Schulsozialarbeit in der Schweiz Geschichte - Theoretische Aspekte - Perspektiven Lizentiatsarbeit der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich von ANDREAS FREHNER eingereicht bei Prof. Dr. R. Fatke Pädagogisches Institut der Universität Zürich Mai 2001 Internet-Version auf jugendarbeit.ch die Domain für Jugendarbeit in der Schweiz © 2001 Andreas Frehner INHALTSVERZEICHNIS Dank...................................................................................................................................... 4 Teil I: Einleitung.................................................................................................................... 5 1.1 Einführung in die Fragestellung .................................................................................... 5 1.2 Schulsozialarbeit in der Schweiz ................................................................................... 6 1.3 Forschungsstand über die Schulsozialarbeit in der Schweiz........................................... 8 1.4 Fragestellung ................................................................................................................ 9 Teil II: Geschichte ............................................................................................................... 11 2.1 Vorbemerkungen ........................................................................................................ 11 2.2 Geschichte der Schulsozialarbeit in der Schweiz ......................................................... 13 2.2.1 Kirchliche Schulen und rudimentäres Sozialwesen (vor 1798) .................................................................13 2.2.2 Aufbau der Volksschule und Entstehung von gemeinnützigen, sozialen Einrichtungen (1798 - 1830) ..15 2.2.3 Erlass von kantonalen Gesetzen für die Schule und das Sozialwesen (1830 - 1848) ...............................18 2.2.4 Etablierung der Volksschule; kaum Änderungen im Sozialwesen (1848 - 1870).....................................20 2.2.5 Reformpädagogische Ansätze und Schaffung von diversen Sozialgesetzen (1870 - 1939) .....................22 2.2.6 Ruhe vor dem Sturm (1939 - 1960).............................................................................................................31 2.2.7 Schulreform und Jugendarbeit (1960 - Gegenwart)....................................................................................33 2.3 Fazit............................................................................................................................ 35 2.3.1 Allgemeines..................................................................................................................................................35 2.3.2 Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege..........................................................................37 2.3.3 Reformpädagogik in der französischsprachigen Schweiz ..........................................................................52 2.3.4 Vergleich der Geschichte der Schulsozialarbeit in der Schweiz mit der Entwicklung der Schulsozialarbeit in Deutschland ................................................................................................................56 Teil III: Theoretische Aspekte.............................................................................................. 56 3.1 Einleitung ................................................................................................................... 56 3.2 Begriff Theorie ........................................................................................................... 57 3.3 Analyse verschiedener schweizerischer Projekte der Schulsozialarbeit........................ 58 3.3.1 Schulsozialarbeit an der Weiterbildungsschule (WBS) der Stadt Basel....................................................58 3.3.1.1 Systemische Sozialarbeit (nach P. LÜSSI) ...........................................................................................60 3.3.2 Schulsozialarbeitsprojekt in Volketswil ZH ...............................................................................................61 3.3.3 Abklärung eines allfälligen Schulsozialarbeitsprojektes in Wetzikon ZH ................................................62 3.3.4 Fazit aus der Analyse der schweizerischen Schulsozialarbeitsprojekte.....................................................63 3.4 Theoretische Aspekte in der Grundlagenliteratur der Schulsozialarbeit ....................... 64 3.4.1 Empirische Befunde zur Schulsozialarbeit .................................................................................................64 3.4.1.1 Untersuchung von OLK, BATHKE und HARTNUSS (2000) ..................................................................65 3.4.1.2 Umfrage von WULFERS (1991)............................................................................................................66 3.4.2 Systematisierende Konzepte der Schulsozialarbeit ....................................................................................67 2 3.4.2.1 Träger der Schulsozialarbeit ................................................................................................................67 3.4.2.2 Kooperationsmodelle der Schulsozialarbeit ........................................................................................68 3.4.2.3 Systematik mit Hilfe der Sozialarbeitswissenschaft ...........................................................................69 3.4.3 Ansätze für eine Theorie der Schulsozialarbeit ..........................................................................................70 3.4.3.1 Rollentheoretischer Ansatz ..................................................................................................................70 3.4.3.2 Sozialisationstheoretische Begründung ...............................................................................................70 3.4.3.3 Psychologische Begründung ................................................................................................................71 3.4.3.4 Sozialwissenschaftliche Analyse .........................................................................................................72 3.4.3.5 Theorieansatz von K.-H. BRAUN und K. WETZEL (2000) ..................................................................72 3.4.3.6 Verknüpfung von Schul- und Jugendtheorie.......................................................................................74 3.4.3.7 Bildungstheoretischer Theorieansatz...................................................................................................75 3.4.3.8 Systemischer Theorieansatz .................................................................................................................75 3.4.4 Fazit aus den Theorieansätzen in der Grundlagenliteratur .........................................................................76 3.4.5 Synthese des systemischen Ansatzes mit den bildungstheoretischen Überlegungen für eine Theorie der Schulsozialarbeit ..........................................................................................................................................78 3.4.6 Probleme bei der Entwicklung einer Schulsozialarbeitstheorie .................................................................80 3.4.7 Nachtrag zu einer Theorie der Schulsozialarbeit ........................................................................................81 Teil IV: Perspektiven ........................................................................................................... 82 4.1 Professionalisierung.................................................................................................... 82 4.1.1 Professionalisierung der Schulsozialarbeit..................................................................................................83 4.1.1.1 Ethos der Schulsozialarbeit ..................................................................................................................83 4.1.1.2 "Anwaltsaufgaben" der Schulsozialarbeit ...........................................................................................83 4.1.1.3 Autonomie der Klientel der Schulsozialarbeit ....................................................................................83 4.1.1.4 Professionelles Wissen und Selbstreflexion der Schulsozialarbeit ....................................................84 4.1.1.5 Ausbildungsgänge für Schulsozialarbeit .............................................................................................84 4.1.1.6 Berufsverband der Schulsozialarbeiter und Schulsozialarbeiterinnen ...............................................84 4.1.1.7 Fachsprache und Methodik in der Schulsozialarbeit ..........................................................................84 4.1.2 Fazit der Professionalisierung......................................................................................................................85 4.2 Qualitätssicherung und Qualitätsstandards .................................................................. 85 4.3 Gedanken zu den Perspektiven der Schulsozialarbeit .................................................. 86 Schlusswort ......................................................................................................................... 88 Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 90 3 DANK An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Personen bedanken, die mich beim Schreiben der vorliegenden Lizentiatsarbeit in irgendeiner Form unterstützt haben. So gebührt unter anderem meinen beiden treuen Lektoren PETER MARTI und URS TOBLER ein besonderer Dank. Des weiteren haben INSA DUTTWEILER und MONIKA WICKI einen kritischen Blick in meine Arbeit geworfen. Auch meinen Kommilitonen und Kommilitoninnen bin ich zu Dank verpflichtet, denn Ihre Anteilnahme half über schwierige Phasen des Verfassens hinweg. Dazu kam, dass ich immer wieder Gelegenheit erhielt, ihnen meine Gedanken darzulegen und dadurch auch überprüfen konnte, inwieweit diese von anderen verstanden wurden. Mit DR. HANNES TANNER führte ich sehr anregende Gespräche zum Thema Schulsozialarbeit und erhielt dabei wertvolle Tips und Hinweise. Während der Erarbeitungszeit betreute und begleitete mich Herr PROF. DR . R. FATKE, bei dem ich mich an dieser Stelle herzlich für die angenehme und kompetente Unterstützung bedanken möchte. 4 TEIL I: EINLEITUNG 1.1 EINFÜHRUNG IN DIE FRAGESTELLUNG Im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Entwicklung (Individualisierung, Globalisierung usw.) wird es für die Heranwachsenden immer schwieriger, sich in der heutigen Gesellschaft zurechtzufinden. Dies führt zu verschiedenen Problemen, die sich unter anderem auch in der Schule zeigen. So wird von vermehrter Aggression und Gewalt gesprochen. Auch entstehen Probleme bei der Integration von ausländischen Kindern und Jugendlichen. Des weiteren wird in der Oberstufe die Drogenproblematik wieder aktuell. Dies alles führt dazu, dass Lehrkräfte und Eltern im Umgang mit den Heranwachsenden überfordert sind (vgl. C HRISTEN / PFEIFFER, 1999). Die Pädagogin MARIKA MÖRSCHNER spricht von der "...Abnahme der erzieherischen Leistungsfähigkeit der Familie und Probleme[n, AF] beim Übergang von der Schule in das Berufsleben..." (1988, S. 7). Die geschilderte Situation bewirkt eine Reformation des Schulwesens. In der Folge kommen verschiedene Vorstellungen zum Tragen; so spricht man von der Öffnung der Schule, gemeinwesensorientierter Schule oder auch einer Schule mit erweiterter Verantwortung. Durch dieses neue Verständnis von Schule wird eine Kooperation mit der Jugendhilfe bedeutend vereinfacht (vgl. OLK / BATHKE / HARTNUSS, 2000, S. 8). In verschiedenen Kantonen der Schweiz laufen Projekte mit sogenannten "Teilautonomen Schulen" (im Kanton Zürich z. B. TaV). Auch innerhalb der Jugendhilfe lassen sich Veränderungen feststellen. So wird vermehrt von einem lebensweltorientierten Ansatz ausgegangen. Zur Lebenswelt der Klientel der Jugendhilfe gehört auch die Schule (vgl. OLK / BATHKE / HARTNUSS, 2000, S. 8). In der Folge rückt die Schulsozialarbeit vermehrt in den Mittelpunkt, denn mit ihrer Hilfe sollen die beschriebenen gesellschaftlichen Probleme in der Schule aufgefangen werden. Diese Vorstellung wird durch die Öffnung der Schule und die Lebensweltorientierung der Jugendhilfe zusätzlich verstärkt. 5 1.2 SCHULSOZIALARBEIT IN DER SCHWEIZ Die Schulsozialarbeit in der Schweiz steckt noch in den Kinderschuhen. In Deutschland hingegen wurde sie bereits in den Siebzigerjahren, im Zusammenhang mit der Bildungsreform, eingeführt. Die beiden Sozialarbeiterinnen ESTHER CHRISTEN und SIMONE PFEIFFER erstellten als Diplomarbeit eine Bestandesaufnahme über die Schulsozialarbeit in der Deutschschweiz (CHRISTEN / PFEIFFER, 1999). Alle 21 vorgestellten Schulsozialarbeitprojekte verfügen über: - ein niederschwelliges Angebot (Dem Schulsozialarbeiter bzw. der Schulsozialarbeiterin ist in der Schule ein Büro zugeteilt, oder es bestehen mindestens fixe Sprechstunden.), - setzen Methoden der Sozialen Arbeit ein und - bezeichnen ihr Projekt als Schulsozialarbeit (vgl. CHRISTEN / PFEIFFER, 1999, S. 21) Wenn man die chronologische Entstehung der einzelnen Schulsozialarbeitprojekte betrachtet, sieht dies wie folgt aus: 1987 1988 1990 1995 1996 1997 1998 1999 1 Projekt in Wattwil (SG) 1 Projekt in Bülach (ZH) 1 Projekt in St.Gallen (SG) (mit zweijährigem Unterbruch) 1 Projekt in Winterthur (ZH) 2 Projekte in Zürich (ZH) Schulkreis Limmattal 1 Projekt in Dietlikon (ZH) 4 Projekte in Basel (BS) 1 Projekt in Münchenstein (BL) (dieses Projekt wurde bis Herbst 1998 auf weitere Ortschaften ausgedehnt) 1 Projekt in Rorschach (SG) 1 Projekt in Bülach (ZH) 1 Projekt in Zürich (ZH) Schulkreis Schwammendingen 1 Projekt in Zürich (ZH) Schulkreis Glattal 1 Projekt in Zürich (ZH) Schulkreis Waidberg 1 Projekt in Volketswil (ZH) 1 Projekt in Liestal (BL) 1 Projekt in Oberwil (BL) 1 Projekt in Rorschach (SG) In absoluten Zahlen bedeutet dies: 6 Anzahl Projekte Projekte der Schulsozialarbeit nach Kalenderjahren 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 Jahr Grafik 1: Projekte der Schulsozialarbeit nach Kalenderjahren Aus der obigen Grafik wird ersichtlich, dass erst seit Mitte der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts die Schulsozialarbeit in der Deutschschweiz Fuss gefasst hat. Der vermeintliche Rückgang von Projekten im Jahre 1999 beruht wohl darauf, dass die Bestandesaufnahme im Juni 1999 abgeschlossen wurde und deshalb nicht alle Projekte des genannten Jahres berücksichtigt werden konnten. Dass die Einführung der Schulsozialarbeit in der Schweiz aber dennoch erst am Anfang steht, belegen folgende Tatsachen. In 1O Kantonen (AI, AR, AG, GL, GR, NW, OW, TG, UR, VS) bestehen bisher keine Pläne für die Einführung von Schulsozialarbeit. In 3 weiteren Kantonen (LU, SO, SZ) liessen sich keine Angaben finden. Lediglich in 4 Kantonen (BE, FR, ZG, SH) findet eine Auseinandersetzung über eine allfällige Einführung von Schulsozialarbeit statt. Der Kanton St.Gallen (SG) und der Kanton Zürich (ZH) sind dabei, ihr Angebot in bezug auf die Schulsozialarbeit auszubauen. Basel-Stadt (BS) liess verlauten, dass vorderhand keine weiteren Projekte geplant sind. In Basel-Land (BL) liessen sich keine Angaben zu weiteren Projekten finden (vgl. CHRISTEN / PFEIFFER, 1999, S. 21ff.). 5 Kantone (TI, VD, GE, NE und JU) wurden von den Autorinnen der Bestandesaufnahme nicht berücksichtigt. Dies beruht aber nicht darauf, dass dort keine Schulsozialarbeit existiert. Im Gegenteil: Der Kanton Genf (GE) stellte bereits 1966 die ersten Schulsozialarbeiter bzw. Schulsozialarbeiterinnen, im Zusammenhang mit der 1962 gegründeten Orientierungsstufe (Cycle d`Orientation), ein. 1971 wurde die Schulsozialarbeit aufgehoben, doch bereits ein Jahr später kam es zu deren Wiedereinführung. 1974 erfolgte in Lausanne (VD) die Einrichtung eines ersten Schulsozialarbeitprojektes (vgl. MUNSCH, 1998). 7 1.3 FORSCHUNGSSTAND ÜBER DIE SCHULSOZIALARBEIT IN DER SCHWEIZ Im November 1996 fand in Bern eine Tagung zum Thema "Schule und Soziale Arbeit in gefährdeter Gesellschaft" statt. Im später publizierten Tagungsbericht wurde folgendes festgehalten: Brennend in unserer Zeit ist die Frage nach der Zukunft von Schule und Sozialer Arbeit. Allerdings sind wir uns der Tatsache bewusst, dass Schule und Soziale Arbeit bisher wenig Neigung gezeigt haben, in ein Verhältnis interessierter Zeitgenossenschaft zu treten. Eher stilisieren sie ihre gegenseitige Ignoranz zu einem besonders wertvollen Merkmal ihrer Identität. So zeigt die Professionalisierungsdiskussion, die in jüngster Zeit eine neue Konjunktur erfahren hat, wie wenig man gewillt ist, voneinander Notiz zu nehmen. Hier diskutiert man über die Professionalisierung der Lehrerinnen und Lehrer, dort über die Professionalisierung der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Dass sich die beiden Berufsgruppen ähnliche Probleme stellen könnten, scheint vielen selbst als Gedanke zu anstrengend zu sein. (GROSSENBACHER / HERZOG / HOCHSTRASSER / RÜEGSEGGER, 1997, S. 9) Knapp vier Jahre später, am 8. April 2000, fand in Olten eine Tagung zum Thema "Schule und Soziale Arbeit - Entwicklungsstand und Perspektiven" statt. Im Tagungsbericht wird von der Psychologin CHRISTA HANETSEDER festgestellt, dass sich seit der Veranstaltung von Bern einiges verändert hat. So findet zum Beispiel in der Zwischenzeit ein Dialog zwischen den Lehrkräften, den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen, sowie den Behördenmitgliedern statt. Dies wird durch die bunt zusammengewürfelte Teilnehmerschar der Oltener-Tagung belegt (vgl. HANETSEDER, 2000, S. 15). Die Feststellung von H ANETSEDER entspricht der Tatsache, dass in den letzten Jahren vermehrt Projekte der Schulsozialarbeit in der Schweiz eingerichtet wurden (siehe 1.2). Es besteht deshalb die Hoffnung, dass hierzulande das Thema Schulsozialarbeit unter anderem auch historisch aufgearbeitet wird. Im Gegensatz zur Entwicklung der Schulsozialarbeit in Deutschland, wo diesbezüglich zwei bedeutende Werke (GROSSMANN, 1987; MÖRSCHNER, 1988) vorliegen, finden sich in der Schweiz, weder zur Geschichte der Schulsozialarbeit, noch zur Schulsozialarbeit als solches, ähnliche Abhandlungen. Es existieren lediglich Projektbeschreibungen, sowie Diplom- und Seminararbeiten. Eine umfassende Darstellung hingegen fehlt. Schulsozialarbeit stellt eine neue Erscheinung in der Schweiz dar. Doch darf dies Ursache dafür sein, dass man primär auf die Grundlagen-Literatur aus Deutschland zurückgreift? Situation und Entwicklung in Deutschland sind nicht identisch mit den Verhältnissen in der Schweiz. So existieren zum Beispiel hierzulande keine Gesamtschulen mit den Grössen wie sie in Deutschland üblich sind. 8 Des weiteren werden in den meisten Kantonen der Schweiz die Kinder auch am Nachmittag unterrichtet. In Deutschland hingegen findet der Unterricht hauptsächlich am Morgen statt. Der Nachmittag ist schulfrei. Seit der Einführung der Ganztagesschule in Deutschland bedeutet dies, dass die Kinder und Jugendlichen auch am Nachmittag betreut sein müssen. Für diese Aufgabe wurden dann bald Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen angestellt; dadurch konnte sich die Schulsozialarbeit in Deutschland etablieren. Ein weiterer Unterschied stellt die Rechtslage dar. In Deutschland besteht das bundesweite Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Dieses ist sehr umfassend und differenziert. Schulsozialarbeit ist darin gesetzlich festgehalten (§11 und 13). In der Schweiz besteht das Zivilgesetzbuch (ZGB), das landesweit gilt. Darin finden sich nur wenige Paragraphen über die Jugendhilfe, denn diese ist kantonal geregelt. * * * Kurz gesagt: In der Schweiz beginnt sich die Schulsozialarbeit erst langsam zu entfalten. Dieser Prozess findet aber ohne die Unterstützung grundlegender Publikationen über die Schulsozialarbeit in der Schweiz statt. Man greift vielmehr auf Veröffentlichungen aus Deutschland zurück und versucht diese auf die Schweiz anzuwenden. Dabei besteht aber die Gefahr, dass den spezifischen Eigenheiten Deutschlands (vgl. oben) zu wenig Rechnung getragen wird. Aus diesem Grund sollte eine kritische Reflexion der Erfahrungen unseres nördlichen Nachbarn stattfinden, um sie anschliessend an die Verhältnisse in der Schweiz anzupassen. Zusätzlich sollten aber auch schweizerische Grundlagen-Publikationen erarbeitet werden. Dazu gehört auch eine historische Aufarbeitung des Verhältnisses zwischen Schule und Sozialpädagogik in der Schweiz. 1.4 FRAGESTELLUNG Ziel dieser Arbeit ist es, die Schulsozialarbeit in der Schweiz in einem umfassenden Kontext zu betrachten. Dabei wird das Schwergewicht auf folgende drei Bereiche gelegt, die gleichzeitig auch die Arbeit strukturieren: Geschichte der Schulsozialarbeit in der Schweiz, theoretische Aspekte und Perspektiven. Dabei besteht ein Zusammenhang zwischen der historischen Entwicklung und den theoretischen Gedanken. 9 Geschichte: In diesem Teil wird der Frage nachgegangen, welche historischen Wurzeln die Schulsozialarbeit in der Schweiz besitzt. Diese Betrachtung orientiert sich dabei an den Werken von GROSSMANN (1987) und MÖRSCHNER (1988), die das Verhältnis von Schule und Sozialpädagogik in Deutschland seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts thematisieren. Um die historische Entwicklung der Kooperation zwischen Schule und Sozialpädagogik darzustellen, muss die Geschichte der Volksschule in der Schweiz (vgl. BADERTSCHER/GRUNDER, 1997; H UNZIKER , 1882; NÄF, 1988; ZIEGLER 1998), sowie die schweizerische Entwicklung der Jugendhilfe (vgl. TANNER, 2000; RICKENBACH, 1960; RICKENBACH, 1972; STEIGER, 1932) betrachtet werden. Die Gegenüberstellung der Geschichte dieser beiden Bereiche führt dazu, dass sich sieben wichtige Zeitabschnitte für die Entwicklung der Schulsozialarbeit in der Schweiz feststellen lassen. Jeder dieser Abschnitte wird vorgestellt und gleichzeitig daraufhin untersucht, wieweit sich sozialpädagogisches Gedankengut in der Schule feststellen lässt oder inwiefern von einer Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe gesprochen werden kann. Zum Schluss erfolgt ein kurzer Vergleich zwischen dem historischen Hintergrund der Schulsozialarbeit in der Schweiz und der Geschichte der Schulsozialarbeit in Deutschland. Theoretische Aspekte: Bei der zweiten Fragestellung geht es darum, den Bereich der Schulsozialarbeit im Hinblick auf theoretische Aspekte zu durchleuchten. Ziel ist es, vorhandene Theorieansätze zu präsentieren. Um dies zu erreichen, wird zuerst der Begriff der Theorie geklärt. Mit Hilfe der gewonnenen Definition erfolgt die Durchleuchtung von drei Evaluationsberichten, welche Schulsozialarbeitsprojekte in der Schweiz betreffen. Es wird davon ausgegangen, dass sich die Evaluationen an theoretischen Grundlagen der Schulsozialarbeit orientieren. In einem nächsten Schritt findet eine Betrachtung der Grundlagenliteratur (TILLMANN, 1980; HOLLENSTEIN / TILLMANN, 1999; OLK / BATHKE / HARTNUSS, 2000; WULFERS, 1991; FATKE, 2000; HORNSTEIN, 1990; BRAUN / WETZEL, 2000) im Hinblick auf Schulsozialarbeitstheorien statt. Vorhandene Theorieansätze werden vorgestellt und kommentiert. Den Abschluss bilden einige persönliche Gedanken über eine mögliche Theorie der Schulsozialarbeit. 10 Perspektiven: Wie sieht die Zukunft der Schulsozialarbeit in der Schweiz aus? Was gilt es zu beachten und zu fördern, damit sich die Schulsozialarbeit etablieren kann? Diese Fragen können nicht abschliessend beantwortet werden. Aus diesem Grund erfolgt eine Fokussierung auf die Professionalisierung (KORING , 1989; CO M B E / HELSPER, 1996; STICHWEH, 1994) und die Qualitätssicherung (HENTZE / LUDEWIG / PAAR / WULFERS, 1998) von Schulsozialarbeit. Im Hinblick auf die Professionalisierung dienen verschiedene Aspekte der "klassischen" Professionalisierungstheorien dazu, den Bereich der Schulsozialarbeit zu untersuchen. Die Qualitätssicherung stellt ein weiteres Element dar, das für die Zukunft der Schulsozialarbeit von Interesse ist. Zum Schluss zeige ich auf, dass neben der "klassischen" Schulsozialarbeit auch andere Wege existieren, um die Schule in ihren sozialen Aufgaben zu unterstützen. Es besteht durchaus die Möglichkeit eine "sozialpädagogische Schule" nur mit Hilfe von Lehrkräften aufzubauen, die sich vermehrt mit den sozialen Aspekten der Bildung auseinandersetzen und versuchen diesen gerecht zu werden. TEIL II: GESCHICHTE 2.1 VORBEMERKUNGEN In diesem zweiten Teil der Arbeit wird der Geschichte der Schulsozialarbeit in der Schweiz nachgegangen. Dabei wird Schulsozialarbeit in einem weiten Sinne verstanden, denn es soll grundsätzlich herausgearbeitet werden, wann und wie sich die Kooperation zwischen Sozialpädagogik und Schule entwickelt hat. Ich werde innerhalb der Arbeit die Begriffe Soziale Arbeit, Sozialarbeit und Sozialpädagogik verwenden. Die Unterscheidung von Sozialarbeit und Sozialpädagogik beruht auf verschiedenen historischen Wurzeln. So entstand aus der Armenfürsorge die Sozialarbeit, aus der Erziehungsfürsorge hingegen die Sozialpädagogik. In der heutigen Zeit lassen sich die einzelnen Bereiche kaum mehr unterscheiden, deshalb ist man dazu übergangen, den Oberbegriff Soziale Arbeit zu verwenden (vgl. FATKE, 2000, S. 4; WULFERS, 1991, S. 22ff.). 11 Sozialpädagogik Schule Familie Abbildung 1: Verhältnis von Schule, Familie und Sozialpädagogik Mein Interesse gilt dem Bereich der schraffierten Fläche der vorangegangenen Abbildung. Dabei fasse ich alle Projekte und Vorhaben, die diesem Bereich zugeordnet werden können, als Schulsozialarbeit im weiteren Sinne zusammen. Als Kennzeichen solcher Art von Schulsozialarbeit verstehe ich das sozialpädagogische Gedankengut, das in der Schule angewendet, beziehungsweise vertreten wird. Als sozialpädagogisch bezeichne ich dabei alle Bemühungen, die über die primäre Wissensvermittlung der Schule hinausgehen, um nach Möglichkeit eine erfolgreiche Integration aller in die Gesellschaft zu gewährleisten. Schulsozialarbeit im engeren Sinne ist dann gegeben, wenn Sozialarbeit, mit Hilfe eines Sozialarbeiters bzw. einer Sozialarbeiterin, direkt in der Schule stattfindet. Meine geschichtliche Betrachtung wird sich auf die Schulsozialarbeit im weiteren Sinne konzentrieren. Denn die heutige Schulsozialarbeit entspricht der Schulsozialarbeit im engeren Sinne und ist, wie bereits erwähnt, erst in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts in der Deutschschweiz entstanden. Eine Vorstellung der verschiedenen Kooperationsmodellen zwischen der Schule und der Sozialarbeit, wie sie uns von Deutschland her bekannt sind, erfolgt später (siehe Kapitel 3.4.2). Wenn man die historische Entwicklung der Kooperation zwischen der Schule und Sozialpädagogik in Deutschland betrachtet, kommt man zur Einsicht, dass es sich dabei ebenfalls um eine Geschichte der Schulsozialarbeit im weiteren Sinne handelt. Die Schule war ursprünglich wesentlich sozialpädagogischer ausgerichtet und spezialisierte sich erst im Lauf der Zeit auf die kognitive Vermittlung von Wissen (vgl. GROSSMANN, 1987; MÖRSCHNER, 1988). Die Trennung zwischen Schule und Sozialpädagogik begann zu Beginn des 20. Jahrhunderts und wurde im bekannten Handbuchartikel von GERDRUD B ÄUMER 1929 offiziell festgehalten. 