das parlamentarische System bzw. in ein System der konstruktiven Kooperation ein. Sie förderten zudem das pazifistische
Denken, obwohl Léon Blum (1872 bis 1950), Leitfigur der Sozialisten,
schnell die von Hitler ausgehende Gefahr erkannt hatte und schließlich für ein militärisch starkes Frankreich optierte. Bedeutendste,
dem linken Spektrum zuzurechnende Nichtregierungsorganisation
war die „Ligue des droits de l’homme“.
Die Rechte und der Faschismus
Die rechten und rechtsextremen Vereinigungen und Bewegungen
inspirierten sich nur zum geringsten Teil am Faschismus, organisierten sich aber militant. Die Organisation „Faisceau“ setzte sich vom als
reaktionär beschriebenen italienischen Faschismus und Antisemitismus ab, während die „Francistes“ mit ca. 10.000 Mitgliedern Anhänger Mussolinis waren und durch diesen finanziert wurden. Die
„Jeunesses patriotes“ (90.000 Mitglieder) sind dem Faschismus zuzuordnen. Die zahlenmäßig bedeutendste Organisation aus dem faschistischen Spektrum war die „Solidarité française“: sie zählte 180.000
Mitglieder, war mit Blauhemden uniformiert, führte den gallischen
Hahn als Emblem, rekrutierte sich aus der Arbeiterschaft und stützte
sich publizistisch auf eine sehr preiswerte Tageszeitung, den „Ami du
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 261
peuple“. Zu nennen ist ferner die Splittergruppe „Milice socialiste
nationale“.
Wirklich bedeutend waren hingegen die „Action française“ und die
„Croix de Feu“. Erstere stammte wie dargestellt aus der Vorkriegszeit,
war allerdings 1926 vom Papst verurteilt worden. Die gleichnamige,
immer noch von Charles Maurras dominierte Zeitschrift hatte daraufhin 45% ihrer Leser und 80% ihrer Ressourcen verloren; unter
ihren Anhängern befanden sich aber militante Studenten und eine
militante Truppe, genannt „Camelots du roi“. 1939 erfolgte im übrigen die Aussöhnung mit dem Heiligen Stuhl. Die „Croix de Feu“
hatten sich 1927 als Verein ehemaliger Frontkämpfer konstituiert,
1931 übernahm der kriegsgediente Oberstleutnant de la Rocque die
Führung. Er war mit André Tardieu verbunden, der zur Finanzierung
beitrug. 1933 wurden als Jugendorganisation des Vereins die „Volontaires nationaux“ ins Leben gerufen, die paramilitärisch organisiert wurden. La Rocque übernahm die Rolle eines „Führers“ (chef).
Die „Volontaires“ stammten aus dem kleinen und mittleren Bürgertum. La Rocque denunzierte das Parteienwesen scharf: Von 1932 bis
1934 folgten innerhalb von 20 Monaten sechs Regierungen aufeinander (Herriot; Paul-Boncour; Daladier; Sarraut; Chautemps und wieder Daladier), die über finanz- und steuerpolitische Fragen zum Sturz
gebracht wurden und die sich wachsenden Widerständen und Unruhen in der Bevölkerung gegenüber sahen.
Aufruhr
In dieser Lage konnten einzelne Ereignisse starke psychologische
Auswirkungen zeitigen. Ein fürchterliches Eisenbahnunglück am 23.
Dezember 1933 heizte die Stimmung weiter auf. Staatspräsident Lebrun hoffte, mit der neuerlichen Berufung des „starken Mannes“
Daladier am 30. Januar 1934 die Lage beruhigen zu können. Der
Zusammenbruch der Bank Crédit Municipal in Bayonne (sog. Stavisky-Affäre) führte auf kompromittierende Verwicklungen von Abgeordneten. Action française rief zu Demonstrationen in Paris auf, die
von den rechtsextremen Ligen willig aufgegriffen wurden. Am 27.
Januar versammelte sich eine bedrohliche Menge vor dem Parlament, dem Palais-Bourbon. Chautemps trat als Regierungspräsident
zurück, Daladier übernahm seinen Posten. Die Entlassung des Polizeipräfekten am 3. Februar löste eine Reihe solidarischer Rücktritte
in Regierung und Verwaltung aus, außerdem rief nun auch die Linke
zu Demonstrationen auf. La Rocque setzte sich mit seinen „Volontai-
262 Von Krieg zu Krieg
res“ an die Spitze des Aufruhrs, der weite Teile des Zentrums von Paris
und Menschen höchst unterschiedlicher Anschauungen erfaßte. 16
Todesopfer und mehrere Hundert Verletzte veranlaßten Daladier am
7. Februar 1934 zurückzutreten. Manche erwarteten, daß La Rocque
die Macht an sich reißen würden; er tat es nicht. Die Kommunisten
riefen zu weiteren Demonstrationen auf, es gab noch mehr Tote und
Verletzte.
Annäherung von Sozialisten und Kommunisten
Lebrun erschien nur Gaston Doumergue als geeigneter Kompromißkandidat, der am 9. Februar eine Regierung der „Union nationale“
bildete. Unter anderem berief er den Marschall Pétain zum Kriegsminister. Die Unruhen und Demonstrationen auf der Straße setzten
sich vorerst fort. Sozialisten und Kommunisten riefen – getrennt – zu
Demonstrationen gegen die faschistische Gefahr auf, doch die spontane Verbrüderung der Demonstranten legte den Grund für ein Umdenken in der kommunistischen Partei, das 1936 die Koalition mit
den Sozialisten ermöglichte. Auf der Parteiversammlung vom Juni
1934 äußerte Maurice Thorez die Überzeugung, daß zur Verhinderung des Faschismus ein Zusammengehen mit den Sozialisten
unvermeidlich sei. Ihm stand die untergegangene Weimarer Republik vor Augen, aus Moskau wurde ebenfalls grünes Licht für ein
taktisches Zusammengehen mit den Sozialisten gegeben. Bei den
Kantonalwahlen 1934 zeichnete sich erstmals ein Zusammengehen
der Kommunisten, Sozialisten und Radikalen ab.
Die Regierung Laval 1935/36
Ein mysteriöser Todesfall im Zusammenhang mit der Stavisky-Affäre
und die Ermordung des Außenministers Barthou sowie des jugoslawischen Königs in Marseille überschatteten die Regierungsarbeit.
Doumergue entschied sich derweil für eine Deflationspolitik und
bereitete außerdem eine Verfassungsreform vor, die endlich die Exekutive auf Kosten des Parlaments stärken sollte. Die Minister des Parti
radical verließen daraufhin im November 1934 die Regierung. Während Barthou eine Verständigung mit der Sowjetunion und engere
Bande mit Polen und den Mitgliedern der Kleinen Entente gesucht
hatte, verfolgte sein Amtsnachfolger Laval eine Annäherung an
Deutschland (Saarabkommen) und an Italien (Zugeständnisse an Italien bezüglich der Libyschen Wüste, Eritreas und Djiboutis). Gegen
die Stimmen der Sozialisten votierte das Parlament 1935 für eine
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 263
Verlängerung des Wehrdienstes auf zwei Jahre, um das Tief der
geburtenschwachen Jahrgänge auszugleichen. Hitler nahm u. a. dies
zum Vorwand, um den Wehrdienst in Deutschland wieder einzuführen. Die Verständigung mit der UdSSR betrieb Laval nur halbherzig. Auf die vertragswidrige Remilitarisierung des Rheinlandes
durch Hitler Anfang März 1936 reagierte Frankreich letztlich nur mit
der Anrufung des Völkerbundes. Militärische Schritte wurden erwogen, aber allesamt verworfen. Eine Überschätzung der Wehrmacht war nur ein Faktor von vielen, vor allem innenpolitischen, die
ein entschlossenes Vorgehen gegen Nazi-Deutschland verhinderten.
Laval, neuer Regierungschef, setzte die Deflationspolitik fort, obwohl
sich die Konjunktur wieder belebte. Das Vertrauen in die Regierung
verringerte sich dadurch noch mehr.