12 Im Aufbau dieses Buches ist der Begriff der Sozialpädagogik in einem ganz besonderen Sinne gebraucht. Es bezeichnet nicht ein Prinzip, dem die gesamte Pädagogik, sowohl ihre Theorie wie ihre Methoden, wie ihre Anstalten und Werte - also vor allem die Schule - unterstellt ist, sondern einen Ausschnitt: alles was Erziehung, aber nicht Schule und nicht Familie ist. (BÄUMER, 1929, S. 3) Im Anschluss daran entwickelten sich die Schule und Sozialpädagogik auseinander. Im Rahmen der Bildungsreform in Deutschland, Ende der Sechziger-, bzw. Anfang der Siebzigerjahre des letzten Jahrhunderts fand dann eine Rückbesinnung der Schule auf die Sozialpädagogik statt: Die Schulsozialarbeit entstand. In der Schweiz dagegen beginnt sich die Schulsozialarbeit erst in den letzten sechs Jahren vermehrt auszubreiten. Wie es zu dieser Entwicklung der Schulsozialarbeit in der Schweiz kam, wird nun dargestellt. 2.2 GESCHICHTE DER SCHULSOZIALARBEIT IN DER SCHWEIZ Die historische Entwicklung der Schulsozialarbeit in der Schweiz kann in sieben Zeitabschnitte eingeteilt werden. Zuerst erfolgt die Vorstellung der jeweiligen Epoche anhand wesentlicher Fakten aus dem Bereich Schweiz, Schule und Sozialwesen. Im Anschluss daran findet man einen Kommentar darüber, was dies für die Entwicklung der Schulsozialarbeit bedeutet. 2.2.1 Kirchliche Schulen und rudimentäres Sozialwesen (vor 1798) In der Zeit vor 1798 besteht die Schweiz aus einem losen Staatenbund, der sogenannten 13örtigen Eidgenossenschaft (ZH, BE, LU, UR, SZ, GL, ZG, FR, SO, SH und den Halbkantonen OW, NW, BS, BL, AI, AR). In bezug auf das damalige Schulsystem gilt: Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war die Schule für die meisten Menschen hierzulande eine relativ belanglose Einrichtung. Ihr späterer Lebensweg hing kaum von ihrem Schulerfolg oder ihren Schulzeugnissen ab. Anders als in einigen deutschen Fürstentümern, welche in dieser Sache lange als Vorbilder galten, war das Landschulwesen in grossen Teilen der Schweiz (insbesondere den Bergregionen und den katholischen Landesgegenden) noch kaum entwickelt. (NÄF, 1988, S. 2) Der Ausbau des Bildungswesens ist im Zusammenhang mit der Industrialisierung zu sehen, denn die entstehenden Fabrikationsstätten benötigen immer mehr qualifizierte Arbeitskräfte. In der Schweiz setzt die maschinelle Produktion am Ende des 18. Jahrhunderts ein und entwickelt sich anfänglich vor allem im Mittelland und in den reformierten Orten. 13 Gleichzeitig lassen sich in dieser Zeit der Aufklärung einige wichtige schweizerische Persönlichkeiten finden, die sich unter anderem mit der Idee einer möglichen Volksschule auseinandersetzen. Als wichtigste Vertreter seien JEAN-JACQUES ROUSSEAU (1712 - 1778) und JOHANN HEINRICH PESTALOZZI (1746 - 1827) genannt. 1761 wird die "Helvetische Gesellschaft" gegründet. Bei ihren Versammlungen finden immer wieder Diskussionen zum Thema Bildung statt. Das später eingeführte Volksschulwesen enthält dann auch verschiedene Gedanken dieser Auseinandersetzungen. Das Schulsystem des 18. Jahrhunderts stand weitgehend unter der Kontrolle der Kirche. Diese setzt sich das Ziel, die Schüler und Schülerinnen zu guten Christen zu erziehen. So bildet zum Beispiel der Katechismus einen wichtigen Bestandteil der Schule. Diesen kann man lesen, abschreiben und vor allem auswendig lernen. Neben dem Katechismus werden weitere kirchliche Publikationen im Unterricht eingesetzt. Das aufklärerische Gedankengut des 18. Jahrhunderts verstärkt die Spannungen zwischen den Kirchen als Schulträger und den Schulen. Die Helvetische Gesellschaft setzt sich nicht nur für die Bildung ein, sondern auch für die Sozialfürsorge. Neben der materiellen Hilfe für Notleidende wird nun mehr und mehr auch der Versuch unternommen, die Ursachen der sozialen Probleme zu erforschen. Gleichzeitig richtet man neue Waisen- und Armenhäuser ein. Das Sozialwesen ist noch recht einfach und undifferenziert. * * * Vor 1798 bestand in der Schweiz ein Schulwesen, das von der Kirche getragen wurde. Dabei ging es vor allem darum, die Schüler und Schülerinnen zu guten Christen bzw. Christinnen zu erziehen. Dazu kommt, dass keine Schulpflicht bestand. Eine gute Schulbildung war nur für die gehobene Schicht vorgesehen. Probleme innerhalb der Schule wurden vom Schulmeister gelöst, indem er disziplinarische Massnahmen ergriff. Eine Berücksichtigung des Umfeldes der Schüler und Schülerinnen fand nicht statt, wenn man nicht gerade Bestätigung für die Ursachen der auftretenden Missstände suchte. Weil kein wirkliches Sozialwesen bestand, konnte die Schule auch nicht auf ein solches zurückgreifen. Im Sozialbereich engagierten sich ausschliesslich private Institutionen. Sie handelten dabei nicht im Auftrage des Staates. Dieser war vielmehr froh darüber, dass sich solche gemeinnützige Vereine dem sozialen Elend der Bevölkerung annahmen. In bezug auf Schulsozialarbeit sind infolgedessen keine Ansätze zu finden. Auf der einen Seite existierte ja keine wirklich funktionierende Volksschule. Andererseits bestanden auch kaum Angebote auf der Seite der Sozialen Arbeit, um die Schule zu unterstützen. 14 Interessant ist, dass die Schulen primär von der Kirche geführt wurden. Da die Kirche auch für die Wohlfahrt zuständig war, wäre es eigentlich möglich gewesen, auch in der Schule sozial tätig zu werden. Um diese Behauptung begründet darzulegen, müssten aber noch weitere Abklärungen vorgenommen werden. 2.2.2 Aufbau der Volksschule und Entstehung von gemeinnützigen, sozialen Einrichtungen (1798 - 1830) 1798 marschieren die Franzosen in der Schweiz ein. Als Folge davon wird am 12. April 1798 die Helvetische Republik ausgerufen. Die Verfassung dieser Republik sieht einen zentralistisch geführten Staat vor. Die Exekutive bildet dabei das sogenannten Direktorium. Im Bildungsbereich führt die begonnene Diskussion über eine Volksschule, sowie die vorwärts schreitende Industrialisierung zur Gründung von Industrieschulen (Industrie wird dabei auf den lateinischen Begriff industria = Fleiss zurückgeführt). Diese haben das Ziel, ihre Zöglinge neben der allgemeinen Bildung, auch in die Arbeitswelt einzuführen; dabei wird Arbeit als pädagogisches Mittel eingesetzt. Hierin lässt sich ein Ansatz von sozialpädagogischem Gedankengut finden, denn die Schule versucht die Kinder auf das "reale" Leben vorzubereiten. Diese Industrieschulen können sich aber nicht lange halten. Entweder werden sie geschlossen oder zu Fabrikschulen umfunktioniert, in denen dann die Produktion zentral wird. Der Gedanke, die Arbeit als Bestandteil der Bildung zu sehen, lässt sich auch bei JOHANN H EINRICH PESTALOZZI (1746 - 1827) finden. Bei ihm geht es aber nicht um Fabrikarbeit sondern um Handarbeit. Diese dient der Selbstversorgung. Mit Hilfe der Arbeit können die elementaren Kräfte der Kinder gefördert werden. Diese Idee vertritt auch der Philosoph PHILIPP EMANUEL VON FELLENBERG (1771 - 1844) (vgl. GRUNDER, 1997, S. 287 - 293). Im Gegensatz zur Industrieschule gelingt es PHILIPP A LBERT STAPFER (1766-1840) als Kulturminister der Helvetischen Republik, die Grundlagen für das heutige Schulsystem zu legen. Ihm geht es darum, die Schule zu säkualisieren und die Vermittlung von allgemeinem Wissen, wie Rechnen, Schreiben und Lesen ins Zentrum zu stellen. Damit gewährleistet ist, dass die künftigen Bürger und Bürgerinnen ihren politischen Rechten und Pflichten nachgehen können, benötigen sie eine minimale Schulbildung. Aus dieser und anderen Überlegungen heraus erfolgt die Einführung der Schulpflicht. Es entsteht somit eine Volksschule, die vom Bund bzw. den Kantonen und Gemeinden geführt und finanziell unterstützt wird. Auch verbindliche Unterrichtsinhalte werden festgelegt. Um die 15 obligatorische Schulpflicht besser durchsetzen zu können, erfolgt ein Verbot der Kinderarbeit. Im Zentrum dieser neuen Schule steht das wissenschaftliche Wissen und nicht wie bisher der Glaube oder wie bei der Industrieschulbewegung die Arbeit. Es entsteht die Meinung, dass Wissen ein friedliches Zusammenleben garantiert und zugleich den Motor für die wirtschaftliche Weiterentwicklung darstellt. Um die beschriebene Schulreform breit abzustützen, wird die Schule zu einer öffentlichen Volksschule erklärt. Das Bildungswesen ist somit eine Angelegenheit für alle Bürger und Bürgerinnen geworden. In jedem Kanton entsteht ein Erziehungsrat, der sich um die neue Volksschule kümmert. Ein grosses Problem für die Reform von STAPFER stellt die mangelhafte Lehrerbildung dar. Anfänglich scheint es so, als ob PESTALOZZI das richtige Rezept besitzt, die zukünftigen Lehrkräfte möglichst schnell in die Technik der Wissensvermittelung einzuführen. Um dies zu erreichen, versucht STAPFER eine eidgenössische Lehrerbildungsstätte aufzubauen, was aber misslingt. Es stellt sich auch immer deutlicher heraus, dass das Konzept von Pestalozzi nicht hält, was es verspricht. Schliesslich entstehen private und kantonale Lehrerseminare, die eigene Methoden und Vorstellungen über die Wissensvermittlung entwickeln. Die Schulreform von STAPFER kann in der kurzen Zeit der Helvetischen Republik (17981803) nicht umgesetzt werden. Neben der Veränderung des Bildungssystems wird auch ein gesamtschweizerisches Armengesetz angestrebt; doch dieses kommt nicht zustande. Deshalb arbeitet die Regierung weiterhin eng mit den örtlichen Hilfsgesellschaften zusammen, um die Armen und sozial Benachteiligten zu unterstützen. 1803 tritt die Mediationsakte als neue Verfassung in Kraft. In ihr ist, im Gegensatz zur Verfassung der Helvetischen Republik, das zentralistische Element kaum mehr vorhanden. Es ist deshalb verwunderlich, dass die begonnene Schulreform in den einzelnen Kantonen trotzdem weiter umgesetzt wird. Dies ist möglich, weil sich die bereits bestehenden Erziehungsräte weiterhin für die Schulreform von STAPFER engagieren. Nach der Niederlage NAPOLEONS wird die Schweiz auf dem Wienerkongress von 1815 als souveräner Staat bestätigt und ihre bewaffnete Neutralität anerkannt. Bald schon kämpft sie gegen eine Wirtschaftskrise. Diese wird durch die beschleunigte Industrialisierung, das heisst durch die Anschaffung von neuen Maschinen, überwunden Doch die Modernisierung bringt weitere soziale Probleme mit sich, wie Elend oder Armut, welche durch die Gründung verschiedener humanitärer, gemeinnütziger Gesellschaften gelöst werden sollen. Unter anderem wird 1807 die "Helvetische Gesellschaft" wieder ins Leben gerufen. Des weiteren 16 entstehen aus der religiösen Erweckungsbewegung heraus Diakonissenhäuser. Diese wiederum schaffen verschiedene Hilfswerke und gründen sogenannte Rettungshäuser, die sich, auf der Grundlage der christlichen Nächstenliebe, den verwaisten und fürsorgebedürftigen Kindern und Jugendlichen annehmen (vgl. ALZINGER / FREI, 1987; CHMELIK, 1978). Als weitere wichtige Institution wird 1810 die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft gegründet. Der Zweck dieser neuen Vereinigung besteht darin, "die Anstalten gegen Unglück und Elend der Bewohner der Schweiz kennenzulernen und mit Rat das Möglichste beizutragen" (RICKENBACH, 1960, S. 20). In der Folge werden an den Sitzungen Berichte über soziale Probleme vorgestellt und darüber diskutiert, wie diese allenfalls behoben werden können. Des weiteren organisiert sie auch Geldsammlungen, so zum Beispiel 1810 für die Notleidenden in Glarus und 1815-1816 für das Wallis, das unter dem Durchmarsch fremder Truppen leiden muss. 1819 erfolgt eine Statutenrevision. Darin heisst es: 1. Zweck der Gesellschaft ist, das Gemeinnützige kennen zu lernen, was Bezug hat auf: a) Anstalten, die zur Verhütung oder Linderung von Unglück und Elend getroffen werden (Armenwesen); b) Erziehung und Unterricht; c) Landwirtschaft und Gewerbe. 2. Dasselbe ist zu prüfen und die Anwendung zu befördern, wo es als zweckmässig betrachtet wird. (RICKENBACH, 1960, S. 23) Ab 1823 setzt die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft Fachkommissionen ein, die sich einzelnen Problemen annehmen. Trotz der Restaurationsphase (1815-1830) setzen sich in den meisten Kantonen die liberalen Ideen durch, was zu wesentlichen Veränderungen ab 1830 führt. * * * Dem Kulturminister der helvetischen Republik PHILIPP ALBERT STAPFER gelang es, in seiner kurzen Amtszeit (1798 - 1803), die wesentlichen Grundlagen für die Volksschule zu legen. Er bemühte sich, die Schule von der Kirche zu trennen und setzte auf die Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen. Dadurch sollte die neue Demokratie geschützt werden, denn diese funktioniert nur, wenn sie über mündige Bürger und Bürgerinnen verfügt. Dieser Schulreform stellten sich viele Hindernisse in den Weg, die es zu bewältigen galt. Letztlich ging es darum, die Volksschule zu etablieren, so dass alle Kinder und Jugendliche eine minimale Bildung erhielten. Es ist verständlich, dass bei der Einführung der Volksschule nicht alle Aspekte mitberücksichtigt werden konnten. So fehlten zum Beispiel die Ideen der 17 Industrieschulbewegung, die auch in bezug auf Handarbeit von PESTALOZZI und VON FELLENBERG vertreten wurden. Zuerst musste eine funktionierende, von der Kirche unabhängige Schule entstehen. Bei der Umsetzung dieser Schulreform wäre es möglich gewesen, sozialpädagogische Vorstellungen in die Schule zu integrieren. Denn die Grundgedanken der damaligen Reform bilden auch heute noch das Fundament unseres Schulsystems. Im Sozialbereich gelang es nicht, ein staatliches Sozialwesen aufzubauen. Vielmehr mussten weiterhin private Institutionen diese Aufgabe übernehmen. Es ist aber erfreulich, dass sich in diesem Zeitabschnitt verschiedene wichtige Vereinigungen bildeten, wie zum Beispiel 1810 die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft. Diese hielt in ihrer Statutenrevision von 1819 fest, dass sie sich unter anderem mit den gemeinnützigen Aspekten der Erziehung und des Unterrichts befasse. Es lassen sich verschiedene Aktionen finden, an denen die Gemeinnützige Gesellschaft massgeblich beteiligt war. Im Bereich Erziehung und Unterricht fehlte es leider an wichtigen Projekten. Es lässt sich also festhalten, dass in dieser Zeit Industrieschulen entstanden, die durchaus auf sozialpädagogischen Gedanken beruhten; doch die Industrieschulen verschwanden recht schnell wieder oder konnten ihr sozialpädagogisches Gedankengut nicht weiter umsetzen. Die Volksschulreform der Helvetik brachte wesentliche Veränderungen. Leider wurden dabei sozialpädagogische Gedanken nicht berücksichtigt. Später verpasste man es, diese Gedanken gezielt in die Schule zu integrieren, obwohl mit der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft eine Institution vorhanden gewesen wäre, die die Schule massgeblich bei der Umsetzung von sozialpädagogischem Gedankengut hätte unterstützen können. Dies gelang nicht, weil von keiner Seite wirklich angestrebt. Die Schule war damit beschäftigt, sich zu etablieren, und die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft hatte viele andere Anliegen, für die sie sich einsetzte. 2.2.3 Erlass von kantonalen Gesetzen für die Schule und das Sozialwesen (1830 - 1848) Die Zeit zwischen 1830 und 1848 wird als Regenerationszeit bezeichnet. Wie bereits erwähnt, kommen in vielen Kantonen die liberalen Kräfte an die Macht. Diese Entwicklung wird durch die französische Juli-Revolution von 1830 gefördert. Die liberalen Regierungen erlassen neue Kantonsverfassungen, und im Anschluss daran werden entsprechend angepasste, kantonale Gesetze in Kraft gesetzt. Im Kanton Zürich zum Beispiel wird 1831 eine neue 18 Kantonsverfassung geschaffen, und ein Jahr später folgt ein Schulgesetz. Mit anderen Worten: "In der Zeit der Helvetik vorbereitet, entwickelte sich - in wesentlichen Grundzügen auch heute noch erkennbar - das Schulsystem als Ganzes und vor allem seit 1831 als Volksschulwesen" (GONON, 1997, S. 58). Neben den Schulgesetzen erlassen die Kantone auch Bestimmungen über das Armen- und Gesundheitswesen. Unter anderem werden Freizeiteinrichtungen geschaffen. So entsteht zum Beispiel in Basel 1832 ein sogenannter Sonntagssaal für Knaben und Lehrlinge. Diese ersten Freizeiteinrichtungen haben einen fürsorgerisch-bewahrenden Charakter. Selbstverständlich sind die gemeinnützigen Vereine nach wie vor im Sozialwesen stark engagiert. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft befasst sich in dieser Zeit unter anderem mit der Frage der Armenlehrerausbildung (heute Heimleiterausbildung) und gründet 1840 die Schweizerische Rettungsanstalt in der Bächtelen bei Bern. Diese Neuerungen, insbesondere im Schulwesen, führen innerhalb der Schweiz zu starken Auseinandersetzungen zwischen den konservativen, katholischen Kräften und den liberalen, reformierten Anhängern. Dabei entstehen auch innerhalb der einzelnen Kantone Spannungen. So findet zum Beispiel 1839 im damals liberalen, reformierten Kanton Zürich der sogenannte September-Putsch statt, worauf die konservativen Kräfte die Oberhand gewinnen. Diese neue Mehrheit vereitelt die Besetzung eines theologischen Lehrstuhls mit einem wissenschaftlichen Theologen, der sich kritisch mit dem Neuen Testament auseinandersetzt. Gleichzeitig wird auch der Schulreformer IGNAZ T HOMAS SCHERR aus dem Kanton vertrieben. Trotzdem misslingt es den konservativen Kräften die bereits eingeführten Änderungen der Volksschule rückgängig zu machen. Die Spannungen zwischen den Konservativen und den Liberalen werden immer stärker. Aus diesem Grund schliessen sich 1845 die katholischen Orte zu einem "Sonderbund" zusammen. 1847 wird in St.Gallen ein neues kantonales Parlament gewählt, was den Liberalen eine Mehrheit in der schweizerischen Tagsatzung beschert. Nun können sie offiziell gegen den "Sonderbund" vorgehen. In der Folge wird beschlossen, dass sich der Bund der katholischen Kantone auflösen muss. Als dies nicht freiwillig geschieht, wird H ENRI D UFOUR von der Tagsatzung zum General gewählt. Er erhält den Auftrag die Auflösung des "Sonderbundes" mit militärischen Mitteln durchzusetzen, was ihm schliesslich ohne viel Blutvergiessen gelingt. * * * In diesem Zeitabschnitt waren vor allem die Kantone aktiv. So wurden zum Beispiel kantonale Schulgesetze erlassen, um die Volksschule zu verankern und um die Gedanken von 19 STAPFER rechtlich abzustützen. In der Folge etablierte sich nun die Schule. Trotzdem kam es immer wieder zu Spannungen zwischen den verschiedenen Vorstellungen, was nun Schule ist und was sie zu vermitteln habe. Die Ansichten der Kirche wurden dabei von den liberalen Kräften in Schach gehalten. Die Volksschule war während ihrer Etablierungsphase immer wieder verschiedenen Vorwürfen ausgesetzt. Es ist deshalb verständlich, dass sich die Schule nicht noch um sozialpädagogisches Gedankengut kümmern konnte, denn sie musste sich erst einmal behaupten. Im Sozialwesen ging es ebenfalls darum, kantonale Gesetze umzusetzen. Die verschiedenen gemeinnützigen Vereine waren mit unterschiedlichen Aufgaben beschäftigt. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft zum Beispiel befasste sich damals sehr stark mit der Heimleiterausbildung. Der Sozialbereich war also daran, sich allmählich zu organisieren, dabei konnte nicht auch noch dafür gesorgt werden, dass in der Schule sozialpädagogische Gedanken eingeführt wurden. Für die Umsetzung sozialpädagogischen Gedankenguts in der Voksschule war die Zeit noch nicht reif. 2.2.4 Etablierung der Volksschule; kaum Änderungen im Sozialwesen (1848 - 1870) Nach der Auflösung des "Sonderbundes" geht man daran, eine neue Bundesverfassung zu schaffen. Diese regelt das Verhältnis zwischen dem Bund und den Kantonen. Als Folge davon wird das Bundesrecht über das Recht der Kantone gestellt. Des weiteren erfolgt die Festschreibung der Gewaltentrennung. So kommt es zur Schaffung des siebenköpfigen Bundesrates und der Einführung eines Bundesgerichtes. Die Legislative setzt sich aus National- und Ständerat zusammen. Grundsätzlich besteht diese Staatstruktur auch heute noch. Ein wesentlicher Unterschied gegenüber der revidierten Bundesverfassung von 1999 existiert darin, dass der Nationalrat 1848 nach dem Majoritätsprinzip gewählt wird. Der Nationalrat legt dabei die einzelnen Wahlkreise fest. Dies führt dazu, dass sich die Partei, die im Parlament die Mehrheit besitzt (damals die Freisinnige-Partei), klare Vorteile verschaffen kann. Gleichzeitig wurden das Initiativrecht und das obligatorische Referendum bei Verfassungsänderungen eingeführt. Die Verfassung gewährleistet ausserdem grundlegende Freiheitsrechte. Im Sommer 1848 wird die Bundesverfassung vom Volk angenommen. Trotz der neuen Staatsstruktur behalten die Kantone eine grosse Souveränität. Der Föderalismus bildet somit einen wichtigen Bestandteil des neuen Bundesstaates. So sind die 20 Kantone zum Beispiel für die Polizei, Strassen, Rechtspflege, Steuern, Sanitätswesen, Schule und Kirche zuständig. Die Hauptaufgaben des Bundes hingegen liegen in der Aussenpolitik und in der Förderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel in der Vereinheitlichung von Post, Zoll, Münzen, Massen und Gewichten. Dies entspricht den Vorstellungen der Freisinnigen, die zwischen 1848 und 1870 alle Bundesräte stellen und die Mehrheit im Parlament besitzen. Es gelingt der Schweiz, trotz einiger Unruhen in den Nachbarländern, die bewaffnete Neutralität aufrecht zu erhalten. Dies führt dazu, dass das Nationalbewusstsein weiter gestärkt wird und die "Wunden" des Sonderbundkrieges schnell heilen. Obwohl die Schweiz neutral ist, gliedert sie sich in verschiedene europäische Organisationen ein, wie zum Beispiel in die lateinische Münzunion (1865). In dieser Zeit entstehen zudem weitere internationale Organisationen, die nicht selten in der Schweiz ihren Hauptsitz nehmen. Als Beispiel sei das Internationale Rote Kreuz genannt, das 1864 gegründet wird. Dadurch erlangt die Schweiz den Ruf einer wichtigen Plattform für internationale Beziehungen. Ein Blick auf die Volksschule zeigt, dass sich diese seit Mitte des 19. Jahrhunderts etabliert hat. Dies gründet unter anderem in der Einsicht, dass die schweizerische Wirtschaft qualifizierte Arbeitskräfte benötigt, um im immer stärker werdenden internationalen Wirtschaftsraum bestehen zu können. Mit der Etablierung der Volksschule verstummt auch immer mehr die Kritik der kirchlich-religiösen Gegner am bestehenden Bildungswesen. Für sie müsste die Schule nämlich eine Arbeitsschule sein (vgl. Punkt 2.2.2: PESTALOZZI und VON FELLENBERG ). Es gelingt einen Kompromiss zwischen den Vorstellungen der kirchlichreligiösen Schulvertretern und den Anhängern der neuen, etablierten Volksschule zu finden: Die Schule hat sich fortan als berufsvorbereitende Institution zu verstehen. Im Sozialbereich gelingt es zwar, bei der Gründung des Bundesstaates 1848, die Heimatlosenfrage zu klären, aber im Bereich des Arbeitsschutzes, der im Zuge der Industrialisierung immer wichtiger wird, kommt es zu keinen eidgenössischen Bestimmungen. Weil der Bund keine Mittel besitzt, um die sozialen Probleme, die durch die Industrialisierung entstanden sind, aufzufangen, füllen weiterhin die gemeinnützigen Gesellschaften diese Lücke. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft engagiert sich weiterhin in den, von den Statuten festgelegten, Bereichen. So wird 1859 eine weitere Rettungsanstalt gegründet (Rettungsanstalt für katholische Knaben, Gabeldingerhof auf dem Sonnenberg bei Kriens, 21 Luzern). Ab 1862 publiziert die Gesellschaft eine Zeitschrift mit dem Titel: "Schweizerische Zeitschrift für Gemeinnützigkeit". 1868 erfolgt die Einsetzung einer Kommission für Arbeitsfragen. Weiterhin erfolgt die Gründung neuer Vereine. So entsteht zum Beispiel, im Zusammenhang mit dem verbreiteten Alkoholproblem, das Blaue Kreuz. Gleichzeitig beginnt die Heilsarmee in der Schweiz Fuss zu fassen. Auch die katholische Kirche die sich bisher im Bereich der sozialen Fürsorge ziemlich zurückhaltend gab, engagiert sich nun stärker und gründet verschiedene Einrichtungen. * * * Nachdem sich die Volksschule etabliert hatte, was auch eine Festigung des Lehrerstandes in der Gesellschaft bedeutete (zur Entwicklung des Volksschullehrers, vgl. TUGGENER, 1962, S. 51 - 78), schien sie sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Nach der Festlegung, dass die Schule berufsvorbereitend wirken müsse, verstummten auch die letzten Kritiker. Die Schule konnte ihre Aufgabe in aller Ruhe ausführen. Weil es bis anhin verpasst wurde sozialpädagogische Gedanken explizit in die Volksschule hineinzutragen, wurde auch weiter nicht darauf geachtet. Im Sozialbereich stand je länger je mehr das Arbeiterproblem im Mittelpunkt. Dieses Problem fand in der neugeschaffenen Bundesverfassung keine Berücksichtigung. Aus diesem Grund mussten sich wiederum die gemeinnützigen Vereine engagieren. In der Folge entstanden weitere Organisationen, die sich mit den Problemen der Arbeiter auseinandersetzten. Es ist verständlich, dass in dieser Zeit keine Anstösse vorhanden waren, die Schule sozialpädagogischer zu gestalten. Die Beteiligten der Schule freuten sich darüber, dass sich die Volksschule etabliert hatte, und im Sozialwesen war die Arbeiterfrage viel drückender, als dass man Veränderungen in der Schule angestrebt hätte. 2.2.5 Reformpädagogische Ansätze und Schaffung von diversen Sozialgesetzen (1870 1939) In diesem Zeitabschnitt führt die Wirtschaft ihre Industrialisierungsbemühungen weiter. Neben der Textil-, Uhren- und Maschinenindustrie beginnt sich nun auch die Lebensmittelherstellung (Schokolade) und die chemische Industrie zu etablieren. Die Arbeiterschaft besitzt seit 1848 das Recht auf Vereinsbildung, sowie verschiedene Initiativ- und Referendumsrechte. Deshalb entsteht in der Eidgenossenschaft kein rechtloses Proletariat, wie in den Nachbarländern. Die schweizerischen Arbeiter verstehen sich vielmehr 22 als freisinnige Demokraten. Übermässige Spannungen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern sind selten. Seit etwa 1870 beginnt sich in Europa die Reformpädagogik auszubreiten, wovon auch die französischsprachige Schweiz erfasst wird. In der Folge entsteht eine pädagogische Bewegung, die einen kindergerechten Unterricht anstrebt. Diese Entwicklung steht im Gegensatz zur restlichen Schweiz, in der sich keine eigentliche Welle der Reformpädagogik feststellen lässt, denn es finden hierzulande keine einschneidende Umbrüche statt, wie dies zum Beispiel in Deutschland der Fall ist. Die Pädagogen der Romandie sind mit ihren Bemühungen in die gesamteuropäische, reformpädagogische Bewegung eingebettet. Sie fordern, dass das Kind als aktives Subjekt verstanden wird. Dies verlangt konsequenterweise einen veränderten Unterricht, ja sogar eine Reform des Schulwesens. Obwohl sich die Deutschschweiz von der Reformpädagogik distanziert, lassen sich seit 1870 verschiedene Änderungen im Bereich Schule feststellen. Unter anderem findet die Idee der Arbeitsschule, wie sie der Reformpädagogen GEORGE KERSCHENSTEINER vertritt, Einzug in die Schweiz. Deshalb wird auf der Oberstufe der Werkunterricht eingeführt. Später führen die Ideen der Arbeitsschulbewegung zur Gründung der Berufsschulen (vgl. GONON, 1997, S. 70 und S. 82f.). Des weiteren entsteht in dieser Zeit auch die Schulhygienebewegung. Im ausserschulischen Sozialbereich kommt es ebenfalls zu Neuerungen. So erfolgt zum Beispiel 1870 in Basel die Eröffnung der ersten schweizerischen Kinderkrippe, und bald entstehen weitere solcher Einrichtungen. Dies ermöglicht den Eltern, ihr Einkommen aufzubessern, indem nun beide Elternteile einer bezahlten Arbeit nachgehen können. 1874 erfolgt die Revision der Bundesverfassung. Dabei gelingt es den freisinnig-liberalen Kräften gegen den Willen der katholisch-konservativen Partei, das Jesuitenverbot und das Verbot für Neugründungen von Klöstern in der Verfassung zu verankern. Des weiteren wird das fakultative Referendum eingeführt, das heisst, dass Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse vors Volk gebracht werden müssen, wenn eine bestimmte Anzahl Unterschriften vorgewiesen werden kann. In der revidierten Bundesverfassung findet sich neu auch ein Artikel über die Volksschule, der unter anderem massgeblich von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft unterstützt wurde. Dieser lautet: Artikel 27: Der Bund ist befugt, ausser der bestehenden polytechnischen Schule eine Universität und andere höhere Unterrichtsanstalten zu errichten oder solche Anstalten zu unterstützen. Die Kantone sorgen für genügenden Primarunterricht, welcher ausschliesslich unter staatlicher Leitung stehen soll. 23 Derselbe ist obligatorisch und in den öffentlichen Schulen unentgeltlich. Die öffentlichen Schulen sollen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können. Gegen Kantone, welche diesen Verpflichtungen nicht nachkommen, wird der Bund die nöthigen [sic!] Verfügungen treffen. (Bundesverfassung vom 29.Mai 1874, zitiert nach HUNZIKER, 1882, S. 7) Zum Schutz der Arbeiterschaft und der Kinder und Jugendlichen wird 1877 ein eidgenössisches Fabrikgesetz erlassen. Zwar ist seit der Revision der Bundesverfassung die Volksschule gesetzlich verankert (Artikel 27), doch bei der Ausführung, beziehungsweise bei der Interpretation des betreffenden Artikels, kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen. Dies führt wiederholt dazu, dass sich das Bundesgericht damit befassen muss. Der Bundesrat wird daher 1881 beauftragt ein Ausführungsgesetz zum genannten Schulartikel zu erlassen. Das vorgelegte Gesetz beinhaltet unter anderem die Schaffung eines Eidgenössischen Schulsekretariates. Das Volk, welches der Gefahr der Zentralisierung im Schulbereich entgegenwirken will, lehnt das Gesetz 1882 jedoch ab. In Anbetracht dessen, dass die schweizerischen Arbeiter über grosse politische Rechte verfügen und sich selbst am ehesten als freisinnige Demokraten sehen, verwundert es nicht, dass erst 1888 die Sozialdemokratische Partei der Schweiz gegründet wird. 1891 erfolgt, durch die Verankerung der Verfassungsinitiative in der Bundesverfassung, eine weitere Ausdehnung der politischen Rechte. Diese erlauben es, jedem Bürger und jeder Bürgerin, unter bestimmten Bedingungen, einen Verfassungsartikel vorzulegen, der dann zur Abstimmung gebracht wird. Dafür muss eine festgelegte Anzahl Unterschriften vorgelegt werden, und die Initiative darf nicht der Einheit der Form, der Einheit der Materie oder zwingenden Bestimmungen des Völkerrechtes widersprechen. Im gleichen Jahr wird der erste katholisch-konservative Bundesrat gewählt. Dies ist möglich, weil die Freisinnigen freiwillig auf einen Bundesratssitz verzichten. Im Zuge der reformpädagogischen Bewegung in der französischsprachigen Schweiz wird 1899 vom Soziologen ADOLPHE FERRIÈRE das "Bureau international des Ecoles Nouvelles" (B.I.E.N) eröffnet. Dabei handelt es sich um eine zentrale Dokumentationsstelle für Landerziehungsheime, wie sie damals in Mode waren. Im Sozialbereich werden am Ende des 19. Jahrhunderts viele Armenfürsorge-Einrichtungen zu Heimen für Schwererziehbare umstrukturiert. Diese Entwicklung findet nicht nur bei Gemeindewaisenhäusern statt, sondern betrifft auch die christlichen Rettungshäuser. 24 Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft gründet 1881 in Richterswil ein Heim für Mädchen (Industrielle Anstalt für katholische Mädchen). Des weiteren eröffnet die Gesellschaft 1883 ein öffentliches "Schweizerisches Zentralarchiv für Gemeinnützigkeit". Die Statutenrevision von 1892 führt zu drei ständigen Fachkommissionen im Bereich, Bildungswesen, Armen- und Anstaltswesen und Volkswirtschaft. 1897 wird in Turbental die "Schweizerische Anstalt für schwachbegabte, taubstumme Kinder" eröffnet. Seit etwa 1850 besteht in der Schweiz eine Schulhygienebewegung; diese wird ab Ende des 19. Jahrhunderts auch von den Medizinern vermehrt unterstützt. Die Ursache dafür gründet in den Fortschritten der Medizin. Dadurch kann die Kindersterblichkeit massiv gesenkt und die Kinderkrankheiten erfolgversprechend bekämpft werden. Aus der Schulhygienebewegung heraus entsteht dann die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege (1899). Neben rein medizinischen Aufgaben nimmt sich die neugegründete Gesellschaft auch sozialen Aufgaben an. So führen ihre Bemühungen, um die Gesundheit der Schülerschaft, zur Einführung der Schülerspeisungen. Des weiteren werden an bedürftige Kinder und Jugendliche Kleider und Schuhe abgegeben. Zusätzlich finden für erholungsbedürftige Schüler und Schülerinnen Ferienkolonien statt. Für chronisch Kranke und Gebrechliche werden Waldschulen beziehungsweise Walderholungsstätten eingerichtet. Um dem medizinischen Aspekt Rechnung zu tragen, erfolgt die Einstellung erster Schulärzte, welche sich um die Gesundheit der Schulkinder kümmern sollen, und etwas später kommt es zur Gründung von Schulzahnkliniken (1908 Zürich, 1911 Frauenfeld). Diese Entwicklung führt im ausserschulischen Bereich zur Schaffung von Kinderspitälern, die anfänglich aber kaum von Kindern der Unterschicht besucht werden können, weil sie zu teuer sind. Im politischen Bereich werden weiterhin wichtige Gesetze erlassen. So wird 1901 das eidgenössische Militärversicherungsgesetz verabschiedet. 1903 erfolgt die Annahme des eidgenössischen Primarschulsubventionsgesetzes. Dadurch wird die Volksschule neu auch vom Bund subventioniert. Bis anhin war die Finanzierung der Volksschule Aufgabe der Kantone. Mit der Annahme des schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) 1907 entsteht ein weiteres wichtiges Gesetzeswerk in der Schweiz, das 1911 eingeführt wird. Auf der politischen Ebene erfolgt zwischen 1904 - 1910 eine Radikalisierung der Sozialdemokratischen Partei. Obwohl sie sich in der Opposition befindet, erfolgt zum Beispiel 1911 die Einführung des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes. Im selben Jahr übernimmt die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft die Aufgabe, eine "Schweizerische Zentralauskunftsstelle für soziale Fürsorge" einzurichten. 25 In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wird es immer wichtiger, die Jugendfürsorge besser zu koordinieren. Bis anhin besteht nur ein grosses Sammelsurium von Institutionen, Stellen und Verbänden auf verschiedenen Stufen (Bund, Kanton, Gemeinden). Logische Folge ist deshalb, dass sich Organisationen mit gleichen oder ähnlichen Bestrebungen zu schweizerischen Verbänden zusammenschliessen (1902 Schweizerischer Verband der Lehrlingspatronate, der 1916 zum Schweizerischen Verband für Berufsberatung und Lehrlingsfürsorge umbenannt und erweitert wird; 1907 Schweizerischer Zentralkrippenverein). Zentrale Bedeutung erhält die Stiftung "Pro Juventute", die 1912 von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, nach intensiven Diskussionen zur aktuellen Frage der Jugendhilfe, ins Leben gerufen wird. Die weiter oben vorgestellte Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, die 1899 gegründet wurde, nimmt inzwischen neben der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft eine zentrale Stelle innerhalb der Jugendfürsorge ein. Es verwundert deshalb nicht, dass eine recht enge Verbindung zwischen den beiden Institutionen besteht. So ist der Mitbegründer der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege Dr. phil. h. c. FRIEDRICH ZOLLINGER auch aktiv in der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (vgl. FRANCK-NAGY, 1986, S. 33-58; RICKENBACH, 1960, S. 86 und S. 90). Die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege organisiert 1908 den 1. Schweizerischen Informationskurs für Jugendfürsorge. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts findet die Psychoanalyse den Weg in die Schweiz. 1907 wird die "Gesellschaft für Freud`sche Forschungen" gegründet. Dies führt dazu, dass in der ganzen Schweiz weitere psychoanalytische Gesellschaften entstehen. Das tiefenpsychologische Gedankengut beeinflusst unter anderem die reformpädagogischen Ansätze der Romandie. Dies führt zur Diskussion, inwieweit sich die Psychoanalyse in die Schule integrieren lässt. Zu diesem Zweck finden 1912 erste öffentliche Gespräche zwischen Psychoanalytikern und Pädagogen statt. Im gleichen Jahr wird in der reformpädagogisch orientierten Westschweiz, genauer in Genf, das "Institut Jean-Jacques Rousseau" gegründet. Dieses private Institut betätigt sich vor allem als wissenschaftliche Lehrerbildungsstätte. Mit der Zeit richtet das Institut eigene Übungsschulen ein. Die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege führt ihr Engagement, unter anderem als Organisatorin einer schweizerischen Jugendfürsorgewoche, die 1914 in Bern stattfindet, weiter. Später werden solche Anlässe durch die berufliche Ausbildung und 26 Mitarbeiterschulung in der Jugendfürsorge ersetzt. Zusätzlich werden verschiedene Tagungen und Konferenzen abgehalten. Im Verlaufe des 1. Weltkrieges verschlechtert sich die Lage der Schweizer Bevölkerung zusehends. Vor allem die Arbeiter beginnen unter dem Krieg zu leiden. Aus diesem Grund setzt sich die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft für die Betroffenen ein. Unter anderem organisiert sie von 1914 bis 1918 die "Sammlung und Abgabe von Weihnachtspaketen an die mobilisierten Truppen". 1917 reagiert die Gesellschaft auf die neue Berufs- und Arbeitsmarktlage, indem sie sich für eine verbesserte Berufsberatung einsetzt; so publiziert sie unter anderem eine Schrift mit dem Titel "Berufswahl und Lebenserfolg", die sie an betroffene Personen abgibt. 1918 kommt es zum Generalstreik, der aber rasch niedergeschlagen wird. Der Auslöser für die Arbeitererhebung ist in der akzeptierenden Haltung des Bundesrates gegenüber der liberalen Wirtschaft zu suchen. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft beschliesst an der Jahresversammlung von 1918 eine "Schweizerische Stiftung 'Für das Alter'" (heute "Pro Senectute") einzurichten. Des weiteren wird eine Stiftung gegründet, die die Verbreitung von alkoholfreien Wirtshäusern vorantreibt. An der gleichen Versammlung wird die Eröffnung eines "Erholungsheim für Frauen" gutgeheissen und ein Jahr später umgesetzt. Als politische Folge des Generalstreikes wird 1919 das revidierte Fabrikgesetz in Kraft gesetzt. Auch in bezug auf die Nationalratswahlen des gleichen Jahres, die erstmals im Proporzverfahren stattfinden, wirkt der Generalstreik noch nach. Dies führt zu massiven Veränderungen bei der Sitzverteilung im Parlament. Die Freisinnigen haben erhebliche Einbussen zu verzeichnen und verlieren die absolute Mehrheit. Gewinner sind die neugegründete Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei, sowie die Sozialdemokratische Partei. Im selben Jahr erhält die katholisch-konservative Partei ihren zweiten Bundesratsitz. Die Gewinne der Sozialdemokratischen Partei sind zwar gross, doch genügen sie nicht, sich gegen die bürgerlichen Parteien zu behaupten. Sie bleibt weiterhin in der Opposition. Der Freisinn und die Katholisch-Konservativen, später auch die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (seit 1929 mit einem Sitz im Bundesrat vertreten), bilden gemeinsam die Regierung. Weil die Bürgerlichen weiterhin eine fortschrittliche Sozialpolitik betreiben, erfolgt der systematische Ausbau des Sozialwesens. 27 Unter anderem finden die ersten Ausbildungskurse für soziale Arbeit statt, die massgeblich von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft ins Leben gerufen wurden (z. B. 1925 "Kurs für soziale Arbeit" in Zürich). Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft spricht sich nach dem ersten Weltkrieg in bezug auf eine Reform der Volksschule dafür aus, dass die reine Wissensschule zugunsten einer Arbeitsschule verändert wird, denn dadurch ist es möglich, das Gemüt und den Willen der Schüler und Schülerinnen besser zu bilden. 1920 tritt die Schweiz dem Völkerbund bei. In der nach wie vor reformpädagogisch orientierten Westschweiz wird im Jahre 1924 von den Genfer Lehrkräften eine Resolution angenommen, die die Umwandlung der staatlichen Schulen in eine sogenannte "école active" (reformpädagogische Schule) fordert. Leider bringt die Resolution nicht den gewünschten Erfolg. Auch die Diskussion um die Psychoanalyse und Pädagogik geht weiter. In deren Verlauf wird aber immer deutlicher, dass der direkte Einsatz der Psychoanalyse in der Schule nicht möglich ist. Die Tiefenpsychologie bewirkt aber eine veränderte Grundhaltung der Lehrpersonen gegenüber ihren Kindern. Dadurch können Lehrer-Schüler-Verhältnisse geschaffen werden, die auf gegenseitiger Achtung und Respekt beruhen. In der Folge erreicht die Psychoanalytische Pädagogik ihre Blütezeit. So kommt es zu diversen Weiterbildungen und zur Veröffentlichung der internationalen "Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik" (1926-1937). Es fällt auf, dass darin viele Beiträge von Schweizern, wie zum Beispiel HANS ZULLINGER, der wohl zu den wichtigsten Personen im Umfeld der Psychoanalytischen Pädagogik gehört (vgl. KASSER, 1963; BITTNER, 1995), veröffentlicht sind. In der konkreten Schulwirklichkeit kann sich die Psychoanalytische Pädagogik hingegen nicht durchsetzen. Gründe dafür sind darin zu sehen, dass sich die Psychoanalytische Pädagogik nur schwer lernen lässt. Des weiteren kann der neue Ansatz nicht alle Schwierigkeiten der Erziehung meistern, und zudem besitzt die Psychoanalytische Pädagogik ein grosses kritisches Potential gegenüber der traditionellen Schule. 1925 gründet die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft ein "Arbeitserziehungsheim für gefährdete schulentlassene Mädchen evangelischer Konfession". Das Heim wird aber bereits 1929 wieder geschlossen. Die Gesellschaft beschliesst, die Probleme, sowie die Einrichtungen der Sozialarbeit und der Hygiene, besser bekannt zu machen. Aus diesem Grund werden ab 1927 zweiwöchentlich die "Mitteilungen aus dem Gebiet der Sozialfürsorge und Gesundheitspflege" veröffentlicht. Das Mitteilungsblatt wird 1939 das letzte Mal herausgegeben. 28 Die bürgerliche Sozialpolitik führt aber nicht nur zu einem Ausbau des Sozialbereiches in der Schweiz. Es werden auch weitere wichtige Gesetze für das Sozialwesen und die Schule verabschiedet, so zum Beispiel das Berufsbildungsgesetz (1930). Im gleichen Jahr unterstützt die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft die Schaffung der "Stiftung Schweizerischer Ferienheime 'Für Mutter und Kind'". Dies führt dann auch zu Gründungen weiterer solcher Ferienheime. Die begonnene systematische Entwicklung des Sozialbereiches führt unweigerlich zu einer Differenzierung. Deshalb entstehen auch Vereine und Gesellschaften, die sich auf spezifische Bereiche spezialisieren. Eine Folge der Veränderungen ist, dass Voll- und Halbwaisen kaum mehr in Heimen untergebracht werden. Vielmehr erfolgt die Unterbringung in Pflegefamilien, oder es wird versucht, die bestehende Familie zu unterstützen, das heisst, dass sich der Gedanke der Vorsorge durchsetzt. 1931 macht sich die Weltwirtschaftskrise auch in der Schweiz bemerkbar. Die daraus resultierende Massenarbeitslosigkeit kann anfänglich nicht erfolgreich bekämpft werden. Dies gelingt erst ab 1935. 1932 wird die "Schweizerische Landeskonferenz für soziale Arbeit" gegründet. "Sie ist der Zusammenschluss der in diesem Gebiet tätigen Spitzenverbände und Ämter und will die Zusammenarbeit in sozialen Dingen auf gesamtschweizerischem Boden fördern. Präsidium und Sekretariat werden von der SGG [Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft, AF] gestellt" (RICKENBACH, 1960, S. 58f.). 1934/35 distanziert sich die Sozialdemokratische Partei der Schweiz von den Kommunisten. Gleichzeitig gibt sie ihre Oppositionshaltung auf, was später durch einen Bundesratssitz (1944) belohnt wird. 1937 wird das Arbeitsfriedensabkommen zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen abgeschlossen. Im selben Jahr veranstaltet die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft einen "Fortbildungskurs für soziale Arbeit". Die Kursreferate werden unter folgendem Titel "Einführung in die Praxis der sozialen Arbeit" publiziert. Ein Jahr später wird die Vereinigung "Hilfe für Berggemeinden", die Berggebiete bei der Umsetzung von land- und forstwirtschaftlichen Vorhaben unterstützt, von der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft ins Leben gerufen. * * * 29 Mit der starken Verbreitung der Reformpädagogik entstand Bewegung in der Schule. Die Deutschschweiz distanzierte sich zwar davon, aber es fanden trotzdem Veränderungen statt, die in einem direkten Zusammenhang mit der Reformpädagogik standen. Die Schule wurde nicht mehr nur als reine Wissensvermittlungsanstalt gesehen. Es stellte sich immer mehr heraus, dass die Jugendlichen besser auf das spätere Leben vorbereitet werden müssen. In der Folge entstanden Bestrebungen, die Berufsvorbereitung und die Berufswahl zu verbessern. Mit den reformpädagogischen Ansätzen wurde der bewussten "Lebensvorbereitung" mehr Platz eingeräumt. Es ging darum, die Heranwachsenden in möglichst allen Lebensbereichen zu unterstützen. Die damals gegründeten Landerziehungsheime versuchten dies umzusetzen. Als Folge davon entstanden sozialpädagogische Bildungseinrichtungen. Die Ideen der Schulsozialarbeit wurden ansatzweise umgesetzt, ohne dabei auf ausgebildete Sozialarbeiter bzw. Sozialarbeiterinnen zurückzugreifen. Eine eigentliche Ausbildung für die Sozialarbeit musste erst noch entstehen. So wurde zum Beispiel 1925 ein erster "Kurs für soziale Arbeit" durchgeführt. Im Sozialbereich entstanden auf der Gesetzesebene wichtige Bestimmungen und Regelungen. Trotzdem war das Sozialwesen nach wie vor sehr stark abhängig von den verschiedenen gemeinnützigen Gesellschaften. In bezug auf die Entwicklung der Schulsozialarbeit nahm neben der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege, die 1899 gegründet wurde, eine wichtige Stellung ein. Diese engagierte sich für die Belange der Schüler und Schülerinnen. Zur damaligen Zeit ging es vor allem um hygienische Anliegen, sowie um materielle Unterstützung. Die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege organisierte in der Folge auch verschiedene Anlässe, um ihre Anliegen in alle Bereiche der Schule zu tragen. Aus diesem Grund entstanden verschiedene "Schulsozialarbeitsprojekte". Dabei ging es vor allem darum, die Grundversorgung der Kinder zu gewährleisten. Heute stehen Beratungen im Bereich der Verhaltensauffälligkeit im Vordergrund. Das soziale Engagement, das sich in der Schule breit machte, führte dazu, dass allfällige Kritik an der Volksschule verschwand. Das heisst, dass in bezug auf die Gesundheit der Schüler und Schülerinnen einiges unternommen wurde. Die sozialen Unterstützungsleistungen bewirkten aber nicht, dass der Unterricht sozialpädagogischer gestaltet wurde. Vielmehr entstand mit der Zeit eine Trennung zwischen der eigentlichen Schule und den sozialen Leistungen in der Schule. 30 Zwar wurde in diesem Zeitabschnitt viel unternommen, um eine sozialpädagogische Volksschule zu entwickeln. Doch der Unterricht veränderte sich kaum. Dabei wäre es wahrscheinlich möglich gewesen, Veränderungen im Schulwesen zu erreichen. 2.2.6 Ruhe vor dem Sturm (1939 - 1960) Während des zweiten Weltkrieges gelingt es der Schweiz, ihre Neutralität aufrecht zu erhalten. Sie muss dafür aber den Achsenmächten (Deutschland und Italien) Zugeständnisse machen. Gegenüber dem ersten Weltkrieg bestehen verschiedene soziale Institutionen, die sich um das Wohl der Bevölkerung kümmern. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft wird deshalb nicht im grösseren Umfang tätig; vielmehr fordert sie ihre Mitglieder auf, in den öffentlichen Kriegsfürsorgekommissionen mitzuarbeiten. Im weiteren engagiert sie sich vor allem im sozialpolitischen Bereich, wobei auch Schul- und Gesundheitsfragen mitberücksichtigt werden. 1942 gründet die "Landeskonferenz für soziale Arbeit" die "Kommission für soziale Arbeit in Berggegenden", die später in "Schweizer Berghilfe" umbenannt wird. 1943 schliesst die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft die Erziehungsanstalt bei Kreins. Nach dem Krieg folgt eine Phase der Hochkonjunktur. Von dieser profitiert auch die Schweiz. So wird unter anderem das Autobahnnetz ausgebaut. Der wirtschaftliche Erfolg basiert nicht zuletzt auf der Einhaltung des Arbeitsfriedensabkommens von 1937. Die Schweiz bleibt deshalb von grösseren Streiks verschont. Die Wirtschaft expandiert. In der Folge davon werden immer mehr Ausländer als Arbeitskräfte in die Schweiz geholt. Im Anschluss an den 2. Weltkrieg organisiert die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft eine "Wanderausstellung zur Pflege des Familienlebens". Die Gesellschaft befasst sich also weiterhin mit Fragen zur Bildung, zum Sozialwesen und zur Volkswirtschaft. Des weiteren erscheinen verschiedene Publikationen, unter anderem 1948 das "Handbuch der sozialen Arbeit in der Schweiz", das im folgenden Jahr mit einem zweiten Band ergänzt wird. Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft führt in Zusammenarbeit mit weiteren Institutionen, "Fortbildungskurse in sozialer Arbeit" durch. Die Anstalten- und Armenkommission wird 1950 aufgehoben, denn die "Schweizerische Landeskonferenz für soziale Arbeit" besitzt eine Kommission, die sich der gleichen Aufgabe annimmt. Etwa gleichzeitig beginnt sich die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft um Ferienhäuser für Arbeiter und Angestellte zu bemühen, damit diese billigere Ferien verbringen können. Ab 1953 beteiligt sie sich an der Aktion "Ruhiger Bettag". Im Zusammenhang mit der 31 Verbreitung des Radios fordert die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft verschiedene Forschungseinrichtungen auf, sich wissenschaftlich mit den Auswirkungen des Radios auseinanderzusetzen. Im öffentlichen Sozialwesen geht die Schweiz ihren eigenen Weg. Sie baut vor allem auf eine angemessene Lohnpolitik und auf den Teuerungsausgleich. Zusätzlich werden weitere wichtige Sozialversicherungen eingeführt (1947 Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV), 1951 Arbeitslosenversicherung, 1959 Invalidenversicherung (IV)). Es gelingt, in bezug auf den Sozialbereich, einen Konsens zwischen der freien Marktwirtschaft und den Vorstellungen der Gewerkschaften zu erreichen. Auf diesem Konsens beruht die schweizerische Sozialpolitik auch heute noch. Die Schweiz tritt in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg weder der UNO, noch der EG, der heutigen EU, bei. Sie wird lediglich Mitglied der EFTA, die ein Gegenstück zur EU darstellt, deren Bedeutung aber immer geringer wird. Die Schweiz geht davon aus, dass sie als "Sonderfall", der neutral bleibt, am meisten profitiert. In der Zeit von 1939 bis ca. 1960 lassen sich kaum wirkliche Veränderungen innerhalb der öffentlichen Volksschule feststellen (Ausnahme die französischsprachige Schweiz vgl. 2.2.5). Mit dem sogenannten "Sputnik-Schock"1 (1957) entsteht dann plötzlich Bewegung: Man will nun leistungsorientierte Schulen fördern. Gleichzeitig soll aber auch die Durchsetzung der Chancengleichheit erfolgen. Die westlichen Länder sind bestrebt, das Schulsystem zu modernisieren. Politisch besteht seit 1959 die "Zauberformel" bei der Besetzung der Bundesratssitze. Diese lautet: 2 FDP (Freisinnige), 2 CVP (ehemals Katholisch-Konservativ), 2 SP (Sozialdemokraten) und 1 SVP (ehemals Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei). * * * In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die reformpädagogischen Ansätze in der Schule durch traditionelle Vorstellungen ersetzt. Die Volksschule sollte den Jugendlichen vor allem wieder Wissen vermitteln. Dank der Hochkonjunktur nach dem Krieg verschwand auch die wirtschaftliche und soziale Not vieler Leute und damit die Missstände, die einst auch die Arbeit in den Schulen erheblich belastet hatten. Die Hygiene hatte sich inzwischen klar verbessert und es waren auch genügend Arbeitsplätze vorhanden. Aus diesen Gründen wurden die durchgeführten sozialpädagogischen Massnahmen in der Schule, wie Schülerspeisung, Abgabe von Kleidern, Ferienkolonien usw. immer mehr reduziert. 1 Der Sowjetunion gelang es als erste Nation einen Satelliten (Sputnik) in die Umlaufbahn um die Erde zu bringen. Die westlichen Länder waren dadurch in einen technologischen Rückstand geraten. 32 In bezug auf den Sozialbereich kann festgestellt werden, dass eine Konsolidierung stattfand. So wurden unter anderem verschiedene zentrale Sozialgesetze erlassen. Es fand auch eine vertiefte Auseinandersetzung über die Methoden der Sozialen Arbeit statt. Die gemeinnützigen Gesellschaften wirkten sehr stark auf die Sozialpolitik ein. Dabei wurde die Schule je länger je mehr ausgegliedert, das heisst, die Lösungen sozialer Probleme wurden vermehrt auf ausserschulischer Ebene angestrebt. Die veränderte Situation bewirkte, dass die Zusammenarbeit zwischen der Schule und der Sozialpädagogik allmählich versiegte. Jeder Bereich entwickelte sich selbständig weiter. 2.2.7 Schulreform und Jugendarbeit (1960 - Gegenwart) Wie bereits erwähnt, führt der "Sputnik-Schock" von 1957 zu einer Schulreform. Ziel ist es, leistungsorientiertere Schulen zu schaffen und die Chancengleichheit im Schulwesen durchzusetzen. In der Westschweiz werden die Schulreformbestrebungen gut aufgenommen, denn die Volksschule besitzt dort bekanntlicherweise eine bedeutende reformpädagogische Vergangenheit (vgl. 2.2.5). In diesem Zusammenhang ist auch die Entstehung der "Cycle d`Orientation" (Orientierungsstufe) zu sehen, die 1962 in Genf eingerichtet wird. Nach der juristischen Verankerung dieser Orientierungsstufe im Jahre 1964 erfolgen dann 1966 die ersten Anstellungen von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen. Es entsteht also Schulsozialarbeit im engeren Sinne. Bereits anfangs der 60er Jahre erfolgt die Thematisierung der Chancenungleichheit im Bildungswesen (vgl. HESS / LATSCHA / SCHNEIDER, 1966). In den spätern 68er Unruhen wird dann der Ruf nach Chancengleichheit wieder laut. Die realisierten Schulreformen in der Schweiz (mit Ausnahme der Romandie) sind nicht sehr tiefgreifend, wenn man sie mit den Änderungen in Deutschland vergleicht. Grundsätzlich wird mit den Reformen eine offenere und durchlässigere Schulstruktur angestrebt, was die Förderung der gesamten Schülerschaft erleichtern soll. So könnten auch die leistungsstarken Schüler und Schülerinnen erkannt und besonders gefördert werden. Auch die Psychoanalytische Pädagogik erlebt in dieser Zeit ein Comeback. Dies führt zu Nachdrucken der "Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik". Des weiteren entstehen viele Privatschulen, die sich mit neuen Methoden und Vorstellungen zu etablieren versuchen. Dabei greifen sie oft auf reformpädagogische Ansätze zurück. Ein 1973 vorgelegter eidgenössischer Bildungsartikel wird vom Volk abgelehnt. Die Volksschule bleibt deshalb weiterhin eine kantonale Aufgabe. 