Volksfrontbündnis und -regierung (1935/36 bis 1938)
Unterdessen schritt die strukturelle Ausbildung der Volksfront im
politischen Leben fort. Das Verhalten der Linksparteien bei den Munizipalwahlen im Mai 1935 bestätigte dies. Im Sommer desselben
Jahres bildeten sie den Rassemblement populaire unter Vorsitz von
Victor Basch (1863 bis 1944; 1944 zusammen mit seiner Frau von
französischen Milizen erschossen), Präsident der Ligue des droits de
l’homme. Die CGT beteiligte sich daran. Für den 14. Juli wurde eine
große Demonstration vorbereitet, die vom Parti radical mitgetragen
wurde. Mindestens 100.000 Menschen nahmen an der Demonstration in Paris teil. Schließlich vereinigten sich die CGT und die kommunistische CGTU. Damit stand das Bündnis der Volksfront. Bei einer
Demonstration am 13. Februar wurde Léon Blum von Royalisten
verletzt; am Tag darauf zogen 200.000 Demonstranten vom Panthéon
zur Bastille und stellten ihre Solidarität mit der Volksfront unter
Beweis. Für die Parlamentswahlen im April/Mai 1936 wurde ein
gemäßigtes gemeinsames Programm verabschiedet. Mit 381 Sitzen
gegenüber 222 für die anderen Parteien ging die Volksfront deutlich
als Siegerin hervor.
Während Léon Blum sich anschickte, die Regierung zu bilden (die
Kommunisten nahmen nicht direkt daran teil, sondern sicherten nur
ihre Loyalität zu ebenso wie die CGT), kam es überall im Land zu
Streiks mit volksfestähnlichem Charakter, die dennoch den sozialen
Forderungen Nachdruck verleihen sollten. In der Nacht vom 7. auf
den 8. Juni erzielten Gewerkschaften, Arbeitgeber und Regierung
weitreichende sozialpolitische Vereinbarungen („Accords Mati-
264 Von Krieg zu Krieg
gnon“): Die Arbeitgeber erkannten die Gewerkschaftsfreiheit an und
stimmten der Einführung von Betriebsräten in Unternehmen ab
zehn Beschäftigten zu. Die niedrigsten Löhne wurden um bis zu 15%,
die höheren um bis zu 7% angehoben. Die Regierung brachte am 20.
Juni ein Gesetz zum bezahlten Urlaub, am 21. Juni zur 40-Stundenwoche und am 24. Juni zur Zulässigkeit von branchenbezogenen
Flächentarifverträgen durchs Parlament. Mit den ersten Sommerurlaubern aus der Arbeiterschaft nahmen Camping und Jugendherbergen in Frankreich ihren Aufschwung. Die CGT-CGTU verzeichnete
einen Mitgliederzuwachs von 760.000 im Jahr 1934 auf 4 Millionen
1936! Auf der anderen Seite führte die Verkürzung der Arbeitszeit
nicht zu einer Verringerung der 300.000 Arbeitslosen, die Produktion
sank, während die sozialen Leistungen der Unternehmen auf 28%
des Lohns kletterten. Die kleinen Unternehmer fühlten sich von den
großen verraten und verkauft. Die wieder aufflammende Inflation
fraß die Lohnerhöhungen auf. Streiks dauerten das ganze Jahr 1936
an. Das steigende Außenhandelsdefizit und anderes mehr veranlaßten den Finanzminister Vincent Auriol zur Abwertung des Franc um
25 bis 34%.
Innenpolitisch verbot Blum die paramilitärischen Organisationen
mittels eines schon im Januar vom vorigen Parlament gebilligten
Gesetzes, diese erstanden jedoch sofort als politische Parteien wieder.
La Rocque beispielsweise ließ seine Bewegung als Parti social français
wiedererstehen und konnte sich auf 600.000 Mitglieder stützen. Das
waren ebensoviele wie Sozialisten und Kommunisten gemeinsam
hatten. Als Abspaltung der Camelots du roi entstand der CSAR (Comité secret d’action révolutionnaire; sog. Cagoule), der u. a. für die
Ermordung der italienischen Widerstandskämpfer Roselli (zwei Brüder) verantwortlich zeichnete. Das Klima der rechtsextremen und
faschistischen Gewalt verschärfte sich in Frankreich begleitet von
wachsendem Antisemitismus, der sich gerade auch gegen jene
50.000 Juden richtete, die zwischen 1933 und 1939 von Deutschland
nach Frankreich flohen.
Der Sturz León Blums und das Ende der sozialen Revolution
Außenpolitisch wuchs die Last. In den Kolonien mehrten sich die
Unabhängigkeitsbewegungen. Die Entscheidung Blums, in den spanischen Bürgerkrieg nicht gegen Franco einzugreifen, führte zum
Zerwürfnis mit den Kommunisten. Die im Oktober 1936 gebildete
„Achse Rom-Berlin“, die Annäherung Jugoslawiens an Deutschland
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 265
usf. stellte die gesamte bisherige französische Außenpolitik in Frage.
Der Sturz Blums im Juni 1937 erfolgte über finanzpolitische Streitfragen, bei denen sich der Senat gegen das Parlament stellte, aber die
Regierung sah sich auch nicht in der Lage, die begonnene soziale
Revolution zu Ende zu führen. Das Verdienst der Volksfront war
zweifellos, eine Übernahme der Macht durch Rechtsextreme und
Faschisten verhindert zu haben. Drei weitere Kabinette (das letzte
von weniger als vier Wochen Dauer nochmals unter Blum) retteten
die Volksfrontregierung bis in den April 1938, ohne daß nennenswerte Erfolge zu erreichen gewesen wären. Es war der Senat, der
Blum letztendlich zu Fall brachte. In einer Periode, als Hitler den
Anschluß Österreichs besiegelte, befanden sich die politischen Institutionen Frankreichs in einer verhängnisvollen inneren Krise.
9.3 Kriegserklärung und Ende der Dritten Republik (1939/40)
Kriegserklärung
Der neuen Regierung Daladier gelang es, eine wirtschaftliche Erholung einzuleiten und über eine weitere Abwertung des Franc die
internationale Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Außenpolitisch
bahnte sich jedoch die kritischste Phase der Nachkriegszeit an. Das
Münchener Abkommen vom September 1938 wurde vom Parlament
mit 535 zu 75 Stimmen gebilligt, obwohl Frankreich durch 1937
erneuerte Verträge der Tschechoslowakei gegenüber verpflichtet war.
Das Parlament wußte die öffentliche Meinung hinter sich, die Rechte
war gegen eine Intervention. Anders war die Stimmung, als 1939 der
Hitler-Stalin-Pakt bekanntgegeben wurde, denn gleichzeitig hatten
Briten und Franzosen gemeinsam versucht, zu einem Abkommen
mit der UdSSR zu gelangen. Diesmal verurteilte die Rechte Hitler und
den Pakt, die Kommunisten hingegen hießen ihn gut und brachten
die Linke an den Rand einer Zerreißprobe. Die CGT stellte sich dagegen. Überzeugt, daß es zum Krieg kommen werde, wurde am 26.
August mit der Mobilmachung begonnen. Am 2. September nach
dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen wurde die Generalmobilmachung angeordnet, am 3. September der Krieg erklärt, nachdem
Ribbentrop das ihm überreichte Ultimatum ignoriert hatte.
„Drôle de guerre“ und Waffenstillstand (1939/40)
Es folgte, was als drôle de guerre bezeichnet wurde: Frankreich leitete
keine Unterstützungsmaßnahmen für Polen ein, von einer begrenz-
266 Von Krieg zu Krieg
ten und im Oktober zurückgeschlagenen Offensive an der Saar abgesehen. Im Innern wurde die kommunistische Partei verboten, die 72
Abgeordneten ihres Mandates für verlustig erklärt, einige Abgeordnete wurden verhaftet. Die Kommunisten gingen in den Untergrund.