33 1980/81 wird in Zürich ein Tagesschulprojekt begonnen. Die Zürcher-Jugendunruhen (1982) führen dazu, dass eine Verstärkung der Jugendarbeit erfolgt. 1985 wird ein einheitlicher Schuljahresbeginn für die ganze Schweiz in der Bundesverfassung verankert. Der Start für die ersten Schulsozialarbeitsprojekte in der Deutschschweiz erfolgt 1987. Seit Mitte der Neunzigerjahre entstehen weitere Projekte. Schulsozialarbeit im engeren Sinne beginnt sich somit in der Deutschschweiz auszubreiten. * * * Mit dem "Sputnik-Schock" setzten Bestrebungen für eine Schulreform ein. Es ging darum, möglichst alle leistungsstarken Jugendlichen zu fördern, um eine wissenschaftliche Elite hervorzubringen. Aus diesem Grund wurde die Chancengleichheit wichtig. Mit den 68er Unruhen veränderten sich zudem die gesellschaftlichen Werte, die Vorstellungen von Sitte und Moral, von Selbstverwirklichung, von der Art und Weise des friedlichen Zusammenlebens... Auch das Bildungswesen musste sich diesen veränderten Gesellschaftsbedingungen stellen. Aus diesem Grund wurde eine Bildungsreform nötig. Dabei sollten vor allem die Chancengleichheit, individuelle Förderung und differenzierte Lernangebote ermöglicht werden. In der Folge entstanden in Deutschland Gesamtschulen. Auch in der Schweiz fanden einzelne Versuche mit Gesamtschulen statt, aber diese setzen sich, im Gegensatz zu Deutschland, nicht durch. Dort stellte man bald fest, dass neue soziale Probleme in den Gesamtschulen entstanden. Als Folge davon wurde auf die Sozialpädagogik zurückgegriffen. In den 70er Jahren kam es zur Einführung der Schulsozialarbeit. In der Schweiz hingegen fanden kaum wirkliche Veränderungen im Bildungswesen statt. Es erschien deshalb auch nicht nötig, Schulsozialarbeit einzuführen. Seit einigen Jahren aber tauchen auch in unseren Schulen vermehrt soziale Probleme auf, die mit Hilfe der Schulsozialarbeit gelöst werden sollen. Eine Ausnahme bildet die Westschweiz; diese führte etwa gleichzeitig mit Deutschland die Schulsozialarbeit ein. Das Sozialwesen in der Schweiz kümmerte sich lange Zeit nicht um den Bereich der Schule. Es wurde vielmehr auf Jugendarbeit ausserhalb der Schule gesetzt. Erst seit wenigen Jahren beginnt sich in der Deutschschweiz die Sozialpädagogik mit der Schule auseinander zu setzen. Das Interesse an Schulsozialarbeit ist inzwischen geweckt. 34 2.3 FAZIT 2.3.1 Allgemeines Die Geschichte der Schulsozialarbeit im engeren Sinne ist in der Schweiz zwar noch sehr jung, doch lassen sich frühere Ansätze finden, die sozialpädagogisches Gedankengut in die Schule zu integrieren versuchten. Dabei ging es aber nicht darum, Sozialarbeiter oder Sozialarbeiterinnen einzustellen. Es handelte sich also demnach um Schulsozialarbeit im weiteren Sinne. Beim Blick in die Vergangenheit kann festgestellt werden, dass bereits vor der Einführung der öffentlichen Volksschule sozialpädagogische Ideen in die Schule einflossen. Dafür verantwortlich zeichneten sich die Industrieschulen, die die Arbeit als pädagogisches Mittel einsetzten, um die Kinder und Jugendlichen auf den späteren Alltag vorzubereiten, eine Grundidee, die sich übrigens auch bei PESTALOZZI findet, der die Arbeit, primär die Handarbeit, als wesentlichen Bestandteil für die Ausbildung aller Kräfte sah. Später wird diese Idee von der reformpädagogischen Arbeitsschulbewegung wieder aufgenommen. Das Gedankengut der Industrieschule verschwand aber bald oder wurde abgeschwächt in die neu eingeführte Volksschule integriert. Die entstandene Bildungseinrichtung musste sich zuerst gegenüber der Kirche emanzipieren und forcierte deshalb die Vermittlung von Wissen. Während der Etablierungsphase der Volksschule lassen sich keine Ansätze finden, in denen sich die entstehende Schule intensiv mit sozialpädagogischen Gedanken auseinandergesetzt hätte. An dieser Stelle sei auf die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft verwiesen, die sich seit ihrem Bestehen (1810) immer wieder mit Fragen der Schule, des Sozialwesens und der Volkswirtschaft beschäftigte. Aus diesem Grund hat sie die Entwicklung der Schule und der Jugendhilfe wesentlich beeinflusst. Nachdem das neue Bildungssystem eingeführt war, ruhte man sich allzu lange auf dem Erreichten aus. Die Kritik an der Volksschule wuchs. So wurde ihr vorgeworfen, dass sie sich zu stark an der Wissensvermittlung orientiere und dadurch die einzelnen Kinder und Jugendlichen vergesse. Die reformpädagogische Bewegung unterstützte diese Kritik massgeblich. Gleichzeitig mehrten sich innerhalb der Schweizer Bevölkerung die sozialen Probleme, denen sich die Schule nicht mehr entziehen konnte. In dieser spannungsgeladenen Zeit lassen sich deshalb auch verschiedene Ansätze finden, die sich mit einer "sozialpädagogischeren" Schule befassten. Zur Bekräftigung dieser Aussage sei auf die zwei Kapitel, in denen die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege 35 (2.3.2), sowie die Reformpädagogik in der französischsprachigen Schweiz (2.3.3) genauer vorgestellt werden, verwiesen. In Folge der Weltwirtschaftskrise und während des zweiten Weltkrieges wurden die neuen Ideen und Vorstellungen über die Schule von den traditionellen Kräften wieder zurückgedrängt. Damit verschwanden auch die Ansätze, die sozialpädagogisches Gedankengut in die Volksschule einfliessen lassen wollten. Der Unterricht wurde wieder auf die Wissensvermittlung ausgerichtet. In der nachfolgenden Hochkonjunktur war es wichtig, schnell gute Arbeitskräfte auszubilden. Auch war es möglich, ohne Ausbildung einen Arbeitsplatz zu erhalten. Zudem kamen die reformpädagogischen Ansätze der Vorkriegsjahre immer mehr in Verruf, weil sie von der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands zum Teil für ihre Ziele instrumentalisiert worden waren. Infolgedessen flauten die begonnenen Schulreformbestrebungen ab. Erst der "Sputnik-Schock" (1957) und später die 68er Unruhen führten dazu, dass in die ruhige Bildungslandschaft Bewegung kam. Auf der einen Seite sollte die Schulreform den wissenschaftlichen Nachwuchs fördern. Auf der anderen Seite stand die Gewährleistung der Chancengleichheit im Mittelpunkt der Bestrebungen. Diese Faktoren führten dazu, dass Schulreformen in Gang gesetzt wurden. Wenn man die jüngere Schulgeschichte betrachtet, kann man feststellen, dass nicht mehr nur die reine Wissensvermittlung im Mittelpunkt der Volksschule steht, sondern dass immer mehr auch auf weiterreichende Kompetenzen geachtet wird. So spricht man nicht nur von Sach-, sondern auch von Selbst- und Sozialkompetenz. Die Schule erhält also einen neuen erweiterten Auftrag, der wieder vermehrt erzieherische Aufgaben beinhaltet. Dabei wird der Entstehung neuer Arten des sozialen Zusammenlebens Rechnung getragen. So kommt es zum Beispiel immer öfter vor, dass Kinder nur von einem Elternteil aufgezogen werden. Ein weiteres Augenmerk gilt der verschärften Ausländerproblematik. Trotz dieser Situation bemüht sich die Schule alle Kinder in die schweizerische Gesellschaft zu integrieren. Eine mögliche Antwort auf einen Teil der Fragen und ein Problemlösungsversuch stellt die Schulsozialarbeit dar. Sie ist keine neue Idee, sondern gründet bereits im sozialpädagogischen Gedankengut früherer Bildungseinrichtungen. Die Schule war ursprünglich sozialpädagogischer, wurde dann aber zur Wissensvermittlungsinstitution umfunktioniert, und erst allmählich scheint man sich nun wieder auf die sozialpädagogischen Aspekte der Schule zurückzubesinnen. 36 2.3.2 Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege Eine wichtige gemeinnützige Gesellschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts stellt die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege dar. Diese entstand aus der Schulhygiene-Bewegung heraus und wurde 1899 gegründet. Im Artikel 1 der Statuten findet sich folgendes: "Unter dem Namen 'Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege' gründet sich mit Sitz in der Stadt Bern ein Verein, welcher den Meinungsaustausch über schulhygienische Fragen und die Verarbeitung und Förderung der Schulhygiene in der Schweiz bezweckt" (ST A T U T E N DER SCHWEIZERISCHEN G ESELLSCHAFT FÜR SCHULGESUNDHEITSPFLEGE, 1901). Zur Schulhygiene gehörten folgende Bereiche: "Schulhausbau, Umgebung des Schulhauses, Turnhallen, Schulmobiliar, Unterrichtshygiene, Schulkrankheiten, hygienische Überwachung der Schulen, Wohlfahrtseinrichtungen zur Förderung des gesundheitlichen Wohles der Jugend" (W ETTERWALD, 1910, S. 334). Die Aufzählung zeigt, dass vor allem bauliche und medizinische Aspekte Berücksichtigung fanden. Trotzdem lassen sich immer wieder Hinweise finden, die Grund zur Annahme bieten, dass vorab in Referaten auch sozialpädagogische Fragen und Ideen thematisiert wurden. Wenn man die Programme der Jahresversammlungen der schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege der ersten zehn Jahre (WETTERWALD, 1910, S. 336ff.) betrachtet, finden sich unter anderem folgende Berichte: "Wohlfahrtseinrichtungen für die Schuljugend des Kantons Basel-Stadt", "Besuch des Landerziehungsheims Glarisegg", "Die gegenwärtigen Bestrebungen auf dem Gebiete der Reform des Volksschulunterrichtes". W E T T E R W A L D fügt der reinen Programmübersicht der Jahresversammlungen eine ausführliche Zusammenfassung der in den Jahrbüchern der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege publizierten Artikel bei. Dabei handelt es sich nicht nur um Referate, die an den jeweiligen Jahresversammlungen gehalten wurden, sondern auch um Aufsätze zum Thema der Schulgesundheitspflege. Unter dem Übertitel "Jugendfürsorge" finden sich unter anderem Texte über Ferienkolonien, Informationen über die Jugendfürsorge einzelner Kantone (BS, BE, LU, SG, SO), allgemeine Aufsätze zur Jugendfürsorge, Informationen über Schülerspeisungen, Wöchnerinnen- und Säuglings-Fürsorge in der Schweiz, Schulbäder, Waldschulen und Walderholungsstätten für Schulkinder, über die Verwahrlosung vom medizinischen Standpunkt aus betrachtet, die Reform des Strafrechtsverfahrens gegen Jugendliche, die Mitwirkung der Frau an der sanitarischen Beaufsichtigung der Kinder, Berichte über Kurse in Kinder- und Jugendfürsorge, Taubstummenfürsorge in der Schweiz, über die Verhandlungen der VII. Schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen und Berichte über ausländische 37 Bemühungen im Bereich der Schulgesundheit. Daneben werden noch weitere Themen behandelt: Schulreform und Unterricht, Spezielle Hygiene, Bautechnische Fragen, Verschiedenes. Im folgenden wird speziell auf Aussagen eingegangen, die im Zusammenhang mit der Geschichte der Schulsozialarbeit in der Schweiz stehen. Ferienkolonien: Im Bericht über den Erfolg der Ferienkolonien findet sich folgende Aussage: Die erste Ferienkolonie in der Schweiz "war etwas Originelles, weil sie von Anfang an erzieherische Zwecke ins Auge fasste und die Ferienversorgung von da an systematisch, im engsten Anschluss an die Volksschule und unter genauer Festhaltung pädagogischer Grundsätze betrieben wurde" (W ETTERWALD, 1910, S. 341). Die Ferienkolonien standen also in enger Beziehung zur Volksschule. Überdies wird darauf hingewiesen, dass die Ferienkolonien, grosse gesundheitliche, erzieherische und soziale Erfolge vorzuweisen hatten. Man kann festhalten, dass die Ferienkolonien, die mit der Volksschule zusammenarbeiteten, sozialpädagogische Ideen umsetzten. Kantonale Jugendfürsorge: Der Bereich der kantonalen Jugendfürsorge wurde in folgende Teilbereicht gegliedert: a) Fürsorge für physisch Geschädigte (z. B. Taubstumme, Blinde) b) Fürsorge für psychisch Geschädigte (Schwachbegabte) c) Fürsorge für verwahrloste Jugendliche d) Vorsorge (z. B. Schülerspeisung, Abgabe von Kleidern, Schulbäder, Ferienkolonien) (vgl. WETTERWALD, 1910, S. 34f.). In den einzelnen Berichten über die kantonale Jugendfürsorge finden sich grundsätzlich Angebote zu allen oben erwähnten Kategorien. Interessant ist, dass in einem Artikel über die Jugendfürsorge im Kanton St. Gallen von 1907 bereits von einem Mittagstisch für minderbemittelte Realschüler und Realschülerinnen, die ausserhalb der Stadt wohnen, die Rede ist. Damals stand die Nahrungsversorgung der Jugendlichen im Mittelpunkt; heutige Mittagstische hingegen dienen vor allem dazu, dass die Kinder und Heranwachsenden, deren Eltern arbeiten, nicht alleine zu Mittag essen müssen. Nicht mehr die Nahrungsabgabe steht im Mittelpunkt, sondern der soziale Aspekt. 38 Neben der Verköstigung der Schüler und Schülerinnen finden in den Berichten zur Kantonalen Jugendfürsorge auch die Kinderhorte Erwähnung, in welchen Kinder und Jugendliche, deren Eltern arbeiten müssen, in der Freizeit betreut werden (vgl. WETTERWALD, 1910, S. 347ff.). Waldschulen: In einem Referat über Waldschulen und Walderholungsstätten für Schulkinder werden verschiedene Thesen vorgetragen. Die erste lautet: "Infolge der wirtschaftlichen Verhältnisse muss sich die Schule neben dem Unterricht mehr mit der Erziehung und deshalb mit den Fürsorgebestrebungen beschäftigen" (WETTERWALD, 1910, S. 352). Im weiteren erfolgt die Darlegung der Idee der Waldschule und der Walderholungsstätten. Dabei wird klar, dass diese Einrichtungen für chronisch kranke und gebrechliche Kinder vorgesehen waren. Diese sollten in der gesunden Waldumgebung unterrichtet werden. Um die Schüler und Schülerinnen zu schonen, erfolgte eine Kürzung der Unterrichtszeit. Dies war möglich, wenn der Unterrichtsstoff auf die wesentlichsten Inhalte beschränkt blieb. Verwahrlosung aus medizinischer Sicht: Im Artikel über die Verwahrlosung aus medizinischer Sicht fällt besonders auf, dass die sittliche Gefährdung in engem Zusammenhang mit dem körperlichen Befinden gesehen wird (vgl. WETTERWALD, 1910, S. 354). Deshalb bemühte man sich um die körperliche Gesundheit der Schulkinder, denn in einem gesunden Körper befindet sich ja bekanntlich ein gesunder Geist. Im weiteren wird folgender Antrag gestellt: "Es ist wünschenswert zu erklären, dass in den Kantonen jeder Lehrer über die Frage der verwahrlosten Jugend orientiert, zur Beobachtung angeleitet und auf die vorhandenen Mittel und Wege zur Abhilfe aufmerksam gemacht werde" (W ETTERWALD , 1910, S. 354). Die Lehrkräfte sollten also bei einer allfälligen Verwahrlosung richtig reagieren können. Um dies zu erreichen, benötigten sie unter anderem sozialpädagogisches Wissen. Mitwirkung von Frauen bei der sanitarischen Beaufsichtigung der Kinder: In einem Aufsatz über die sanitarische Beaufsichtigung der Kinder wird die Forderung nach Entlastung der Schulärzte, durch die Mitarbeit von Frauen, gestellt. Die Auswahl solcher Mitarbeiterinnen sollte dabei aufgrund ihrer persönlichen Verdienste erfolgen. Die geeigneten Kandidatinnen würden dann einen Kurs besuchen, um auf ihre Aufgabe als amtliche Inspektorinnen vorbereitet zu werden. Anschliessend könnten sie der Volksschule nützlich 39 sein, "indem sie in Fällen, wo die Haushygiene zu wünschen übrig lässt, in taktvoller und wohlwollender Weise bei den Eltern ins Mittel treten würden..." (WETTERWALD , 1910, S. 357). Diese Ausführungen geben einen interessanten Hinweis auf die Vorläufer der Schulsozialarbeit. Die Inspektorinnen würden also vornehmlich dann eingestzt, wenn hygienische Mängel vorlägen. Der Auftrag dafür käme vom Schularzt, der wiederum in engem Kontakt zur Schule steht. Im Bericht über den "3. Zürcher Kurs für Jugendhilfe" (1927) findet sich die Aussage, dass sich die Stadt und der Kanton Zürich gegen die Anstellung von Schulpflegerinnen, wie dies in Deutschland üblich war, aussprach (vgl. SCHWEIZERISCHE ZEITSCHRIFT FÜR GESUNDHEITSPFLEGE UND A RCHIV FÜR SOZIALFÜRSORGE, 1927, S. 702f.). Letztlich konnten sich also jene, die den Einsatz von Schulpflegerinnen in der Schweiz forderten, nie richtig durchsetzen. 1. Schweizerischer Informationskurs in Jugendfürsorge: In einem weiteren Bericht wird auf den ersten schweizerischen Jugendfürsorgekurs eingegangen. Dieser fand zwischen dem 31. 8. und dem 12. 9. 1908 statt und wurde von der "Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege", der "Konferenz der schweizerischen Erziehungsdirektoren", der "Zentralkommission der schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft", dem "Vorstand des schweizerischen gemeinnützigen Frauenvereins" und dem "Zentralausschuss des schweizerischen Lehrervereins" unterstützt. Der Kurs bezweckt die Förderung und Verbreitung der Jugendfürsorgebestrebungen in der Schweiz an der Hand von Vorträgen, Referaten, Diskussion und Besichtigungen einschlägiger Institutionen. Er soll ganz besonders den Schul-, Gesundheits-, Armen- und Vormundschaftsbehörden, sowie den gemeinnützigen Vereinen zur Orientierung in den neuzeitlichen Bestrebungen auf dem Gebiete der Jugendfürsorge und des Kinderschutzes dienen. (WETTERWALD, 1910, S. 360) Im Kursprogramm lassen sich verschiedene Vorträge und Referate finden. So zum Beispiel: "Übersicht über die gegenwärtigen Bestrebungen auf dem Gebiete der Jugendfürsorge", "Die Öffentlichkeit und die private Wohltätigkeit in ihren Beziehungen zur Jugendfürsorge", "Bericht über die Entwicklung des Krippenwesens in der Schweiz", "Ernährung und Kleidung dürftiger Schulkinder", "Das schweizerischen Zivilgesetzbuch und die Jugendfürsorge", "Familienversorgung und Anstaltserziehung mit besonderer Berücksichtigung des Kindergruppenfamiliensystems", "Ursachen und Erscheinungsformen der Kinderverwahrlosung und Kampfmittel gegen die letztere", "Die sozialpädagogischen Aufgaben der Volksschule" (vgl. WETTERWALD, 1910, S. 360f.). 40 Im folgenden wird kurz auf wichtige Aussagen der einzelnen Referate, in bezug auf Schulsozialarbeit, eingegangen. Die Öffentlichkeit und die private Wohltätigkeit in ihren Beziehungen zur Jugendfürsorge: Im Vortrag über "Die Öffentlichkeit und die private Wohltätigkeit in ihren Beziehungen zur Jugendfürsorge" schlägt der Referent Dr. C. A. SCHMID (Armensekretär, Zürich) folgende Organisation der Jugendfürsorge vor: I. Fürsorge für die schlechthin hilfsbedürftige Jugend 1. Säuglingspflege a) Wöchnerinnenfürsorge b) Mutterschutz c) Säuglingsfürsorge 2. Waisenpflege inkl. uneheliche Kinderfürsorge 3. Schulwohlfahrtspflege a) Schülerspeisung b) Freienkolonien c) Schulhygiene 4. Versorgungswesen (Spezial-Anstalten aller Art) II. Fürsorge für die erziehungs- und schutzbedürftige (sittlich gefährdete) Jugend a) Kinderkrippe b) Jugendhort c) Kinderschutz i. a. d) Erziehungsanstalten e) Sozialpädagogik III. Fürsorge für die gewerblich tätige Jugend a) Lehrwerkstätte b) Gewerbegesetz, Lehrlingswesen, Spezialgesetze (SCHMID, 1908, S. 46f.) Es fällt auf, dass der Jugendfürsorge, wie sie sich SCHMID vorstellte, auch der Teilbereich Schulwohlfahrtspflege zugeordnet wird. Es handelt sich demnach um einen Bereich der Jugendfürsorge, der in der Schule stattfinden sollte. Ernährung und Kleidung dürftiger Schulkinder: Als Fazit des Referates "Ernährung und Kleidung dürftiger Schulkinder" kann folgendes Zitat gelten: Es darf aus diesen vergleichenden Zahlen wohl gefolgert werden, dass der Zweig sozialer Fürsorge, um den es sich hier handelt, sich vielerorts im letzten Jahrzehnt in erfreulicher Weise entwickelt hat. Immerhin bleibt noch viel zu tun übrig, wenn man alle Kinder, die es nötig hätten, in die Fürsorge einbeziehen will. Namentlich werden die Kantonsregierungen sich sagen müssen, dass es ihre Pflicht 41 ist, auf dem beschrittenen Wege weiter zu gehen und dass es kaum eine bessere Verwendung für die eidg. Schulsubvention gibt, als die Mithilfe an der Ernährung und Bekleidung dürftiger Schüler, weil nur auf diesem Wege die Wohltaten einer richtigen Schulbildung diesen Kindern voll und ganz zuteil werden können. (ERISMANN, 1908, S. 244). Die Schülerspeisung und die Abgabe von Kleidern werden als wichtige Bestandteile einer erfolgreichen Schulbildung gesehen. Wenn diesen Grundbedürfnissen nicht Rechnung getragen wird, können sich die Schulkinder kaum aufs Lernen konzentrieren. Organisation und Betrieb der Jugendhorte: Der Lehrer E. KULL stellt in seinem Referat "Organisation und Betrieb der Jugendhorte" unter anderem folgende Leitsätze auf: 1. Die Volksschule als eine vom Staate errichtete gemeinsame Erziehungs- und Bildungsanstalt der Kinder aller Volksklassen hat die Pflicht, an Stelle des Elternhauses besonders dann in die Lücke zu treten, wenn dieses aus sozialem Unvermögen nicht imstande ist, das Kind in der schulfreien Zeit zu überwachen und vor schädlichen Einflüssen zu bewahren. 2. Die Jugendhorte sind ein Zweig der vom Staate zu fordernden Wohlfahrtseinrichtungen an der Schule; sie bilden ein wichtiges Mittel, der Verwahrlosung der Jugend vorzubeugen. (KULL, 1908, S. 248) Es wird darauf hingewiesen, dass die Volksschule einen Erziehungs- und Bildungsauftrag besitzt. Damit diese Aufträge erfüllt werden können, muss sich die Schule, beziehungsweise der Staat, dafür einsetzen. Eine Möglichkeit bietet die Schaffung von Horten. Die sozialpädagogischen Aufgaben der Volksschule: Der Titel dieses Referates steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Schulsozialarbeit. Deshalb beschreibe ich den Inhalt detaillierter als die anderen Vorträge. Zu Beginn stehen sieben Thesen. Dabei wird auf die Aufgabe der Volksschule hingewiesen, dass die Schule gemeinsam mit den Eltern den Auftrag hat, die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder zu unterstützen. Es ist daher wichtig, die Lebenswelt der Kinder mitzuberücksichtigen und mit Hilfe von Massnahmen ein möglichst optimales Umfeld zu schaffen. Um dies zu erreichen, müssen die Schulbehörden nicht nur mit den betreffenden sozialen Fürsorge-Institutionen Kontakt pflegen, sondern auch mit sozialpädagogischen Institutionen, die sich um den Vorschulbereich und den Berufsbildungsbereich kümmern. Des weiteren ist es auch wichtig, sich um die "Anormalen" zu kümmern und um jene Kinder, die aus armen Verhältnissen stammen. Das wichtigste Anliegen der Volksschule ist der Erziehungsauftrag, der darin besteht, denn Kindern eine gesunde Gemüts- und Charakterbildung zu ermöglichen. 42 Um die sozialpädagogischen Aufgaben der Schule wahrnehmen zu können, benötigen die Lehrkräfte eine sozialpädagogische Ausbildung, und damit das Volk kulturelle Fortschritte erzielen kann, muss die Volksschule die sozialpädagogischen Aufgaben umsetzen. Im zürcherischen Lehrplan der Volksschule ist die Aufgabe enthalten, zusammen mit den Eltern, die Kinder zu selbständigen, lebensbejahenden Persönlichkeiten zu bilden. In der Folge wird auf die Aufgabe der Gemeinschaft am einzelnen eingegangen. Aus diesem Grund erfolgt die Klärung des Begriffes "sozialpädagogisch": ...die Erziehung hat zwei Aufgaben, sie muss individualisieren aber sozial erziehen, sie muss tüchtige Menschen und gute Bürger heranbilden. Daher die Forderung an die Schule, dem Einzelnen die nötige Freiheit zur Ausbildung einer Persönlichkeit einzuräumen, ihn selbsttätig sein Wissen und Können erarbeiten zu lassen! Das erst erzeugt Lebensfreude und Lebenslust! Aber dieses Recht des Einzelnen bleibe den Bedürfnissen des Ganzen untergeordnet. Die Individualerziehung wird zur Sozialerziehung! (HIESTAND, 1908, S. 649) Diese Vorstellungen sind auch schon bei PESTALOZZI anzutreffen. Aus dem Gesagten wird nun die sozialpädagogische Aufgabe der Volksschule abgeleitet: "Sie soll dem jungen Menschen Kenntnisse vermitteln, dass er auf eigenen Füssen stehen lernt; soll ihn aber auch erziehen, erheben und veredeln, ihn zum sozialwirkenden Glied der Lebensgemeinschaft heranbilden" (HIESTAND, 1908, S. 649). In einem nächsten Teil erläutert HIESTAND wie die Schule ihre sozialpädagogischen Aufgaben wahrnehmen kann. Dabei stellt er fest, dass er nichts Wesentliches mehr beifügen kann, denn alle (während des Jugendfürsorgekurses) vorgestellten Fürsorgeeinrichtungen (Jugendfürsorge, Schülerspeisung, Abgabe von Kleidern, Jugendhorte, Ferienkolonien, Fürsorge für sprachgebrechliche Kinder, Schwachsinnigenfürsorge etc.) haben direkt oder indirekt mit der Schule zu tun und unterstützen die Volksschule bei der Wahrnehmung der sozialpädagogischen Aufgaben. Beim Schuleintritt stellen die Schulärzte grosse gesundheitliche Unterschiede bei den Kindern fest. Die Untersuchungsergebnisse dienen den Lehrkräften dazu, die Kinder, ihrem jeweiligen körperlichen und geistigen Zustand entsprechend, angepasst zu fördern. Zusätzlich gilt es, die häusliche Situation, das soziale Umfeld der Lernenden, mitzuberücksichtigen. So ist es möglich, nötigenfalls Fürsorge-Institutionen einzuschalten. Die Fürsorge sollte aber schon vor dem Schuleintritt ansetzen. HIESTAND führt weiter aus, wie wichtig die Familie als erste Sozialisationsinstanz ist. Er erklärt auch, dass die Eltern bei ihrer Erziehungsaufgabe, wo es nötig ist, vom Staat unterstützt werden sollen. Dabei geht es um allfällige Fürsorgeunterstützung. Des weitern wird dargelegt, wie wichtig das Vorbild der Eltern ist. Leider sind aber nicht alle Eltern als 43 Vorbilder geeignet, weshalb der Staat zu vermehrtem Eingreifen berechtigt werden sollte. Die gesetzlichen Grundlagen dafür müssten aber erst noch geschaffen werden. Zum Glück existieren soziale Institutionen, die sich im Vorschulbereich engagieren. Diese sollten im Interesse der Kinder ausgebaut werden. Eine weitere wichtige Massnahme besteht darin, Mädchen auf ihre zukünftigen Aufgaben als Mutter vorzubereiten. Es wäre am besten, wenn alle Mütter ihren häuslichen Pflichten nachkommen könnten. Das heisst, dass sie keine berufliche Verpflichtungen eingehen sollten, sondern sich voll und ganz auf das "Mutter sein" konzentrieren dürften. HIESTAND zeigt auf, dass es sinnvoll wäre, das Geld, das für die Kinderbetreuung während der Arbeit der Mutter ausgegeben wird, dafür einzusetzen, dass die Mütter zu Hause bleiben könnten. Wo dies finanziell nicht möglich ist, soll der Staat eingreifen. Voraussetzung für dieses Modell ist, dass die Mütter in der Lage sind, ihre Kinder entsprechend zu erziehen. Der Referent vertritt sogar die Meinung, dass es den Müttern von Staates wegen verboten werden sollte, zu arbeiten. Die Schule muss darauf vertrauen können, dass Schüler und Schülerinnen über eine angemessene Erziehung verfügen, denn es ist nicht möglich allzu grosse Defizite in der knappen Schulzeit aufzuarbeiten. Die Kinder, die in die Schule eintreten, kommen aus verschiedenen sozialen Umfeldern. Weil die Schule den Auftrag hat, alle gleich zu behandeln und zu fördern, ist es wichtig, dass dort, wo es nötig ist, entsprechende Hilfe organisiert wird, zum Beispiel durch FürsorgeInstitutionen. Des weitern gilt es, die Gesundheit der Schulkinder zu pflegen und zu erhalten. Aus diesem Grund bestehen verschiedene Institutionen und Einrichtungen, die sich dieser Aufgabe widmen, wie zum Beispiel Schülerspeisung, Ferienkolonien, Duschanlagen. Klar ist, dass diese Massnahmen vor allem den ärmeren Kindern zugute kommen. Doch darin sieht der Referent einen wichtigen Aspekt. Es kann dadurch aufgezeigt werden, wie wichtig es ist, den Ärmeren zu helfen. Die Lehrkräfte nehmen also eine wichtige Aufgabe bei der Umsetzung sozialpädagogischer Ideen in der Schule wahr. So ist es ihre Pflicht, allfällige Unterstützungen für einzelne Familien zu organisieren: Damit der Lehrer die Fürsorge richtig ausüben und überwachen kann, darf man ihm nicht zu viele Schüler zuweisen. Wie sollte es ihm sonst möglich sein, durch Hausbesuche die Verhältnisse jedes einzelnen zu studieren und, gestützt auf seinen Beobachtungen, den Charakter des Kindes richtig zu beurteilen und es dementsprechend zu behandeln. Noch viel wesentlicher aber ist die kleine Schülerzahl für den Unterricht, wo es gilt, all den verschiedenen Nüancen [sic!] der geistigen Entwicklung Rechnung zu tragen. Um dieser Forderung, die sehr im Interesse der Gesamtheit liegt, besser gerecht werden zu können, müssen die Klassenbestände und die Forderungen der Lehrpläne noch ganz gewaltig reduziert werden. Erst wenn wir dem Lehrer Zeit und Gelegenheit schaffen, sich auch der Langsamen und Schwachen in Liebe und Geduld anzunehmen, wird sein Verhalten für die Schüler vorbildlich und 44 nachahmenswert; werden diese auch in der Schule zu gegenseitigem Helfen erzogen. (HIESTAND, 1908, S. 653f.) Weiter wird darauf hingewiesen, dass die allgemeine Schulpflicht, sowie die öffentliche Volksschule als solches, schon einen sozialen Aspekt beinhalten, da ja Kinder aus verschiedenen sozialen Schichten in der Schule zusammenkommen. Weil die Schule von allen das Gleiche fordert, entstehen keine Unterschiede. Jedes Kind lernt, dass alle gleich sind. Dort wo es nötig ist, können allfällige Fürsorge-Institutionen eingeschaltet werden, um die "Gleichheit" zu fördern. Neben der finanziellen, materiellen Hilfe bestehen auch verschiedene Institutionen, die sich um die sittlichen und erzieherischen Belange der Schüler und Schülerinnen kümmern. Es handelt sich dabei um Krippen, Kindergärten, Horte usw. HIESTAND weist auch darauf hin, dass eine angemessene Berufsausbildung zu ermöglichen ist, damit die Schulabgänger und Schulabgängerinnen ihr späteres Leben erfolgreich meistern können. In der Berufsausbildung sollen die künftigen Bürger und Bürgerinnen auch auf ihre staatsbürgerlichen Pflichten vorbereitet werden. Des weitern ist es nötig, auf die Gefahren des Alkohols hinzuweisen und über Geschlechtskrankheiten aufzuklären. Ein nächster Punkt weist darauf hin, dass sich die Schule auch um die bildungsfähigen "Anormalen" kümmern muss. Aus diesem Grund gilt es Spezial- und Förderklassen einzurichten. Die Kinder jener Klassen sollen später eine Berufslehre durchlaufen, damit sie sich als Hilfsarbeiter ihren Lebenserwerb sichern können. Es geht aber nicht nur darum, körperlich "Anormale" zu fördern, auch sittlich verkommene Kinder sollen in Spezial- und Förderklassen zusammengefasst werden. Damit dies gelingt, sollte der Staat für die Schulung der "anormalen" Kinder minderbemittelter Familien aufkommen. Dadurch könnten viele "Anormale" in entsprechende Spezialklassen eintreten. Die Volksschule wäre dann effektiv eine Volksschule für alle Kinder. Das Engagement für die "Anormalen" soll jedoch nicht auf Kosten der normalen Schüler und Schülerinnen geschehen. Vielmehr müssten auch diese eine angemessene Förderung erhalten. So soll es zum Beispiel minderbemittelten Jugendlichen mit Hilfe von Stipendien ermöglicht werden, zu studieren. Diese könnten dann, nach ihrem Studium, wiederum sozialerzieherisch auf das Volk einwirken. Nach der "äusserlichen Betrachtung" der sozialpädagogischen Aufgaben der Volksschule folgen einige Gedanken über den Unterricht. Dabei weist HIESTAND darauf hin, dass der Unterricht ein Abbild des wirklichen Lebens darstellt, denn gute Arbeit und entsprechendes Verhalten werden belohnt. Trotz Konkurrenzkampf stellen die Schüler und Schülerinnen fest, dass sie aufeinander angewiesen sind. Zu Beginn der Schulzeit ist es wichtig, die Kinder, vor 45 allem die Einzelkinder, zu gemeinschaftlichem Verhalten zu erziehen. Aus diesem Grund soll das Freundschaftsleben innerhalb der Schulklasse gefördert werden. Am besten ist es, wenn Kinder, die charakterlich schwach sind, mit Kindern zusammen sind, die bereits über einen gefestigten Charakter verfügen. Dadurch kann das schwache Kind vom stärkeren profitieren. Auch soll die moralische Belehrung mit Hilfe realer Begebenheiten stattfinden. Beispiel dafür bietet die Selbstverwaltung innerhalb der Schulklasse. Im Hinblick auf diesen Bereich der Erziehung sind die Landerziehungsheime der Volksschule überlegen, denn dort findet ein Zusammenleben auch ausserhalb der Unterrichtszeit statt. Um den vorgestellten Unterricht überhaupt durchführen zu können, müssen die Lehrkräfte von den Ideen überzeugt sein und sie auch persönlich vorleben. Aus diesem Grund ist es unabdingbar, dass die Lehrpersonen über sozialpädagogisches Wissen verfügen, das sie auch entsprechend anwenden. HIESTAND vertritt die Ansicht, dass zuerst die Grundbedürfnisse der Kinder befriedigt werden müssen. Dabei ist es unumgänglich, die körperliche, geistige und häusliche Situation zu erheben. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse kann dann die Lehrkraft entsprechende Massnahmen ergreifen, um jedem einzelnen Kind gerecht zu werden. Diese individuelle Förderung findet auch heute noch statt. Es wäre deshalb interessant zu erfahren, inwiefern es sich im vorgestellten Referat um eine theoretische Erörterung handelte oder inwieweit man auch bereit war, die Ideen wirklich umzusetzen. Zudem finden sich Aussagen über Fördermassnahmen, die damals anscheinend noch nicht vorhanden waren. So ist es für uns selbstverständlich, Kinder mit körperlichen oder anderen Problemen zu unterstützen. Heutzutage geht es nicht mehr darum, ob etwas unternommen wird, sondern darum, ob eine Integration oder eine Separation der (lern)behinderten Kinder anzustreben sei. Inzwischen existieren auch gesetzliche Grundlagen, die es erlauben, in eine Familie einzugreifen, um das Umfeld der Kinder zu optimieren. Im Bereich der Berufsbildung fanden klare Verbesserungen statt. Der Folgerung HIESTANDS, dass die öffentliche Volksschule und der Unterricht als solches schon sozialpädagogisch wirken, ist heute nicht mehr bedenkenlos zuzustimmen. Zur damaligen Zeit schien es zwar so gewesen zu sein, dass im Einzugsgebiet eines Schulhauses verschiedene soziale Schichten anzutreffen waren. Heute ist dies aber eher selten der Fall. Des weiteren erwähnt der Referent den Unterricht. Diesen sieht er als Abbild des wirklichen Lebens. Heute wird oft das Gegenteil behauptet. Ein Kritikpunkt am derzeitigen Bildungswesen liegt darin, dass die Schule einen Schonraum darstelle und nicht auf das 46 wirkliche Leben vorbereite - ein Vorwurf, der auch von den Vertretern und Vertreterinnen der Schulsozialarbeit zu hören ist. Ein letzter Punkt betrifft die Frage nach der Vernetzung der Schule mit den verschiedenen sozialen Institutionen. Im Referat wird gesagt, dass ein guter Kontakt zwischen der Schule und den entsprechenden Fürsorgeeinrichtungen, die sich um die Schulkinder bemühen, besteht. Ziel sollte es aber sein, dass sich die Schule auch mit sozialen Institutionen auseinandersetzt, die sich mit den Vorschulkindern befassen und auch mit Institutionen, die sich um soziale Aspekte nach der Beendigung der offiziellen Schulpflicht kümmern. Interessant ist, dass vor allem die Schulbehörden diesen Kontakt pflegen sollten und nicht die Lehrkräfte. Hier scheint mir ein gewisser Widerspruch zu bestehen, denn HIESTAND fordert gleichzeitig eine sozialpädagogische Bildung für die Lehrkräfte. Es scheint so, dass früher eine Vernetzung zu Fürsorgeeinrichtungen bestand, die sich vor allem um die Schulkinder kümmerten. Heute ist diese Vernetzung kaum mehr vorhanden. Dies rührt wohl daher, dass die Probleme der Hygiene und der Armut immer mehr verschwanden und die entsprechenden Fürsorgeeinrichtungen je länger je mehr überflüssig wurden. Heute stellt man fest, dass wieder eine bessere Vernetzung anzustreben ist. Um dies zu erreichen, wird aber nicht mehr ausschliesslich auf die Schule (Schulbehörde und Lehrkräfte) zurückgegriffen, sondern es geht darum, Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen in die Schule zu integrieren, um die Vernetzung mit den sozialen Einrichtungen zu verbessern. Meiner Meinung nach ist dieser Vortrag auch heute noch recht zutreffend. Zwar fanden gesetzliche Verbesserungen statt, und die Förderung der schwächeren Kinder hat sich etabliert. Doch viele Forderungen sind heute wieder aktuell. Eine Ausnahme bildet der Unterricht; denn dieser wird von HIESTAND als ein Abbild des wirklichen Lebens gesehen, was in der heutigen Schuldiskussion aber nicht mehr uneingeschränkt vertreten wird. Internationale Tagungen: Im weiteren werden Berichte von verschiedenen internationalen Tagungen und Konferenzen vorgestellt. Daraus wird ersichtlich, dass ein reger Kontakt zu den Nachbarländern bestanden hat. In bezug auf Deutschland belegt dies folgende Textstelle: "Die deutsche und die schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege sind zur gleichen Zeit gegründet worden. Sie haben die Vereinbarung getroffen, gegenseitig die Vereinsorgane und sonstige Drucksachen auszutauschen und sich gegenseitig an den Versammlungen zu besuchen" (WETTERWALD, 1910, S. 371). 47 Nach diesem Einblick in die ersten zehn Jahre der Schweizerischen Gesellschaft für Schulgesundheitspflege werden nun nur noch einzelne Ereignisse vorgestellt. Es wird darauf verzichtet, die Inhalte der weiteren Jahrbücher vorzustellen. Im Grossen und Ganzen bleiben sich die Themen gleich. Schweizerische Jugendfürsorgewoche: Im Sommer 1914 wird in Bern eine schweizerische Jugendfürsorgewoche durchgeführt. Im Zentrum steht dabei eine Bestandesaufnahme der Jugendfürsorge in der Schweiz und deren Perspektiven. Den einzelnen Tagen sind bestimmte Themen zugeordnet und somit präsentiert sich ein systematisiertes Programm: "Montag: Allgemeiner Kinderschutz Dienstag: Die vorschulpflichtige Jugend Mittwoch: Die schulpflichtige Jugend Donnerstag: Allgemeine Erziehungs- und Jugendfürsorgefragen Freitag: Die nachschulpflichtige Jugend Samstag: Fürsorge für Anormale" (J AHRBUCH DER S CHWEIZERISCHEN G ESELLSCHAFT FÜR S CHULGESUNDHEITSPFLEGE, 1915, S. 54) Ein besonderer Blick soll nun auf die Ausführungen zum schulpflichtigen Alter geworfen werden. In einem Referat über die sozialpädagogischen Aufgaben der Volksschule finden sich verschiedene Aussagen. In bezug auf Schulsozialarbeit sind vor allem die letzten beiden Thesen von Interesse. Diese lauten: 6. Die Hauptbedingung für die Erfüllung der sozialpädagogischen Aufgaben der Volksschule ist eine tiefgreifende, sozialpädagogische Bildung des Lehrers. 7. Die Volksschule kann ihre hohe Mission, die ganze Volksgemeinschaft auf eine höhere Stufe der Kultur zu heben, nur erfüllen, wenn sie auch den sozialpädagogischen Aufgaben in jeder Hinsicht gerecht werden vermag. (JAHRBUCH DER S CHWEIZERISCHEN GESELLSCHAFT FÜR S CHULGESUNDHEITSPFLEGE, 1915, S. 75) Ein weiteres Referat handelt von der staatlichen und kommunalen Jugendfürsorge, ihrer Organisation und ihrem Verhältnis zur privaten Wohltätigkeit. Zuerst werden die eidgenössischen Grundlagen im Bereich Jugendfürsorge dargelegt. Zentral sind dabei die Bundesverfassung, das Fabrikgesetz von 1877, sowie das Bundesgesetz in bezug auf die Unterstützung der öffentlichen Primarschule von 1903. Trotz dieser gesetzlichen Grundlagen verfügt der Bund praktisch über keine Möglichkeiten, sich stark für die Jugendfürsorge 48 einzusetzen. Diese Aufgabe fällt vielmehr den einzelnen Kantonen zu. Der Bund kann sie dabei lediglich finanziell unterstützen. Auf kantonaler Ebene lassen sich verschiedene Modelle der Jugendfürsorge finden. Letztlich bleibt das Fazit, dass sich das öffentliche Sozialwesen nur in einzelnen Bereichen für die Heranwachsenden engagiert, dass es aber Bestrebungen gibt, dieses Defizit zu beheben, unter anderem mit Hilfe der Zentralisierung. Die private Wohltätigkeit hingegen hat sich bereits in allen Bereichen der Jugendfürsorge etabliert (vgl. J AHRBUCH DER S CHWEIZERISCHEN GESELLSCHAFT FÜR SCHULGESUNDHEITSPFLEGE, 1915, S. 124f.). Anscheinend wurden während der Jugendfürsorgewoche teilweise die gleichen Vorträge gehalten, wie schon im 1. Informationskurs über Jugendfürsorge. Zürcher Kurs für Jugendhilfe: 1922 fand der erste Zürcher Kurs für Jugendhilfe statt. Das Thema war dabei die Hilfe für den Säugling und das Kleinkind. Zwei Jahre später folgte der zweite Kurs über die schulentlassene Jugend. Der dritte Kurs von 1927, der in unserem Zusammenhang nähere Betrachtung verdient, befasste sich mit der Hilfe für die schulpflichtige Jugend. Im Vorwort des Kursberichtes, in der Schweizerischen Zeitschrift für Gesundheitspflege und Archiv für Sozialfürsorge (1927), wird mit Bedauern festgestellt, dass leider nur wenige Lehrkräfte und Schulbehördemitglieder den dritten Jugendfürsorgekurs besuchten. Der Inhalt dieser einwöchigen Veranstaltung kann mit folgenden Schlagworten umschrieben werden: - Informationen über die körperlichen, geistigen und seelischen Eigenarten des Schulkindes - Schulärzte und Schulzahnärzte - Massnahmen gegen die gesundheitliche Gefährdung der schulpflichtigen Kinder - Massnahmen gegen die sittliche Gefährdung der Jugend im schulpflichtigen Alter - Berufsberatung und Berufswahlvorbereitung - Hilfe für Kinder, die dem ordentlichen Unterricht nicht zu folgen vermögen - Schlussfolgerungen (vgl. SCHWEIZERISCHE ZEITSCHRIFT FÜR GESUNDHEITSPFLEGE UND ARCHIV FÜR SOZIALFÜRSORGE, 1927, S. 465f.). Im Referat über "Massnahmen gegen die gesundheitliche Gefährdung der Jugend im schulpflichtigen Alter" werden zuerst die Hauptursachen der gesundheitlichen Gefährdung aufgelistet: ...die unbefriedigenden Wohn- und Schlafverhältnisse und die damit zusammenhängende Zerrüttung des Familienlebens, die hohen Mietzinsen und Lebenskosten, unzureichender Verdienst des 49 Familienvorstandes, Erwerbstätigkeit oder ungenügende hauswirtschaftliche Befähigung der Frau und infolgedessen mangelhafte Beaufsichtigung und knappe oder unzweckmässige Ernährung. Auch der Schulbetrieb bedingt bei einzelnen zarten Kindern geistige und körperliche Überanstrengung. Oft besteht auch zwischen den Anforderungen und der Leistungsfähigkeit ein Missverhältnis, das zu gesundheitlichen Störungen führt; auch die physische und psychische Ansteckungsgefahr der Gasse wird erwähnt. (SCHWEIZERISCHE Z EITSCHRIFT FÜR GESUNDHEITSPFLEGE UND ARCHIV FÜR SOZIALFÜRSORGE, 1927, S. 561) Zusammengefasst kann festgehalten werden, dass in der Bevölkerung grosse wirtschaftliche und soziale Notstände vorhanden waren, die sich negativ auf die Gesundheit der Kinder auswirkten. Im Anschluss an diese Ausführungen wird aufgezeigt, wie die Bekämpfung dieser Notstände erfolgen sollte. Dabei wird auf die Schulgesundheitspflege, die eidgenössischen Baubestimmungen und die Schulärzte eingegangen. Diese könnten gemeinsam gegen die beschriebenen Missstände vorgehen. Das Referat unterscheidet weiter zwischen örtlicher Fürsorge, bei der das Kind in der Familie bleibt und der Versandfürsorge, bei der das Kind aus der Familie genommen wird. Im Anschluss an diese Aufteilung folgen die Beschreibungen verschiedener sozialer Einrichtungen. Es handelt sich um: Schülerspeisung, Waldschulen, Erholungsfürsorge (zum Beispiel Ferienkolonien) und das Kinderfürsorgeamt Zürich. Anschliessend wird darauf hingewiesen, dass die Lehrkräfte innerhalb der Fürsorge eine wichtige Aufgabe zu erfüllen haben. So ist es sinnvoll, dass sie ihre Schüler und Schülerinnen gut beobachten und zum Beispiel bei allfälligen gesundheitlichen Problemen die Eltern oder sogar den Schularzt informieren. Diese Art von Schülerhilfe erhält dadurch eine Vermittlerrolle zwischen Schule und Elternhaus. Zusätzlich sollten die Lehrkräfte auch im Unterricht Gesundheitsförderung betreiben (vgl. SCHWEIZERISCHE ZEITSCHRIFT FÜR G ESUNDHEITSPFLEGE UND A RCHIV FÜR SOZIALFÜRSORGE, 1927, S. 569). Im Vortrag über "Die Massnahmen gegen die sittliche Gefährdung der Jugend im schulpflichtigen Alter" findet sich folgende Aussage: Vielversprechend ist der Versuch des Schulkapitels durch die Gründung der Pädagogischen Vereinigung Zürcher Oberland in direkten ungezwungenen Kontakt mit den Eltern und Schulbehördenmitgliedern zu kommen. Die Vereinigung veranstaltet Elternabende, Kurse und öffentliche Vorträge, und regt die Gründung von Arbeitsgruppen an, in welchen Laien und Lehrer gemeinsam Grundprobleme der Bildung und Erziehung bearbeiten. (SCHWEIZERISCHE ZEITSCHRIFT FÜR GESUNDHEITSPFLEGE UND ARCHIV FÜR SOZIALFÜRSORGE, 1927, S. 616) Es kann festgehalten werden, dass der Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus eine grosse Bedeutung zugemessen wurde. Des weiteren finden sich auch Referate zum Hortwesen; dabei wird darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hierbei wohl um eine gute Einrichtung handelt, die aber niemals eine 50 intakte Familie ersetzen kann. Anschliessend folgt ein kurzer Abriss der Geschichte des Hortwesens. Der erste Hort wurde 1872 in Erlangen (D) gegründet. Das Hortwesen in Zürich hingegen entstand erst 1886. Man war damals der Meinung, dass es sich dabei um eine leider notwendige Ergänzung zur Schule und zum Elternhaus handelt. In der Zusammenfassung der Ergebnisse des 3. Zürcher-Kurses für Jugendhilfe finden sich weitere wichtige Informationen in bezug auf die Geschichte der Schulsozialarbeit in der Schweiz. Zuerst wird dargelegt, dass sich die Hilfe für schulpflichtige Kinder in vier Arten von Hilfen unterteilen lässt: 1. gesundheitliche Hilfe 2. erzieherische Hilfe 3. wirtschaftliche Hilfe 4. Hilfe für die anormalen Kinder Im weiteren folgen Aussagen zu den einzelnen Hilfearten. Die gesundheitliche Hilfe beruht vor allem auf der Arbeit des Schularztes, sowie der Erteilung von Gesundheitslehre durch die Lehrkräfte. In bezug auf die erzieherische Hilfe wird vor allem auf den Freizeitbereich hingewiesen. Dazu gehören das Hortwesen, die Schülerbibliotheken und die Ferienversorgungen; dabei wäre ein erweitertes Angebot wünschenswert. In bezug auf die wirtschaftliche Hilfe wird festgehalten, dass sie im Kanton Zürich gut funktioniert. Eine Ausnahme bildet dabei die finanzielle Unterstützung körperlich und geistig Behinderter. Die Hilfe für anormale Kinder beruhte auf der Einrichtung sogenannter Spezialklassen und Heilanstalten. Auch hier findet sich die Forderung nach einem erweiterten Angebot. Um diese Hilfsangebote erfolgreich zu gestalten, ist die Mitarbeit der Lehrkräfte nötig, denn diese kennen, neben den Eltern, die Kinder am besten. Deshalb können sie auch allfällige Mängel feststellen und entsprechende Hilfen anfordern. Im weiteren wird festgehalten, dass sich die neuen, jungen Lehrkräfte nicht mehr so einfach für die Anliegen der Jugendhilfe gewinnen lassen. Aus diesem Grund müssten folgende Änderungen angestrebt werden: 1. keine einseitige Auswahl der zukünftigen Lehrkräfte (nicht nur intellektuelle Fähigkeiten berücksichtigen) 2. bessere Ausbildung der Seminaristen im Gebiet der Jugendhilfe 3. Veränderung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Lehrer- und Wählerschaft (Lehrkräfte sind darauf angewiesen, dass sie wiedergewählt werden, und dürfen sich deshalb nicht unbeliebt machen.) Um das mangelnde Engagement der Lehrkräfte aufzufangen, wird folgender Vorschlag gemacht, 51 ...den Lehrern, bzw. einzelnen Schulhäusern [sind, AF] nach deutschem Vorbild sog. 'Schulpflegerinnen' zuzuteilen, die an Stelle des Lehrers Hausbesuche machen Vorsorge und Fürsorge treiben. Für Stadt und Kanton Zürich halten wir sie für überflüssig, ja sogar gefährlich. Sie würden den Lehrer einer wertvollen Tätigkeit berauben, sie würden den ohnehin ungenügenden Kontakt zwischen Eltern und Lehrern noch mehr lockern und den Lehrer erst recht zum blossen Schulmann erniedrigen. Nein, wir brauchen bei uns an erster Stelle den Lehrer und die Lehrerin als Helfer notleidender Jugend und wollen die Hoffnung auf ihre Unterstützung vorläufig noch nicht aufgeben. (SCHWEIZERISCHE ZEITSCHRIFT FÜR G ESUNDHEITSPFLEGE UND ARCHIV FÜR SOZIALFÜRSORGE, 1927, S. 702f.) Zum Schluss wird darauf verwiesen, dass eine gute Zusammenarbeit der verschiedenen Institutionen der Jugendhilfe anzustreben sei. Noch besser wäre aber die Schaffung einer einzigen Behörde, die sich ausschliesslich um die gefährdete Jugend kümmern könnte. * * * Der Einblick in die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege zeigt, dass sich diese Vereinigung durchaus um sozialpädagogische Aspekte kümmerte, welche sie zudem in der Schule umzusetzen versuchte. Klar wird dabei, dass sich die Jugendhilfe, wie sie auch damals vertreten wurde, vor allem um die physischen Grundbedürfnisse kümmerte. Erst später konnte sich die Sozialpädagogik vermehrt den psycho-sozialen Problemen zuwenden. Die Schulgesundheitspflege verstand sich als Jugendhilfe innerhalb der Schule. Es fand also Schulsozialarbeit im weiteren Sinne statt. Dabei wurde vor allem auf den Einsatz der Lehrkräfte gesetzt, die jedoch sozialpädagogischer ausgebildet werden sollten. Auf den Einsatz von Sozialarbeitern bzw. Sozialarbeiterinnen in der Schule wollte die Schweizerische Gesellschaft für Schulgesundheitspflege aber verzichten. 2.3.3 Reformpädagogik in der französischsprachigen Schweiz Um 1900 herum finden sich in der Westschweiz viele, die die bestehende Volksschule kritisieren. Als Grundlage für ihre Haltung dienen die Forschungsergebnisse aus der experimentellen Pädagogik und der Kinderpsychologie. Dazu kommt eine grosse Portion radikaler Schulkritik. Dem Kritikerkreis gehören viele namhafte Personen an, so zum Beispiel der Arzt und Psychologe EDOUARDE CLAPARÈDE (1873-1940), der Soziologe ADOLPHE FERRIÈRE (18791960), der Pädagoge ROBERT DOTTRENS (1893-1984) und der Psychologe JEAN PIAGET (1896-1980). 52 Im folgenden werden die drei erstgenannten Personen und ihre Schulideen vorgestellt. Dadurch soll ein kurzer Einblick in das Gedankengut der Genfer Reformpädagogen gewonnen werden. EDOUARDE CLAPARÈDE (1873-1940) CLAPARÈDE vertritt eine sogenannte "éducation fonctionelle". Es geht ihm dabei darum, dass die Zusammenhänge im Innern der Schüler und Schülerinnen in ihrer Gesamtheit betrachtet werden und dass das Verhältnis zwischen der Psyche und Persönlichkeit der Kinder wichtig ist. Die Heranwachsenden sollen in ihrer Ganzheit erfasst und gefördert werden. Mit anderen Worten: "Erziehung versucht demnach, geistige Prozesse des Kindes in Beziehung zu seinem Leben zu bringen" (GRUNDER, 1986, S. 11). Aus dieser Bestimmung heraus ist es klar, dass sich eine funktionelle Didaktik an den Schülern und Schülerinnen orientieren muss. Es entsteht also eine "Didaktik vom Kinde aus". Die Forderung lautet: "Eine aktive Schule, eine das Kind mobilisierende Schule - wie die Genfer oft sagen -, ein 'Laboratorium' oder eine 'spielerische Schule' (l`école jeu) sollen deshalb die traditionellen ersetzten" (GRUNDER, 1986, S. 12). Logische Folge ist, dass sich die Lehrkräfte neu als Lernbegleiter bzw. als Bereitsteller von Lernmöglichkeiten zu betrachten haben. Des weiteren stellt sich CLAPARÈDE vor, dass innerhalb des Schulbetriebes Wahlfächer angeboten werden, damit eine bessere individuelle Förderung der einzelnen Schüler und Schülerinnen erfolgen kann. Die Schule soll eine Schule fürs Leben sein, ein Gedanke, der bei allen reformpädagogischen Ansätzen zu finden ist. ADOLPHE FERRIÈRE (1879-1960) FERRIÈRE gilt als vehementer Vertreter der "école nouvelle". Dies rührt daher, dass er selbst einige Zeit in einem Landerziehungsheim arbeitete. Dabei konnte er seine Vorstellungen über die neue Schule erproben. Auch nach der Arbeit im Landerziehungsheim befasst er sich weiterhin mit dieser Bewegung. Nach und nach entwickelt er sich zum Kenner der Landerziehungsheime (Ecoles nouvelles à la campagne). Gestützt auf seine Kenntnisse gründet er 1899 das B.I.E.N (Bureau International des Ecoles Nouvelles). Dieses Büro ist ein Ein-Mann-Betrieb. Sein Engagement für die "école nouvelle" führt später dazu, dass er 1921 Gründungsmitglied des "Weltbundes zur Erneuerung der Erziehung" wird. Ein Jahr später übernimmt er zusätzlich die Redaktion der Zeitschrift "Pour l`Ere Nouvelle", die vom Weltbund 53 herausgegeben wird. FERRIÈRE ist massgeblich daran beteiligt, dass ein internationaler Dialog zwischen Schulleitern, Wissenschaftlern und Pädagogen entsteht. Zusammengefasst kann man festhalten: "Neben dem Respekt, den sich Ferrière als Anreger zahlreicher Schulversuche in Frankreich erworben hat, kann der Genfer Pädagoge als der integrierende Betrachter pädagogischer Initiativen des frühen 20. Jahrhunderts gelten" (GRUNDER, 1986, S. 13f.). Welche Vorstellung von Schule besitzt FERRIÈRE ? Für ihn ist Schule eine "école active" (Tatschule). Diese beruht auf einem kinderzentrierten Unterricht. Dabei ist der Durst nach Wissen und die Neugier der Schüler und Schülerinnen der zentrale Motor des Lernens. Die Lehrkräfte müssen deshalb die Interessen ihrer Kinder kennen, damit sie diese fördern und unterstützten können. FERRIÈRE geht es letztlich darum, "die Interessen des Schülers mit den objektiven Gehalten und Anforderungen des Lebens zu verbinden. Aus dieser Verknüpfung erst ergibt sich der Lehrplan" (GRUNDER, 1986, S. 15). Die Didaktik von FERRIÈRE zielt auf die Selbständigkeit der Schüler und Schülerinnen ab. Dabei ist es wichtig, dass jeder seine eigenen Entscheidungen fällen kann. Gleichzeitig muss aber auch darauf geachtet werden, dass die individuellen Entscheidungen nicht die angemessene Teilnahme an der Gesellschaft verhindern. ROBERT DOTTRENS (1893-1984) D OTTRENS befasst sich intensiv mit der inneren Differenzierung. Aus diesem Grund unterstützt er eine schülergerechte Didaktik. Seine Vorstellungen über Schüler und Schülerinnen können mit folgendem Satz zusammengefasst werden: "Der junge Mensch ist ein zur Selbständigkeit fähiges Wesen, das interessengeleitet handelt" (GRUNDER , 1986, S. 17). Als Ziele einer neuen Erziehung sieht DOTTRENS folgende Punkte: a) jeder einzelne kann sich in der Demokratie entwickeln b) die Gesellschaft muss sich verändern c) um im Staat bestehen zu können, benötigt man eine Persönlichkeit (vgl. GRUNDER, 1986, S. 17f.). Um diese Ziele in der Schule umzusetzen, müssen die Koedukation und die Differenzierung eingeführt werden. Institut Jean-Jacques Rousseau Interessant ist, dass sich die vorgestellten Personen auch für die praktische Umsetzung ihrer Ideen einsetzten. Eine Folge davon war die Gründung des "Institut Jean-Jacques Rousseau" 54 im Jahre 1912, welches sich der wissenschaftlichen Forschung im Bereich der Erziehung verschrieb. CLAPARÈDE und FERRIÈRE waren Mitbegründer dieser Einrichtung und lehrten auch dort. DOTTRENS leitete mehrere Jahre lange eine der Übungsschulen des Instituts. Auch PIAGET lehrte an dieser Forschungsanstalt und wurde später dessen Vizedirektor. Um die gewonnen Erkenntnisse verbreiten zu können, bildet das "Institut Jean-Jacques Rousseau" Lehrkräfte aus. Diese anfänglich private Bildungseinrichtung, wurde kurzzeitig der Universität Genf angegliedert, wobei es aber seine administrative Unabhängigkeit behielt. Später erlangte das Institut wieder seine Selbständigkeit. Fazit: Das "Institut Jean-Jacques Rousseau" leistete einen wesentlichen Beitrag bei der Einführung und Umsetzung reformpädagogischer Gedanken und Ideen in der Westschweiz. Das Genfer Institut, als Promotor der neuen pädagogischen Techniken gedacht, führt Versuchsschulen ('Maison des Petits', 'Ecole du Mail', 'Maison des Grands'), forscht (PIAGET, INHELDER, DESCOEUDRES), arbeitet als Informationszentrum (Sammlung, Bibliothek, Publikationen), entwickelt Tests ... und informiert über die Bestrebungen der 'école active' und der 'éducation nouvelle' (Kongresse, Vortragsreisen seiner Mitarbeiter). Insofern ist es als ganze Institution eine Stätte der neuen Erziehung in der Romandie. (GRUNDER, 1986, S. 23) * * * Die Vorstellungen der Reformpädagogen gehen davon aus, dass das Kind ein selbständiges, aktives Subjekt darstellt. Es gilt deshalb die Kinder ernstzunehmen. Sie sollen von der Schule individuell gefördert werden. Ziel ist es aber auch, dass sich die entwickelnden Persönlichkeiten in die Gesellschaft einbringen können. Diese Gedanken ähneln stark den Vorstellungen der Sozialpädagogik. Auch dort geht es darum, dass jeder Mensch sich selbständig entwickeln kann, wobei aber gewährleistet sein muss, dass sich das Individuum in die Gesellschaft integriert. Falls dies nicht geschieht, tritt die Sozialpädagogik in Aktion. Die reformpädagogische Bewegung in der Westschweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts muss als Vorläufer der heutigen Schulsozialarbeit gesehen werden. Dies wird auch dadurch belegt, dass aus den Ansätzen der Reformpädagogik (1927 bis 1962) der "Cycle d`Orientation" in Genf entstand (vgl. FRANÇOIS / SCHWED 1975). In dieser Orientierungsstufe wurden 1966 erstmals Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen für die Schule angestellt (vgl. MUNSCH, 1998, S. 12). Es entstand Schulsozialarbeit im engeren Sinne. 