Der Geldverkehr wurde überwacht, Preise und Dividenden eingefroren, der Franc wurde gegenüber dem Gold und Dollar um 17%
abgewertet. Der militärische Stillstand brachte das Parlament gegen
Daladier auf, der Reynaud als Regierungschef Platz machte. Schließlich wurde mit den Briten die Landung in Norwegen vereinbart, der
die Wehrmacht jedoch zuvorkam. Am 10. Mai begann die deutsche
Offensive über die Niederlande, Belgien und bei Sedan. Einen Monat
später floh die Regierung aus Paris, das am 14. Juni von deutschen
Truppen besetzt wurde, zunächst nach Tours und dann weiter nach
Bordeaux. Die an den amerikanischen Präsidenten Roosevelt gerichtete Bitte um Intervention verhallte im amerikanischen Wahlkampf. Angesichts der desaströsen Lage entschied sich die Regierung,
um einen Waffenstillstand nachzusuchen. Reynaud trat zurück, Pétain übernahm die Regierung und stimmte den Waffenstillstandsbedingungen am 22. Juni zu. Der Norden und die gesamte Atlantikküste waren von deutschen Truppen besetzt, die französische Regierung amtete dort unter der Kontrolle der Besatzungsbehörden, der
Abwehr und der Gestapo sowie später der SS. Die Départements Nord
und Pas-de-Calais wurden zur Sperrzone erklärt und von deutschen
Militärbehörden in Brüssel aus „verwaltet“. Elsaß-Lothringen wurde
von Frankreich abgetrennt, 180.000 Menschen von dort vertrieben,
Deutsche wurden angesiedelt. Unbesetzt waren ca. zwei Fünftel, die
sogenannte freie Zone, der Personen- und Warenverkehr zwischen
den Zonen unterlag deutscher Kontrolle. Die Besatzungskosten
mußte Frankreich aufbringen, die französische Armee wurde auf
100.000 Mann reduziert, das Kriegsmaterial ausgeliefert bzw. deutscher Kontrolle unterstellt. Die Marine wurde neutralisiert. Das Kolonialreich blieb erhalten und konnte dem deutschen Zugriff zunächst
entzogen werden.
Die Gründung des „État français“ in Vichy
Der am 18. Juni von General de Gaulle (de Gaulle war am 6. Juni
noch als Unterstaatssekretär in die Regierung berufen worden) von
London aus über Radio lancierte Aufruf zum Widerstand wurde von
fast niemandem aufgenommen. Mehrere Millionen Flüchtlinge,
Bombardements, 1,5 Millionen Kriegsgefangene, chaotisch zurück-
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 267
gelassenes Kriegsmaterial, es war ein Alptraum sondergleichen, der
Frankreich erfaßt hatte. Laval betrieb inzwischen die Abschaffung
der geltenden Verfassung: Es war ein verhältnismäßig Leichtes, das
System der Dritten Republik für die Katastrophe verantwortlich zu
machen. Die Regierung zog in die unbesetzte Zone nach Vichy um,
wo es die meisten Hotels gab und wo die Ministerien untergebracht
wurden. Die nach Vichy einberufene Nationalversammlung (Parlament und Senat vereint) versammelte 670 von 932 Deputierten und
Senatoren. Am 9. Juli sprach sie sich prinzipiell für eine Verfassungsrevision aus, am 10.7. votierte sie mit 569 Stimmen für eine Art
Ermächtigungsgesetz zugunsten Pétains, dessen Text Laval redigiert
hatte: „alle Macht“ wurde an die „Regierung der Republik unter der
Autorität und Verantwortlichkeit des Marschalls Pétain“ übergeben,
„um eine neue Verfassung des État français zu promulgieren. Diese
Verfassung muß die Rechte der Arbeit, der Familie und des Vaterlandes garantieren. Sie bedarf der Ratifizierung durch die Nation und
durch die Versammlungen, die sie vorsehen wird.“ Das Verfahren
folgte prinzipiell dem Artikel 8 des Verfassungsgesetzes vom 25. Februar 1875, mißachtete aber den Artikel 2 des Gesetzes vom 14.
August 1884, der die republikanische Regierungsform jeglicher Verfassungsrevision entzogen hatte. Die Nationalversammlung hatte
sich, wie zitiert, für einen État français ausgesprochen, mit dem keine
Republik gemeint war. Am 10./11. Juli wurden drei neue Verfassungsprinzipien festgelegt: Das Amt des Republikpräsidenten wurde
ebenso abgeschafft wie das parlamentarische Prinzip; Pétain erhielt
zusätzlich zur exekutiven die legislative Gewalt. Die beiden Kammern blieben theoretisch erhalten, ohne ihre Zustimmung konnte
der Marschall keine Kriegserklärung abgeben. Am 30. Juli wurde ein
Gerichtshof zur Aburteilung der für die Niederlage verantwortlich
gemachten Persönlichkeiten errichtet.
9.4 Gab es 1940 Alternativen?
Unkenntnis über Hitler
Pétain, Laval und viele andere Politiker hatten sich für einen Waffenstillstand mit Deutschland entschieden. Die diskutierte und von den
meisten verworfene Alternative wäre gewesen, die Regierung nach
Französisch-Nordafrika, vorzugsweise Algerien zu verlagern, und das
Land selbst zunächst dem Gegner zu überlassen, in der Hoffnung, daß
Hitler und die Wehrmacht nicht auf Dauer in der Lage sein würden,
268 Von Krieg zu Krieg
in einem großen Land wie Frankreich die Verwaltung, und sei es die
einer Besatzungsmacht aufrecht zu erhalten. Für eine solche Überlegung sprach außerdem, daß 1940 das französische Kolonialreich
intakt war und sich eine Exilregierung militärisch, politisch und
wirtschaftlich darauf hätte stützen können. Die Entscheidung gegen
diese Option wurde 1940 dennoch von einer überwältigenden Mehrheit der Franzosen getragen. Die wenigsten Franzosen wußten, was
in Deutschland nach der Machtübernahme durch Hitler wirklich
geschehen war, sie hatten sich mit der Ideologie des Nationalsozialismus nicht auseinandergesetzt. Das hatten sie mit vielen ihrer Politiker gemein. Léon Blum, der, wie erwähnt, rechtzeitig für eine Aufrüstung Frankreichs plädiert hatte, weil er Deutschland besser
kannte, hatte für diese Position keine stabile und überzeugte Mehrheit finden können. Die Rechte in Frankreich teilte, ohne ausgesprochen faschistisch und noch weniger nationalsozialistisch zu sein, eine
Reihe der politischen Ziele Hitlers, so wie sie sie wahrnahm. Ausgehend von einer eigenen autoritären traditionalistischen, antiparlamentarischen Staatsauffassung glaubte sie an viele Gemeinsamkeiten mit Deutschland und Italien sowie Francos Spanien. Die Idee
eines „latinischen Blocks“ dieser Mittelmeerländer zusammen mit
Deutschland gegen den Bolschewismus wurde vom Vichy-Regime
immer wieder geäußert. Stärkung „des Bauerntums“, der Stellung des
kinderreichen Familienvaters, ständisches Gesellschaftsdenken, Antisemitismus usw. waren vergleichbare programmatische Aussagen.