55 2.3.4 Vergleich der Geschichte der Schulsozialarbeit in der Schweiz mit der Entwicklung der Schulsozialarbeit in Deutschland Im Kapitel 1.3 wurde darauf hingewiesen, dass die Verhältnisse in Deutschland nicht mit denen in der Schweiz gleichgesetzt werden können. Inwieweit diese These haltbar ist, soll nun zum Abschluss dieses ersten Teiles angeschnitten werden. Zur Entwicklung der Schulsozialarbeit in der Schweiz und der Entwicklung in Deutschland lassen sich Belege finden, die auf einen grenzüberschreitenden, regen Austausch schliessen lassen (siehe oben, S. 47). Es wird aber auch klar, dass die Schweiz in ihren Bestrebungen nach einer sozialpädagogisch ausgerichteten Schule stärker auf die Lehrkräfte setzte. Dadurch wurde die Anstellung von sogenannten "Schulpflegerinnen" hinfällig, beziehungsweise als unnötig abgelehnt (siehe oben, S. 52.), womit ein klarer Unterschied zur Praxis in Deutschland festzustellen ist (vgl. GROSSMANN, 1987, S. 47ff.). Auf strukturelle Unterschiede wurde bereits im Kapitel 1.3 hingewiesen. TEIL III: THEORETISCHE ASPEKTE 3.1 EINLEITUNG Dieser Teil widmet sich der Frage, inwieweit eine theoretische Grundlage der Schulsozialarbeit besteht. Nach einer Begriffsklärung wird zuerst auf die Situation in der Schweiz eingegangen, indem Evaluationsberichte von einzelnen Schulsozialarbeitsprojekten daraufhin untersucht werden, inwieweit sich darin Aussagen über eine zugrundeliegende Schulsozialarbeitstheorie finden lassen. In einem weiteren Schritt erfolgt eine Zusammenstellung von theoretischen Aspekten und Ansätzen, die in der Grundlagenliteratur enthalten sind. Diese werden anschliessend kommentiert. Den Abschluss bilden eigene Überlegungen über eine mögliche Theorie der Schulsozialarbeit. 56 3.2 BEGRIFF THEORIE Bei der Klärung des Ausdrucks "Theorie" stellt sich heraus, dass der Begriff sowohl ausserwissenschaftlich, als auch philosophisch, einzelwissenschaftlich oder wissenschaftstheoretisch (vgl. MITTELSTRASS, 1996, S. 260-270) Verwendung findet. Trotz der Schwierigkeit, dass kein einheitlicher Fachausdruck besteht, lässt sich eine allgemeine Definition feststellen. Sie lautet: ... in der neuzeitlichen Grundbedeutung Bezeichnung für ein (im allgemeinen hochkomplexes) sprachliches Gebilde, das in propositionaler oder begrifflicher Form die Phänomene eines Sachbereiches ordnet und die wesentlichen Eigenschaften der ihm zugehörigen Gegenstände und deren Beziehungen untereinander zu beschreiben, allgemeine Gesetze für sie herzuleiten sowie Prognosen über das Auftreten bestimmter Phänomene innerhalb des Bereiches aufzustellen ermöglicht. (MITTELSTRASS, 1996, S. 260) Mit anderen Worten muss eine Theorie Phänomene ordnen, allgemeine Gesetze dazu aufstellen und Prognosen ermöglichen. Die Sozialpädagogen H ANS T HIERSCH und THOMAS RAUSCHENBACH führen in einem Handbuchartikel (THIERSCH / RA U S C H E N B A C H, 1987) aus, was sie unter einer sozialpädagogischen Theorie verstehen: Theorie der SP/SA fragt - nach der gesellschaftlichen Funktion, wie sie sich in konkreten Problemlagen, Institutionen und Handlungsformen und im Verbund unterschiedlicher institutioneller Möglichkeiten äussert; - nach eigenen Arbeitsansätzen, wie sie sich in den vielfältigen Institutionen und Handlungsmustern darstellen und wie sie nur im Kontext der modernen Sozial- und Verhaltenswissenschaften rekonstruiert und analysiert werden können, - fragt nach den Lebensperspektiven von Adressaten, wie sie sich jenseits und vor dem sozialpädagogischen-institutionalisierten Zugriff für die Betroffenen darstellen, nach deren gegebenen Lebenslagen. (THIERSCH / RAUSCHENBACH, 1987, S. 986) Hier geht es also darum, die erkannten Phänomene einer gesellschaftlichen Funktion zuzuordnen. Des weiteren muss eine Theorie spezifische Methoden und Vorgehensweisen entwickeln. Und zuletzt gehört immer auch die Berücksichtigung der Lebensperspektive der Klientel dazu. Wenn man diese beiden Theoriedefinitionen miteinander vergleicht, stellt man fest, dass sie sich letztlich recht ähnlich sind. Die allgemeine Definition spricht davon, Phänomene zu ordnen was im Bereich der Sozialpädagogik auf die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion verweist. Die Suche nach allgemeinen Gesetzen ist teilweise in der Beschreibung der gesellschaftlichen Funktion enthalten und führt zur Frage nach spezifischen Methoden für die Praxis. Die Prognosefähigkeit findet sich ein Stück weit in der Berücksichtigung der 57 Lebenslage der Klientel wieder, denn dies ist auch im Hinblick auf die Zukunft des einzelnen Klienten bzw. der einzelnen Klientin zu bedenken. Mit Hilfe dieser sehr ähnlichen Theoriedefinitionen ist es nun möglich, Dokumente zur Schulsozialarbeit in Hinblick auf theoretische Aspekte zu durchleuchten. 3.3 ANALYSE VERSCHIEDENER SCHWEIZERISCHER PROJEKTE DER SCHULSOZIALARBEIT Im folgenden werden drei Projekte im Bereich Schulsozialarbeit in der Schweiz daraufhin untersucht, inwieweit sich Angaben über eine theoretische Fundierung finden lassen. Die Untersuchung stützt sich auf die entsprechenden Projektbeschreibungen und Evaluationsberichte ab. Ein Auswahlkriterium besteht darin, dass die Projekte über eine gute und auch aktuelle Dokumentation verfügen, damit eine sinnvolle Analyse überhaupt möglich ist. Dabei kann aber nicht der Anspruch erhoben werden, dass die jeweiligen Projektdokumentationen vollständig sind. Ein weiteres Kriterium verlangt, dass sich die ausgewählten Projekte in verschiedenen Phasen der Umsetzung befinden. Als erstes erfolgt die Betrachtung des Projektes "Schulsozialarbeit an der Weiterbildungsschule der Stadt Basel" (3.3.1). Diese Wahl beruht darauf, dass gerade kürzlich der Evaluationsbericht mit einem Rahmenkonzept zur Schulsozialarbeit erschienen ist; die Projektphase ist somit abgeschlossen. Als zweites wird das Schulsozialarbeitsprojekt an der Oberstufe der Gemeinde Volketswil ZH (3.3.2) unter die Lupe genommen, das sich im dritten und somit letzten Versuchsjahr befindet. Das letzte Projekt stammt aus der Gemeinde Wetzikon ZH. Hier handelt es sich um eine Abklärung über die mögliche Einführung eines Schulsozialarbeitskonzeptes an der Oberstufe. 3.3.1 Schulsozialarbeit an der Weiterbildungsschule (WBS) der Stadt Basel Der Kanton Basel Stadt richtete im Jahre 1997 eine Weiterbildungsschule ein, die das 8. und 9. Schuljahr umfasst. Gleichzeitig startete an der neuen Schule ein Schulsozialarbeitsprojekt. Zu Beginn waren zwei Sozialarbeiter und eine Sozialarbeiterin angestellt. 1998 wurde das Team um eine Stelle erweitert. Die vier Personen haben den Auftrag, in den sechs Weiterbildungsschulhäusern Schulsozialarbeit zu leisten. Im Zusammenhang mit dem 58 Pilotprojekt wurde unter anderem ein Evaluationsteam damit beauftragt, den Versuch zu begleiten und auszuwerten. Der Schlussbericht enthält neben den Ergebnissen der Evaluation auch ein Rahmenkonzept für die Schulsozialarbeit. Der Verfasser und die Verfasserin dieses Konzeptes sehen dafür folgenden Verwendungszweck: "[Das Rahmenkonzept, AF] ...soll als Grundlage aller weiteren schulsozialarbeiterischen Tätigkeit sowie als Orientierung für alle an der Schulsozialarbeit interessierten Personen dienen" (DRILLING / STÄGER, 2000, S. 117). Daraus kann geschlossen werden, dass das Rahmenkonzept den Anspruch erhebt, eine generelle Grundlage zu bilden und somit einer Theorie der Schulsozialarbeit recht nahe kommt. Im Inhaltsverzeichnis des Rahmenkonzeptes finden sich folgende Punkte: Begriffsklärung, Grundsätze schulsozialarbeiterischer Tätigkeit, Aufgabenfelder, Zielgruppe und Zielsetzung, Tätigkeitsbeschreibung, ausgewählte Methoden, Formen der Zusammenarbeit, Organisation und Datengrundlage des Rahmenkonzeptes (vgl. DRILLING / STÄGER, 2000, S. 114f.). Betrachtet man das Konzept nun im Hinblick auf theoretische Grundlagen, fällt auf, dass spezifische Methoden einen wesentlichen Bestandteil bilden. Auf die Ordnung der Phänomene bzw. deren gesellschaftliche Funktionen wird nur am Anfang kurz und sehr oberflächlich eingegangen. So findet man zum Beispiel folgende Textstelle: "Hier setzt die Schulsozialarbeit an: Auf den Grundlagen sozialarbeiterischer und sozialpädagogischer Methoden sollen Schülerinnen und Schüler und ihren Bezugspersonen niederschwellige Beratungs-, Begleitungs- und Interventionsangebote zur Verfügung gestellt werden. Dadurch sollen die Marginalisierung und Aussonderung gefährdeter Jugendlicher (und ihre Überweisung an Instanzen der Jugendhilfe) aufgefangen werden (Hervorhebung AF)" (DRILLING / STÄGER, 2000, S. 117). Eine genauere Begründung oder auch gezieltere Zuordnung von Phänomenen erfolgt nicht. Bei den Grundsätzen schulsozialarbeiterischer Tätigkeit stösst man auf weitere Aussagen, wie zum Beispiel: "...Ziel, die Schule gegenüber ihrem sozialen Umfeld zu öffnen, also den Lern- und Leistungsort Schule um den Lebensund Erfahrungsraum Schule zu erweitern" (DRILLING / STÄGER, 2000, S. 118). Wie bereits angesprochen, nehmen die Ausführungen zu den Methoden viel Platz ein. So werden die Einzelfallhilfe, die Gruppenarbeit und die Gemeinwesenarbeit zur Grundlage erklärt (vgl. DRILLING / STÄGER, 2000, S. 119 und S. 121f.). Später folgen Darstellungen von spezifischen Methoden der Einzelfallhilfe (vgl. DRILLING / STÄGER, 2000, S. 126ff.). In bezug auf Prognosen finden sich praktisch keine Ausführungen. Das geschieht am ehesten noch bei der Darstellung eines Ablaufschemas über die Dienstleistungen der Schulsozialarbeit (D RILLING / STÄGER, 2000, S. 138). * * * 59 Das Rahmenkonzept beinhaltet vor allem eine Auflistung von Methoden sowie Gedanken zur Organisation von Schulsozialarbeit. Leider fehlen Ausführungen über die gesellschaftlichen Zusammenhänge bzw. eine Ordnung der Phänomene. Deswegen erlaubt das Konzept praktisch keine Prognosen. Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Autor und die Autorin nicht den Anspruch erheben, eine Theorie der Schulsozialarbeit vorzustellen, sondern nur eine Grundlage. Dem Rahmenkonzept kann im Hinblick auf theoretische Aspekte folgende interessante Aussage entnommen werden: "Schulsozialarbeit arbeitet handlungsorientiert unter Berücksichtigung des systemischen Ansatzes" (DRILLING / STÄGER, 2000, S. 123). Diese Aussage lässt den Schluss zu, dass dem Konzept eine Theorie zugrunde liegt und zwar eine systemtheoretische. Um diese Annahme zu überprüfen, folgt ein Exkurs über das Buch "Systemische Sozialarbeit" (1995) von PETER LÜSSI, Dozent an der Fachhochschule Bern, das im Rahmenkonzept als Referenz angegeben ist. 3.3.1.1 Systemische Sozialarbeit (nach P. LÜSSI) Im folgenden Kapitel geht es nicht darum, die Ausführungen von LÜSSI zu diskutieren. Mein Interesse gilt viel mehr der Frage, inwieweit es sich beim Ansatz der Systemischen Sozialarbeit um eine Theorie (vgl. 3.2) handelt. Der von LÜSSI vertretene Ansatz beruht auf der Systemtheorie, die sich als Erkenntnistheorie versteht. Die Grundlage dafür bildet die Annahme, dass sich die Welt auf Systeme zurückführen lässt. Es wird davon ausgegangen, dass verschiedene Elemente, zum Beispiel Menschen, in einer Beziehung zueinander stehen. Dadurch bilden sich geschlossene Systeme; das heisst, dass keine Einwirkungen von aussen vorhanden sind, die das System beeinflussen. Im Bereich der Sozialwissenschaften wird aber davon ausgegangen, dass offene Systeme existieren; das heisst, dass das "geschlossene" System auch von aussen beeinflusst wird. Beim Beispiel mit den Menschen wäre dies die Umwelt. LÜSSI legt in seinem Buch die Systemtheorie der Sozialarbeit zugrunde. Es entsteht somit ein neuer theoretischer Ansatz der Sozialen Arbeit: Die Systemische Sozialarbeit. Mit Hilfe der Systemischen Sozialarbeit ist es möglich, die entstehende Sozialarbeitslehre theoretisch zu begründen. So lassen sich unter anderem Phänomene ordnen und Beziehungen zwischen einzelnen Elementen beschreiben. In bezug auf die gesellschaftliche Funktion wird darauf verwiesen, dass grundsätzlich von einer systemischen Ordnung der Individuen und der Umwelt ausgegangen werden kann. Deshalb erlauben es die Grundgesetze der Systemtheorie, die individuellen und gesellschaftlichen Funktionen der Sozialarbeit darzulegen. 60 Des weiteren finden sich Ausführungen über die Methoden der Systemischen Sozialarbeit. So werden Beratung, Verhandlung, Intervention, Vertretung, Beschaffung und Betreuung als Handlungsarten der Sozialarbeit genannt (vgl. LÜSSI, 1995, S. 5). Die Prognosefähigkeit des Ansatzes ist dadurch gegeben, dass sich mit Hilfe der allgemeinen Beschreibungen und Gesetze der Systemtheorie Aussagen darüber machen lassen, wie ein System funktionieren sollte und wie sich Störungen auswirken. Es ist also somit möglich Prognosen darüber abzugeben, wie sich ein soziales System, mit seinen Individuen und Institutionen bei eventuellen Veränderungen verhalten wird. Grundsätzlich handelt es sich bei der Systemischen Sozialarbeit um eine Theorie. Im Rahmenkonzept von DRILLING und STÄGER (3.3.1) für die Schulsozialarbeit fällt auf, dass die Grundlagen der Systemischen Sozialarbeit, wie sie LÜSSI vorstellt, nicht konsequent berücksichtigt werden. Das Konzept erklärt nur lückenhaft die Zusammenhänge der Schulsozialarbeit und bildet kein tragfähiges Fundament. Dabei könnte der theoretische Ansatz der Systemischen Sozialarbeit dazu dienen, eine handlungsleitende Theorie der Schulsozialarbeit zu entwickeln. 3.3.2 Schulsozialarbeitsprojekt in Volketswil ZH Bei diesem Projekt stehen mir folgende Unterlagen zur Verfügung: Projektbeschreibung (PROJEKTBESCHRIEB SCHULSOZIALARBEIT AM OBERSTUFENSCHULHAUS LINDENBÜEL, 1998), Jahresbericht 1999 und 2000 (JAHRESBERICHT PROJEKTGRUPPE UND STELLENINHABER, 1999 und 2000), Evaluationsberichte (S. MÜLLER, 1999; S. MÜLLER / STREMLOW, 2000), Expertise (E. MÜLLER, 2000). In bezug auf die Beschreibung, beziehungsweise gesellschaftliche Funktion der Schulsozialarbeit findet sich in den Unterlagen folgende Aussage: Neben der Öffnung der Schule und neuen Schulmodellen bilden Projekte im Bereich Schule und Sozialarbeit einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Schule, indem sie SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern Unterstützung in praktischen Lebens- und Erziehungsfragen geben, Hilfen vermitteln und die konstruktive und offene Auseinandersetzung über die Chancen und Risiken unserer multiethnischen Gesellschaft fördern. (PROJEKTBESCHRIEB SCHULSOZIALARBEIT AM O BERSTUFENSCHULHAUS LINDENBÜEL, 1998, S. 2) Weitere Punkte beziehen sich zum Beispiel auf die Senkung von Kosten und auf die Verbesserung der Dienstleistungen für die Schülerschaft (vgl. PROJEKTBESCHRIEB SCHULSOZIALARBEIT AM O BERSTUFENSCHULHAUS LINDENBÜEL, 1998, S. 2f.). Aber eine umfassende Zusammenstellung fehlt. 61 Die Expertise führt zusätzliche Gedanken zur gesellschaftlichen Funktion der Schulsozialarbeit an. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Schulsozialarbeit der Schule bei der Bewältigung von sozialen Problemen hilfreich zur Seite stehen soll. Um dies zu erreichen, muss die Klientel der Schulsozialarbeit, diese freiwillig in Anspruch nehmen (vgl. E. MÜLLER, 2000, S. 9). Eine eigentliche Beschreibung oder sogar Ordnung verschiedener Phänomene, deren sich die Schulsozialarbeit annehmen soll oder muss, lässt sich in keiner der durchgesehenen Unterlagen finden. Aus den Ausführungen über den Tätigkeitsbereich des Schulsozialarbeiters lassen sich verschiedene Methoden ableiten. Die Schlussevaluation enthält eine Tabelle, aus der sich folgende Methoden ablesen lassen: Fallbezogene Beratung, Projekte, Mediation, Schulentwicklung (S. MÜLLER / STREMLOW, 2000, S. 8). In bezug auf die Methoden finden sich keine weiteren Ausführungen mehr. Eine Ausnahme bildet die Frage betreffend Coaching versus kollegialer Beratung, die in der Expertise (E. MÜLLER, 2000, S. 19ff.) abgehandelt wird. Aus den Unterlagen lässt sich keine Prognosefähigkeit ableiten. Zukunftsorientierte Gedanken liefern die Texte nur darüber, wie sich die Schulsozialarbeit etablieren soll. Doch fehlen grundsätzlich prognostische Aussagen über die Auswirkungen der Arbeit. * * * Die Projektunterlagen von Volketswil enthalten keine fundierte theoretische Grundlage der Schulsozialarbeit. Vielmehr liegt das Hauptgewicht im organisatorischen und strukturellen Bereich. Schulsozialarbeit wird vor allem mit Hilfe der entsprechenden Tätigkeitsfelder vorgestellt. Dadurch erhält man zwar ein Bild von der Schulsozialarbeit. Aber eine Theorie, wie sie unter 3.2 vorgestellt wurde, lässt sich nicht erkennen. 3.3.3 Abklärung eines allfälligen Schulsozialarbeitsprojektes in Wetzikon ZH Die Sozialarbeiterinnen BRIGITTE OBRIST, ORNELLA FERRO und MARLÈNE SAXER führen in ihrer Diplomarbeit aus, welche Problemlagen sie in der Oberstufenschülerschaft von Wetzikon feststellen können. Des weiteren werden Lösungsstrategien für den Abbau der Probleme vorgestellt. Die Ergebnisse weisen auf einen Handlungsbedarf hin (vgl. OBRIST / FERRO / SAXER , 2000, S. 41). Als Resultat der Arbeit halten die Autorinnen fest, dass es sinnvoll wäre an der Oberstufe Wetzikon Schulsozialarbeit einzuführen und auch die Vernetzung von Schule und Sozialer Arbeit zu verstärken. 62 Der Theorieteil des Berichtes befasst sich mit der familiären und schulischen Lebenswelt der Jugendlichen. Bei der Suche nach einer theoretischen Begründung von Schulsozialarbeit findet man viele Ausführungen zur gesellschaftlichen Funktion von Sozialer Arbeit. Den Schwerpunkt bildet dabei die Lebenswelt der Heranwachsenden. In ihr werden die Familie und die Schule als prägendste Bereiche gesehen. Bei den Ausführungen handelt es sich um allgemeine Aussagen über Jugendliche, die für die Soziale Arbeit von Interesse sind. Als sinnvolle Methoden werden Einzelfallberatung, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit vorgeschlagen. Diese stellen die klassischen Handlungsansätze der Sozialen Arbeit dar. Die Autorinnen erweitern diese Methoden im Hinblick auf die Schulsozialarbeit. So wird der Einzelfallarbeit die Triage und Koordination zugeordnet. Sozialplanung, sowie die Netzwerkarbeit ergänzen die soziale Gruppenarbeit. Hinsichtlich der Gemeinwesensarbeit lässt sich keine Spezifizierung erkennen. Die Prognosefähigkeit ist nicht gewährleistet, denn letztlich beruht der Bericht nicht auf einer fundierten theoretischen Begründung der Schulsozialarbeit. * * * Auch im Bericht über ein Konzept für Schulsozialarbeit in Wetzikon fehlt eine theoretische Begründung. Es muss aber angemerkt werden, dass es nicht das Ziel der Autorinnen war, eine solche Theorie zu konzipieren. Trotzdem scheint es angebracht, eine Ist-Analyse der Situation der Jugendlichen, mit einem möglichen Soll-Zustand, der auf Grund theoretischer Überlegungen entstanden ist, zu vergleichen. 3.3.4 Fazit aus der Analyse der schweizerischen Schulsozialarbeitsprojekte Das abgeschlossene Projekt an der Weiterbildungsschule Basel weist die besten Ansätze für eine Theorie der Schulsozialarbeit auf. Leider werden die angesprochenen Überlegungen nicht konsequent umgesetzt oder in einen konkreten Zusammenhang gebracht. In Volketswil drehen sich die Unterlagen vor allem um Fragen nach der strukturellen Verbesserung sowie der Legitimation. Es werden nur wenige grundsätzliche Aspekte einer theoretischen Begründung formuliert. Das dritte Projekt, das abklärt, inwieweit Schulsozialarbeit an der Oberstufe in Wetzikon eingeführt werden soll, beschreibt die allgemeine Situation der Jugendlichen in der familiären und schulischen Lebenswelt. Der Bezug zu einer expliziten Theorie der Schulsozialarbeit fehlt, obwohl sie eigentlich als Grundlage für den Entscheid über die Einführung von 63 Schulsozialarbeit dienen müsste. Denn eine theoretische Fundierung ist letztlich für die Abschätzung, inwieweit aufkommende soziale Probleme wirkungsvoll bearbeitet werden können, unerlässlich. Als Fazit bleibt, dass in keinem der drei Projekte eine tragfähige theoretische Grundlage für die Schulsozialarbeit existiert. Im nächsten Kapitel wird deshalb die Grundlagenliteratur der Schulsozialarbeit herangezogen. Vielleicht findet sich in diesen Publikationen eine Theorie der Schulsozialarbeit, welche vor allem aus Deutschland stammt. Dort existiert die Schulsozialarbeit bereits seit circa 30 Jahren. Im Verlauf dieser Zeitspanne sollte eine theoretische Begründung für die Schulsozialarbeit gefunden worden sein. 3.4 THEORETISCHE ASPEKTE IN DER GRUNDLAGENLITERATUR DER SCHULSOZIALARBEIT Ein Blick in die gängige Grundlagenliteratur zur Schulsozialarbeit bringt verschiedene Gruppen von Veröffentlichungen zutage. Auf der einen Seite stehen Publikationen über empirische Befunde zur Wirkung der Schulsozialarbeit (WULFERS, 1991; O LK / BATHKE / HARTNUSS, 2000). Andere Ansätze versuchen, eine gut strukturierte Systematik in den Bereich Schulsozialarbeit zu bringen (TILLMANN, 1982; FATKE / VALTIN, 1997; HA N E T S E D E R , 2000; WULFERS, 1991; H OLLENSTEIN / TI L L M A N N, 1991). Eine dritte Gruppe von Publikationen enthält Theorieansätze zur Schulsozialarbeit (GROSSMANN, 1987; FATKE, 2000; HORNSTEIN, 1990; BRAUN / WETZEL, 2000). Zuerst werden die verschiedenen Publikationen vorgestellt. Anschliessend folgt eine Stellungnahme, inwieweit Ansätze zu einer Theorie vorhanden sind, welche die in Kapitel 3.2 dargestellten Bedingungen erfüllen. 3.4.1 Empirische Befunde zur Schulsozialarbeit Inzwischen wurden verschiedene empirische Untersuchungen im Bereich Schulsozialarbeit veröffentlicht, wie zum Beispiel die Untersuchung von OLK, BATHKE und HARTNUSS (2000) sowie die Umfrage von WULFERS (1991). 64 3.4.1.1 Untersuchung von OLK, BATHKE und HARTNUSS (2000) Bei dieser empirischen Arbeit handelt es sich um eine wissenschaftliche Begleitung eines Schulsozialarbeitsprojektes im Landkreis Merseburg-Querfurt, an welchem über zwei Jahren, 21 bzw. 20 Schulen beteiligt waren, in denen Schulsozialarbeiter bzw. Schulsozialarbeiterinnen wirkten. Ziel war es zum einen, auf die sozialen Probleme und das auffällige Verhalten von Schülern und Schülerinnen zu reagieren. Andererseits ging es darum, arbeitslosen Pädagogen und Pädagoginnen eine Berufstätigkeit zu ermöglichen (vgl. OLK / BATHKE/ HARTNUSS, 2000, S. 45). Der wesentliche Forschungsauftrag lässt sich auf zwei Punkte reduzieren: a) Zum einen sollten die konkreten Erfahrungen aus dem Praxisprojekt in ihren relevanten Dimensionen dokumentiert und wissenschaftlich reflektiert werden. b) Zum anderen sollten Urteile und Erwartungen der Bezugsgruppen hinsichtlich der Gestaltung von Kooperationsformen zwischen Jugendhilfe und Schule mit geeigneten Methoden der empirischen Sozialforschung erfasst werden. (OLK / BATHKE / HARTNUSS, 2000, S. 47) Ich verzichte darauf die Befunde zum obigen Punkt a) vorzustellen, weil der zweite Punkt im Hinblick auf Überlegungen zu einer Schulsozialarbeitstheorie aufschlussreicher ist. Die Ergebnisse zeigen auf, dass eine erfolgreiche Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe möglich ist, wenn allfällige Hindernisse abgebaut und gleichzeitig die Rahmenbedingungen auf verschiedenen Ebenen (Schule, Ort, Region usw.) verbessert werden. Entscheidend ist auch die Bereitschaft aller Beteiligten zu einer gleichberechtigten, partnerschaftlichen Zusammenarbeit. Selbstverständlich besitzen auch die organisatorischen und materiellen Bedingungen einen gewissen Einfluss. Letztlich muss die Kooperation von verschiedenen Institutionen unterstützt werden (vgl. O LK / BATHKE / HARTNUSS, 2000, S. 207). Die Autoren sind der Meinung, dass folgende Schritte, die sie kurz kommentieren, nötig sind, damit eine erfolgreiche Kooperation zwischen der Schule und der Jugendhilfe zustande kommen kann: Aufgabe der Jugendhilfe: - Schärfung des Aufgabenprofils von Schulsozialarbeit - Ansprechpartner für alle schulbezogenen Hilfen im Jugendamt - Gründung regionaler Arbeitsgemeinschaften zur Schulsozialarbeit - Bundesgesetzliche Absicherung von integrierten Angeboten der Schulsozialarbeit Aufgaben der Schule: - Schaffung entsprechender Rahmenbedingungen für die Schulsozialarbeit - Etablierung sozialpädagogischer Inhalte in der Lehramtsausbildung - Landesgesetzliche Absicherung der Kooperation des Bildungswesens und der Schule mit der Jugendhilfe im Rahmen der Schulgesetze 65 Aufgaben von Jugendhilfe und Schule: - Erstellung einer gemeinsamen Konzeption für die Einzelschule - Entwicklung und Pflege kooperativer Arbeitsstrukturen auf der örtlichen Ebene - Integration der Schulsozialarbeit und der Schulsozialarbeitsprojekte in die örtliche, bzw. regionale Jugendhilfe- und Schulentwicklungsplanung - Systematisch angelegte und gemeinsame Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften und Fachkräften der Jugendhilfe - Finanzielle Absicherung von Kontinuität und Qualität der Kooperation von Jugendhilfe und Schule (OLK / BATHKE / HARTNUSS, 2000, S. 207ff.) 3.4.1.2 Umfrage von WULFERS (1991) Wulfers führte seine Untersuchung zum Stand der Schulsozialarbeit, der Hausaufgabenhilfe und der Betreuung von Ausländerkindern im Raum Marburg-Biedenkopf durch. Es wurden dabei 10 Institutionen befragt, die die angegebenen Bedingungen erfüllten. Das heisst, dass sie im Bereich der Schulsozialarbeit tätig waren. Neben der Erhebung des Ist-Zustandes dient die Umfrage dazu, einen Blick in die Zukunft zu richten (Soll-Zustand). Bei der Datenerhebung erhielten alle Personen, die unmittelbar in der Schulsozialarbeit tätig waren, einen Fragebogen. Von den Lehrkräften wurden nur einzelne befragt. Auch hier verzichte ich darauf, alle erhobenen Daten vorzustellen, um mich auf die Darstellung der wesentlichen Ergebnisse zu konzentrieren. Wenn man die Antworten der Schulsozialarbeiter und Schulsozialarbeiterinnen mit denen der Lehrpersonen vergleicht, kommt dabei heraus, dass sich klare Wahrnehmungsunterschiede betreffend der Umwelt der Schule und der Schülerschaft feststellen lassen. Des weiteren sind die in der Schulsozialarbeit eingesetzten Personen jünger und unerfahrener als die Lehrkräfte. Im Bereich Fortbildung können sich weniger Lehrpersonen für Angebote zum Thema Schulsozialarbeit erwärmen als die Schulsozialarbeiter und Schulsozialarbeiterinnen. Daraus wird für die Schulsozialarbeit die strategische Folgerung abgeleitet, dass schulische Koordinationspersonen eingesetzt werden sollen, um die Zusammenarbeit von Schule und Sozialpädagogik zu fördern. Zusätzlich ist es nötig, dass die Schulsozialarbeiter und Schulsozialarbeiterinnen vermehrt ihre Ziele und Anliegen darlegen. Die Lehrkräfte sollen die Kooperation erleichtern, indem sie Informationen über den Lehr- und Lernstoff sowie Hinweise über spezielle Schüler und Schülerinnen den Schulsozialarbeitern bzw. Schulsozialarbeiterinnen mitteilen. Auch die Zusammenarbeit mit ausserschulischen Institutionen muss verbessert werden (vgl. WULFERS, 1991, S. 189). 