Franzosen und Deutsche: Die „Seele der Nation“ retten
Trotz der verheerenden Niederlage war die Mehrheit der Franzosen
nicht antideutsch. Schon Robert O. Paxton verwies in seiner epochemachenden Studie über Vichy darauf, daß die deutschen Besatzungstruppen im ersten Jahr (Sommer 1940 bis Spätsommer 1941) nicht
auf eine einheitliche Front feindseliger Ablehnung stießen. Zunächst
flüchteten Millionen von Menschen vor den deutschen Truppen, weil
die Erinnerung an die Grausamkeiten der deutschen (preußischen)
Besatzungen im Krieg 1870/71 ff. und im Ersten Weltkrieg sehr lebendig war. In den ersten Tagen schienen Plünderungen und Vergewaltigungen die Berechtigung der Angst zu bestätigen, doch dann
zeigte sich eine um Disziplin, Sauberkeit und Ordnung bemühte
Wehrmacht, was bei vielen zu dem Entschluß führte, wieder in die
Heimat zurückzukehren. Die ,neutrale’ oder auch freundliche Stimmung änderte sich, als auf die ersten Attentate im August 1941
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 269
Geiselerschießungen durch die Besatzer folgten. Philippe Burrin hat
das Verhältnis von Franzosen und Deutschen in dieser Zeit inzwischen eingehend untersucht und diese Befunde für das Jahr 1940/41
bestätigt. (Burrin, 1995) Die neue französische Regierung in Vichy
wußte, als sie ihre ersten Entscheidungen traf, eine breite Zustimmung hinter sich. Sie erhielt nicht nur aus dem rechten Lager Unterstützung. Auch Linkskräfte, teilweise die Gewerkschaften und nicht
zuletzt die katholische Kirche reagierten wohlwollend oder machten
aktiv mit. Viele sahen die Chance für eine Erneuerung Frankreichs
im Sinne traditionalistischer Werte, andere erwarteten, daß die Aufrechterhaltung der französischen Souveränität, die im Waffenstillstandsabkommen vorgesehen war, die Bevölkerung vor Übergriffen
und tiefen Eingriffen der Besatzer schützen sowie die Würde oder,
wie es zum Teil hieß, die Seele der Nation bewahren könne. Auch in
Frankreich spielte ein gewisses Maß politischen Messianismus’ eine
Rolle, wenn Pétain bei Gelegenheit als Werkzeug Gottes zur Rettung
Frankreichs bezeichnet wurde. Seinem Selbstverständnis nach
brachte Pétain den Franzosen seine Person zum Opfer (Radioansprache vom 17. Juni 1940), manch einer war der Überzeugung, daß
Frankreich für die Fehler der Vorkriegsjahre und/oder der Dritten
Republik nun Sühne leistete. In den Augen vieler Franzosen war
Pétain vor allem jener Soldat und General, der im ersten Weltkrieg
vor Verdun einen noch größeren Aderlaß unter den jungen Männern
verhindert hatte. Die bekanntesten seiner damaligen militärischen
und politischen Weggefährten (Foch und Clemenceau) waren tot,
Pétain war die im eigenen Land berühmteste Persönlichkeit. Im Juni
1940 war, so meinten viele, der Krieg in Frankreich zu Ende, bevor er
richtig ausgebrochen war. War nicht Pétain, der bewiesen hatte, daß
er sinnlosen Blutopfern widerstand, der richtige Mann, das Richtige
für Frankreich zu tun? So fragten sich viele.
Pétain oder de Gaulle?
Anders als 1914 bildete sich 1939/40 keine „Union sacrée“. Die Einstellung zum Krieg war nicht dieselbe. Die für Pétain und seine
Regierung günstige Stimmung im Sommer 1940 entsprang nicht im
geringsten einer solchen „Union“. Die Anfangszustimmung kaschierte lediglich für eine gewisse Zeit die politischen Gegensätze. Es
zeigte sich sehr bald, daß die in den État français gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt wurden und nicht erfüllt werden konnten. Einen massiven Stimmungsumschwung bewirkte die Besetzung der
270 Von Krieg zu Krieg
sog. Freien Zone im November 1942 durch die Wehrmacht, aber
schon vorher waren die Gräben in der Gesellschaft wieder deutlich
geworden. Ein Beispiel: Einer der wichtigsten kommenden Widerstandskämpfer, der Katholik Henri Frenay, hatte dem Generalstab
von Vichy angehört, bis er im Februar 1941 dem Regime den Rücken
kehrte und in den Untergrund ging. Frenay hatte Hitlers „Mein
Kampf“ gelesen und außerdem in Straßburg am „Centre des Hautes
Études Germaniques“ studiert. Für ihn blieb trotz des Dienstes unter
Pétain Hitler der Feind, weil er wußte, was der Nationalsozialismus
bedeutete, während Pétain, noch mehr Laval und dessen Nachfolger
Darlan Hitler und Ribbentrop französische Kollaboration andienten.
Wenn sich de Gaulle im August 1944 der Zustimmung der überwältigenden Mehrheit der Franzosen sicher sein konnte, so war seine
Stimme am 18. Juni 1940 beinahe ungehört verhallt. Von den mehreren Tausend Soldaten und Marinesoldaten, die zunächst wie deGaulle nach England geflohen waren, verblieben nur wenige Hundert bei ihm. De Gaulle selber stammte aus einem traditionalistischen
Milieu, aufgrund seiner Biographie stellte er 1940 keine weltanschauliche Alternative dar. Allerdings war er im Sommer 1940 zu einer
scharf- und weitsichtigen Analyse fähig, die den tatsächlichen Kriegsverlauf der folgenden Jahre sehr genau traf. Während die Engländer
de Gaulle ihre, wenn auch nie ungeteilte, Unterstützung gewährten,
erkannten die USA sogar die Regierung in Vichy an und arbeiteten
mit ihr zusammen. Englische – und später amerikanische – Bombardements auf Frankreich, die nicht die Besatzer, sondern französische
Anlagen und Zivilisten trafen, und englische Angriffe auf das Kolonialreich ab dem Sommer 1940 (z. B. Mers el-Kébir) brachten einerseits de Gaulle in eine schwierige Lage, förderten andererseits die
Akzeptanz des Waffenstillstands in Frankreich und ließen in Vichy
Überlegungen aufkommen, ob eine Kriegserklärung an England opportun sein könnte. Pétain ließ als Ausweis seiner Loyalität zu Hitler
Gibraltar bombardieren, außerdem blockierten die Engländer die
französische Seehandelsflotte und verschärften dadurch die Versorgungsprobleme im Inland. Als die Alliierten sich im weiteren Kriegsverlauf anschickten, in Nordafrika zu landen, kämpften die Truppen
Vichys dort vehement gegen die Alliierten. Es war folglich für viele
Franzosen, weder 1940 noch 1942/43, nicht einfach, die Lage zu
durchschauen, es gab keine klaren Freund-Feind-Fronten, keine klaren weltanschaulichen Fronten.
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 271
Kollaboration – unausweichlich?
Die Regierung von Vichy hat die von ihr behauptete Schutzschildfunktion für die Franzosen nicht ausgefüllt. Sie hat sich immer mehr
zum Handlanger der Besatzer gemacht – nicht so sehr infolge unglücklicher Verstrickungen, sondern infolge einer Kollaboration, die
auf falschen Annahmen, ideologischer Nähe, gesuchter Zusammenarbeit und einer Vielzahl weiterer Faktoren beruhte. Diese Diagnose
wurde nicht erst durch spätere Forschung gestellt, sondern schon in
der Untergrundliteratur der Résistance. Die von Laval und anderen in
ihren Prozessen nach Kriegsende wiederholte Behauptung, sie hätten Frankreich vor dem Schicksal anderer, durch Hitler besetzter
Länder wie Polen bewahren wollen, war zu einem erheblichen Teil
unwahr. Ob es den Franzosen objektiv genauso, besser oder noch
schlechter ging als anderen, muß seinerzeit nicht für jeden erkennbar
gewesen sein, und würde auch an subjektiven Überzeugungen, an
subjektivem guten Willen nichts ändern. Aber die Behauptung war
auch subjektiv oft nicht wahr aufgrund der aktiven Kollaborationspolitik, die nach Paxton in einer Reihe gravierender Fälle über, auch
weit über, das hinausging, was im Waffenstillstandsabkommen festgelegt war oder was Hitler im Zuge der sich ändernden Kriegslage
forderte. Vichy war aber nicht einfach „die“ Kollaboration. Es gab
durchaus Unterschiede zwischen der Regierung und den Kollaborateuren etwa in Paris, die nicht der Regierung angehörten, sondern
noch weiter rechts davon standen und nationalsozialistische Propaganda übernahmen.
Fragen nach historischen Alternativen, die nicht stattgefunden haben, sind eine schwierige Problemstellung, aber sie gehören in den
Kontext der Klärung von Schuld, wie es sich bei den Prozessen um
die Schuld oder Mitschuld hoher französischer Verwaltungsbeamter
bei der Judenverfolgung in der Vichy-Zeit immer wieder zeigt. Die
Abschaffung der Republik war weder vom Besatzer gefordert, noch
waren die Abgeordneten dem Druck faschistischer Todesschwadronen ausgeliefert. Andererseits waren in den 30er Jahren schon mehrfach Regierungschefs auf Zeit vom Parlament ermächtigt worden, per
Dekret zu regieren. Das relativiert bis zu einem gewissen Grad die
Ermächtigung für Pétain, nicht aber die Formulierung „État français“
anstelle von „Republik“. Noch weniger zwangsläufig war die Kollaboration durch Vichy. Sie war gewollt und entsprach der Haltung
jener politischen Kräfte, für die die Volksfrontregierung ein „Trauma“
darstellte und die einen anderen französischen Staat wollten. Der
272 Von Krieg zu Krieg
Waffenstillstand war für sie ein Mittel zum Zweck, zum Zweck der
„Révolution nationale“, aus der die „France nouvelle“ hervorgehen
sollte.
9.5 Die „Verfassung“ des État français (1940 – 1944)
„Nous, Philippe Pétain, Maréchal de France, chef de l’État,
décrétons. . .“
Die (Staats)Verfassung blieb in großen Zügen informell. Gesetze wurden vom Marschall erlassen, sie begannen mit der Formel: „Nous,
Philippe Pétain, Maréchal de France, chef de l’État, décrétons. . .“
Kurzfristig wurde an die Schaffung einer Einheitspartei gedacht, es
wurde jedoch entschieden, den Weg zum Volk über die ehemaligen
Frontkämpfer zu suchen. Neu gebildet wurde hierfür die Legion der
Frontkämpfer, die die vielen Frontkämpfervereine zwangsweise aufnahm. Xavier Vallat, Minister für die ehemaligen Frontkämpfer, statuierte: „Die ehemaligen Frontkämpfer müssen bis ins letzte Dorf
hinein Gruppen bilden, deren Aufgabe es ist, die weisen Ratschläge
des siegreichen Führers von Verdun [d. i. ist Pétain] zur Geltung und
Ausführung zu bringen.“ Die Kombattanten nahmen ihre Aufgabe
sehr ernst und gerieten schnell in Konflikt mit den Präfekturen. Die
Privilegierung der Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, dieser „aristocrates du courage“, verwies auf das neue ständische Denken, das in
Vichy herrschte. Im Januar 1941 wurde ein sog. „Conseil national“
ins Leben gerufen, eine Art ständischer Vertretung des Landes anstelle eines gewählten Parlaments. Die Regierung bestimmte die Mitglieder – ehemalige Minister, Senatoren und Abgeordnete, Vertreter
der katholischen und protestantischen Kirche, Mitglieder der Académie française, Wissenschaftler, Wirtschaftsvertreter, Führer von landwirtschaftlichen Vereinen und Kooperativen. Die Versammlung arbeitete 1941 eine Verfassung aus, die nie Wirklichkeit wurde. Sie
orientierte sich an der Vorstellung intermediärer Gewalten und an
einem ständischen Liberalismus, sie knüpfte an ein Amalgam aus
Bestrebungen an, das im rechten Spektrum in den Vorjahren diffuse
Gestalt gewonnen hatte. Manches inspirierte sich an Napoleon, anderes an Tocqueville, das eine war einer monarchischen Verfassung
abgeschaut, anderes sollte Veränderungen, die die Revolution von
1789 gezeitigt hatte, rückgängig machen.
In der politischen Praxis wurde der Regionalgedanke gestärkt und
ein Teil der Verwaltungskompetenz regionalisiert. Außerdem wurden
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 273
die „Eliten“ der Dritten Republik wie etwa die Volksschullehrer oder
führende Verwaltungskräfte aus ihren Einflußfeldern verdrängt, soweit sie sich nicht für einen mentalen Gleichschritt mit dem Regime
entschieden.
„Défense paysanne“
Der Bauern nahm sich die Regierung in besonderer Weise an. Während der Dritten Republik hatte sich eine Bauernbewegung herausgebildet, an deren rechtem Rand die „Défense paysanne“ von Henri
Dorgères stand. Ihre Aktivisten trugen grüne Hemden, skandierten
bestimmte Parolen wie „croire, obéir, servir“ und veranstalteten Demonstrationen. 1939 vereinigte diese „Défense“ 400.000 Mitglieder
auf sich. Pétain verkündete am 12. Oktober 1940, daß der bäuerliche
Familienbetrieb die entscheidende wirtschaftliche und soziale Basis
Frankreichs darstelle. Fördermaßnahmen und Privilegien, die Söhne
von Bauern animieren sollten, auf dem Land zu bleiben und Jungbauern auf dem väterlichen oder einem stillgelegten Hof zu werden,
schlugen fehl. 1931 war das Jahr gewesen, in dem erstmals mehr
Beschäftigte in der Industrie und im Dienstleistungssektor tätig waren als in der Landwirtschaft. Hinter diesem Faktum steckte ein
grundlegender Wandel im Verlagerungsprozeß vom Land in die
Stadt: Während früher die Jungbauern auf dem Land verblieben
waren und vorwiegend diejenigen in die Stadt und in nicht-landwirtschaftliche Berufe abwanderten, die über keinen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb verfügen konnten, waren es nun die Jungbauern
selber, die den elterlichen Hof nicht mehr übernahmen. Das Höfesterben war das neue Phänomen. Dieser Prozeß erwies sich als unumkehrbar, eine Änderung des Erbrechts zugunsten des Sohnes, der
den Hof übernahm, und zuungunsten der Geschwister, die den Hof
verließen, lief am wirklichen Problem vorbei.
„Die französische Seele erheben“: Familie und Jugend
Die Bauernpolitik sollte durch eine entsprechende Familienpolitik
ergänzt werden. Das Scheidungsrecht wurde verschärft, aber nicht
abgeschafft, Abtreibung wurde strafrechtlich verfolgt, Maßnahmen
gegen Ehebruch, Alkoholismus und ganz allgemein gegen die der
Dritten Republik unterstellte moralische Dekadenz (die Republik
habe u. a. die Prostitution gefördert usw.) flankierten eine aktive Bevölkerungspolitik. Kinderreiche Väter waren geborene Mitglieder
vieler Einrichtungen, Familienhilfen sollten die Geburtenrate erhö-
274 Von Krieg zu Krieg
hen, für Frauen wurde die Mutterrolle glorifiziert. Ein Gesetz vom 11.
Oktober 1940 drängte berufstätige Frauen aus dem Beruf, um, so das
Ziel, arbeitslosen Männern Platz zu machen. Die Gleichheit von Frau
und Mann, bei deren Verwirklichung die Dritte Republik immerhin
ein Stück vorangekommen war, wurde ebenso wie das Prinzip der
Gleichbehandlung der Kinder im Erbfall inkriminiert. Die Wendung
der „Révolution nationale“ von 1940 gegen die Révolution française
von 1789 ff. wurde an solchen Punkten explizit. Vor allem zu Beginn
des Regimes wurde eine Wiedereinsetzung der katholische Kirche in
alte Rechte ins Auge gefaßt, aber zu einem neuen Konkordat, von
dem die Rede war, kam es nicht. Die Trennung von Staat und Kirche
wurde nicht rückgängig gemacht, eine Reihe von Konflikten, die seit
der gesetzlichen Trennung von 1905 bestanden, wurde beigelegt. Die
Linkskatholiken wandten sich schnell vom Regime in Vichy ab.