66 3.4.2 Systematisierende Konzepte der Schulsozialarbeit Viele Texte (TILLMANN, 1982; FATKE / VALTIN, 1997; HANETSEDER, 2000; WULFERS, 1991) befassen sich mit der Trägerschaft und den Kooperationsformen der Schulsozialarbeit. Ein neuerer Ansatz (HOLLENSTEIN / TILLMANN, 1991) versucht auf der Grundlage einer Sozialarbeitslehre, den Bereich der Schulsozialarbeit zu strukturieren. 3.4.2.1 Träger der Schulsozialarbeit Betreffend der Trägerschaft lassen sich grundsätzlich drei Formen unterscheiden: - Freie Jugendhilfe als Träger Es bestehen verschiedene Vereine und Organisationen, die sich im Bereich der Schulsozialarbeit engagieren. Dazu zählen: Arbeiterwohlfahrt, Diakonisches Werk, Evangelische Jugend Deutschland, Pfadfinder, Gewerkschaftsbund, Bund der Deutschen Katholischen Jugend, Gründung eines Vereines der sich um Schulsozialarbeit kümmert (vgl. WULFERS, 1991, S. 65f.). Der Vorteil einer solchen Trägerschaft besteht darin, dass die Schulsozialarbeit unabhängig ist. Dies verweist aber gleichzeitig auch auf deren grössten Nachteil. Denn erfolgreiche Schulsozialarbeit beruht auf einer engen Kooperation mit der Schule. Damit dieses Modell erfolgreich ist, muss die Frage geklärt werden, wie nahe die freien Träger der Schule stehen müssen, damit sie nicht nur toleriert sondern auch als Partner akzeptiert werden, um eine möglichst grosse Wirkung innerhalb der Schule zu erzielen. - Schule als Träger Bei dieser Trägerstruktur liegt das Problem sicher nicht darin, dass eine zu grosse Distanz zwischen der Schulsozialarbeit und der Schule existiert. Hier stellt sich vielmehr die Frage, inwieweit es sinnvoll ist, dass Schulsozialarbeit den Schulbehörden oder sogar den Schulleitungen unterstellt ist. Können in diesem Fall die Schulsozialarbeiter bzw. Schulsozialarbeiterinnen ihre eigenen Meinungen und Ansichten vertreten? Diese Frage wird dann aktuell, wenn heikle Themen angeschnitten werden, die schulkritische Elemente enthalten. - Öffentliche Behörden als Träger In diesem Fall erfolgt eine Angliederung der Schulsozialarbeit an die öffentliche Verwaltung, normalerweise an das Schul- oder das Sozialdepartement. Ein anderes Modell beruht darauf, dass die Schulsozialarbeit gleichzeitig dem Schul- und Sozialamt unterstellt ist. Der Vorteil einer solchen Trägerschaft liegt darin, dass eine gewisse Entfernung zum eigentlichen Arbeitsfeld der Schulsozialarbeit ermöglicht wird. Des weiteren kann bei 67 einer Angliederung an die Sozialverwaltung die Schulsozialarbeit von bereits vorhandenen Unterstützungsangeboten und Informationsnetzwerken profitieren. In der Praxis lassen sich alle beschriebenen Formen finden. Eine allgemeine Wertung scheint nicht angebracht. Vielmehr muss in jedem Fall entschieden werden, welches die sinnvollste Trägerstruktur darstellt. 3.4.2.2 Kooperationsmodelle der Schulsozialarbeit In der gängigen Literatur finden sich vorwiegend drei Kooperationsmodelle der Schulsozialarbeit. Es handelt sich dabei um folgende: - Additions-Modell Diese Kooperationsform basiert darauf, dass die Jugendhilfe und die Schule selbständige Partner bleiben. Das heisst, dass jede dieser Institutionen eigene Projekte anbietet. In Einzelfällen findet eine Kooperation statt. Es handelt sich also nicht um eine fixe Zusammenarbeit, vielmehr besteht eine Unabhängigkeit zwischen der Jugendhilfe und der Schule. In dieser Kooperationsform entstehen keine Probleme in den Bereichen Leitung und Delegation. Darin besteht aber auch gleichzeitig ein wesentlicher Nachteil dieses Modells. Denn es existiert keine verbindliche Zusammenarbeit zwischen der Schule und der Jugendhilfe. Schulsozialarbeit bleibt somit auf einzelne Aktionen der Jugendhilfe in der Schule beschränkt und kann sich deshalb nicht als eigenständiger Bereich etablieren. - Subordinations-Modell Hier wird die Schulsozialarbeit der Schule unterstellt. Im Vordergrund steht die Erfüllung des Schulauftrages. Es geht in erster Linie darum, dass mit Hilfe der Schulsozialarbeit der Schulbetrieb möglichst problemlos funktioniert, damit die Schüler und Schülerinnen die erwarteten Leistungen erbringen können. Deshalb verwundert es nicht, dass die Schulsozialarbeiter bzw. die Schulsozialarbeiterinnen in diesem Modell oft als "Hilfslehrkräfte" eingesetzt werden, wenn zum Beispiel eine Lehrperson krank ist. Wegen der Unterordnung ist es für die Schulsozialarbeiter bzw. Schulsozialarbeiterinnen sehr schwierig, sozialpädagogische Anliegen durchzusetzen, wenn diese mit Kraft-, Zeit- oder Geldaufwand verbunden sind.. Schulsozialarbeit wird also als Dienstleistungsbetrieb angesehen, über den die Schule verfügt. - Modell der kritischen Integration Die gleichwertige Zusammenarbeit zwischen der Schule und der Schulsozialarbeit bildet die Grundlage dieser Kooperationsform. Schulsozialarbeit wird in die Schule integriert aber nicht, wie im Subordinationsansatz, der Schule unterstellt. Bei einer 68 partnerschaftlichen Zusammenarbeit können die Schulsozialarbeiter bzw. Schulsozialarbeiterinnen sozialpädagogische Ideen in die Schule einfliessen lassen. Der Umgang in der Schule wird dadurch sozialpädagogischer. Es entsteht letztlich eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften und den Schulsozialarbeitern bzw. Schulsozialarbeiterinnen. Neben diesen "klassischen" Kooperationsmodellen existiert meiner Meinung nach noch ein viertes Modell: - Sozialpädagogische Schule Dieser Ansatz beruht darauf, dass die Schule selbständig sozialpädagogische Vorstellungen integriert. Die Lehrkräfte setzen sich zu diesem Zweck mit sozialpädagogischem Gedankengut auseinander. Dies führt dazu, dass entsprechende Ideen in der Schule umgesetzt werden. Es ist offensichtlich, dass die Schule nicht alle sozialen, erzieherisch relevanten Probleme im Alleingang lösen kann. Deshalb soll sich die Schule unbedingt ein eigenes Netzwerk aufbauen, dass sie bei den erwähnten Problemen unterstützt. Der Vorteil dieses Vorgehens liegt darin, dass sich die Schule als solche verändern und weiterentwickeln muss. Die sozialen Aspekte erhalten dadurch im Bildungswesen mehr Gewicht. 3.4.2.3 Systematik mit Hilfe der Sozialarbeitswissenschaft HOLLENSTEIN und TILLMANN (1999) gehen in ihrer Publikation von einer anderen Systematik aus. Als Grundlage dient ihnen die neue Sozialarbeitswissenschaft. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, folgende vier Aspekte zu erforschen: - Gesellschaftliche Bedeutung sozialer Arbeit (Soziale Differenzierung und soziale Ungleichheit) - Institutionen und Organisationen sozialer Arbeit in der Gegenwart (Beharrung und Veränderung) - Klientel und Zielgruppen sozialer Arbeit (Lebenslagen und Lebensweisen) - Handlungsstrategien, Handlungskompetenz und Handlungslegitimation sozialer Arbeit (vgl. HOLLENSTEIN / TILLMANN, 1999, S. 16 - 22) Diese vier Gesichtspunkte werden entsprechend für die Betrachtung der Schulsozialarbeit angewendet. Sie lauten infolgedessen: - Soziale Benachteiligung in Schule und Unterricht - Trägerschaften, Organisationskonzepte und Organisationsentwicklungen - Sozialisationsprozesse in der Schule: ein Begründungszusammenhang für Schulsozialarbeit 69 - Praxis der Schulsozialarbeit (HOLLENSTEIN / TILLMANN, 1999, S. 23) Inwieweit sich diese Systematik bewährt, muss sich herausstellen. 3.4.3 Ansätze für eine Theorie der Schulsozialarbeit Im Buch "Aschenputtel im Schulalltag" von GROSSMANN (1987) befindet sich eine Zusammenstellung verschiedener Theorieansätze. Diese werden nun kurz vorgestellt: 3.4.3.1 Rollentheoretischer Ansatz Dieser Theorieansatz beruht darauf, dass wir Menschen verschiedene Rollen einnehmen, die wir von klein auf lernen. Den ersten und wichtigsten Lernort bildet dabei die Familie. Denn dort erfolgt die Vermittlung wichtiger Werte und Normen. Die Erwachsenen müssen als Vorbilder für Rollen dienen, damit die Kinder entsprechende Rollen übernehmen können, um dadurch die bestehenden Rollenerwartungen der Gesellschaft zu erfüllen. Entsprechende Motivation und Fähigkeit der Heranwachsenden gewährleisten dabei eine möglichst problemlose Rollenübernahme. Gelingt dies nicht, kann abweichendes Verhalten entstehen. Aufgabe der Sozialarbeit ist es nun, anfallende Anpassungsschwierigkeiten bei der Übernahme von Rollen abbauen zu helfen, damit eine erfolgreiche Rollenübernahme stattfinden kann. Dieses Konzept findet auch in der Schulsozialarbeit Anwendung. Denn diese befasst sich mit auffälligen Schülern und Schülerinnen. Es geht also darum, den schwierigen Jugendlichen dabei zu helfen, ihre Rolle als Schüler bzw. Schülerin zu übernehmen und sich zu integrieren. Gleichzeitig sollen auch die Lehrkräfte lernen, ihre Vorstellungen von Schülerrollen zu verändern und zu erweitern (vgl. GROSSMANN, 1987, S. 123f.). Dieser Theorieansatz reduziert meines Erachtens die Schulsozialarbeit darauf, eine erfolgreiche Rollenübernahme der Jugendlichen zu gewährleisten. Dabei werden aber vielfältige Facetten der Schulsozialarbeit übergangen. 3.4.3.2 Sozialisationstheoretische Begründung Aus sozialtheoretischer Sicht ist die Rollentheorie zu einfach, weil sie davon ausgeht, dass klare, einheitliche Rollenerwartungen vorhanden sind. Dies ist aber im Alltag nicht der Fall. 70 Aus diesem Grund legt der sozialisationstheoretische Ansatz viel Wert auf die Mitberücksichtigung des sozialen Umfeldes. So wird zum Beispiel aufgezeigt, dass die gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit in einem direkten Zusammenhang mit der Schullaufbahn steht. Das heisst, dass Kinder aus der Unterschicht schlechtere Karten für eine erfolgreiche Schulkarriere besitzen. Es ist eine Aufgabe der Schulsozialarbeit, sich mit diesen Sozialisationsproblemen auseinanderzusetzen. Dabei kommt vor allem die Gruppenarbeit zum Einsatz. Wichtig ist, dass bei diesem theoretischen Ansatz die Schulsozialarbeit nicht eine reine Pannenhilfefunktion übernimmt, welche die Kinder einfach in das Schulsystem einpasst. Vielmehr geht es um eine kritische, reflektierte Auseinandersetzung mit Rollenerwartungen (vgl. GROSSMANN, 1987, S. 124f.). Es zeigt sich, dass die Kritik am rollentheoretischen Ansatz aufgenommen wurde. Denn der vorgestellte Theorieansatz berücksichtigt nun auch das soziale Umfeld und erweitert dadurch das Tätigkeitsfeld der Schulsozialarbeit. 3.4.3.3 Psychologische Begründung Ziel des Bildungswesens ist es, den Schülern und Schülerinnen jene Kompetenzen zu vermitteln, die sie für ein selbständiges Leben und die Karriere benötigen. Leider wird dieses Ziel von der Schule nicht immer vollständig erreicht. Aus diesem Grund muss sich die Schulsozialarbeit einschalten. Bei genauerer Betrachtung stellt es sich heraus, dass Schüler und Schülerinnen aus schwierigen Verhältnissen mehr Mühe bekunden, das gesteckte Ziel des Unterrichts zu erreichen. Dies rührt daher, dass sie sich häufig auffällig verhalten und grössere Lernschwierigkeiten aufweisen, als die wohlbehüteten Jugendlichen. Um das beschriebene Problem in den Griff zu bekommen, soll die Schule vorrangig Wissen vermitteln, das dazu dient, dass ihre Zöglinge später im Lebensalltag bestehen können. Dieses Anliegen wird von der Schulsozialarbeit unterstützt. Sie will Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Daraus folgt, dass sich Schulsozialarbeit auch in schulähnlichen Veranstaltungen mit den Jugendlichen auseinandersetzen muss (vgl. GROSSMANN, 1987, S. 125f.). Die Aufgabe des Bildungswesens, die Jugendlichen auf den späteren Lebensalltag vorzubereiten, ist unbestritten. Dass die Schule mit dieser Aufgabe je länger je mehr überfordert ist, bildet die Grundlage für den Einsatz von Schulsozialarbeit. Was nun aber konkret gefördert werden soll, bleibt bei diesem Theorieansatz allerdings offen. 71 3.4.3.4 Sozialwissenschaftliche Analyse Dieser Ansatz befasst sich mit den öffentlichen Institutionen Schule und Jugendhilfe. Die Sozialstaatstheorie dient dazu als Grundlage. Es stellt sich heraus, dass ursprüngliche Probleme der Sozialpolitik aus ihrem Zusammenhang gerissen werden. Dies wiederum ermöglicht eine Individualisierung der betreffenden Situationen. Dadurch entsteht ein pädagogisches Problem, für das die Sozialpolitik nicht mehr explizit zuständig ist. In diesem Zusammenhang muss festgehalten werden, dass die Schule nach wie vor davon ausgeht, dass die Familie weiterhin grosse Sozialisationsleistungen erbringt, damit die Schüler und Schülerinnen sich in die Gesellschaft integrieren können. So kann sich der Unterricht primär an der reinen Wissensvermittlung orientieren. Seit einiger Zeit fällt aber immer mehr auf, dass die familiäre Sozialisation nicht mehr in genügendem Mass stattfindet. Dadurch sind soziale Probleme vorprogrammiert. Um diese Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen, sind sozialstaatliche Interventionen nötig, welche die Familie unterstützen. Ein Ergebnis davon ist die Einführung der Schulsozialarbeit. Durch diesen Eingriff entsteht aber die Gefahr, dass die Schulsozialarbeit zum reinen Instrumentarium des Bildungswesens verkommt (vgl. GROSSMANN, 1987, S. 127f.). Hier handelt es sich um einen politischen Ansatz. Dadurch entsteht ein neuer Blickwinkel, unter dem die Schulsozialarbeit betrachtet werden kann. Letztlich ist er aber zu begrenzt, um nur annähernd das ganze Gebiet der Schulsozialarbeit abdecken zu können. Die nachfolgenden Theorieansätze stammen nicht aus dem Buch von GROSSMANN (1987). Es handelt sich um neuere Gedanken zu einer Schulsozialarbeitstheorie. 3.4.3.5 Theorieansatz von K.-H. BRAUN und K. WETZEL (2000) Dieser Theorieansatz beginnt mit einer Gesellschaftsanalyse. Dabei wird aufgezeigt, dass verschiedene Widersprüche bestehen, die die Menschen bewältigen müssen. Diese Probleme lassen sich folgenden Gegensatzpaaren zuteilen: - Selbstvertrauen versus Autonomie und Rückhalt - Selbsterfahrung versus Privatheit und Öffentlichkeit - Selbstbestimmung versus sozialer Pluralisierung und Polarisierung - Selbstverständigung versus Alltagsroutine und "eigentliches" Leben 72 - Selbstbewusstheit versus Vergangenheit und Zukunft (vgl. BRAUN / WETZEL, 2000, S. 8 - 38) Mit den vorgestellten Widersprüchen müssen sich auch die Heranwachsenden intensiv auseinandersetzen, damit sie später als Erwachsene in der Gesellschaft angemessen funktionieren. Um die beschriebenen Probleme lösen zu können, wird vorgeschlagen, dass ein umfassenderes Lernen in der Schule eingeführt wird, welches über das reine Memorieren von Fakten hinausgeht. Diese Massnahme darf sich nicht nur auf den Unterricht beschränken, sondern die gesamte Schule soll sich in diese Richtung verändern. Es braucht also sowohl eine Öffnung nach innen (Unterricht), als auch nach aussen (Umwelt). Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass die Schule momentan vor allem auf eine Systemintegration ihrer Abgänger und Abgängerinnen hinarbeitet. Diese sollen sich möglichst problemlos in das bestehende System integrieren. BR A U N und W E T Z E L verlangen, dass die Schule auch die Sozialintegration fördern muss. Dabei steht die subjektive Lebensfähigkeit und somit das Wohlbefinden jedes und jeder einzelnen im Mittelpunkt. Es müssen folglich beide Integrationsziele vom Bildungswesen angestrebt werden. Bei der Umsetzung sind folgende Aspekte zu beachten: - Schule muss sich zu einem kind- und jugendgemässen Lebensort entwickeln. - Soziales Lernen soll in der Schule ermöglicht und gefördert werden. Dabei geht es vor allem darum, das kritische Analysieren zu schulen, und eine konstruktive Auseinandersetzung mit den gefundenen Problemen und Widersprüchen einzuüben. - Beim Lernen soll das spielerische Element nicht zu kurz kommen. - Im Unterricht sollen der Selbst- und Weltbezug von Bedeutung sein. Um den Selbstbezug zu fördern, können z. B. Tutorensysteme eingeführt werden. Der Weltbezug kann z. B. durch eine Erkundung des Stadtteils erfolgen. - Ein weiterer Punkt sieht eine sinnvolle Auseinandersetzung mit den Geschlechterrollen vor. - Letztlich soll eine beratende Unterstützung der alltäglichen Lebensbewältigung ermöglicht werden. Um die Schule bei der Verwirklichung dieser Anliegen zu unterstützen, ist es nötig, Schulsozialarbeiter bzw. Schulsozialarbeiterinnen anzustellen. In partnerschaftlicher Art und Weise können somit Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter bzw. Schulsozialarbeiterinnen die vorgestellten Aspekte umsetzen, indem jeder und jede seine persönlichen Fähigkeiten und Kompetenzen einbringt. 73 Es handelt sich hier um einen Ansatz, der anscheinend den ganzen Bereich der Schulsozialarbeit abdeckt. 3.4.3.6 Verknüpfung von Schul- und Jugendtheorie Der Pädagogikprofessor W ALTER H ORNSTEIN legt in seinem Buch "Aufwachsen mit Widersprüchen - Jugendsituation und Schule heute" (1990) einen Vorschlag für eine Veränderung der Schule vor, indem er schultheoretische Aspekte mit Befunden aus der Jugendforschung verknüpft. Es geht ihm dabei aber nicht um eine eigentliche Schulsozialarbeitstheorie. Vielmehr soll mit Hilfe der Publikation ein Vorschlag gemacht werden, wie sich die Schule zu Gunsten der Schüler und Schülerinnen ändern könnte. Ziel ist es also, eine jugendgemässere Schule zu schaffen. HORNSTEIN zeigt zuerst auf, dass sich die Themen Jugend und Schule auseinanderentwickelt haben. Er veranschaulicht und belegt diese These anhand verschiedener Gesellschaftstheorien und stellt fest, dass "Jugend" heute nicht mehr klar fassbar ist. Dadurch entstehen Probleme und Widersprüche, mit denen sich die Heranwachsenden auseinandersetzen müssen. Aber auch das Bildungswesen hat mit den gesellschaftlichen Veränderungen seine Mühe. In einem nächsten Schritt wird betrachtet, wie die Schüler und Schülerinnen ihren Schulalltag subjektiv wahrnehmen. Anschliessend erfolgt eine Zusammenstellung von objektiven Faktoren, die die Jugendlichen in bezug auf die Schule betreffen. Ein weiterer Teil befasst sich intensiv mit den Heranwachsenden und ihrer Situation. Dabei werden verschiedene Entwicklungsaufgaben, die im Verlauf der Pubertät zu erfüllen sind, unter die Lupe genommen. Mit den Ergebnissen lassen sich die heutigen Probleme der Jugendlichen aufzeigen, die vor allem durch die gesellschaftlichen Veränderungen entstanden sind. Deshalb ist eine genauere Betrachtung der sozialen Orientierungsmuster der Heranwachsenden angebracht. Im Anschluss daran folgt eine kritische Beurteilung des Bildungswesens aus der Sicht der Jugendforschung. HORNSTEIN zeigt auf, dass sich die Schule von den Jugendlichen fort entwickelt hat und Lehrkräfte Unterschiede in den Lebenslagen der Schüler und Schülerinnen noch immer weitgehend ignorieren. Um die dargelegten Probleme und Krisen der Jugend und der Schule lösen zu können, schlägt HORNSTEIN vor, dass diese Institutionen miteinander etwas gegen die unbefriedigenden Umstände unternehmen. Dabei soll sich die Schule vermehrt an den Jugendlichen orientieren und sich deshalb gegen innen und aussen öffnen. Konkret wird vorgeschlagen, dass: 74 - die Schule autonomer wird, um sich besser verändern und den neuen Begebenheiten anpassen zu können. - eine Abkoppelung vom Beschäftigungssystem stattfindet, damit sich die Schule eigene Gedanken machen kann über ihre pädagogischen Ziele. - eine Öffnung der Schule für das gegenwärtige Leben stattfinden muss. Die Gedanken und Vorstellungen von HORNSTEIN sind meiner Meinung nach sehr interessant. Es scheint möglich zu sein, dass eine Verknüpfung der schultheoretischen Gedanken mit den jugendtheoretischen Vorstellungen eine mögliche Grundlage für eine sozialpädagogische Schule bilden kann. 3.4.3.7 Bildungstheoretischer Theorieansatz Bereits HORNSTEIN (3.4.3.6) macht in seinen Ausführungen darauf aufmerksam, dass auch eine bildungstheoretische Analyse nötig ist (vgl. HORNSTEIN, 1990, S. 188ff.), um eine allgemein gültige Grundlage für die Schulsozialarbeit präsentieren zu können. Diese Meinung wird auch von REINHARD FATKE, Professor für Sozialpädagogik, vertreten. Er geht davon aus, dass sich die Soziale Arbeit auf die Grundlage einer Bildungstheorie stellen lässt, um damit "...ihr Potential zur Geltung [zu, AF] bringen und vorbeugend, wie heilend, bildend und erziehend gleichzeitig [zu, AF] wirken" (FATKE, 2000, S. 13). Wenn dies geschehen ist, kann sich die Soziale Arbeit auch wieder in Bereichen engagieren, die von GERTRUD BÄUMER (1929) explizit von der Sozialpädagogik ausgeschlossen wurden, nämlich Schule und Familie. Auf dieser Grundlage könnte dann eine Schulsozialarbeitstheorie erarbeitet werden. Mit Hilfe des aufklärerischen Bildungsbegriffes scheint es möglich zu sein, eine Brücke zwischen Schule und Jugendhilfe zu schlagen. Es handelt sich meiner Ansicht nach um einen vielversprechenden Ansatz, der aber noch ausgearbeitet werden muss. 3.4.3.8 Systemischer Theorieansatz Die Vorstellung dieses Ansatzes erfolgte bereits weiter oben (siehe 3.3.1.1). Dort handelt es sich um die Anwendung der Systemtheorie auf die Sozialarbeit. Eine logische Folge besteht nun darin, diesen Theorieansatz auch auf die Schulsozialarbeit anzuwenden, wie dies von DRILLING und STÄGER vorgeschlagen wird (DRILLING / STÄGER, 2000, S. 123). 75 Die systemische Betrachtungsweise scheint meines Erachtens durchaus geeignet zu sein, um eine tragfähige Grundlage für die Schulsozialarbeit hervorzubringen. Diese Arbeit steht aber noch aus. 3.4.4 Fazit aus den Theorieansätzen in der Grundlagenliteratur In der Literatur, die sich mit empirischen Befunden zur Schulsozialarbeit befasst (3.4.1), findet sich keine fertige Theorie. Es handelt sich eher um eine Aufnahme des Ist-Zustandes der praktizierten Schulsozialarbeit. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse werden Empfehlungen abgegeben. Die Untersuchungen dienen somit vor allem der Situationsanalyse und sind nicht dazu geeignet, eine theoretische Begründung der Schulsozialarbeit zu liefern. Bei der systematisierenden Literatur (3.4.2) geht es darum, eine Ordnung in den Bereich der Schulsozialarbeit zu bringen. Dies führt zu einer Analyse verschiedener Projekte, aber nicht zu einer kohärenten Theorie. In der letzten Gruppe ist jene Literatur zusammengefasst, die sich in erster Linie mit Theorieansätzen auseinandersetzt (3.4.3). Die verschiedenen Grundgedanken werden an den vorgestellten Kriterien (3.2.) gemessen, um herauszufinden, inwieweit es sich um brauchbare Schulsozialarbeitstheorien handelt. Eine Beurteilung des rollentheoretischen Ansatzes, der sozialisationstheoretischen Begründung, des psychologischen Theorieansatzes und der sozialwissenschaftlichen Analyse ist schwierig. Denn diese wurden anhand der Sekundärliteratur vorgestellt. Trotzdem lässt sich feststellen, dass alle Vorschläge Aussagen über die gesellschaftliche Funktion ihres Theorieansatzes enthalten. In der bearbeiteten Sekundärliteratur finden sich leider keine Aussagen über geeignete Methoden. Die Theoriebedingungen Prognosefähigkeit und Einbezug der Lebenswelt der Klientel, sind zum Teil mit den Ausführungen zu den gesellschaftlichen Grundlagen gegeben. Der Ansatz, der eine Verknüpfung von Jugendtheorie und Schultheorie vorschlägt, sowie der Theorieansatz von BRAUN und W ETZEL beruhen auf Gesellschaftsanalysen mit besonderer Berücksichtigung der Jugendlichen und einem analysierenden Blick in die Schule. Dadurch entsteht ein Bild der gegenwärtigen Gesellschaft. Das Ergebnis zeigt auf, dass die momentanen gesellschaftlichen Verhältnisse der Jugend sehr komplex und auch voller Widersprüche sind, so dass es fast ausgeschlossen ist, fundierte Prognosen abzugeben. 76 Auf dem klassischen Begriff der Bildung beruht der bildungstheoretische Ansatz. Dieser enthält keine eigentliche Analyse der Gesellschaft sondern bezieht sich auf ein Ideal. In der bearbeiteten Literatur wurde dieser Ansatz leider nur sehr kurz ausgeführt, weshalb hier noch nicht von einer Theorie gesprochen werden kann, sondern höchstens von einem Theorieansatz. Der systemische Ansatz erfüllt grundsätzlich alle Bedingungen einer Theorie. Die Gesellschaft wird dabei auf verschiedene Systeme reduziert, welche nach gewissen Regeln funktionieren. Somit ist auch eine Prognosefähigkeit gewährleistet. DRILLING und STÄGER (2000) verweisen darauf, dass dieser Ansatz der Schulsozialarbeit zugrunde liegt. Aber eine explizite Anwendung dieser Gesellschaftstheorie in der Schulsozialarbeit konnte ich nicht finden. Dies ist betrüblich, denn dieser Ansatz wäre es Wert, in der Schulsozialarbeit umgesetzt zu werden. Auf den ersten Blick erhält man den Eindruck, dass die Verknüpfung der Jugendtheorie mit der Schultheorie (HORNSTEIN, 1990), sowie der Ansatz von BRAUN und WETZEL (2000) am weitesten fortgeschritten sind, um als eigentliche Schulsozialarbeitstheorie zu gelten. Beim genaueren Betrachten stösst man aber auf Probleme. Zum einen sagen die Gesellschaftsanalysen, auf denen diese theoretischen Ansätze beruhen, aus, dass die Einheit der Gesellschaft nicht mehr gewährleistet sei. Die Ansätze enthalten zwar Lösungen, wie die bestehenden Widersprüche und Probleme der heutigen Gesellschaft von der Schule und der Jugend aufgefangen werden können, doch stellt sich unweigerlich die Frage, inwieweit allgemeine Aussagen sinnvoll sind, wenn die Gesellschaft immer weiter auseinanderfällt. Ein weiteres Problem besteht darin, dass diese Theorieansätze sich auf Analysen aktueller Gesellschaftsstrukturen abstützen. Das heisst, dass die Vorschläge erfolgversprechend sind, solange sich die Gesellschaft nicht verändert. Somit verlieren diese Ansätze den Anspruch, allgemein gültig zu sein. Dieses Problem wird von HORNSTEIN erkannt und durch die Verknüpfung seines Ansatzes mit der Bildungstheorie aufgefangen. Leider fehlen Ausführungen darüber, welche Folgen dies für seinen Ansatz hat. BRAUN und WETZEL gehen allerdings nicht auf dieses Problem ein. Wenn es gelingt, diese beiden Ansätze so zu konzipieren, dass sie nicht nur für eine bestimmte Epoche Gültigkeit aufweisen, könnten daraus Schulsozialarbeitstheorien entstehen, die diese Bezeichnung verdienen. 