Ideologisch in den Vordergrund gestellt wurde die Jugend. Eine
Einheitsorganisation wie die Hitlerjugend in Deutschland war nicht
durchsetzbar, angefangen beim Widerstand der Kirche, sie scheiterte
aber auch an der Zweiteilung des Landes. Pétain hatte am 13. August
1940 erklärt, daß alle Vereinigungen weiterbestehen blieben, daß sie
sich aber um das gemeinsame Ziel kümmern sollten, eine ,starke
Jugend, gesund an Körper und Geist zu schaffen, bereit für solche
Aufgaben, die ihre französische Seele erheben würden’. Es gab eine
offizielle Organisation, die „Compagnons de France“, für die aber
keine Zwangsmitgliedschaft galt. Vermutlich haben weniger als
10.000 Jugendliche dem Verein angehört. Im Sommer 1940 wurden
zugleich die „Chantiers de jeunesse“ eingerichtet, ab Januar 1941
mußten junge Männer im wehrpflichtigen Alter dort Dienst tun
(Einberufungen in die französische Armee waren aufgrund des Waffenstillstands nicht erlaubt). Es handelte sich überwiegend um Arbeitseinsätze in den Wäldern; beispielsweise mußte Holzkohle hergestellt werden, die an die Stelle des kaum mehr importierbaren
Erdöls trat.
Noch ein „homme nouveau“
Pétain und seine Anhänger wollten über die Jugendorganisationen
den „homme nouveau“ schaffen. Der „neue Mensch“ sollte in perfekter Harmonie mit Körper und Seele stehen. Der „neue Mensch“
würde einen Beruf ausüben, den er liebte, er würde ein anständiges
Gehalt erzielen, das es ihm erlaubte, seiner Familie ein würdiges
Auskommen zu bieten. Dies richtete sich vor allem gegen den Fließ-
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 275
bandarbeiter, der nur noch Masse, aber keine Person mehr sei. Es
wurden Schulungszentren errichtet, um aus jungen Männern Führungspersönlichkeiten im Sinne der Idee vom „neuen Menschen“ zu
machen (Ecole nationale des cadres d’Uriage).
9.6 Die Kollaboration
Ein „Neues Frankreich“ in einem „Neuen Europa“
Die Regierung in Vichy ging davon aus, daß der Waffenstillstand nur
für eine Übergangszeit bis zu einem Friedensschluß mit Deutschland
gelte, und daß Friedensverhandlungen sehr bald aufgenommen würden. Die Meinung, daß Deutschland den Krieg gewinnen werde, war
weit verbreitet. In den Europa-„Konzepten“, die die Nationalsozialisten im Krieg entwickelten, spielte Frankreich keine konstruktive,
sondern als Rumpf-Frankreich bestenfalls eine nebengeordnete
Rolle. Pétain sowie Laval, Flandin, Darlan und wieder Laval als faktische Regierungschefs glaubten an ein „Neues Europa“ unter Führung
Hitlers, in dem Frankreich als Kolonialmacht jedoch die Rolle des
sich zweckmäßig mit Deutschland ergänzenden Partners übernehmen würde. Besonders nach dem Treffen im Oktober 1940 in Montoire zwischen Hitler und Pétain glaubte die Vichy-Regierung an eine
solche Zukunft, der die Kollaboration der beiden Staaten dienen
sollte. Dies war weit entfernt von dem, was Hitler oder Ribbentrop
Frankreich zuzugestehen bereit waren. Ihre Ablehnung brachten sie
immer wieder deutlich zum Ausdruck. Dennoch bot Laval von Anfang an die französische collaboration mit dem Ziel an, das „Neue
Frankreich“ der Rolle im „Neuen Europa“ zuzuführen, die man sich
in Vichy in sehr groben Umrissen ausmalte. Die Hoffnung war, mit
politischen Angeboten der Zusammenarbeit zunächst Zugeständnisse bei der Umsetzung des Waffenstillstandsabkommens bei der
Waffenstillstandskommission in Wiesbaden zu erreichen und dann
einen Friedensvertrag auszuhandeln. Die Tatsache, daß die Angebote
in Berlin auf taube Ohren stießen, hinderte nicht, daß bis 1944 die
Kollaboration Prinzip des Vichy-Regimes blieb. Es konnten zu keinem Zeitpunkt der Besatzungsmacht wirklich substantielle Zugeständnisse abgerungen werden, vielmehr wurde immer mehr von
Frankreich – seiner Wirtschaft, seinen Arbeitskräften, seinen Rohstoffen, seinen finanziellen Ressourcen – und des Kolonialreiches
Nazideutschland zur Verfügung gestellt. Frankreich wurde in den
Kriegsjahren von den Besatzern rücksichtslos ausgebeutet. Lebens-
276 Von Krieg zu Krieg
mittel und Industriegüter wurden teils zwangsweise aufgekauft oder
einfach beschlagnahmt, nicht einmal das für Frankreich ohnehin
harte Waffenstillstandsabkommen respektiert. Zwangsarbeiter und
-arbeiterinnen wurden teils mit, teils ohne Hilfe der Regierung in
Vichy rekrutiert und nach Deutschland geschickt oder für den Bau
des „Atlantikwalls“ eingesetzt.
Kollaboration und Verfolgung von Minderheiten
Mit dem Begriff der Kollaboration wird vor allem das innen- und
außenpolitische Verhalten der Regierung des „État français“ verbunden. Eine andere Ausprägung von Kollaboration bedeutete die ideologische Kollaboration bestimmter Milieus in Paris. Der Glaubenssatz
von Vichy lautete, daß Frankreich von Franzosen verwaltet werden
sollte, um das Land und die Menschen nicht den Besatzern auszuliefern. Beides konnte nicht nur nicht verhindert werden, vielmehr
machten sich französische Behörden zu Handlangern und zum Teil
zu Komplizen der deutschen Militärbehörden bzw. später der SS. Am
offensichtlichsten wurde dies bei der Verfolgung bestimmter Minderheiten. Aufgrund von Sicherheitsgesetzen vom Mai 1938 waren in
Frankreich erste Konzentrationslager entstanden, in die 1939/40 vor
allem deutsche und spanische Flüchtlinge geschickt wurden. Die
Vichy-Regierung dehnte diese „Sicherheitsmaßnahmen“ auf alle ausländischen Männer zwischen 18 und 45 aus. Der Zugang zum französischen Staatsbürgerrecht für Ausländer wurde erschwert, rückwirkend bis zum 10. August 1927 wurde über 15.000 Flüchtlingen, darunter mehr als 6.000 nach Frankreich geflohenen Juden, das Staatsbürgerrecht aberkannt. Repressive Maßnahmen richteten sich
desweiteren gegen Franzosen, die als „Anti-Franzosen“ betrachtet
wurden, insbesondere gegen Mitglieder von Freimaurerlogen. Politiker und Geschäftsleute, Ärzte und Lehrer in der Provinz trafen sich
auch noch unter der Dritten Republik in den Logen, Ausdruck einer
republikanischen Soziabilität. Die Logen wurden im August 1940
verboten, Mitgliedschaft dort und Bekleidung eines öffentlichen Amtes schlossen sich fortan aus. Eine Ausstellung über die Freimaurerei
im Oktober 1940 im Pariser Petit Palais, die Macht und Einfluß der
Freimaurer auf die Politik in Frankreich sowie die Verbindungen zu
England und Juden denunzierte, erhielt großen Zulauf. Über eine
Million Besucher schien es wenig zu stören, daß die Besatzungsmacht hinter dieser Ausstellung und den beiden französischen „Machern“ Jacques de Lesdain und Jean Marquès-Rivière stand.
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 277
Besonders gravierend war die Diskriminierung und Verfolgung von
Juden. Seit Oktober 1940 wurden französische Juden aus politischen
und öffentlichen Ämtern verbannt, Führungspositionen im kulturellen und Medien-Bereich verschlossen. Ausländische Juden wurden
durch zusätzliche Gesetze diskriminiert, das Département Allier (Vichy) wurde für Juden gesperrt. Dies alles entsprang eigenständigen
Initiativen der Vichy-Regierung. In der besetzten Zone begannen die
deutschen Behörden mit der Enteignung jüdischen Besitzes, „Arisierung“ genannt. Die Regierung drängte auf eine Beteiligung an der
Durchführung, um sicher zu gehen, daß der Besitz möglichst in französische Hände überging. Die in der freien Zone begonnene rechtliche Diskriminierung der Juden wurde auf die besetzte Zone ausgedehnt. Xavier Vallat, Vichys Generalkommissar für Judenfragen,
hatte ausdrücklich den Auftrag, bezüglich der Judengesetzgebung
die französische Souveränität in der besetzten Zone wiederherzustellen. Im Lauf des Jahres 1941 begannen massive Judendeportationen in der besetzten Zone. Die französische Polizei arbeitete mit
den deutschen Besatzern zusammen. In Drancy war ein Durchgangslager errichtet worden, von dem aus die Deportationen nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager ihren Ausgang nahmen. Eine
der schlimmsten Verfolgungen fand am 16. Juli 1942 statt, als in Paris
13.000 Juden im Vélodrome d’Hiver zusammengetrieben und nach
Drancy gebracht wurden. Einer der Überlebenden, der damals
14jährige Maurice Rajsfus, hat seine Erlebnisse 1992 in einem ergreifenden Dokument niedergelegt. Seine Eltern und weitere Familienmitglieder überlebten die Deportation nicht. Rajsfus beschreibt dabei
auch die Schwierigkeiten, die ihm einige Behörden 50 Jahre danach
bei der historischen Aufarbeitung des 16. Juli 1942 bereiteten. Während die französische Polizei in diesem Fall aktiver Handlanger der
Nazis war, versuchte die Regierung in Vichy die ausländischen Juden,
die im östlich der Rhône von Italien besetzten Gebiet Zuflucht gefunden hatten, selbständig zu verhaften. Die italienischen Besatzer –
Mussolinis Faschisten – verhinderten dies. Als sie sich im Juli 1943
aus dem besetzten Gebiet zurückzogen, begannen auch dort umfangreiche Deportationen.
Vichy unterschied im übrigen deutlich zwischen ausländischen
und französischen Juden. Einige Maßnahmen des Besatzers wurden
abgeblockt: der Judenstern wurde in der freien Zone nicht eingeführt, auch nicht, als diese Ende 1942 gleichfalls besetzt wurde.
278 Von Krieg zu Krieg
9.7 Die Résistance
„Die Grandeur Frankreichs ist eine Grandeur der Menschheit.“ –
Charles de Gaulle’s „La France libre“
Der Begriff „Résistance“ bezeichnet eine Vielzahl von Gruppen und
Bewegungen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und zunächst
unkoordiniert entstanden. Zwischen La France libre von de Gaulle und
anderen in Frankreich tätigen Gruppen bestand anfangs kaum eine
Verbindung. Die kaum zwei Dutzend Getreuen, die sich im Juni 1940
um de Gaulle in London scharten, gründeten La France libre, der sich
über die Welt zerstreut nach und nach Komitees anschlossen. Die
Bewegung versuchte, alle politischen und religiösen Divergenzen
auszuklammern, Aktionsprinzip war die Befreiung Frankreichs, um
dem französischen Volk wieder eine freie Entscheidung über seine
politische Zukunft zu ermöglichen. Vorrang hatten Frankreich, das
Vaterland, Ehre, die Würde der Franzosen, Menschenwürde, Europapläne spielten im Gegensatz zu anderen Bewegungen eine untergeordnete Rolle. Dem Exilwiderstand blieb die Résistance in Frankreich selbst zunächst verborgen. Erstmals im März 1942 gelang es
dem Gründer von Libération-Nord, Christian Pineau, de Gaulle in London zu treffen und über den Widerstand in Frankreich selbst zu
berichten. Am 11. November (Fest des hl. Martin) 1942 sagte deGaulle in London über den heimischen Widerstand, dieser habe die
vassalitische Unterwerfung Europas unter Hitler verhindert. Frankreich befinde sich politisch und moralisch im Zentrum dieses gigantischen Kampfes. Für de Gaulle, Jacques Maritain und René Cassin –
die beiden letzteren waren Vordenker der Résistance – spielte die
Leitidee von der Grandeur Frankreichs eine besondere Rolle. Maritain sagte am 14. Juli (Nationalfeiertag) 1943: „Das Volk von Frankreich wurde von Männern verraten, die aus einem egoistischen und
isolationistischen Nationalismus heraus auf die Grandeur, auf die
Generosität und auf die Ehre ihres Landes verzichtet haben. Das Volk
von Frankreich sehnt sich nach Grandeur. Frankreich wurde unter
den Nationen eine besondere Rolle zuteil, die nicht ausgewischt
werden kann. Die Grandeur Frankreichs ist eine Grandeur der
Menschheit.“ Ein Teil des Kolonialreiches, Französisch-Äquatorialafrika, schloß sich frühzeitig La France libre an und schmälerte den
Rückhalt von Vichy im Empire. Von Algier aus, wo ab 1943 unter
dem Namen „Assemblée Consultative“ ein Exilparlament tagte,
nahm die politische Rückeroberung Frankreichs ihren Ausgang.
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 279
„Pantagruel“
Noch im Sommer 1940 gründete im Elsaß der Musikverleger Raymond Deiss das Untergrundjournal „Pantagruel“, das im Oktober des
Jahres auch in Paris zu lesen war, gegen Rassismus, Antisemitismus
und Nationalsozialismus. Gestalt nahm „die“ Résistance ab dem Sommer 1941 an, als klar wurde, daß Hitler keinerlei konstruktive Pläne
für Europa besaß, mit denen die Krise des Nationalstaats, die allenthalben diagnostiziert wurde, hätte überwunden werden sollen. Das
Ansteigen der Gewalt im Land, die zunehmenden Judenverfolgungen, die immer größeren Besatzungslasten, die Besetzung des restlichen Frankreich und die Zwangsarbeit, vor der sich die jungen Männer nur durch Flucht in den Untergrund, d. h. in die Berge und
Wälder, retten konnten, führten der Résistance neue Anhänger zu.
Den Anfang der Aktivitäten machten Untergrundpublikationen aus,
allmählich entstanden weitere Aktionsfelder: Militärspionage (Service des enseignements), Sabotageakte (Action ouvrière), Vorbereitungen für die Ersetzung von Kollaborateuren in der Verwaltung
(Noyautage des administrations publiques), schließlich die Schaffung
der Armée secrète. Neben vielen lokalen Gruppen und einem in der
ersten Zeit eigenständigen kommunistischen Widerstand bildeten
sich in der nördlichen und südlichen Zone je drei überlokale Widerstandsgruppen aus. Sie hatten 100 bis 400 Anhänger, später wurden
daraus Tausende.