77 Der vorgestellte bildungstheoretische Ansatz ist leider zu wenig ausgearbeitet, um ihn wirklich beurteilen zu können. Er scheint aber eine solide Theoriegrundlage bilden zu können. Denn der Begriff der Bildung spielt nicht nur in der Schule eine wichtige Rolle sondern könnte auch einen ähnlichen Stellenwert in der Sozialpädagogik erreichen, so wie dies FATKE (2000) in seinem Artikel antönt. Wenn dieser Ansatz weiterverfolgt wird und zum Durchbruch führt, entsteht daraus sicher eine Theorie, die von der Schulsozialarbeit auf ihre Bedürfnisse hin angepasst werden kann. Einen weiteren, erfolgsversprechenden Weg stellt meiner Meinung nach die Systemtheorie dar. Wenn es gelingt, die theoretischen Grundlagen der Systemtheorie an die Bedürfnisse der Schulsozialarbeit anzupassen, würde vermutlich eine angemessene Schulsozialarbeitstheorie entstehen. Leider existiert diese Ableitung noch nicht. Ein grosser Vorteil einer solchen Theorie bestünde darin, dass verschiedene Ebenen der Schulsozialarbeit berücksichtigt werden könnten. Der Blick in die Grundlagenliteratur zeigt, dass erfolgsversprechende Theorieansätze für die Schulsozialarbeit vorhanden sind. 3.4.5 Synthese des systemischen Ansatzes mit den bildungstheoretischen Überlegungen für eine Theorie der Schulsozialarbeit Auf der Grundlage der vorherigen Ausführungen und Überlegungen folgt nun der Versuch einer Synthese des systemischen Ansatzes mit den bildungstheoretischen Gedanken, um dadurch eine mögliche Theorie der Schulsozialarbeit zu erhalten. Im Zentrum stehen die Jugendlichen, denen ein guter Start ins Erwachsenenleben ermöglicht werden soll. Dabei existieren verschiedene Probleme und Gefahren. Stichworte wie Wertezerfall, Pluralisierung und Globalisierung prägen den Lebensalltag. Es geht nun darum, den Heranwachsenden dabei zu helfen, sich in dieser immer komplexer werdenden Welt zurechtzufinden. Auch in der Schule wirkt sich die beschriebene Situation aus. So kommt es zu Verhaltensauffälligkeiten, sinkender Lernmotivation, Integrationsproblemen und zur Anwendung von Gewalt. Was kann unternommen werden, um dies zu ändern? Eine mögliche Antwort stellt die Schulsozialarbeit dar, die ich wie folgt definiere: Unter Schulsozialarbeit werden sämtliche Angebote im Bereich Schule zusammengefasst, die 78 Heranwachsende bei der Integration in die Gesellschaft zu mündigen Menschen fördern und unterstützen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss zuerst eine aktuelle Analyse der individuellen Lebenssituation des entsprechenden Jugendlichen bzw. der entsprechenden Jugendlichen durchgeführt werden, um dadurch festzustellen, in welchen "Systemen" die Heranwachsenden integriert sind. So lassen sich sicher die Systeme Familie, Schule und Freizeit unterscheiden. Beim genaueren Betrachten können diese Bereiche noch mehr spezifiziert werden: Familie als Kernfamilie und andere Familienangehörige, Schule in Schulhaus und Schulklasse, sowie Freizeit in verschiedene Gruppen und entsprechende Aktivitäten. Um nun Veränderungen für die Jugendlichen zu erreichen, ist es am sinnvollsten, alle diese Bereiche mitzuberücksichtigen. Ein umfassender Überblick über die Lebenswelt des Einzelnen bzw. der Einzelnen ist unerlässlich. Veränderungen in einem Bereich haben auch Auswirkungen auf die anderen Systeme, in denen sich der Jugendliche bzw. die Jugendliche bewegt. Wo soll nun Schulsozialarbeit ansetzen? Diese Frage ist bisher noch nicht geklärt; deshalb bestehen auch die verschiedensten Konzepte. Meiner Meinung nach wäre es angebracht, dass sich die Schulsozialarbeit mit allen vorgestellten Bereichen befassen würde oder sich mindestens darum bemüht, einen Einblick zu erhalten, um passende Hilfe anbieten zu können. Es geht dabei vor allem um eine Triagefunktion. Die Schulsozialarbeit kann sich nicht in allen Bereichen selber engagieren; aber jeder Bereich muss mitberücksichtigt werden. Daraus ergibt sich ein Rahmen für die Schulsozialarbeit. Je nach Situation oder auch Kompetenzen können verschiedene Bereiche von den Schulsozialarbeitern bzw. den Schulsozialarbeiterinnen selber abgedeckt werden. Ein weiterer Aspekt dieser Vorstellung von Schulsozialarbeit ist darin zu sehen, dass die Angebote letztlich Bildungsangebote darstellen sollen. Darunter verstehe ich aber keinesfalls ausschliesslich belehrende Veranstaltungen. Vielmehr soll jedes Angebot darauf abzielen, die Teilnehmenden dabei zu unterstützen, sich neue Kompetenzen anzueignen. Es geht also darum, Hilfe zur Selbsthilfe zu ermöglichen. Als Methode ist es sinnvoll, die klassischen Ansätze (Einzelfallarbeit, Gruppenarbeit und Gemeinwesenarbeit) der Sozialen Arbeit einzusetzen. Entsprechende Methoden finden sich auch im Bereich Unterricht. Es ist meines Erachtens eine Schwäche der aktuellen Schulsozialarbeit, dass sie sich kaum um den Bereich des Unterrichts kümmert. Meiner Meinung nach wäre es sinnvoll, wenn die 79 Schule sozialpädagogischer würde. Dabei muss die Schulsozialarbeit sie unterstützen und sich nicht davor scheuen, sich intensiv mit der Schule auseinanderzusetzen. Mit Hilfe einer systemtheoretischen Analyse und der Ausrichtung der Angebote auf die Bildungstheorie müsste sich somit eine Theorie der Schulsozialarbeit ableiten lassen. Die vorgestellte Synthese bildet aber erst eine Theorieskizze, die noch fertig ausgearbeitet werden müsste. Auf der einen Seite handelt es sich bei den verwendeten Theorien lediglich um Theorieansätze und andererseits sind die Ausführungen zur Synthese weiter zu vertiefen und darzustellen. 3.4.6 Probleme bei der Entwicklung einer Schulsozialarbeitstheorie Nach der Vorstellung verschiedener Theorieansätze, sowie eines Syntheseversuches, muss festgestellt werden, dass keine ausgearbeitete Theorie der Schulsozialarbeit besteht. Dafür lassen sich verschiedene Gründe anführen. Erstens ist festzuhalten, dass die Schule andere Funktionen erfüllt als die Soziale Arbeit. Dies führt automatisch dazu, dass diese beiden Institutionen unterschiedliche Wirkungen erzielen. FATKE (2000, S. 10) hat dies in folgender Tabelle zusammengefasst: Schule: Soziale Arbeit: Selektion Integration Qualifikation Soziale Befähigung System Lebenswelt Zweckrationalität Kommunikative Rationalität Gesellschaftlicher Auftrag "Doppeltes Mandat" Tab.1 Funktionen und Wirkungen von Schule und Sozialer Arbeit Es leuchtet ein, dass es sehr schwierig ist, solche Gegensätze zu überwinden, um eine Theorie für die Schulsozialarbeit zu entwickeln, die sich an der Schule und der Sozialen Arbeit ausrichten soll. Ein weiteres Problem besteht darin, dass verschiedene Schultheorien existieren. Für die Soziale Arbeit lässt sich auch eine Vielzahl von Theorieansätzen finden. In beiden Gebieten bestehen aber letztlich keine allgemein anerkannten Theorien. Wenn man den Blick noch weiter schweifen lässt, stellt sich die Frage, ob überhaupt eine übergreifende Gesellschaftstheorie vorhanden ist. Nach dem Scheitern des ehrgeizigen Versuchs von Habermas, eine zeitgenössische Gesellschaftstheorie zu entwickeln, bleibt den an soziologisches Wissen angeschlossenen Sozialwissenschaften ein 80 theoretisches Gerüst, an welches sie sich anlehnen können, vorerst verwehrt. Sie sehen sich weiterhin genötigt, auch auf ältere Versuche zurückzugreifen, um die Entwicklung kapitalistischer und demokratischer Gesellschaften begreifen zu können. (GRAF, 1996, S. 201) Es scheint, dass keine grundsätzlich anerkannte Gesellschaftstheorie vorhanden ist, auf die man sich stützen kann. 3.4.7 Nachtrag zu einer Theorie der Schulsozialarbeit Nach dem vorherigen Abschnitt scheint es nicht möglich zu sein, eine Schulsozialarbeitstheorie zu entwickeln. Trotzdem bin ich der Meinung, dass in der Literatur vielversprechende Ansätze existieren, die, wenn sie fertig ausgearbeitet sind, die dargelegten Probleme lösen. In der Zwischenzeit kann man sich an einem der Ansätze orientieren, die auf einer aktuellen Gesellschaftsanalyse beruhen. Dabei handelt es sich zwar nicht um eigentliche Theorien. Aber für den Moment können sie als Orientierungshilfen eingesetzt werden, um dadurch eine gewisse Einheitlichkeit in der Schulsozialarbeit zu ermöglichen. Mit Hilfe dieser "begrenzten" Ansätze liessen sich vorübergehende Standards in der Schulsozialarbeit festlegen, die sich entsprechend auf eine Professionalisierung des Bereiches auswirken würden. Zusätzlich könnten neue Projekte auf etwas Übergeordnetes zurückgreifen. Denn die heutige Situation stellt sich so dar, dass nach dem reinen Bedarfsprinzip gearbeitet wird. Soziale Probleme und abweichendes Verhalten in der Schule sind oft die Auslöser für die Einführung von Schulsozialarbeit, die sich dann ausschliesslich an den örtlichen Verhältnissen orientiert. Oftmals wird Schulsozialarbeit nur als "Feuerwehr" in den Schulen eingesetzt. Schulsozialarbeit hat jedoch für alle Menschen im Bereich Schule etwas zu bieten und nicht nur für die Problemfälle! Damit sich dieses Selbstverständnis entwickelt, ist es unverzichtbar, dass eine theoretische Grundlage existiert, auf die sich die Schulsozialarbeiter und Schulsozialarbeiterinnen beziehen können. 81 TEIL IV: PERSPEKTIVEN Dieser letzte Teil widmet sich der Zukunft der Schulsozialarbeit in der Schweiz. Damit sich diese weiter etablieren kann, sollte eine entsprechende Professionalisierung stattfinden. Das heisst, dass zum Beispiel Ausbildungsmöglichkeiten konzipiert werden, dass eine Fachsprache und dazu gehörige Kompetenz entwickelt werden, dass Berufsorganisationen entstehen und dass eine Vernetzung erfolgt. Dazu gehören aber auch die Auseinandersetzung mit der Qualität der Schulsozialarbeit und die Sicherung des Niveaus. Zum Schluss folgen noch einige Gedanken über eine "sozialpädagogische Schule", die darauf verzichtet, einen Sozialarbeiter bzw. eine Sozialarbeiterin für die Schule anzustellen. 4.1 PROFESSIONALISIERUNG In der Literatur finden sich verschiedene Publikationen (STICHWEH, 1994; COMBE / HELSPER, 1996; KORING, 1989), die sich mit der Professionalisierung auseinandersetzen. An dieser Stelle geht es aber nicht darum diesen Diskurs aufzuzeichnen. Sondern es sollen die wichtigsten Aspekte der klassischen Professionen aufgegriffen werden. - Herausbildung eines eigenen Ethos - Übernahme von sogenannten "Anwaltsaufgaben", das heisst von Dingen, die die Klienten bzw. die Klientinnen nicht selber lösen können - Die Klientel behält ihre eigene Autonomie - Eigenständige Reflexion der Professionellen ohne soziale Kontrolle und Bereitstellung von professionellem Wissen - Einführung von eigenständigen Ausbildungsgängen - Gründung eines Berufsverbandes zur Interessenvertretung und für die Regelung von internen Angelegenheiten - Benutzung einer eigenen Fachsprache und Methodik (vgl. KORING, 1989, S. 24) Obwohl diese Kriterien in bezug auf pädagogische und sozialpädagogische Professionen in Frage zu stellen sind, ermöglichen sie trotzdem einen ersten, groben Einblick in die Professionalisierung dieser Bereiche. 82 4.1.1 Professionalisierung der Schulsozialarbeit Im folgenden Abschnitt wird die Schulsozialarbeit in der Schweiz im Hinblick auf die vorgestellten Aspekte der Professionalisierung betrachtet. Das ermöglicht eine Standortbestimmung, aus der sich die nächsten, notwendige Schritte ableiten lassen. 4.1.1.1 Ethos der Schulsozialarbeit Grundsätzlich nehmen die Schulsozialarbeiter und die Schulsozialarbeiterinnen eine helfende und beratende Haltung ein. Es besteht somit ein gewisses Ethos, das aber nicht richtig aufgearbeitet ist und dadurch verschiedene Schattierungen aufweist. Mit etwas Engagement könnte ein einheitliches Ethos für die Schulsozialarbeit zur allgemeinen Anerkennung gelangen. 4.1.1.2 "Anwaltsaufgaben" der Schulsozialarbeit Hier handelt es sich um einen wichtigen Aspekt der Schulsozialarbeit. Diese versucht nämlich dort zu helfen, wo es nötig ist. Sie greift bei bestehenden und entstehenden Problemen und Konflikten ein und zeigt Lösungen auf. Dabei werden eindeutig "Anwaltsaufgaben" zu Gunsten der Betroffenen wahrgenommen. Das Problem besteht aber darin, dass Soziale Arbeit gleichzeitig auch soziale Kontrolle ausübt. Dadurch erfolgt eine Strapazierung der "Anwaltsaufgaben", die dazu führen kann, dass die Schulsozialarbeit letztlich die Vorstellungen der Gesellschaft vertritt. Es entsteht ein Dilemma, das man auch in anderen Bereichen der Sozialpädagogik feststellen kann. Aus diesem Grund ist es nötig, klare Richtlinien dafür zu schaffen, welche Grenzen die "Anwaltsaufgabe" haben soll. 4.1.1.3 Autonomie der Klientel der Schulsozialarbeit Weil eine obligatorische Schulpflicht besteht, stellt sich die Frage, wie autonom die Klientel der Schulsozialarbeit ist, die sich vor allem aus Schülern und Schülerinnen zusammensetzt. Im Normalfall wird niemand zwangsweise dem Schulsozialarbeiter bzw. der Schulsozialarbeiterin zugewiesen, denn die Freiwilligkeit stellt eine wichtige Voraussetzung der Sozialarbeit dar. Trotzdem entstehen immer wieder Situationen, in denen das Aufsuchen des Schulsozialarbeiters bzw. der Schulsozialarbeiterin auffälligen Personen oder Gruppen vorgeschlagen wird. In einem solchen Fall kann ein impliziter Autonomieverlust eintreten, weil keine wirklich freie Entscheidung möglich ist. Daraus resultiert für die Schulsozialarbeit 83 eine Antinomie, die an das "doppelte Mandat" der Sozialen Arbeit (Hilfe versus Kontrolle) erinnert. 4.1.1.4 Professionelles Wissen und Selbstreflexion der Schulsozialarbeit Unter den Aspekt professionellen Wissens fällt für mich das Vorhandensein einer Schulsozialarbeitstheorie. Im dritten Teil wurde aufgezeigt, dass bisher noch keine eigentlichen Theorien vorhanden sind. Das Wissen der Schulsozialarbeit stammt somit aus verschiedenen Bereichen und Gebieten, vieles aus der Sozialen Arbeit. Aus diesen zusammengesetzten Wissensbeständen folgt, dass an den einzelnen Orten jeweils unterschiedliche Konzepte der Schulsozialarbeit entstehen. Auch im Hinblick auf dieses Kriterium besteht somit ein Manko. Vor allem fehlt eine wirkliche, theoretische Fundierung der Schulsozialarbeit. 4.1.1.5 Ausbildungsgänge für Schulsozialarbeit So viel ich weiss, existiert in der Schweiz keine Möglichkeit, sich explizit für Schulsozialarbeit zu qualifizieren. Es finden lediglich sporadisch Veranstaltungen an Fachhochschulen oder Universitäten statt. Hier könnte ein grösseres Angebot geschaffen werden, was allerdings eine gründliche theoretische Fundierung benötigt. 4.1.1.6 Berufsverband der Schulsozialarbeiter und Schulsozialarbeiterinnen Es besteht noch kein offizieller Verband. Doch lässt sich feststellen, dass in letzter Zeit verschiedene Tagungen2 zum Thema stattfanden. Dazu kommt, dass es bereits erste Vernetzungen innerhalb der Schulsozialarbeit gibt. Somit scheint es eine Frage der Zeit zu sein, bis ein Fachverband entsteht. Dies wäre ein wichtiger Schritt Richtung Professionalisierung. 4.1.1.7 Fachsprache und Methodik in der Schulsozialarbeit Die Schulsozialarbeit bedient sich praktisch ausschliesslich der Fachsprache und Methodik der Sozialen Arbeit. Eine eigenständige Entwicklung zeichnet sich in diesem Bereich nicht 2 8. 4. 2000 in Olten: Schule und Soziale Arbeit. Entwicklungsstand und Perspektiven 25. 10. 2000 in Muttenz: Schule und Soziale Arbeit 84 ab. Dadurch wird klar, dass die Schulsozialarbeit ein Zweig der Sozialen Arbeit ist. Trotz der Nähe zur Sozialpädagogik scheint es sinnvoll zu sein, dass sich die Schulsozialarbeit mit den Aspekten der Fachsprache und Methodik befasst, um gegebenenfalls Anpassungen oder Erweiterungen vornehmen zu können. 4.1.2 Fazit der Professionalisierung Aus dem Dargestellten lässt sich folgern, dass in der Schulsozialarbeit so gut wie keine Professionalisierung stattgefunden hat. Es bestehen aber erste Anzeichen dafür, dass sich dies früher oder später ereignen wird. In bezug auf das Ethos, die Anwaltsfunktion der Berufsträger und die Autonomie der Klientel lassen sich Ansätze feststellen, die aus der Sozialen Arbeit stammen. Eine eigenständige Position innerhalb der Sozialarbeit ist (noch) nicht feststellbar. Dadurch, dass sich die Schulsozialarbeit an der Sozialpädagogik orientiert, fliessen auch viele Probleme ein, die im Zusammenhang mit der Professionalisierung der Sozialen Arbeit stehen. Die hoffnungsvollsten Anzeichen für eine Professionalisierung der Schulsozialarbeit sind darin zu sehen, dass vermehrt Tagungen stattfinden und Vernetzungen feststellbar sind. Gleichzeitig wird das Thema "Schulsozialarbeit" auch häufiger in der Öffentlichkeit diskutiert, was eine vermehrte Medienpräsenz belegt. Es zeichnet sich also ein erster Schritt in Richtung Professionalisierung der Schulsozialarbeit ab. Im Bereich der Ausbildung liesse sich noch einiges verändern. Das heisst nicht, dass unbedingt eine Berufsausbildung für Schulsozialarbeit entstehen muss (vgl. WULFERS 1991, S. 192). Aber es sollten immerhin Angebote geschaffen werden, die sich konkret mit der Thematik Schule und Soziale Arbeit befassen und dadurch Grundlagen für die Schulsozialarbeit vermitteln. Somit wären wir wieder bei der Frage nach einer Schulsozialarbeitstheorie, die sich positiv in allen Bereichen der Professionalisierung auswirken würde, nicht nur in der Ausbildung. 4.2 QUALITÄTSSICHERUNG UND QUALITÄTSSTANDARDS In einem engen Zusammenhang mit der Professionalisierung steht die Frage nach der Qualitätssicherung. Dabei handelt es sich um eine aktuellere Diskussion, die von der 85 Wirtschaft her immer mehr in den Sozialbereich eindringt. Dabei wird innerhalb der Qualitätssicherung unter "...Qualität die effiziente Erfüllung von Kundenanforderungen" (HENTZE / LUDEWIG / PAAR / WULFERS, 1998, S. 14) verstanden. Eine Tagung zur Frage des Qualitätsmanagements in der Schulsozialarbeit fand am 11. und 12. November 1997 in Kassel statt. In der Folge entstand der Tagungsbericht "Schulsozialarbeit mit Gütesiegel!?" (HENTZE / LU D E W I G / PA A R / WU L F E R S , 1998). In dieser Publikation werden Ansätze und Vorgehensweisen vorgestellt, die dazu dienen auch in der Schulsozialarbeit Qualitätsstandards einzuführen, die dann wiederum der Qualitätssicherung dienen. In der Schweiz geht es zuerst einmal darum, Schulsozialarbeit zu etablieren. Dabei wäre es sinnvoll, diesen Prozess mit Hilfe der Professionalisierung zu unterstützen. Idealerweise wird bei dieser Implementierung auch auf Qualitätsstandards und deren Sicherung geachtet. 4.3 GEDANKEN ZU DEN PERSPEKTIVEN DER SCHULSOZIALARBEIT Zur Zeit lässt sich in der Schweiz ein regelrechter Boom der Schulsozialarbeit feststellen. Dies ist erfreulich, denn der Einsatz von Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen in den Schulen ermöglicht es, dass die Schüler und Schülerinnen von einem breiteren Angebot profitieren können. Dadurch entsteht auch eine Aufwertung der sozialen Dimension innerhalb des Bildungswesens. In bezug auf die Perspektiven bin ich der Meinung, dass im Moment eher ein "unkontrolliertes" Wachstum der Schulsozialarbeit stattfindet. So entstehen an verschiedenen Orten unterschiedliche Projekte. Um an allen Schulen etwa gleich viel Schulsozialarbeit bei vergleichbarem Niveau anbieten zu können, fehlt eine fundierte theoretische Grundlage. Diese sollte auch dazu dienen, dass eine Professionalisierung, wie sie oben vorgestellt wurde, angegangen werden könnte, wobei die Qualitätssicherung nicht aus den Augen gelassen werden darf. In einzelnen Bereichen der Professionalisierung zeichnen sich auch in der Schweiz erste Fortschritte ab. Aus diesem Grund gilt es, diese zu unterstützen und zu fördern. Ein verbesserter Dialog zwischen Theorie und Praxis könnte dazu dienen, die Schulsozialarbeit auf gesunde und tragfähige Beine zu stellen. Dazu lassen sich ebenfalls Erfolg versprechende Ansätze finden, indem zum Beispiel Tagungen stattfinden, an denen alle Beteiligten und Interessierten der Schulsozialarbeit sich treffen und sich austauschen können. 86 Der Weg zu einer etablierten Schulsozialarbeit in der Schweiz ist noch weit. Wir befinden uns erst am Anfang. Nun gilt es nicht nur loszulaufen, sondern sich auch mit einer angemessenen "Wanderausrüstung" zu versehen, wie zum Beispiel: Theorie der Schulsozialarbeit, Qualitätsstandards, Fachorganisation. Ich möchte an dieser Stelle auch noch einen anderen Weg aufzeigen. Es handelt sich um die "sozialpädagogische Schule". Im Unterschied zur eigentlichen Schulsozialarbeit wird darauf verzichtet, "externe" Fachleute in die Schule zu holen. Die Schule soll sich selbst verändern. Dieses Ziel wird dann erreicht, wenn die Lehrkräfte sich nicht ausschliesslich auf die Wissensvermittlung konzentrieren, sondern sich auch bewusst den sozialen Aufgaben der Schule stellen. Dazu ist es aber nötig, dass die Lehrpersonen über sozialpädagogisches Wissen und auch über Kompetenzen zu deren Umsetzung verfügen. Das heisst, dass in der Ausbildung auch sozialpädagogische Bereiche behandelt werden müssen. Ziel ist es aber nicht, dass die Lehrkräfte gewissermassen zwei Ausbildungen absolvieren. Es geht nach wie vor darum, Lehrer und Lehrerinnen auszubilden, die aber auch über ein Grundwissen im Bereich Sozialpädagogik verfügen. Mit einer veränderten Ausbildung wäre es aber noch nicht getan. Es müssten auch Rahmenbedingungen geändert werden. So sollten die Lehrkräfte zum Beispiel von einer gewissen Anzahl Unterrichtslektionen entlastet werden, damit sie sich bewusst und gezielt mit sozialpädagogischen Anliegen befassen können. Sei dies eine Öffnung gegenüber dem Stadtteil, organisieren spezieller Projekte, Gespräche führen usw. Wichtig ist auch, dass ein Netzwerk zwischen der Schule und dem Umfeld entsteht. Ebenso soll der Kontakt zu anderen Institutionen wie zum Beispiel dem Sozialamt, Jugendsekretariat regelmässig gepflegt werden. Es geht mir hier nur darum aufzuzeigen, dass neben der "klassischen" Schulsozialarbeit mindestens ein weiterer Weg vorhanden wäre, um die Schule von der reinen Wissensvermittlungsanstalt in eine offene, jugendgerechte Institution des Lernens überzuführen. 87 SCHLUSSWORT Am Schluss dieser Arbeit muss ich feststellen, dass bei der Bearbeitung der Fragestellungen an die Stelle von einfachen Antworten häufig weitere Fragen getreten sind. Dies ist ein Indiz dafür, dass noch keine umfassende Aufarbeitung des Themas "Schulsozialarbeit in der Schweiz" stattgefunden hat. In bezug auf die Geschichte (Teil II) lässt sich festhalten, dass es durchaus Vorläufer gab, die sozialpädagogisches Gedankengut in die Volksschule integrieren wollten. Je nach Epoche waren diese Ansätze verschieden stark ausgeprägt. Die Zusammenhänge, die zu diesem Ergebnis führten, sollten noch genauer herausgearbeitet werden. Denn im historischen Teil findet sich vor allem eine Sammlung von Fakten. Es besteht ein grosser Nachholbedarf darin, die historische Entwicklung der Schulsozialarbeit in der Schweiz noch besser zu erforschen. So wäre es sinnvoll, weiteres Material bezüglich der Entwicklung der Schulsozialarbeit zu sichten. Von Interesse wäre zum Beispiel die Durchleuchtung der Stiftung Pro Juventute, um mögliche Zusammenhänge von Schule und Sozialpädagogik herauszuarbeiten. Bei der Suche nach einer Theorie (Teil III) der Schulsozialarbeit musste festgestellt werden, dass bisher keine fundiert erarbeitet wurde. Es lassen sich zwar Versuche und Ansätze finden. Doch bei genauer Betrachtung erfüllen sie nicht die Bedingungen einer Theorie. Für die Schulsozialarbeit wäre es ausgesprochen wertvoll, wenn die hoffnungsvollen Ansätze weiterverfolgt werden würden. In der Zwischenzeit ist es möglich, mit Ansätzen zu arbeiten, die auf der Analyse der aktuellen Situation beruhen. Mit Hilfe einer wirklichen Theorie wäre es möglich, die Schulsozialarbeit besser und übersichtlicher zu gestalten. Auch in diesem Bereich erhebt der Autor nicht den Anspruch, alles Material gesichtet und bearbeitet zu haben, welches sich mit einer theoretischen Fundierung der Schulsozialarbeit befasst. Es wäre deshalb angebracht, weiterhin Ansätze zu suchen, um die dargestellten theoretischen Überlegungen zu vertiefen. Bei den Perspektiven der Schulsozialarbeit in der Schweiz (Teil IV) zeigt es sich, dass erste Anzeichen für eine Professionalisierung vorhanden sind. Um aber eine eigentliche Professionalisierung herbeizuführen, sind noch viele Anstrengungen nötig. Ich hoffe darauf, dass möglichst bald ein Fachverband der Schulsozialarbeiter und Schulsozialarbeiterinnen entsteht. Denn dies würde meiner Meinung nach die Professionalisierung massgeblich beeinflussen und letztlich auch beschleunigen. Ein solcher Verband hätte sicher auch Interesse daran, theoretische Grundlagen zu schaffen und dadurch nicht nur die Professionalisierung zu fördern, sondern auch die Qualitätssicherung zu gewährleisten. Es 88 bestehen sicher noch weitere Aspekte, die in bezug auf die Perspektive der Schulsozialarbeit wichtig sind. Ich bin davon überzeugt, dass die Schulsozialarbeit einen Weg darstellt, die Schule in eine Richtung weiterzuentwickeln, in der nicht nur die kognitive Leistung im Mittelpunkt steht. Bei der Lektüre und dem Schreiben dieser Arbeit musste ich aber immer wieder Probleme und Widersprüche feststellen in bezug auf Schule und Sozialpädagogik. So besitzen zum Beispiel beide verschiedene Funktionen und Wirkungen (vgl. 3.4.5). Aus diesem Grund drängt sich mir immer mehr die Frage auf, inwieweit nicht auch eine "sozialpädagogische Schule", die im engen Kontakt mit der Sozialarbeit steht, erfolgversprechend wäre. Dabei müsste die Schule nicht die Aufgaben der Schulsozialarbeit übernehmen, sondern vielmehr eine Triagefunktion ausüben. Um dies umsetzen zu können, wäre eine Umgestaltung der Lehrerausbildung nötig, damit die Lehrkräfte über Grundlagenwissen der Sozialen Arbeit verfügen. Gleichzeitig ist eine Veränderung der Rahmenbedingungen des Bildungswesens vorzunehmen, indem die soziale Dimension in der Schule mehr Gewicht erhielte. Des weiteren sollte man den Lehrpersonen erlauben, einen Teil ihrer Unterrichtsverpflichtung für die Übernahme von sozialen Aufgaben, Gesprächen usw. zu verwenden. Auch die Leistungsbewertung der Schüler und Schülerinnen dürfte sich nicht nur auf kognitives Wissen beschränken. So wäre es zum Beispiel eine klare Aufwertung, wenn im Zeugnis eine Note für Sozialkompetenz vorhanden wäre, die die gleiche Bedeutung besitzt, wie die Mathematikoder die Sprachnote. Es ist mir klar, dass dies nur Ideen sind, die noch nicht zu Ende gedacht sind. Trotzdem könnte dies eine mögliche Alternative zur "klassischen" Schulsozialarbeit darstellen. Letztlich entscheidend ist aber, dass die Jugendlichen möglichst gute Bedingungen vorfinden, damit sie sich auf das spätere Leben vorbereiten können. Es ist die Aufgabe der Erwachsenen, sich dieser Verantwortung bewusst zu sein und sich dafür einzusetzen. Dabei geht es aber nicht darum, die Jugend "gleichzuschalten", sondern allen die Möglichkeit zu geben, sich individuell entwickeln zu können. Wobei auch hier nicht die Idee ist, lauter egoistische Individualisten heran zu bilden. Ich sehe die Schulsozialarbeit als einen Beitrag zu einer solchen Entwicklung. Und deshalb hoffe ich, dass diese Arbeit dazu beiträgt, dass sich Schulsozialarbeit in der Schweiz als professionelles Arbeitsgebiet etablieren kann. 89 LITERATURVERZEICHNIS ALZINGER, B. / FREI, R.: Die katholischen Erziehungsheime im 19. Jahrhundert in der deutschsprachigen Schweiz. Brugg / Zürich 1987 (Selbstverlag der Verfasser). BADERTSCHER, H. / GRUNDER, H.-U. (Hrsg.): Geschichte der Erziehung und Schule in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert. Leitlinien. Bern / Stuttgart / Wien 1997. BÄUMER, G.: Die historischen und sozialen Voraussetzungen der Sozialpädagogik und die Entwicklung ihrer Theorie. In: NOHL, H. / PALLAT, L. (Hrsg.): Handbuch der Pädagogik. Band 5. Langensalza 1929, S. 3 - 17. BITTNER, G.: Hans Zulliger (1893 - 1965). In: FATKE, R. / SCARBATH, H. (Hrsg.): Pioniere Psychoanalytischer Pädagogik. Erziehungskonzeptionen und Praxis, Band 27. Frankfurt am Main 1995, S. 53 - 66. BRAUN, K.-H. / WETZEL, K.: Sozialpädagogisches Handeln in der Schule. 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