Gruppen und Persönlichkeiten der Résistance
Im Süden entwickelte sich Combat ab Dezember 1941, das linkskatholisch geprägt war. Die Führung übernahm der schon erwähnte
Henri Frenay. Die gleichnamige Zeitschrift erreichte ab 1942 einige
10.000 Exemplare pro Nummer, einzelne Nummern konnten in einer
300.000er Auflage gedruckt werden. Zu den führenden Redakteuren
gehörte ab Frühjahr 1944 Albert Camus. André Hauriou war ab
Herbst 1943 Delegierter des Combat in der provisorischen Nationalversammlung in Algier. Libération-Sud war eine überwiegend sozialistische Widerstandsbewegung, Franc-Tireur vereinigte Linkssozialisten
und Republikaner, der Historiker Marc Bloch gehörte dazu. In der in
Toulouse wirkenden Gruppe Libérer et Fédérer wirkten emigrierte italienische Antifaschisten und spanische Republikaner mit. Léon
Blum, Vincent Auriol (späterer Staatspräsident) zählten dazu. Im Januar 1943 schlossen sich die drei Hauptgruppen im Süden zu den
Mouvements unis de résistance zusammen. Ende 1943 wurde der kom-
280 Von Krieg zu Krieg
munistische Front National im Süden aktiv. Im Norden führte der
Sozialist Pineau Libération-Nord. Daneben bestand die Organisation civile et militaire (OCM), in der die politische Rechte den Ton angab und
die dem Vichy-Regime nahestand. Der kommunistische Front National
war hier frühzeitig tätig. In Paris konnte sich eine bedeutende studentische Widerstandsgruppe bilden, deren Zeitschrift Défense de la France
zu den weitverbreitesten Untergrundzeitschriften zählte. Einige Publikationen wie die Untergrundzeitschrift Le Populaire der sozialistischen Partei kursierten in beiden Zonen. Die SFIO war am 10. Juli
1940 zerbrochen, als 90 von 125 sozialistischen Abgeordneten der
Ermächtigung Pétains zustimmten. Die Gegner Pétains gründeten
das Comité d’Action socialiste (CAS), zu dem im Süden etwa Gaston
Defferre zählte. Ebenfalls in beiden Zonen verbreitet wurden die
Cahiers Politiques, Organ des Comité général d’études de la France combattante (im Februar 1943 gegründet, dem Vorstand gehörten u. a. PierreHenri Teitgen und Marc Bloch an). Das Komitee arbeitete mit dem
Conseil National de la Résistance zusammen, den Jean Moulin im Auftrag de Gaulles, zunächst gegen den Willen der Widerstandsgruppen,
ins Leben gerufen hatte. Im Schoß der Armée de l’Armistice, dem
verbliebenen Rest des französischen Heeres nach dem Waffenstillstandsabkommen, entwickelten sich im Zuge der Demobilisierung
von Einheiten ebenfalls Widerstandsgruppen, deren Führung im
Sommer 1942 der General Giraud übernahm. Dieser konnte mit der
Unterstützung der Amerikaner rechnen. Giraud war aus deutscher
Gefangenschaft geflohen (wie schon im Ersten Weltkrieg), darauf
gründete sich seine Popularität. Er setzte sich nach Algerien ab, wo er
mit der Errichtung einer Diktatur begann, die sich an Pétains „Révolution nationale“ orientieren sollte. Ihm lag vor allem an der Wiederherstellung der territorialen Integrität Frankreichs.
Ziele der Résistance
Gemessen an den geographisch-organisatorischen und politischen
Ursprüngen war die Résistance folglich außerordentlich heterogen.
Dennoch gelang eine organisatorische Verknüpfung in den beiden
Zonen und mit de Gaulle, zunächst in London, dann in Algier. Während gegen Ende des Krieges und vor der Libération eine Einheit der
Aktion durchzusetzen war und die politischen Divergenzen in den
Hintergrund traten, war es mit dieser Einheit nach Kriegsende sehr
bald vorbei. Der Gedanke eines geeinten Europas sowie eines neuen
Völkerbundes hatte im Untergrund viele Anhänger gehabt und lebte
9 Politische und nationale Krise (1918 – 1944) 281
nach Kriegsende weiter, beeinflußte in den ersten Jahren die politischen Entscheidungen aber nur wenig. Hier hatte Frankreich als
Nationalstaat Vorrang. Das Gros der Gruppen erstrebte ein erneuertes
demokratisches Frankreich. Die Auswüchse des Kapitalismus wurden von fast allen Gruppen gebrandmarkt, Verstaatlichungen gefordert. Die meisten machten Unterschiede zwischen ,den’ Deutschen/Deutschland und den Nationalsozialisten, sie plädierten für
eine demokratische Erneuerung Deutschlands und dessen Einbindung in ein föderales Europa. Wenige propagierten die Zerschlagung
Deutschlands in mehrere Einzelstaaten. Die Lektüre der Untergrundschriften fördert zutage, wie sehr die europäische Geschichte seit dem
Westfälischen Frieden von 1648 als mit kapitalen Fehlern belastet
empfunden wurde. Die Friedensverträge von Versailles wurden von
den meisten als grobe Fehlkonstruktion begriffen. Das Bemühen,
unter den Bedingungen des Untergrunds die Grundlagen einer politisch stabilen und gerechten sowie demokratischen internationalen
und europäischen Ordnung zu durchdenken, gehört zu den beeindruckendsten intellektuellen Leistungen der Résistance.
9.8 Das Kriegsende
Exilregierung in Algier
Der Schlüssel zum Tor der französischen Selbstbestimmung an der
Seite der Alliierten lag in Algier. Die Reste der Armee, die Giraud in
Algerien um sich geschart hatte, und die wenigen Truppen, über die
de Gaulle verfügte, waren nicht kriegsentscheidend. Giraud besaß die
Unterstützung der Alliierten, dem mußte sich de Gaulle fügen; Giraud wurde allerdings im April 1944 kaltgestellt. Im Gegensatz zu
Giraud verfügte de Gaulle über klare Zielvorstellungen: Der Wiedereintritt Frankreichs in den Krieg, vertreten durch seine Exilkräfte
unter de Gaulle und, zwangsläufig, Giraud, sollte Frankreich in erster
Linie wieder internationales Gewicht und Unabhängigkeit von Engländern und Amerikanern verschaffen. Außerdem mußte eine Gegenregierung zur Regierung von Vichy geschaffen werden. Am 3.
Juni 1943 bildeten de Gaulle und Giraud in Algier gemeinsam den
Comité français de libération nationale (CFLN), dem mit Ordre vom 17.
September eine provisorische Konsultativversammlung (s. o.) zugeordnet wurde. Der CFLN begann sofort mit der Säuberung der Institutionen und Behörden in Französisch-Nordafrika von Vichy-Getreuen, von Anfang an wurde klargestellt, daß Pétain und den Kolla-
282 Von Krieg zu Krieg
borateuren der Prozeß gemacht werden würde. Die Kommunisten
traten dem CFLN im April 1944 bei und trieben die Épuration massiv
voran. Am 21. April 1944 wurde eine Ordonnanz erlassen, die die
Spielregeln für die Zeit unmittelbar nach der erwarteten Befreiung
Frankreichs festlegte: Wiederherstellung der republikanischen Institutionen, baldige Wahl einer verfassunggebenden Versammlung,
Wahlrecht für die Frauen. Am 3. Juni gab sich der CFLN den Namen
einer provisorischen Regierung der Republik Frankreich. Für deGaulle bestand die Dritte Republik im übrigen fort, sie war nach
seinem Dafürhalten verfassungsrechtlich nicht abgeschafft worden.
Deshalb weigerte er sich auch, im September 1944 in Paris, wie von
manchen gefordert, vom Balkon des Rathauses (wie im 19. Jh.) die
Republik auszurufen.
Libération
Die Offensive der Alliierten begann am 6. Juni in der Normandie,
de Gaulle hatte am 14. Juni Bayeux erreicht, am 15. August startete
die zweite Offensive in der Provence, beides unter Beteiligung französischer Kräfte. Paris erhob sich in der Zwischenzeit, General Leclerc
marschierte mit seiner Division auf Paris zu. Am 25. August unterzeichnete der deutsche Befehlshaber die Kapitulation, am 26.8. zog
de Gaulle die Champs-Elysées zur Kathedrale von Notre-Dame unter
dem Jubel der Massen hinunter.
De Gaulle wollte die Grande Nation restaurieren, auf das Kolonialreich nicht verzichten. Er stellte sich in die Tradition der in Frankreich im Lauf der Jahrhunderte entwickelten Konzepte zur „Europe
française“. An die Stelle der geschichtsmächtig gewordenen außerfranzösischen kulturellen Referenzen versuchte er die Grande Nation
als Selbstreferenz zu setzen. Die Umsetzung dieses Programms gelang
im großen und ganzen nicht, aber de Gaulle bewerkstelligte den
Übergang in eine neue politische Zivilisation in Frankreich.
Halten wir an diesem Punkt inne und wenden uns jenen Bereichen
zu, deren Wandel den Übergang in die neue Zivilisation kennzeichnete: Kolonialismus, Europakonzepte, außerfranzösische kulturelle
Referenzen.
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